Auf hohem (Preis-)Niveau: Anna Netrebko als „Jolanthe“ in der Philharmonie Essen

Anna Netrebko sang in Essen die Titelpartie aus Tschaikowskys letzter Oper "Jolanthe" (Foto:Ester Haase)

Die Erkenntnis trifft den Grafen Vaudemont wie ein Blitz. Eben noch bat er die Königstochter Jolanthe um eine rote Rose als Zeichen ihrer Zuneigung. Aber die rätselhafte Schöne reicht ihm aus dem bunten Strauß eine weiße Rose. Als der Graf insistiert, reagiert die junge Frau immer ängstlicher und verwirrter. Endlich begreift der Graf: Die Geliebte ist blind. Der Vater schirmte sie so sehr von der Außenwelt ab, dass sie selbst nichts von ihrer Blindheit weiß.

Dies ist die Schlüsselszene aus Peter Tschaikowskys letzter Oper, dem Einakter „Jolanthe“, der die Titelheldin auf dem schmerzlichen Weg vom unwissenden Kind zur liebenden Frau begleitet. Inspiriert vom Drama „König Renés Tochter“, das dem dänischen Schriftsteller Henrik Hertz 1845 europaweit Erfolg einbrachte, schrieb Tschaikowsky ein ungemein lyrisches Werk von schier überströmendem Melos. Zehn Gesangssolisten, Chor und Orchester stimmen nach Jolanthes wundersamer Heilung in das allgemeine Gotteslob ein. Die Kräfte des Willens und der Liebe haben über die Gesetzte der Natur gesiegt.

Obgleich in Russland beliebt, taucht das Werk hierzulande kaum je auf den Spielplänen auf. Zu wenig abendfüllend ist das Stück, zu wenig bieten sich Kombinationen mit anderen Opern an. Auch will das große Solistenensemble möglichst gleichrangig besetzt sein. Dies ist nun einer konzertanten Produktion der „First Classics Berlin GmbH“ gelungen, die seit Anfang November mit der Sopranistin Anna Netrebko als Zugpferd auf Tournee ist.

So ergab sich in der Philharmonie Essen die seltene Gelegenheit, die märchenhafte Oper mit der tiefenpsychologischen Ebene kennen zu lernen. Im Vorfeld muteten freilich vor allem die Kartenpreise märchenhaft an: 50 Euro für einen Stehplatz, 150 bis 260 Euro für einen Sitzplatz, weitere 10 Euro für ein Programmheft, dem Entstehung und Bedeutung des Werks nicht eine einzige Zeile wert ist.

Gleichwohl blieb kaum einer der nahezu 2000 Plätze unbesetzt. Den „unvergesslichen Abend“, den das Programmheft versprach, haben die Besucher indes nicht allein der Netrebko zu verdanken. Es war die erlesene Sängerriege, die den Abend zum Fest erhob: Die Diva war umringt von stimmstarken Partnern, die einer veritablen Staatsopern-Premiere Ehre gemacht hätten. Die Partie des Almerich färbt JunHo You bei hoher Textverständlichkeit nahezu heldisch hell. Kernig, zuweilen beinahe gallig, dann wieder schwärmerisch ausgreifend gestaltet Alexey Markov den Robert. Hinreißend auch Monika Bohinec, die Jolanthes Amme Martha ihren wunderbar farbenreichen, stets flexiblen Mezzosopran leiht. Feierlich, aber beseelt klingen Vitalij Kowaljow als König René und Lucas Meachem als maurischer Wunderarzt Ebn-Hakia. Bis in die kleinsten Nebenrollen gibt sich niemand aus diesem Ensemble eine ernsthafte Blöße.

Das Orchester der Slowenischen Philharmonie und der Slowenische Kammerchor erweisen sich dabei keineswegs als Partner zweiter Wahl. Unter der Leitung des Franzosen Emmanuel Villaume breitet das Orchester akustisch überzeugende Naturbilder aus. Nur selten ist der orchestrale Glanz auf Gala-Effekt gebürstet. Die Musik fließt in großen, unaufdringlich noblen Bögen.

Anna Netrebko scheint die lyrische Partie der „Jolanthe“ wie auf den Leib geschrieben. Hier kann sie ihr reich umflortes Luxus-Timbre changieren lassen, kann spielerisch wandeln auf dem Grat zwischen mädchenhafter Unschuld und sirenenhafter Verführungskraft. Aus zarter Wehmut steigert sie sich zu leidenschaftlich ausgreifenden Höhepunkten, aus traumverlorener Trance zu nervöser Erregung, im Finale schließlich zu triumphalen Tönen. Die Partie strömt förmlich aus ihr heraus, unangestrengt und wie aus einem Guss. Wie bei einer derartigen Gala nicht anders zu erwarten, endet der Abend mit Ovationen. Bang hallt nur ein Gedanke nach: Die Frage nämlich, ob seine geldwerte Exklusivität nicht Wasser auf die Mühlen derer gießt, die Klassische Musik gerne als „überflüssiges Luxusvergnügen“ diffamieren.




Meilensteine der Popmusik (24): Michael Jackson

„Michael Jackson hat die beste Tanzmusik aller Zeiten gemacht. Er hat mich nicht nur inspiriert, sondern auch gezeigt, wie so etwas funktionieren kann: Sex, klare Rhythmen, geile Arrangements. Michael war ohne Frage ein Lehrmeister.“ Der Konkurrent Prince gab dieses überschwängliche Kollegenlob irgendwann einmal unaufgefordert von sich.

Dem Betroffenen müsste dieses noch mehr geschmeichelt haben, als einer der unzähligen Grammys in seiner Vitrine. Laut „Guinness Buch der Rekorde“ ist Michael Jackson der erfolgreichste Entertainer aller Zeiten.

Er war einer der wenigen Ausnahmekünstler, dessen Einmaligkeit sich in der Musikgeschichte eindeutig festschreiben lässt. Es ist zuerst natürlich die absolute Rekordzahl von weit über 100 Millionen verkaufter Exemplare des Albums „Thriller“ bis heute, knapp die Hälfte davon allein in den USA. Nie vorher oder nachher konnte eine einzige Platte auch nur annähernd diesen Umsatz erreichen, also eine Marke für die Ewigkeit.

Als diese Monsterscheibe heute vor genau 30 Jahren pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erschien, reagierten die Kritiker zuerst einigermaßen vorsichtig. Das Comeback des damals 24-jährigen, ehemaligen Kinderstars lag gerade mal drei Jahre zurück; man hatte kaum noch damit gerechnet. Insider, die sich mit der Biografie des Michael Jackson beschäftigt hatten, zweifelten am Durchsetzungsvermögen des Künstlers. Kein Wunder, hatte doch der Familien-Tyrann, Vater Joe Jackson, den kleinen fünfjährigen Michael und seine kaum älteren Brüder Ende der 60er auf die Bühne geprügelt. Wenig später feierte die Welt die wohl größte Kinderband der Popgeschichte: The Jackson Five.

„Music and money“, beides hatte Daddy Joe fest im Griff. Auch die Disziplin seiner Kleinen: wer nicht spurte, wurde handfest überzeugt. So wuchs Michael ohne Kindheit auf, wurde durch alle Medien gereicht – und rechtzeitig zum Stimmbruch wieder fallengelassen. Die aufkommende Langeweile vertrieb sich Michael mit einem aufwendigen Zombiespiel. Kaum waren die letzten Pickel und Pusteln verflogen, ließ er sich von Spezialisten die Locken glattziehen, die Knollennase und das Kinn modellieren. Nicht immer gelang die Prozedur auf Anhieb, ab und zu musste eine Zusatzrunde für weitere Korrekturen eingelegt werden. Zudem litt er an einer tückischen Hautkrankheit, die seine Haut langsam bleichen ließ. So kam es, dass im Laufe der Jahre aus dem quäkenden Bengel ein verträumtes Beautymonster der anderen Dimension entstand.

Der ungeheure Drang zur Perfektion übertrug sich zum Glück auch auf den Künstler Michael Jackson. Seine Millionen brauchte er eigentlich nur, um immer wieder neue Mauern gegen die Außenwelt hochzuziehen. Seine Farm „Neverland“ wurde zum geheimnisvollen Mythos. Gerüchte und Skandale vom sorglosen Umgang mit Medikamenten, bis hin zum Vorwurf des Kindesmissbrauchs begleiteten das äußerst bizzare und geheimnisumwitterte Leben des „King of Pop“ bis zu seinem Tod im Juni 2009. Diesen Tod, durch eine Überdosis des Narkosemittels Propofol herbeigeführt, markierte für viele Beobachter auch den Schlusspunkt einer großen Verzweiflung, die den Künstler seit den weltweit aufsehenerregenden Prozessen befallen hatte. Obwohl er am 13. Juni 2005 in allen Anklagepunkten von einem Geschworenengericht einstimmig freigesprochen wurde, hat er sich von diesen Strapazen nie erholen können.

Ganz anders der Künstler Michael – dieser war stets im Dauertraining. Weltberühmte Choreographen waren begeistert von dem tänzerischen Talent des allzeit knabenhaft wirkenden Mannes. Seine Mitarbeiter schätzten seinen absoluten Professionalismus. Nie kam er unvorbereitet ins Studio, hatte sich meist schon Stunden vorher warm gesungen. Diese absolut berechnende Perfektion spiegelt das Meisterwerk „Thriller“ Song für Song wider. Für „Billie Jean“ musste der Gast-Bassist Louis Johnson (Johnson Brothers) seine ganze Gitarrensammlung ausprobieren, bis ein japanisches Modell den richtigen Sound brachte. Der wummernde Bass wurde stilbildend. Für das mittlerweile berühmte Gitarren-Solo von „Beat it“ bat man den Eddie van Halen ins Studio. Der rockte ohne Honorar auf der Platte, nur für die Ehre dabei gewesen zu sein. Auch sonst war die Gästeliste lang und edel: Von Paul McCartney über den Jazz-Veteranen Tom Scott bis zur halben Toto-Mannschaft. „Thriller“ schrieb als Platte und Video Musikgeschichte und markiert einen Wendepunkt in der Popmusik. Von nun an drängten sich schwarze Interpreten in die Playlist von MTV, die zuvor von weißen Künstlern bestimmt wurde. Und die Videos zu den Songs entwickelten sich zu teilweise künstlerisch anspruchsvollen Kurzfilmen, die mit der Zeit zu einer eigenen Gattung wurden.

Schließlich und endlich war „Thriller“ aber auch das Meisterstück eines der erfolgreichsten Produzenten der Musikgeschichte: Quincy Jones. Dieser hatte damals schon über 30 Jahre Höhen und Tiefen des Geschäftes hinter sich. Er erkannte schnell die neue Dimension, die sich hier aufgetan hatte: „Michael Jackson hat uns ganz nach oben geführt – dorthin, wo wir eigentlich auch hingehören. Schwarze Musik spielte lange Zeit nur die zweite Geige, aber sie ist schließlich der Ursprung der gesamten Popmusik. Michael hat es geschafft, damit alle Seelen dieser Welt anzusprechen.“

Michael Jackson on youtube

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22), The Kinks (23)




Vorfälle (2): Schaukelpferd, Briefmarken, Autoschlüssel

Es gibt in Dortmund ein Traditions-Geschäft, vor dem stets ein elektrisch betriebenes Schaukelpferd gestanden hat. Eines Tages aber war das Pferd defekt und wurde – zur Enttäuschung vieler Kinder – abgebaut.

Für immer? Eigentlich nicht. Die Apparatur sollte repariert werden. Das aber zog sich sehr, sehr lange hin, weil es offenbar nur noch Münzschlitze für 50-Cent-Stücke an aufwärts gibt – und nicht mehr solche für 20 Cent. Diesen Preis hat der Betreiber aber partout beibehalten wollen.
Schließlich fand sich nach gründlicher Suche doch noch ein altes Ersatzteil, das sich mit einem Kniff verwenden ließ.
Eines schöneren Tages stand also das Pferd wieder am Platze. Der Ritt kostet nach wie vor 20 Cent. Ein kleines Zeichen wider die landläufige Geldgier.

Anderntags fiel mir beim Gang durch die Stadt auf, dass ein alteingesessenes Lädchen geräumt wurde, sehr wahrscheinlich wegen Geschäftsaufgabe nach Pleite. Es gibt ja auch sonst genug Leerstände in der City. Zudem handelt es sich um ein winziges Briefmarkengeschäft. Schon lange habe ich mich gewundert, wie man sich in dieser Branche innerstädtisch halten kann. Ist das denn nicht ein längst ausgestorbenes Hobby?
Doch da wurde nicht ab-, sondern umgeräumt und neu aufgezäumt, wie sich bald darauf erwies. Jetzt macht da jemand mit frischem Mut im selben Metier weiter. Wie soll man das nennen: verrückt oder tapfer?

Unterwegs an solchen Orten vorbei, bemerkt man vielleicht auch dies: Seit es die Klickschlüssel zur Fernsteuerung der Türen gibt, vollführen Autofahrer andere Bewegungsmuster. Wir erinnern uns dunkel: Ehedem wurde geradezu sorgfältig abgeschlossen, indem man den Schlüssel im Schloss drehte. Manchmal ging dem auch ein nervöses Nesteln voraus. Heute aber klickt man lässig aus der Hüfte, aus dem Handgelenk, über die Schulter hinweg. Die Gestik wirkt meist achtlos, ja zuweilen arrogant oder blasiert, als könne man sich auch sonst der Welt ringsum bedienen. Damit verglichen war das Schließen von Hand geradezu nobel. Oder wenigstens reell.




Abstieg in die Hölle – Richard Fords Roman „Kanada“

Wenn die ersten Sätze eines Romans wirklich gut sind, fangen sie den Leser sofort ein, geben sie den Takt vor, deuten an, wohin die Reise gehen wird und wie der Autor seine Expedition in unbekanntes Gelände anpacken will.

Richard Ford, der mit seinen Romanen über den Sportreporter und Immobilienhändler Frank Bascombe Literaturgeschichte schrieb und seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, weiß um die Kraft und die Faszination des Anfangs. Aber so frontal wie in seinem neuen Roman „Kanada“ ist auch Ford noch nie in einen Roman eingestiegen: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war die entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn.“

Ein Anfang wie ein episches Theaterlehrstück von Brecht: Die wichtigsten Ereignisse werden laut ausposaunt, jetzt geht es um Erkenntnisgewinn und Anleitung zum Handeln. Doch seltsam, wer glaubt, die Spannung würde beim Leser sogleich auf den Nullpunkt sinken, täuscht sich gewaltig: Dringend will man erfahren, wie alles passierte und welche Auswirkungen der Raubüberfall und die Morde auf das Leben des Ich-Erzählers hatten.

„Der Sportreporter“, „Unabhängigkeitstag“, „Die Lage des Landes“: Schon das waren große Romane, in denen Richard Ford das ebenso moderne wie archaische, ebenso faszinierende wie widersprüchliche Amerika literarisch vermessen hat. „Kanada“ ist sein Meisterstück. Es handelt von Angst und Verlust, von der Zerstörung einer Familie und davon, dass wir aufhören sollten, unaufhörlich nach dem Sinn des Lebens zu suchen.

Sich anpassen an die Gegebenheiten, das Gute in den alltäglichen Dingen suchen, nach Niederlagen immer wieder aufstehen und wie Sisyphos den Stein auf den Berg hinauf rollen: Das ist die Grundhaltung, die den 16-jährigen Dell Parsons überleben lässt. Jetzt, 50 Jahre später, berichtet er, welche Folgen es hatte, dass seine Eltern nicht zusammenpassten, der Vater nach seinem Militärdienst im bürgerlichen Leben nicht Fuß fassen konnte, seine Mutter sich als Lehrerin durchschlug und eigentlich lieber Künstlerin geworden wäre. Weil das Geld für ein auskömmliches Leben in der der Kleinstadt Great Falls/Montana nicht reicht, überfallen Dells Eltern im Jahr 1960 eine Bank und werden verhaftet: für Dell und seine Schwester Berner das Ende aller Gewissheiten und der Aufbruch ins Ungewisse. Der Vater nimmt das Schicksal gefühllos und fatalistisch hin, die Mutter legt in einem Tagebuch Rechenschaft ab und begeht im Gefängnis Selbstmord.

Um nicht ins Heim gesteckt zu werden, flieht Berner nach San Francisco, nimmt Drogen, wohnt in besetzten Häusern. Dell wird von der Freundin seiner Mutter zu einem Verwandten nach Kanada gebracht. Doch was für Dell die Rettung werden soll, wird zum Abstieg in die Hölle. Denn der Junge landet bei dem Hotelbesitzer Arthur Remlinger, einem Mann mit dunkler Vergangenheit, einem glühenden Fanatiker und gewaltbereiten Weltverbesserer. Vor Jahren hat er in Detroit bei einem Terroranschlag getötet. Und er wird wieder morden. Kalt und zynisch wird er zwei eigens aus den USA angereist Detektive abknallen wie streunende Hunde.

Dell kann sich nicht allein aus den Fängen dieses diabolischen Mörders befreien, er braucht – wieder – die Hilfe einer Frau, die ihn rettet und sein Leben in die Hand nimmt. Während die Männer, die Väter und Ersatzväter, gewissen- und gedankenlos agieren, behalten die Frauen klaren Kopf und eindeutige moralische Positionen. Es ist, als wandle Dell durch einen surrealen Albtraum. Wie in Trance erlebt er das Trauma des Unbehausten, das Drama des Verwaisten. Richard Ford zeigt, wie schnell die Normalität in Wahnsinn umkippen kann und wie der Zufall darüber bestimmt, welche Richtung das Leben nimmt. Es ist ein lebenspraller und weiser, ein überwältigender und bei aller Melancholie doch auch befreiender Roman.

Dell, der nach dem Tod seiner Schwester auf die Launen des Schicksals und die unabwendbaren Katastrophen blickt, tröstet sich mit dem Gedanken, dass man bessere Überlebenschancen hat, wenn man mit Verlusten umgehen kann und es schafft, das Gute im Ganzen zu suchen: „Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es.“

Richard Ford: „Kanada“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Hanser Berlin, 464 Seiten, 24,90 Euro.




Bürgerliches Trauerspiel und symbolistisches Drama: Debussys „Pélleas et Mélisande“ in Essen und Frankfurt

Mit „Pelléas et Mélisande“ bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen einem bürgerlichen Familiendrama, das an Ibsen erinnert, und einem symbolistischen Mysterium, das sich in bildmächtige poetische Seelenlandschaften vertieft. Die beiden profilierten Neuinszenierungen der vergangenen Wochen in Essen und in Frankfurt nähern sich Claude Debussys rätselvoller musikalischer Fassung des Dramas von Maurice Maeterlinck mit unterschiedlicher Perspektive.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

Nikolaus Lehnhoff in Essen rückt die traumverwobene Atmosphäre in den Vordergrund. Die Figuren scheinen kaum aus sich heraus zu agieren, wirken oft statisch und wie gebremst vom lähmenden Gespinst bedeutungsvoller Zeichen und Zusammenhänge. Claus Guth in Frankfurt dagegen schaut auf die Psychologie der Personen, gibt ihren Aktionen und Reaktionen etwas Welthaftes, Eindeutiges mit. Er negiert den symbolistischen Hintergrund der Oper nicht, aber er zieht sich nicht auf den Topos des Unerklärbaren zurück, sondern bindet dessen Chiffren ein in die Entwicklung des Geschehens, das zu Tod und innerem Zusammenbruch führt.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Für Guth ist Mélisande kein geheimnisvolles Undinen-Wesen aus dem Irgendwo, sondern eine offenbar traumatisierte junge Frau, die zitternd versucht, sich eine Zigarette anzustecken, als sie in den Lichtkegel der Bühne tritt. Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkel, ihre psychische Verfassung ist es nicht. In Zuge des Dramas verdichten sich die psychologischen Motive, für die Guth die symbolistischen Züge des Dramas einsichtig verengt: Er will nicht das wabernde Ungefähr des Ahnungsvollen bebildern, sondern die Menschen in den elegant eingerichteten Räumen des zweistöckigen Hauses auf der Bühne Christian Schmidts stringent entwickeln – allerdings ohne die komplexen und rätselvollen Seiten ihrer Psyche eilfertig wegzuerklären. Warum sich die Lichtkreise Golauds und Mélisandes schon bei ihrer ersten Begegnung nicht berühren, warum sich Pelléas und die junge Frau finden und in der undurchdringlichen Schwärze des Raums in ihren Lichtauren verbinden, bleibt letztlich ein Geheimnis.

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Auf der anderen Seite entwickelt Guth im Spiel präzise und faszinierend die Brennpunkte, in denen die Personen des Dramas interagieren: Der Dialog zwischen dem resignativen Pelléas, der im Selbstgespräch nur punktuell zum „Du“ durchdringt, und dem nahezu perfekt verdrängenden Patriarchen Arkel ist großes, reflektiert durchdrungenes Schauspiel. Ebenso die genau beobachtete Szene, in der Golaud versucht, mit Hilfe des Kindes Yniold die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande zu ergründen.

Guth achtet scharfsichtig auf versteckte Motive, deutet zum Beispiel die Szene, in der Pelléas vom Haar Mélisandes in Ekstase versetzt wird, als inneren Vorgang des in sich verschlossenen Mannes, dem die Frau tiefere Schichten seines Begehrens erschließen hilft. In Christian Gerhaher hat Guth den idealen Darsteller depressiv-verschlossener Innenwelten, dessen hoher Bariton zu unendlichen Schattierungen des Ausdrucks fähig ist. Die Mélisande Christiane Kargs erschöpft sich nicht im zerbrechlich-passiven Opfer, sondern ist eine Frau, die sehr wohl versucht, im Beziehungsgeflecht von Haus Allemonde ihre Position zu finden.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Die mühsam unterdrückte Aggressivität, mit der Paul Gay den Golaud zeichnet, bricht sich in einem ungeschönt inszenierten Ausbruch von Gewalt freie Bahn – einer Brutalität, die Mélisande wie Golaud selbst zu Opfern macht. Arkel schaut weg: Alfred Reiter gelingt trotz eines wabernd-gedeckten Basses eine beklemmende Studie von Verdrängung und uneingestandener Einsicht. Zutiefst verunsichert durch Mélisandes geschichtslose Reinheit, erinnert Golaud an den Major in Strindbergs „Vater“, gefangen im Wahntrauma der Patriarchen von der „verbotenen“ Liebe, dem uneinnehmbaren Rest weiblicher Souveränität.

Friedemann Layer und das Frankfurter Opernorchester bestätigen den auch musikalisch führenden Rang der Rhein-Main-Oper unter den deutschen Musiktheatern. Layer ist ein Sachwalter von Debussys Modernität, entdeckt nicht nur die Raffinesse der Klänge, sondern auch ihre Reibungen, ihre herbe Würze. Doch er zwingt ihnen keine Spaltklang-Sprödigkeit auf, wie sie Propagandisten eines neuen Debussy-Bildes vertreten.

Layer stützt in den wundervoll modellierten Akkordsäulen und den filigranen Rückungen im Klangverlauf die Statik von Debussys musikalischer Architektur und entdeckt ihre dramatische Funktion, die geschichtslosen Zustände der Bilder auf der Bühne abzusichern. Dass Guth dazu immer wieder eine Uhr ticken lässt und damit die verfließende Zeit als spannungsreiches, drängendes Element einführt, gehört zu den aussagestarken Details dieser – aus der Perspektive des bürgerlichen Dramas – modellhaft gelungenen Deutung, an der Layer mit seinen scharfsinnig beleuchteten Korrespondenzen zwischen Musik und Bühne erheblich Anteil nimmt.

In Essen sind die Perspektiven anders, aber nicht minder überzeugend. Denn Stefan Soltesz im Graben macht mit den Essener Philharmonikern schon in den einleitenden Akkorden, in den mysteriös eingefärbten Pianissimi der tiefen Streicher und den ersten, fahlen Holzbläserklängen seine ästhetische Position klar: Das soll ein Debussy der äußersten Verfeinerung, des raffinierten Details, der subtilen Klangmischungen werden. Die Verheißung wird glänzend erfüllt; der orchestrale Zauber entfaltet sich dank der vorzüglich auf ihren Dirigenten reagierenden Musiker mit aller Nuancierung in Farbe und Dynamik.

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Ähnlich sensibel für atmosphärische Rückungen agiert Lehnhoff in seiner Inszenierung. Der hohe, kühl-dunkle Raum von Raimund Bauer, immer wieder neu ausgedeutet vom Licht Olaf Freeses, lässt naturalistische Anmutung bald hinter sich: Aus der hohen, dunklen Vertäfelung eines Saals mit der erdrückenden Noblesse der Villa Hügel wird ein Seelenraum, ein innerliches Gefängnis, aus dem Mélisande tastend, aber vergeblich einen Ausweg sucht, den sich nur das visionäre Licht, nicht aber die schwere Materialität der Körper öffnen kann. Das achte Bild mit seinen riesigen, nach unten führenden Treppen gemahnt an die Gefängnisse des Piranesi, tiefenpsychologisch radikalisiert und in eine schaurige Raumvision eines existenziellen Abgrunds verwandelt.

Auch Lehnhoff wirft einen Blick auf das bürgerliche Drama, inszeniert es aber weniger fest umrissen als sein Kollege Claus Guth in Frankfurt. Seine Annäherung an die symbolistischen Verdichtungen Maeterlincks bleibt allerdings oft unbestimmt – oder verliert sich, wie im siebten Bild die langen Haare Mélisandes, in zu konkret realisierten Bildern. So bleibt Michaela Selinger in der Hauptrolle ein verlorenes Wesen zwischen möglichen Konzepten, passiv und konturlos den Ereignissen ausgeliefert. Mit Vincent le Texier hat Essen einen kraftvollen, manchmal leider arg vordergründig bellenden Golaud, der seine Figur am Ende immer mehr in die Richtung des Gesellschaftsdramas entwickelt.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Auch der schönstimmige Jacques Imbrailo bleibt als Pelléas eher ein passives Wesen, unheilvoll verstrickt in die lastende Atmosphäre des Hauses. Wolfgang Schöne als Arkel und die mit grandios gereifter Stimme singende Doris Soffel als Geneviève sind die erstarrten, untoten Bewohner dieses unheilvollen Raumes; ihre Rolle wird sinnfällig unterstützt durch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer, die sich im historisierenden und in einem zeitlos eleganten Arsenal von Ausdruckswerten bedienen. Getragen von wunderbar geatmeten Linien, von den bis zum Verlöschen gedämpften Piano-Schattierungen der Musik und der gestalterischen Raffinesse des Dirigenten können sich die Sänger drucklos frei entfalten. Und staunend ob dieses ästhetischen Wunders gewinnt der Satz Arkels noch eine Bedeutung über das Drama hinaus: „Man bedarf der Schönheit, wenn der Tod neben einem steht.“




Denkwürdige Vokabeln (11): „Zeitungssterben“

Es wird nun einmal überall, wo etwas lebt, gestorben, das liegt in der Natur. Richtig ist auch, dass Medien, namentlich Zeitungen, während ihres je individuellen Entstehungsprozesses, gleichsam lebendige Organismen sind. So etwas wie Verklumpungen von menschlichen Handlungen, die vielerlei kreative Einzelaktionen miteinander verbinden und am Ende eines zunächst ungemein chaotischen Prozesses ein überraschend gestaltet wirkendes Produkt allmorgendlich, wöchentlich oder monatlich an Leserin oder Leser liefern können.

Betrachtet man es so, wäre der Begriff vom „Zeitungssterben“ sogar korrekt gewählt. Wäre da nicht ein mit handelnder Bereich, der eine Zeitung, ein lebendiges Wesen also, innerhalb der jeweiligen Perioden in den Kreißsaal brächte: der unternehmerische Bereich, das deutsche Verlagswesen. Dieser Bereich betrachtet Zeitung seit geraumer Zeit nicht mehr als lebendiges Wesen, als wesentlichen Tagesbeitrag zur Bildung, Wertebildung, Meinungsbildung, sondern als Instrument zur Bildung von Mehrwert, Gewinn und ausschüttungsfähigen Ansammlungen von Renditen. Das führte in der Vergangenheit zur nachhaltigen Verödung vieler Organe bis hin zur inhaltlichen Austrocknung. Verbliebene Kolleginnen und Kollegen mochten sich noch so tapfer wehren, es konnte ihnen mangels ausreichender Masse nicht gelingen, mit den verbliebenen Resten der redaktionellen Personalstärke ihren Blättern noch so etwas wie tägliche Qualität einzuhauchen.

Gepaart mit der Tatsache, dass auch gute Unterhaltung und gutes Boulevard viel Arbeit verursachen, von Leserin und Leser aber auch nicht mehr – bis auf ewige BILDhafte Ausnahmen – so sehr nachgefragt wurden, ging es immer häufiger und immer weiter den Auflagenberg hinunter.

Doch zurück zum „Zeitungssterben“. Da haben wir wieder einmal so eine Vokabel, an der wir „Zeitunger“ selbst eine Teilschuld tragen. Begriffe sollen ja stets griffig sein, bildhaft Leserin und Leser vor Augen führen, was mit ihnen gemeint sein könnte und zudem sollen sie auch noch klingen. Nur, wonach klingt bitte sehr das „Sterben“, steht es im Zusammenhang mit Zeitung. Es klingt nach Unvermeidbarkeit, nach einem langjährigen Prozess, der mit der Geburt, also der Gründung begann, mit Aufstieg also mit steigender Auflage und viel Gewinn weiter ging, bis hin zum Siechtum, also Auflagenschwund und damit dem Antritt des Greisentums endete, um dann in das endgültige Dahinscheiden zu münden. Ganz normaler Prozess also, den niemand zu verantworten hat als die Natur selbst; kein Mensch, kein Verlag, kein Inhabertum.

Das ist eben der Lauf der Dinge, Zeitungen sterben, Verlage stellen Insolvenzanträge, Verleger und –innen ziehen um und essen die üppigen Reste auf, die verblieben sind, im Laufe der Jahre.
Das dürfen sie auch, schließlich tragen sie ja keine Verantwortung dafür, die Zeitung ist ja gestorben, sie hat sich selbst entzogen, Redakteure und –innen waren so kühn Geld zu verdienen, mit dem, was sie können und konnten. Anzeigenverantwortliche wollten auch etwas abhaben. Die Technik ließ sich einfach nicht genug eindampfen, dass sie noch rentabel techniken konnte, der Overhead im Büro wurde trotz aller Bemühungen am Ende zu teuer, die Zeitungsboten und Austrägerinnen wollten Geld. Frechheit aber auch.

Kurz und gut: Ich freue mich, dass der Deutsche Journalistenverband (DJV) schon heute das Unwort des Jahres gefunden hat: „Zeitungssterben“. Und ich stimme nostalgisch ein Requiem auf alle Blätter an, denen eine nicht mehr zu bändigende Wirtschaft auf allen Ebenen das lebensnotwendige Wasser abgräbt und sie vom Baum einer nicht mehr zu gewinnenden Erkenntnis fallen lässt.




Das Leben in 100 Jahren: Hoffnung und kalte Schauer beim Blick in die Zukunft

In einem Jahr, das die Menschheit nach dem Maya-Kalender nicht überstehen wird, kommt das Buch von Michio Kaku gerade recht. „Unser Leben in 100 Jahren“. Das lässt hoffen.

Doch dem Autor Michio Kaku wäre es sicher zu wenig, seinen Lesern die Botschaft zu senden: „Kopf hoch, es geht weiter“. Er sieht die Menschheit auf der Schwelle zu einer neuen Ära in der Erdgeschichte. Es dauert nicht mehr lange, bis wir alle ins Weltall ausschwärmen können, Hologramme die reale Präsenz eines Besuchers ersetzen und Gene gekauft werden können.

Da läuft einem als Leser manchmal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn der japanische Physiker seine Theorien entwickelt. Wo bleibt der Schutz des menschlichen Erbguts, wo der Schutz vor der totalen Überwachung? Doch Kaku versteht sich nicht als neuer Huxley oder zweiter Orwell, obwohl er ganz deutlich auf die Gefahren von religiösem Fundamentalismus oder totalitären Regimen zu sprechen kommt. Er setzt aber sehr eindeutig seine Auffassung entgegen, dass die Menschheit auf einen „intellektuellen Kapitalismus“ angewiesen sein wird, wie er es nennt. Um die Herkulesaufgaben, die auf die Weltbevölkerung warten, lösen zu können, gehe es gar nicht anders, als aus Wissenschaft und Forschung Kapital zu schlagen.

Zu den Kernfragen zählt der Autor zweifellos die Suche nach geeigneten Energieproduktionen, die den Bedarf der Menschen decken. Fossile Energieträger werden dabei keine Rolle mehr spielen, Supraleiter, Magnetismus, Wasserstoff sind drei Stichworte aus dem Gedankengebäude von Kaku. In seiner japanischen Heimat wollen ein Autokonzern und andere große Unternehmen eine nach jetzigem Dafürhalten abgedrehte Idee verwirklichen und eine Solarstation im All positionieren. Die immensen Kosten sind aber ein Bremsklotz, noch ist ungeklärt, wie die gewonnene Energie ohne große Verluste zum Erdtrabanten geliefert werden kann.

Aufhorchen lässt das Buch vor allem an den Stellen, die sich dem medizinischen Fortschritt widmen. Die genetischen Codes werden immer weiter entschlüsselt, beschreibt Kaku sehr eindringlich, und aus ihnen lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie denn die bestmögliche Behandlung aussehen könnte. Was sich äußerst vorteilhaft anhört, da es dem Menschen gute Chancen bietet, Krankheiten frühzeitig entgegenzuwirken oder erst gar nicht entstehen zu lassen, hat aber nicht nur zur Folge, dass die Menschen, wie Kaku schreibt, 150 Jahre und älter werden können, gleichzeitig erhöht sich auch die Bevölkerungszahl. Daraus resultiert die Frage, ob die Tragfähigkeit des Planeten ausreicht, damit alle Menschen genügend Nahrung haben. Wer sich heutzutage vehement gegen Biotech-Industrie wendet, wird dann vielleicht kein Argument mehr in der Hand haben. Wenn es ohne gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht angeht, die Menschheit zu retten, kann man dem sich wohl kaum versagen, meint der Autor.

Zu verhindern gilt es aber gewiss, dass eine weitere Aussicht, die Kaku beschreibt, eines Tages Realität werden könnte, dass man nämlich irgendwann Gedanken lesen kann. Die ethische Dimension spricht der Autor zwar an, bleibt aber sehr zurückhaltend, klare Schranken einzufordern.

Mag es auch möglich sein, Gedankenwelten zu entschlüsseln, nach Kakus Prognose wird es wohl nie Roboter geben, die mit einem Menschen gleichzusetzen sind. Das klingt beruhigend, dennoch besitzen sie vielfältige Fertigkeiten oder können entsprechend programmiert werden, beispielsweise, um mit dem Hund Gassi zu gehen oder das Mittagessen zuzubereiten.

Zum Ende seines Buches beschreibt Michio Kaku einen Tag im nächsten Jahrhundert. Da wird dann schon bei der Morgentoilette durchgecheckt, ob der Körper fit ist und anschließend wickelt man sich Kabel um den Kopf, damit sich das eigene Heim (vom Herd bis zum TV) steuern lässt.

Als ich das Buch aus der Hand lege, hat mich die Wirklichkeit wieder. Gott sei Dank.

Michio Kaku: „Die Physik der Zukunft – Unser Leben in 100 Jahren“. Rowohlt-Verlag, 602 Seiten, 24,95 Euro.




Johnny Cash und seine Freunde rocken das Theater in Bochum

So bekommen die Bochumer ihr Schauspielhaus garantiert voll, und das ist auch gut so: Johnny Cash und seine Freunde musizieren fast so, wie es in Cashs legendären Fernseh-Shows Ende der 60-er Jahre in den USA zu erleben war.

Das Theater als Konzerthaus. (Foto: Stadt Bochum)

„Well, you’re my Friend“ heißt die Nachfolge-Inszenierung der erfolgreichen Musikschau „A Tribute to Johnny Cash“, die seit längerem in Bochum die Menschen begeistert. Diesmal wird auf zwei Ebenen nachgespielt, was damals in den Studos des Fernsehsenders entstand und jeden Samstag ausgestrahlt wurde. Zum einen singen und tanzen die Darsteller und das Orchester ungefähr so, wie man es seinerzeit sehen und hören konnte, zum anderen werden in den gespielten Aufnahmepausen „Backstage“ die Konflikte deutlich gemacht, die Cash, seine Frau June Carter und seine Freunde mit den Produzenten und einem Teil der Zuschauer durchzustehen hatten – zum Beispiel beim ersten schwarz-weißen Duett mit Louis Armstrong oder bei den deutlichen Texten über Drogen und Sex.

Für die Theaterbesucher ist nicht immer klar, welcher Star der damaligen Szene gerade imitiert wird – Bob Dylan oder Dennis Hopper oder Liza Minelli oder einer der anderen amerikanischen Künstler aus den verschiedensten Musikrichtungen – Jazz und Rock, Blue-Grass, Folk und Country.

In Bochum kann man in dieser Show exzellente Musiker erleben, sowohl in der Band als auch unter den Solisten. In erster Linie ist das Thomas Anzenhofer, dessen Stimme dem Timbre des älteren Johnny Cash so nahe kommt, dass man ihn bei geschlossenen Augen selbst zu hören meint. Aus der Solistengruppe muss man unbedingt die zierliche Gastsängerin Linda Bockholt mit ihrer großen Soulstimme und Veronika Nickls hohen Sopran hervorheben. Thorsten Kindermanns musikalische Leitung und seine eigenen Einlagen sind natürlich wesentlich für den Erfolg. Inzwischen gab es schon vier Vorstellungen, in denen als Besucher offensichtlich auch „Wiederholungstäter“ saßen, die mit Kreischen und Johlen die Atmosphäre eines echten Konzerts schufen. Warum auch nicht: Es ist ein echtes Konzerterlebnis besonderer Güte. Der nächste Termin ist am 7. Dezember.




Mario Desiatis Roman „Zementfasern“: Das vergiftete Leben in der Fremde

Cover Download Wagenbach Verlag „Die Vorfahren hatten ihr Leben damit zugebracht, einen sicheren Fleck Erde zu suchen. Einen Schutzraum, wo man abwarten kann, bis die Zeiten sich bessern.“

Mit einer sehnsüchtigen Erinnerung an sonnenglänzende Tage am Meer beginnt „Zementfasern“, der erste ins Deutsche übersetzte Roman des in Italien hochgeachteten Autors Mario Desiati. Doch Heimat ist (leider) auch keine Lösung. Diese Lektion lernt Desiatis nonkonformistische Heldin Mimi früh und sie wird ihr ganzes Leben bestimmen.

Mimis Heimat liegt in der apulischen Provinz Lecce, unweit der Küstenstelle, wo ionisches und adriatisches Meer aufeinander treffen. Mit 15 Jahren muss sie diese Heimat verlassen, ihren Eltern ist es nicht länger möglich, dort für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Sie emigrieren in die Schweiz und es beginnen entbehrungsreiche Jahre. Jahre aus Glas und Zement. In den siebzigern Jahren war es ein ganzer Strom von Menschen aus Kalabrien, Sizilien und Apulien, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Schweizer Fabriken unter härtesten Bedingungen verdingten. Mimis Vater findet Arbeit in einer Zementfabrik, die Familie lebt in einem Verschlag in einer gläsernen Halle. Die Arbeit ist weitaus gefährlicher, als es den Anschein hat. Der Zement nährt sie, aber er zerstört sie auch. In den Fabriken wird Eternit hergestellt, bei der Arbeit atmen die Männer giftige Asbestdämpfe und Zementfasern ein, die ihre Gesundheit auf ewig zerstören werden. Da ist es nur mehr eine höhnische Randnotiz, dass der Markenname Eternit dem englischen Eternity (Ewigkeit) entlehnt ist.

In der Halle aus Glas sucht Mimi Zuflucht in einer frühen Liebe zum Arbeiter Ippazio. Der junge Mann ist mutig genug, in der Fabrik auf einem schmalen Grat über dem brodelnden Zement zu wandeln, jedoch nicht mutig genug, zu seiner Liebe zu stehen. „Aber in ihrem unverzichtbaren Recht auf wechselseitige Dummheit verbarg sich ein Wunder.“ Das Wunder trägt Mimi unter ihrem Herzen. Mit ihrer Tochter Arianna kehrt sie in die Heimat zurück, findet Arbeit in einer Krawattenfabrik und wird mit ihrer vitalen, unangepassten Art zu einem Mittelpunkt des Lebens in ihrem Dorf. Ein Dorf, dem nach und nach die Männer an den Spätfolgen der eingeatmeten Zementfasern wegsterben. Ein Dorf, in dem ein Totenkorb nach dem anderen gepackt wird und die Frauen für das Überleben der Gemeinschaft Sorge tragen.

Die Männer, die nicht an den Zementfasern dahinsiechen, erliegen der zweiten Krankheit der Entwurzelten, dem Alkoholismus. Mimi und die anderen Frauen nehmen schließlich den Kampf auf für eine späte Gerechtigkeit. Doch nur ihre unerfüllt gebliebene, aber immer Schatten werfende Liebesgeschichte mit Ippazio findet schließlich ein versöhnliches Ende auf dem Dach der von Schließung bedrohten Krawattenfabrik. Hier schließt sich ein Kreis, denn das italienische Wort für Dach ist Ternitti. Ternitti – so nannten die italienischen Arbeiter das todbringende Eternit, Ternitti – so lautet der Titel des Romans im Original.

Mario Desiati erzählt auf realistische Weise eine Geschichte nicht nur von Hunger, Tod und Ausbeutung, sondern auch eine von Liebe, Mut, Kühnheit und Kraft. Er setzt den Menschen seiner Heimat, die durch die Glücksversprechen Schweizer Fabrikanten so ausbeuterisch getäuscht wurden, ein Denkmal. Es ist eine Geschichte, wie sie überall auf der Welt erzählt werden könnte. Aber das war wohl nicht die Absicht Desiatis. Er hält seine Geschichte in kleinem Rahmen, eine globale Überbauung gibt er nicht. Damit macht er es einem Leser, der zum ersten Mal von der Tragik vieler Menschen in Apulien hört, schwer, einen empathischen Zugang zum Roman zu finden, zumal er etliches an Wissen beim Leser voraussetzt. Aber nicht jedem sind die gewachsenen Animositäten zwischen Kalabresen und Süditalienern bekannt, nicht jeder kann mit italienischen Begrifflichkeiten sofort etwas anfangen. So wird der Begriff Pajare für eine Bauweise in einer Fußnote erklärt mit Pajare – erinnern an die Trulli. Trulli sind Rundhütten, aber wer weiß das? Ich wusste es nicht und mutmaßte zunächst, die Trulli wären eine einflussreiche Familiendynastie in dieser Gegend. Diese Unterbrechungen des Leseflusses sind schade, denn Desiati eröffnet in diesem Buch einen ganz neuen, spannenden Blick auf italienische Wirklichkeiten. Einen Blick jenseits aller Klischees und auch jenseits gerade im Moment der Eurokrise gerne wieder aufkochenden Vorurteile.

Desiati erzählt mit Liebe und Respekt für seine Helden, sprachlich schafft er eine mitreißende Mischung aus Wut und Melancholie. In diesem Zusammenhang sei auch die bemerkenswerte Übersetzung erwähnt. Man merkt die Sorgfalt, mit dem die Übersetzerin Annette Kopetzki sich dem Buch und der Thematik genähert hat. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber sie hat es geschafft, dem Buch auch auf Deutsch eine italienische Sprachfärbung zu geben. Man meint förmlich, die italienische Sprachmelodie während des Lesens zu hören.

Das Ende des Romans bleibt zum Teil offen, man erfährt nicht, ob und welche Früchte der späte Protest der Frauen des Ortes Tricase getragen hat. Das erlittene Leid ist eben auch im übertragenen Sinne zementiert und nicht wieder gut zu machen. So bleibt für Mimi und die Ihren die Hoffnung, dass der Versuch gelingt, „nur die Erinnerungen zu bewahren, die sie lächeln machen.“

Mario Desiati: „Zementfasern“, Roman. Wagenbach Verlag, 283 Seiten, €19,90




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Alltagsnicken (4): Kleiner Mann auf großem Rad

Es kam mir dieser Tage unversehens in den Sinn, weil ein Freund seinen Namen erwähnte: „Du hast ihn schon lange nicht mehr gesehen, lebt er eigentlich noch?“ Also begann ich herumzufragen, telefonierte, wenn ich Zeit hatte und versuchte, bei Bekannten und Freunden Näheres über seinen Verbleib zu erfahren.

Was ich da erfuhr, war wirklich sehr erfreulich. Erstens, er ist noch am Leben, zweitens, er hält mit Hilfe fürsorglicher Umgebung die Kehle trocken, was ihm – wie man hört – sehr gut tut und drittens ist er mit inzwischen 78 Jahren natürlich nicht mehr gar so mobil, so dass ein Umzug in einen anderen Stadtteil schon mal dafür sorgt, dass er frühere Plätze etwas vernachlässigt. „Schön“, freue ich mich. Da hat etwas, da hat jemand nach wie vor Bestand.

Denn wir liefen uns ständig in den vergangenen Jahrzehnten über den Weg. Mal saß er bei Großveranstaltungen auf dem Gepäckträger eines Fahrrades, dessen Pedale von einem stadtbekannten Juristen ehrgeizig getreten wurden, so dass das Fahrzeug über die Strecke eines Jux-Rennens bewegt wurde, mal tapste er sichtbar unsicher (weil vermutlich weinselig) durch die Fußgängerzone, mal radelte er auf einem viel zu großen Rad durch die Straßen und kaufte ein, was er so benötigte, mal saß er traumverloren auf einer Bank, blinzelte in die Sonne und hing Erinnerungen nach.

Ach ja, ich sollte noch erwähnen, wer das ist, dessen kleiner Körper – so um die 1,65 Meter hoch – mir seit Jahrzehnten stets auffällt, wer sich so bunt bekleidet, dass er gesehen werden muss und wessen vorwitzige Augen unter dem Schirm seines grellen Basecaps hervor blinzeln. Die Rede ist von Brian Casser, der 1936 in Liverpool zur Welt kam, der eine kurze Zeit aus seinem zerbrechlichen Körper derart viel Musik herausholte, dass er und seine Band fast am Weltruhm kratzten, dessen unterschiedliche Formationen auch schon mal Eric Clapton beherbergten, der eine Zeitlang in der „Maigret“-Serie nahe am TV-Star war. Brian Casser, das ist der bürgerliche Name von Casey Jones, „The Governors“ nannte sich die Band und „Don’t Ha Ha“ war der bekannteste Hit der Truppe, die zu Zeiten ihres Glanzes die „Beatles“ leichter Hand überglänzte, was auch nicht schwierig war, weil die „Beatles“ ihren Glanz noch vor sich hatten.

Wie gesagt, die Zeit währte nur kurz, der kleine Casey lebte groß und intensiv, genoss alles, was er als Genuss empfand und wurde immer mal wieder vom trunkenen Kopf auf trockene Füße gestellt. Irgendwann landete er in Hessen, später folgte er einem Freund und Manager nach Unna und mengte sich ins Stadtbild ein. Kaum jemand erkannte ihn auf der Straße, kaum jemand erinnerte sich, dass das Männlein auf dem großen Fahrrad einmal ein ganz Großer des Beat war. Nur eine fröhlich Clique um den stadtbekannten Juristen, der selbst auch schon ewige Zeiten ein stadtbekannter Musiker ist, gab Casey Jones (es ist übrigens ganz bewusst der Name der Lokomotivführer-Legende aus nordamerikanischen Westernzeiten) gebührende Aufmerksamkeit. Weil sie alle zu würdigen wussten, wer er ist und was er war gab es auch niemanden, der sich über ihn lustig machte, lieber waren sie allesamt miteinander lustig.

Brian „Casey“ Casser wird hoffentlich – sobald es wieder warm wird – in der Stadt zu sehen sein. Ich tippe mal, dass er sein Fahrrad nicht mehr zu ausgedehnten Ausflügen nutzen, lieber zu Fuß gehen wird. Aber farbwechselnd gekleidet wird er sein, wenn er mit greller Kappe auf dem schütter behaarten Kopf in die Sonne blinzelt und der alten Tage gedenkt.




Meilensteine der Popmusik (23): The Kinks

„Was ist unser Leben eigentlich noch wert? Eine Zweiraumwohnung im zweiten Stock, kein Einkommen, und draußen versucht der Vermieter reinzukommen, um die fällige Miete einzutreiben. Wir sind eindeutig zweitklassig – Menschen, die in der Sackkasse leben, und dort auch sterben werden…“ (Auszug aus „Dead End Street“).

Ray Davies beobachtete seine Umgebung genau. Während die Songs der aufkommenden Protestwelle den Generationenkonflikt thematisierten, politische Auseinandersetzungen und Kriege anprangerten, ja bisweilen sogar den Weltuntergang beschworen, trieb sich Ray Davies in der Nachbarschaft herum. „Otto Normalverbraucher“ lieferte Davies die Themen für seine zumeist bissigen, sozialkritischen Songs.

Er war eindeutig der Kopf der Kinks (engl. kinky „schrullig“, „ausgeflippt“), neben den Beatles, den Rolling Stones und The Who eine der erfolgreichsten Vertreter der „British Invasion“, wie die US-Amerikaner damals die Beatwelle aus Großbritannien nannten. Als die Kinks 1963 im Norden von London zusammenkamen war auch schon Dave, der jüngere Bruder von Ray Davies, mit von der Partie. Beide kann man auch unter „schwierige Charaktere“ einordnen, ihr kompliziertes Verhältnis sollte die ganze Bandgeschichte mit beeinflussen. Doch erst einmal ließen sie es krachen. Ihre dritte Single brachte den Durchbruch und wird von den Rockwissenschaftlern als die Sternstunde des Hard Rock gefeiert: Bei „You really got me“ mit dem markanten Gitarrenriff, hält sich bis heute hartnäckig das Gerücht, dass der Studiomusiker Jimmy Page damals den Strom aus der Gitarre ließ… Jahre später erhob Page mit seiner Band Led Zeppelin den Hard Rock zur weltweiten Glaubensgemeinschaft. Doch das ist eine andere Geschichte.

Ray Davies indes wurde langsam zum Kultautor, zu einem der besten Songwriter seiner Zeit. Aber er war auch ein „Schwieriger“, wie sein Bruder. Ein Streit auf offener Bühne führte zur Eskalation während einer US-Tour. Da auch die dortige Bühnengewerkschaft involviert war, gab es erst einmal ein vierjähriges Auftrittverbot in den USA. Damit war die Karriere in den Staaten erst einmal erledigt. Aber auch im aufkommenden Wettbewerb um die erfolgreichsten Konzeptalben konnten die Kinks seltsamerweise nicht besonders punkten.

Mitentscheidend für den, im Vergleich zu anderen „Supergruppen“, begrenzten wirtschaftlichen Erfolg, waren wohl die eher unscheinbare Gesamtperformance der Gruppe, und die ständigen, internen Dissonanzen. Relativ häufig wechselte die Besatzung, nur die Brüder blieben. Als sich 1970 mit „Lola“ der größte kommerzielle Erfolg einstellte, wendete sich manch´ langjähriger Fan ab – nur kurzfristig, denn über die Jahrzehnte hielt sich der exzellente Ruf dieser Band.

Ob nun Punker oder Britpoper, sie alle respektierten the Kinks als stilprägend. Von den Brüdern Gallagher (Oasis) bis Wolfgang Niedecken (BAP) – auch bei prominenten Musikern gibt es bis heute genug Verehrer des genialen Songschreibers Ray Davies; so wie es Davies selbst in einem seiner Songs ausdrückte: „a well respected man“.

Ray Davies‘ Beobachtungen in der Nachbarschaft machten auch vor der Verwandtschaft nicht halt. Für viele der wohl schönste Song der Kinks ist die lyrische Rockballade „Waterloo Sunset“ aus dem Jahr 1967. Als Hauptpersonen agierten seine Schwester Julie und  sein Neffe Terry, die sich jeden Abend am Bahnhof Waterloo Station trafen. Sie spielten damals nur im Kopf des Dichters ein Paar, das im Sonnenuntergang, in den Menschenströmen der Rushhour, gemeinsam vom Auswandern in die neue Welt träumte. Eine Analogie, die Ray Davies für sich selbst auch immer in Anspruch nahm: den Traum vom Aufbruch in eine vermeintlich bessere Welt.

THE KINKS on dailymotion

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22)




Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




John Irvings Roman „In einer Person“: Ein junger Mann sucht seine sexuelle Identität

Schauspieler leben gefährlich. Vor allem wenn sie jung sind, fast noch ein Kind, und nicht nur früh den Verlockungen des Theaters, sondern sich auch der Vielfalt der Rollen erliegen.

Dass Männer in Frauenkleider schlüpfen (und umgekehrt) und dass eine faszinierend schöne Schauspielerin in Wirklichkeit ein hormonbehandelter ehemaliger Mann ist, lernt der pubertierende William Abbott jedenfalls schon sehr früh. Seine Mutter arbeitet als schlecht bezahlte Souffleuse am Theater der (fiktiven) Kleinstadt „First Sister“. Sein Großvater trägt auf der Bühne gern Frauenkostüme und warnt den jungen, ebenfalls zum Theater drängenden William, dass es für einen Schauspieler manchmal schwer ist, bei all den Rollen und Identitätsvariationen den Überblick zu behalten und noch zu wissen, wer und was man eigentlich ist.

Miss Frost, seine Lieblingsbibliothekarin, die William mit den Romanen von Dickens und den Dramen von Ibsen vertraut macht, verliert ihren Job, als bekannt wird, dass die große Diva der Laien-Theatertruppe des Ortes früher ein Mann war und heute junge Knaben sexuell verführt. Was für William eine durchaus erregende Erfahrung ist, wird im Ort zum riesigen Skandal. Spätestens da weiß William, dass er das miefige Provinzkaff erst einmal für eine Weile verlassen und herausfinden muss, was er vom Leben und der Kunst erwartet und wie er es schaffen könnte, seine sexuellen Leidenschaften für Mann und Frau, die sich bei ihm „In einer Person“ zu einem explosiven Amalgam vermischen, ausleben zu können.

„In einer Person“ ist nun bereits der dreizehnte Roman von John Irving. Und wie die meisten seiner Vorgänger verarbeitet auch das neue Buch wieder viele biografische Erfahrungen des Autors zu einer weit ausgreifenden literarischen Fiktion. Denn ob in „Garp“ oder in „Owen Meany“, „Zirkuskind“, „Bis ich dich finde“ oder „Letzte Nacht in Twisted River“: Immer ist auch ein Stück fiktionalisiertes eigenes Leben in den Romanen des Autors versteckt. Auch Irvings Mutter war Souffleuse am Theater, auch Irving liebt Dickens und Ibsen, auch Irving wurde als Jugendlicher von einer älteren Frau ins Sexleben eingeführt. Auch Irving ist Scheidungskind und hat viele Jahre gebraucht, bis er seinen leiblichen Vater wiedergefunden hat. Auch Irving ist, wie sein Held William Abbott, passionierter Ringer. Man könnte ewig so weitermachen.

Aber was besagt das schon über die Qualität und die Sprengkraft von „In einer Person“, diesem vorwitzig und freizügig erzählten Roman über die Faszination des Theaters, die Schwierigkeit individueller Identitätsbildung und die sexuelle Prüderie im Amerika der 50er und frühen 60er Jahre? Der Held und Erzähler William Abbott, der auf sein bewegtes Leben als Bisexueller zurückblickt, nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis sexueller Befreiung: Denn auf die große sexuelle Sause der Schwulenbewegung der 70er Jahre folgte in den 80ern mit der Aids-Epidemie das große Sterben. Für William, der alle sexuellen Spielarten erprobt und das hippe Leben in New York und San Francisco genossen hat, wird es Zeit, wieder nach Vermont, in seine Heimat, zurückzukehren und dort, ganz im Stillen und Kleinen, zu versuchen, seine Träume von der der großen Liebe zu verwirklichen.

Dass Irving genauso so alt ist wie sein Erzähler und sich ebenfalls gern in den Naturschönheiten und Weiten Vermonts verliert, sollte den Leser nicht zum Kurzschluss verleiten, er sei mit William identisch. Im Gegenteil. Der Roman, das verriet Irving in einem Interview, sei eine Hommage und eine Liebeserklärung an seinen Sohn Everett. Der hatte sich 2009, gerade als Irving mit dem Schreiben des Buches begann, seinem Vater gegenüber als Schwuler geoutet. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass der filigran konstruierte und mit deftigem Humor erzählte Roman den Leser nicht nur glänzend unterhält und amüsiert, sondern auch, wenn Freiheit und Vorurteil, Lust und Tod eng beieinander sind, zutiefst berührt.

John Irving: „In einer Person“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog und Astrid Arz. Diogenes-Verlag, Zürich, 725 Seiten, 24,90 Euro.




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (4): „Griessnockerl-Affäre“ – ein etwas anderer Eberhofer-Krimi

Es beginnt mit einem Anlass zum tiefen Bedauern: Schreck, die Oma lebt nicht mehr!

Hatte sich die Leser-/Hörerschar doch an sämtliche Mitglieder der Familie Eberhofer in Niederkaltenkirchen bei Landshut so sehr gewöhnt, liebte sie doch sämtliche Schrullen und Alltagsungewohnheiten und war sie doch bei jedem der Eberhofer-Krimis von Rita Falk immer wieder begeistert von den Schmankerln, die Oma gerade ihrem Enkel Franz zubereitete. Und nun keine allseits bejubelten Rezepte mehr, keine einschaltbare Schwerhörigkeit mehr, wenn die kleine Oma sich verweigerte, blödsinnigen Lebensäußerungen ihrer Umgebung ausgesetzt zu sein?

Doch dann – beim üblichen Kondolenz-Défilé – erklingt auf einmal Omas gewohntes Stimmchen aus den Stimmbändern von Christian Tramitz. Sie drückt der Susi vom Franz ihr Beileid für den Verlust von deren Oma aus. Sie selbst ist nach wie vor doch noch quicklebendig und fest entschlossen, Rita Falks „Grießnockerlaffäre“ die geriatrische Würze zu verleihen, die sie schon in den vorangegangenen Romanen zur besten Nebendarstellerin machte.

Apropos Christian Tramitz‘ Stimme: Sie klingt diesmal streckenweise so warm und liebevoll weich, dass nur bei seinen unvermeidlichen Zusammentreffen mit den Freunden Rudi (Expolizist), Wolfi (Kneipier), Flötzinger (Klempner, auch Gas-Wasser-Scheiße-Pfuscher genannt) und Simmerl (Metzger, der die delikatesten „Warmen“ anbietet) der gewohnte Grantler hervorschaut. Oder bei Auseinandersetzungen mit Bruder Leopold oder dem wuseligen Bürgermeister. Viel häufiger versucht der Ur-Bayer einen Tonfall zu üben, der sich dem anpasst, den er anschlägt, wenn er die kleine Sushi (die ihn liebende Tochter von Bruder Leopold) auf den Arm nimmt.

Das liegt an Paul, der die Oma besucht und sie damit an beider jungen Jahre erinnert, der Omas Stimme einen ebenso warmen Tonfall gibt und den gern mal derben Franz in tiefste Rührung stürzt, sobald der beobachtet, wie Paul und Oma frisch wiederverliebt umeinander schwärmen. Paul, das stellt sich später heraus, war der Erzeuger vom Papa, ist somit der Opa vom Franz und musste gleich nach der Zeugung vom Papa vor den Nazis fliehen. Nun ist er, wie sich schon früh andeutet, schwerst krank und hat es noch geschafft, sich einen Lebenstraum, das Wiedersehen mit der Oma, zu erfüllen.

Diesem zärtlich-liebevollen Handlungsstrang widmet sich Rita Falk allerdings so intensiv, dass der eigentliche Krimi in den Hintergrund tritt, der Hörer/Leser und natürlich auch alle –innen beiläufig mitbekommen, dass der Chef der Polizeiinspektion Landshut ins Jenseits befördert wurde und unser Franz als Hauptverdächtiger nicht ermitteln darf, es selbstverständlich aber dennoch tut. Gemeinsam mit Rudi und dem Stopfer Karl wird ermittelt und herausgefunden, dass zwei Frauen sich nach Hitchcocks Vorbild aus „Der Fremde im Zug“ etwas ausgedacht hatten…

Derweil kifft der Papa fast den Kräutergarten leer – angesichts der Tatsache, dass seine Mutter lieber den spät kennengelernten Vater bespaßt als ihm, dem Mann, den sie jahrzehntelang bekocht und umsorgt hatte, die ihm zustehende Fürsorge zu widmen. Derweil schleimt Bruder Leopold ausnahmsweise mal nicht den Papa voll, sondern hetzt seine medizinisch versierte Bekanntschaft auf den Paul, während der deutlich zeigt, dass Enkel Franz ihm eigentlich lieber ist und er zudem wenig Wallung verspürt, an sich sinnlos herumdoktern zu lassen. Was zum Ende führt, Franz Eberhofer seinen Opa Paul friedlich entschlafen auf dem Schoß der Oma findet als er heimkommt und mit dem Papa spürbar traurig wird angesichts dieses Bildes.

Erst als es die offizielle Belobigung durch den obersten Chef gibt, kehrt wieder uneingeschränkte Fröhlichkeit ein, ist der Franz stolz, die Oma auch, schnupft Richter Moratschek Gletscherprise, als gebe es kein Morgen und unternehmen Franz und der Rudi einen Ausflug nach Gelsenkirchen – als wenn es nicht Städte gäbe, die bessere Fußballvereine beherbergen. Das hat sich der Franz im Tausch gegen eine Paris-Reise ausgedacht, die nun nicht mehr die beiden alten Kollegen Polizisten antreten, sondern sie dem Flötzinger und seiner Mary verehren, damit diese wiederum ihre ausgekühlte Liebe erwärmen können, und das dritte Kind, das noch kurz vor des Flötzingers Kastration gezeugt wurde, liebevolle Eltern behält.

Wie gesagt, ein wenig sanfter kommt der neue Eberhofer-Krimi daher. Bisweilen wird er leise und liebevoll. Und der reifende Franz, der nach wie vor der Freundin Susi mal einen Sprung zur Seite gesteht, lässt sich dann und wann Dinge einfallen, auf die er drei Krimis zuvor nie gekommen wäre. Rita Falk hat offenbar ihre Dorfgemeinschaft inzwischen zu liebgewonnen, dass eines ihrer Mitglieder noch grundgrantelig oder gar boshaft dargestellt werden könnte. Nun soll sie sich mal beeilen, damit man bald erfährt, wie alles weitergeht.

Rita Falk (Autorin) / Christian Tramitz (Vorleser): „Griessnockerlaffäre“. Hörbuch-CD bei Der Audio Verlag DAV. Ca. 17 Euro.




Musiktheater zur Shoah: Essener Jüdin steht im Mittelpunkt

Als das Unheil begann, Gestalt anzunehmen, wohnte Perl Margulies in Essen. Mit ihrem Mann Benzion (oder eingedeutscht Benno) führte sie ein Geschäft. Eine ganz normale Hausfrau aus der bürgerlichen Mittelschicht wird 2012 zur Protagonistin einer Oper. „Refidim Junction“ heißt das Werk des Jerusalemer Komponistin Magret Wolf. Uraufgeführt wurde das Musiktheater nun in einer beispielhaften Zusammenarbeit von Musikhochschule und Theater Würzburg. Und die Essener Jüdin spielt darin eine Hauptrolle. Sie war eines von Millionen Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

In „Refidim Junction“ stellt Magret Wolf Briefe zweier jüdischer Frauen gegenüber, der Würzburger Dichterin Marianne Rein und der Essenerin Perl Margulies. Beide werden Opfer der Verfolgung: Die junge Lyrikerin wird 1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert: Sie ist vermutlich verhungert oder erfroren. Perl Margulies taucht in Mannheim bei Verwandten unter, nachdem ihr Mann schon 1933 aus Deutschland geflohen ist. Ein quälendes Jahr lang muss sie auf das Visum warten, das ihr und ihren Kindern die Ausreise nach England ermöglicht. „Wir erreichten London am Sonntag, den 12. Mai 1934“, schreibt Perls Tochter, Alice Shalvi, im Programmheft.

Die Zeit dazwischen spiegelt sich in rund einhundert Briefen, aus denen Magret Wolf für ihre „szenisch-dokumentarischen Aktion“ Zitate ausgewählt hat. Es sind keine Briefe über den Holocaust, aber sie lassen in all ihren alltäglichen Bemerkungen, in den beiläufigen Bemerkungen, aber auch in manch verborgenem, bitterem Sarkasmus das Böse mitschleichen. Die allgegenwärtige Bedrohung, die Verfinsterung der Atmosphäre wird greifbar.

„Wir hatten ein sehr kultiviertes Haus“, erinnert sich Tochter Alice. „Ein Grammophon, Aufnahmen mit Beniamino Gigli, Jan Kiepura, berühmte Kantoren, Oper, Kino, Theater.“ Schon 1932 war der antijüdische Reflex – nicht nur in Essen – greifbar: „Eine Aufführung des ‚Kaufmann von Venedig‘ weckte so viel antisemitisches Gift im Publikum, dass meine Eltern aus Angst aus dem Theater flohen“, berichtet Alice Shalvi. Im Juni 1933 durchsuchte die Gestapo die Essener Wohnung der Familie Margulies – in deren Abwesenheit. Benzion Margulies floh nach London.

Die Mutter versuchte, das Geschäft abzuwickeln, litt unter dem alltäglichen Terror der kleinen Nadelstiche. Als polnische Jüdin – geboren 1893 in Galizien – hatte Perl Margulies bis dahin ein Aufenthaltsrecht. Noch 1933 erfolgte die Ausweisung und der Wettlauf mit der Zeit begann. Die Familie tauchte in Mannheim unter; die Verwandten dort behandeln sie verächtlich; der Schmerz schlägt sich in vielen Berichten über verletzende Äußerungen und abwertendes Verhalten nieder. Für Perl Margulies war die Zeit bis zur Ausreise elend und trostlos, geprägt vom schrecklichen Warten und zehrender Ungewissheit.

Zwei Jahre hat Wolf an ihrer „szenisch-dokumentarischen Aktion“ gearbeitet; der Eindruck der Uraufführung war überwältigend: Das liegt sicher auch am Thema, und zwar jenseits politisch korrekter Betroffenheitskultur. Es liegt aber auch an der fordernden Verbindung einer formal ausgereiften, klangstarken Musik mit einem Libretto, das sich vom Erzählen fernhält, das Dokumente sprechen lässt, das den unbeschreiblichen Terror der eiskalt funktionierenden Nazi-Vernichtungsindustrie aus erheblicher Distanz und gleichzeitig tiefster Betroffenheit künstlerisch gegenwärtig setzt.

Szene aus "Refidim Junction" in Würzburg. Foto: Nico Manger

Szene aus „Refidim Junction“ in Würzburg. Foto: Nico Manger

Das ist ein erhebliches Risiko, denn nach Adornos apodiktischer Verweigerung eines ästhetisch-künstlerischen Zugangs zum Ungeheuerlichen (nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch) hat es lange gedauert, bis sich die Kunst an das Thema wagte. Das Tabu nützte denen, die am liebsten alles vergessen und auf sich beruhen lassen würden: Verfemte Komponisten und Werke etwa blieben weiterhin unaufgeführt. Es half aber auch nicht bei dem, zu dem sich Kunst berufen fühlen kann: das Unsagbare, die tiefste Schicht des Entsetzens, aber auch der Scham, der Schuld, des Versagens zu „verdichten“ und damit, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Zwar schließt die zwangsläufige „Ästhetisierung des Grauens“, die Dramaturg Christoph Blitt zu Recht im Programmheft befürchtet und untersucht, die Gefahr ein, Bosheit, Terror und Leid in ihrer unmittelbaren Wucht zu verkleinern (was im Übrigen schon jede „Erzählung“ tut).

Jedoch ist eine künstlerische Bewältigung in der Lage, dem Unbegreiflichen einen Begriff zu geben und es damit in seiner Tragweite, Komplexität und furchtbaren Unmittelbarkeit gegenwärtig und kommunizierbar zu machen. Und ein Medium wie das Musiktheater, das alle Sinne des Menschen anspricht und seine emotionalen Tiefenschichten erreicht, kann unter Umständen eine tiefere Wirkung erzielen als eine nüchtern-kühle, auf den Verstand zielende, scheinbar objektive Dokumentation.

Magret Wolf hat das Dokumentarische und das Theatralische – sie nennt es „Aktion“ –miteinander verbunden und damit gegenseitig erhöht: Die Briefe der jüdischen Frauen sind private Dokumente, in denen die Schrecken der Zeit meist nur in Andeutungen vorkommen, die sich um Alltag und Familie, um Liebe, Zweifel, Angst und Not drehen. Aber wie in diesen oft einfachen Sätzen das Böse mitschleicht, das der einen der Frauen das Leben, der anderen Heimat und Existenz kostet, ist wegen seiner nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Drohung verstörend.

Wolf zieht in das Stück drei Ebenen ein: Die unmittelbarste ist die der beiden Frauen, verkörpert durch je eine Sängerin und eine Schauspielerin. Katja Beer (Sopran) und Charlotte Sieglin (Sprechrolle) sind Marianne – dunkelblonde, lange Haare, hochgewachsene Figur, vermutlich blaue Augen: das „deutsche Mädel“ des Rassenwahns nicht nur der Nazis. Die Sängerin Judith Beifuß und die Schauspielerin Britta Scheerer übernehmen die Rolle der Perl: dunkelhaarig, braunäugig, weiche Formen.

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als "Perl" in "Refidim Junction". Foto: Nico Manger

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als „Perl“ in „Refidim Junction“. Foto: Nico Manger

Für das Quartett bedeutet der Abend pausenlose Hochkonzentration. Kaum ein Moment bleibt ihnen, aus der Präsenz auf der Spielfläche auszubrechen. Schreien, Flehen, Protestieren; Einsamkeit, Angst, Resignation; verhaltene Nachdenklichkeit, flammende Wut, Verletzung und Sehnsucht nach Nähe: die Gefühlslagen der Briefzitate könnten unterschiedlich nicht sein. Aber selbst in der banalsten Bemerkung – Wollsocken anziehen, Unterwäsche suchen – schwingt die Bedrückung der Zeit mit, wird am einzelnen Schicksal greifbar, was es bedeutete, in dieser Zeit zu den Opfern zu gehören.

Die Ebene, die Menschen zu Opfern macht, ist in einer Video-Installation präsent. Sandra Dehlers Bühne meidet jede Form von plakativer Unmittelbarkeit. Es rollen einfach die Bestimmungen ab, die zwischen 1933 und 1942 erlassen wurden, um den Juden das Leben erst einzuschränken, dann praktisch unmöglich zu machen und schließlich zu nehmen. Es ist zu lesen, wie furchtbares juristisches Handwerk Zug um Zug Willkür in Gesetzesform gießt – bis schließlich die Züge fahren, nach Riga, nach Stutthof, nach Auschwitz und wie die Orte des Grauens alle heißen. Schreiendes Unrecht wird zu positivem Recht formuliert, hinter dem sich die Täter jahrzehntelang verstecken konnten. Die bürokratisch perfekte Machart lässt einen Kloß im Hals wachsen. An alles war gedacht, selbst an die – untersagte – Tätigkeit jüdischer Schaufensterdekorateure.

Mit dieser Ebene korrespondiert, wie eine Reaktion, ein Gebetstext von Rywka Kwiatkowski aus dem Ghetto Łódż: „Ich habe keine Gebete mehr“. Der Chor zieht eine Zwischenebene ein: Er liest die Namen der 202 Würzburger, die auf der Deportationsliste der Gestapo am 27. November 1941 standen. Schicksale werden benannt, Opfer bekommen einen Namen, Marianne und Perl reihen sich ein in ihren unendlichen Zug.

Das Orchester, das Ulrich Pakusch mit souveräner Übersicht leitet, besteht aus Studierenden der Hochschule. Die übliche Besetzung ist angereichert mit achtfach besetzter Perkussion und Harfe. Cembalo und zwei Akkordeone spielen eine charakterisierende, auf die handelnden Personen bezogene Rolle. Magret Wolf, die in Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft studiert hat, verwendet „patterns“, also motivisch-melodische Bausteine, die sich permanent wandeln; eine zunächst repetitiv anmutende Musik, deren klangliche Variabilität und formale Flexibilität schnell einsichtig wird. Das Orchester agiert hinter dem Projektionsvorhang, der zu Beginn des Stücks einen friedlichen Wald zeigt: eine Naturidylle mit dem Hauch eines Friedhofs, trügerisch und unheilkündend.

Die Inszenierung von Kai Christian Moritz – langjähriges Mitglied des Schauspielensembles des Würzburger Mainfrankentheaters – setzt auf die Spannung von strenger, ritualisierter Bewegung und genau beobachtetem, emotional geladenem Spiel. An ihm liegt es nicht, dass vor allem zum Ende des ersten Teils hin die Spannung zur Anspannung wird und zu reißen droht. Der Versuchung, zu viel in das Stück zu packen, ist Magret Wolf nicht entkommen: Der Zuschauer erlebt das Wachsen des Drucks gleichsam körperlich mit. Doch die Gefahr der Überreizung durch das Trommelfeuer der Emotion ist konkret. Es ist auch Moritz‘ Regie zu verdanken, dass es nicht zum Übersprung von extrem herausgeforderter Betroffenheit zu innerlicher Abstumpfung kommt.

Dem Stück wären weitere Aufführungen zu wünschen; das Thema ist auch 67 Jahre nach dem Ende der Shoah bedrückend aktuell. Und Wolfs Musiktheater ist ein Teil der Erinnerungskultur, die dem Vergessen um der Opfer und der Zukunft willen entgegenwirkt.

Perl Margulies hat Essen nicht mehr wiedergesehen. Vermutlich wollte sie das auch nicht mehr. Sie starb am 21. November 1962 in Jerusalem.

Noch zwei Aufführungen sind in Würzburg geplant am 22. und 24. November. Tickets: (0931) 39 08 124.




„Kalendarium des Todes“ – ein mörderisches Jahr am Hellweg

CoverDownload von Grafit.deFeiertage mögen so manchem ohnehin bedrohlich vorkommen. Nach der Lektüre des Buches „Kalendarium des Todes“ wird es den oder anderen wohl noch mehr grausen. Die sechste Krimi-Anthologie der „Mord am Hellweg“-Reihe führt durch ein mordsmässig bewegtes Jahr.

Im Laufe des kriminalistischen Jahres lernt man so einiges. „Auftragskiller wird man nun mal nicht aus der Lameng“ – damit wäre das auch geklärt. Der freundliche Auftragskiller in Edda Mincks stumpfem Trauma in Bergkamen überlegt, ob er da mal nicht ein Buch drüber schreiben solle. “Könnten sie ja auf diesem Krimi-Festival am Hellweg vorlesen……..“ Gute Idee, die nehmen solche Geschichten immer gerne.

„Mord am Hellweg“ ist zum Markenzeichen geworden, ganz klar – die Reihe und das Festival reüssieren. Die feine Gesellschaft, welche sich für die Kurzgeschichten zusammengefunden hat, beweist dies eindrücklich. Neben versierten Krimi-Autoren sind es diesmal auch einige eher genre-fremde Autoren, die sich freudig in die Mordsarbeit stürzten. So nahm der Hellweg-Veteran Ralf Kramp die Mutter Beimer aus der Lindenstrasse, Marie Luise Marjan unter seine Fittiche, um mit ihr die Abgründe des Muttertags zu erkunden, und Nina George ließ gemeinsam mit Deutschlands bekanntestem Gefängnisarzt Joe Bausch (der Pathologe aus dem Kölner Tatort) den Glöckner von Bönen seinen letzten Tag der Arbeit erleben.

Die Kurz-Krimis sind wie immer einzig, aber ganz und gar nicht artig. Manche Storys sind schon arg schräg, andere machen durchaus nachdenklich, manche sind auch richtig spannend und laden zum Rätseln ein. Was sie eint, ist ein niedriger Blut- und Horror-Faktor sowie ein witziger Unterton, oft versehen mit kleinen Seitenhieben in die Hellweg-Region. Wie ein weiterer roter Faden zieht sich eine Art Stellvertreter-Gerechtigkeit durch die Anthologie. Die Opfer sind durch die Bank weg alle nicht sympathisch, man ertappt sich bei dem Gedanken, dass endlich mal wieder „en fiese Möpp“ seiner wohlverdienten Gerechtigkeit zugeführt wurde und ist oft genug dem Täter nachgerade dankbar, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hat. Was das über unser Verhältnis zur Obrigkeit aussagt – es darf spekuliert werden.

Ganz nebenbei gibt es noch einige nette Ausflugstipps für Ruhr und Lippe. Fest eingeplant für den nächsten Sommer ist schon die Besteigung der Gelsenkirchener Himmelshalde. Auch die so idyllisch beschriebene Marina in Rünthe scheint es wert zu sein, mal genauer unter die nicht nur kriminalistische Lupe genommen zu werden. Gelsenkirchen, seine Schlösser, Pommesbuden und Himmelshalden sind der Schauplatz der finalen Silvester-Geschichte, in der die bayerische Krimi-Autorin Rita Falk ihren kultigen Dorfpolizisten Eberhofer die Erfahrung machen lässt, dass der Freistaat und das Ruhrgebiet so weit gar nicht voneinander weg sind. In diesem Sinne Glückauf und ois guade für Mord am Hellweg VII.

„Kalendarium des Todes. Mord am Hellweg VI“, 22 Kurzkrimis, herausgegeben von H.P. Karr, Herbert Knorr & Sigrun Krauß. Grafit Verlag, Dortmund. 341 Seiten, €11,00




Grundkurs Musik, zuweilen herzbewegend: Joachim Kaiser erklärt die Welt der Klänge

Das Publikum fragt – der Kritiker antwortet. So ist Joachim Kaisers Buch „Sprechen wir über Musik“ entstanden.

Der Mann, der seit vielen Jahrzehnten vor allem für die Süddeutsche Zeitung über so genannte E-Musik schreibt, hat sich auf seine etwas älteren Tage nicht gescheut, in einem Videoblog aufzutreten, um auf Fragen der geneigten Leser und User einzugehen. Dass das Ganze zu einem gedruckten Buch geronnen ist, verwundert ebenso wenig wie die Tatsache, dass parallel ein Hörbuch erscheint. Der Urheber liest leidlich, mit etwas schütter gewordener Stimme, seine Tochter Henriette führt Regie.

Was ist eigentlich „deutsch“ an deutscher Musik? Wer war besser: Bach oder Mozart? Warum muss es eigentlich Musikkritiker geben? Mag auch manche Frage reichlich unbedarft klingen, so gilt doch bei diesem Grundkurs letztlich die Sesamstraßen-Weisheit: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Joachim Kaiser lässt sich offenbar herzlich gern herbei, unterhaltsam auf allerlei Wissbegier einzugehen. Apropos herzlich: Eine seiner Lieblingsvokabeln zur Kennzeichnung grandioser Musik, so verrät er, sei „herzbewegend“. Doch auch er hat natürlich vielfach die Erfahrung aller ernsthaften Rezensenten gemacht: Einen „Verriss“ zu schreiben, das sei bedeutend leichter, als ein fundiertes Lob zu formulieren.

Kaisers Ausführungen geraten jeweils kurz und knapp, er greift vielfach rasch und bereitwillig zu Anekdoten. Selten geht er analytisch vor, sondern stellt lieber – gestützt durch immense Hörerfahrung – Qualitäts-Behauptungen auf, an die man sich halten kann oder auch nicht. Er kommt nicht umhin, gelegentlich den Partyplausch zu bedienen. Seht her, wie leichtfüßig man über Klassik parlieren kann (und dabei auch schon mal haarscharf am Gemeinplatz entlang schrammt). Natürlich darf bei all dem der Gestus des „Ich kannte sie alle persönlich“ nicht fehlen. Motto: Als ich einst mit Karajan beisammen saß… Nun ja, ein solcher „Großkritiker“ darf das immerhin mit gewissem Recht sagen.

Tatsächlich mag es ja für den Laien spannend sein, zu erfahren, wen einer wie Kaiser für das Nonplusultra des Pianistentums hält: Rubinstein oder Horowitz? Unterwegs gelingen ihm jedenfalls immer wieder Textpassagen, die Lust aufs Hören der genannten Werke wecken. Dabei bewegt er sich überwiegend auf längst bestens befestigten Pfaden: Indem er erläutert, was die Größe etwa von Richard Wagner, Wilhelm Furtwängler, Franz Schubert oder Maria Callas ausmacht, schließt er zumeist weit offene Türen auf. Übrigens lässt er es auch durchgehen, wenn jemand Mozarts „Kleine Nachtmusik“ mag, denn irgend etwas müsse ja dran sein an solchen populären Stückchen. Hauptsache, man werde durch sie auf andere Schöpfungen neugierig.

Freilich werden auch flugs die feineren Unterschiede zwischen Stretta- und Cabaletta-Schlüssen (Einzelheiten bitte selbst nachlesen) erwogen, oder es wird das fragile Wesen von Pausen und Stille ein wenig ausgelotet. Kaiser relativiert das sonst so gedankenlos benutzte Wort „Hochkultur“. Franz Schubert, so Kaiser, habe seinerzeit zur „Subkultur“ gehört – im Gegensatz zum bereits etablierten Beethoven, der zur Hochkultur gezählt habe. Einige Jahre früher müsste demnach Beethoven seinerseits „Underground“ gewesen sein. Ein Gedankengang, der seinen Reiz hat und nebenher auch den markigen Rockspruch „Roll over Beethoven“ auf Normalgröße schrumpfen lässt.

Aus dem Herzen spricht mir Kaiser, wenn er gegen egozentrische Werkzertrümmerer eines überzogenen „Regietheaters“ angeht, denen Sinn und Form eines Theaterstücks oder einer Oper einerlei sind. Dem entspreche eine weit verbreitete Marotte der Kritik, welche die Sängerleistungen oft nahezu ignoriert, wie Kaiser zugespitzt darlegt: Über 200 Zeilen werde weitschweifig das Für und Wider des Regiekonzepts ausgebreitet – „und ganz zum Schluss heißt es knapp: ‚Der sang leis, und der sang laut.’“

Joachim Kaiser: „Sprechen wir über Musik. Eine kleine Klassik-Kunde.“ Siedler Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.
Als Hörbuch: 2 CD, ca. 2 Stunden und 6 Minuten, Der Hörverlag, 19,99 Euro.

(Buch und Hörbuch erscheinen am 19. November)

Videotrailer mit Joachim Kaiser und Leseprobe (Werbematerial des Siedler-Verlages):
http://tinyurl.com/cdrdx93




Vorfälle (1): Pietät, Jugendschutz, Amadeus

Es gilt diverse Vorfälle abzuhandeln, die zu denken geben. Oder auch nicht. Oder so ein bisschen.

Zum einen lag in der heutigen Post das Reklameschreiben eines Dortmunder Steinmetzmeisters, der jetzt endlich mal aufs Ganze geht und das bräsige, verdruckste Pietäts-Geschwurbel seiner Branche beherzt hinter sich lässt. Also lautet sein flotter Slogan:

„Sparen bei unserer stürmischen Herbst-Aktion“

Das fetzt, nicht wahr? Und wenn man dann noch den megageilen Teaser liest, der da verheißt:

„Wir schenken Ihnen eine Grablampe (gültig …bis 30. November)“,

dann zieht man sich auch noch den süffigen Rest rein, in dem die Trauer endgültig ertrinkt:

„Wenn das Laub bunt von den Bäumen und Sträuchern fällt, fallen…die Preise.“

Alles, alles fällt und fällt. Ach, wer da mitfallen könnte!

Zwanglos leite ich über zu einem Geständnis: Ich habe Beihilfe zur Umgehung des Jugendschutzes geleistet. Das kam so:

Bezahlzone im Supermarkt. Man steht mal wieder in der Problemkassen-Schlange. Vorne diskutiert die Kassiererin mit einem Jungspund, der einen Kasten Pils und eine Flasche Wodka kaufen will. Ist er nun unter oder über 18 Jahre alt? Schwer zu sagen. Er hat jedenfalls keinen Ausweis dabei. Sagt er.

Die Angestellte nimmt ihren Job ernst, ist aber alles andere als entscheidungsfreudig. Zunächst lässt sie die Wartenden in der Schlange schätzen, wie alt der Junge wohl sei. Das gibt ein großes Hallo, ein munteres Hin und Her. Aber keine Lösung. Nun ruft sie hintereinander zwei Kolleginnen zu sich, die beim Ratespielchen mitmachen und Entscheidungshilfe geben sollen. Beide wollen es hinterher nicht gewesen sein und sagen sinngemäß: „Was sollen wir dir raten? Es ist deine Kasse.“ Nun ist sie vollends verunsichert. Die Reihe der Wartenden wird derweil lang und länger.

Da fasse ich mir ein Herz und schlage einen Kompromiss vor: „Geben Sie ihm doch den Kasten Bier, aber nicht den Schnaps.“ Sei’s, dass dies tatsächlich salomonisch klingt, sei’s, dass ich mir einen Rest von Autorität bewahrt habe (Weisheit des gemessenen Alters!): Die Dame an der Kasse folgt meinem Vorschlag ohne jedes Zögern. Denke mal, die Menschen weiter hinten in der Schlange haben es zu schätzen gewusst. Ich aber habe mich mitschuldig gemacht, denn es war wohl doch ein fauler Kompromiss. Was sagen die allzeit sprungbereiten Ethiker?

Zu allem Überfluss kam mir dieser Tage eine beflissene, bestimmt klassisch gebildete Mutter entgegen, die in den Kinderwagen hinein sprach: „Möchtest du etwas trinken, Amadeus?“ Und das, obwohl der Wunderknabe schätzungsweise unter 18 war!




Meilensteine der Popmusik (22): ABBA

Die alten Helden… sie hatten die 50- und 60er Jahre inhaliert, sich manchmal daran verschluckt, und dann wieder ausgespuckt; diese Helden waren frustriert. Beatles am Ende – Hendrix, Joplin, Morrison…alle tot – und Flowerpower? Wenn´s hoch kam, verblassten die Blümchen gerade auf der Wohnzimmertapete. Und auf einmal waren die 70-er da.

Süßlicher Phillysound verklebte Hitparaden und Gehörgänge, und am Horizont drohte schon unheilvoll ein bevorstehender Disco-Tsunami. Für die echten Freaks schien die Zeit stehengeblieben. Die alten Dylan- und Animals-Platten wurden geschont, in Zukunft nur noch nass abgespielt, man musste vorsorgen. Diejenigen, die früher Toleranz predigten, wirkten plötzlich verkniffen, schmallippig, intolerant. Da kamen ihnen die vier Schweden gerade recht. In ABBA sahen viele exemplarisch den Niedergang der abendländischen Kultur, wie später z. B. bei Boney M. oder auch Modern Talking. Allein schon diese Vergleiche gehören zu den großen Ungerechtigkeiten dieser Popwelt, denn die Karriere von Abba erstreckte sich über fast zehn Jahre und wurde eigentlich nie (wie viele Kritiker es gerne gesehen hätten) zur Masche.

ABBA stieß Mitte der 70-er in eine große Lücke, hinterlassen von vorwiegend britischen Gruppen, die mittlerweile erfolglos waren oder schon gar nicht mehr existierten. Diese Leere füllten sie aus bis zum Überlaufen. All´ das war nach den ersten Liedchen im Happysound à la „Waterloo“ überhaupt nicht abzusehen. Doch der Gesang von Agneta und Annifrid entwickelte sich immer perfekter, die Kompositionen von Björn und Benny erreichten schließlich Weltklasseniveau.

Nun war Schweden schon damals nicht die Welt, erst recht nicht in der Popmusik. Drüben in den Staaten aber warteten mittlerweile Millionen Fans auf ABBA. Die vier aber hatten einen Riesenbammel vor diesem Land. Man war sich einig, die USA nicht zu betreten, bevor man nicht ganz oben stehen würde: No 1 in den Hitlisten Amerikas. Heimlich hofften sie noch, dieses Ziel zu verfehlen, doch ihr Album „Arrival“, das Ende 1976 erschien, machte ihnen dann doch einen dicken Strich durch diese Rechnung. Es wurde ein wahres Superalbum mit mehreren Singles und einigen weiteren Songs, die allesamt ebenfalls Hits geworden wären, hätte man sie denn auch ausgekoppelt. Während „Knowing me, knowing you“ hier in Europa überall den Spitzenplatz belegte, stürzten sich die Amerikaner auf die „Dancing Queen“. Es wurde dann die erste Nummer 1 für ABBA in den USA. Dass es auch ihr einziger Tophit drüben blieb, lag wohl daran, dass sie ihrem Versprechen, sich endlich den Amerikanern zu zeigen, nur sehr widerwillig nachkamen. Obwohl sie in den Staaten eine wahre ABBA-Mania auslösten, waren ihre Vorurteile diesem Land gegenüber doch so groß, dass ihr Aufenthalt dort nur sehr kurz ausfiel.

Trotzdem sollte es noch Jahre und einige Hits lang dauern, bis die ersten Unstimmigkeiten und Trennungsgerüchte durchsickerten. 1983 dann, auch nach den privaten Trennungen, die ersten Solo-Projekte, die alle vier mit mehr oder weniger Erfolg für sich durchgezogen haben. Ein leibhaftiges Comeback war den Fans indes nicht vergönnt, obwohl eine „geschäftliche“ Trennung nie offiziell ausgesprochen wurde. Doch die Musik von ABBA feierte über die Jahrzehnte hinweg immer mal wieder ein Comeback. Allein der weltweite Erfolg von Musical und Film „Mamma Mia!“ zeigte die ungebrochene Zuneigung der Fans. Die ausgefeilten Arrangements und die absolut perfekten Produktionen der Songs von ABBA macht ihre Musik so zeitlos, dass sich bis heute unzählige Weltstars aus den verschiedensten Genres zu ABBA-Fans bekennen. Auf dieser Fanmeile stehen z.B. Gene Simmons (Kiss), Beth Ditto (Gossip), Bruce Springsteen oder auch Pete Townshend (The Who). Mit ca. 370 Millionen verkaufter Tonträgern gehört ABBA bis heute zu den erfolgreichsten Bands der Popgeschichte.

ABBA on clipfish




Vom Spülwasser zum Nachdenken über den Umweltschutz

„Grünes“ Denken hat auch eine Geschichte – dazu hier eine kleine Erinnerung: Es ist schon gut 45 Jahre her, dass ich mir zum ersten Male ernsthaft um so etwas Gedanken machte, was man heute „Umweltschutz“ nennt. Und das hatte etwas mit Spülwasser zu tun.

Seife gab es sicher schon im Altertum. (Foto: BASF)

 

Wir besuchten damals das Abendgymnasium, und ein Klassenkamerad – heute ein Kardiologe – verdiente sich etwas Zusatzgeld als „Kindermädchen“ im Haushalt unserer jungen Mathe-Lehrerin.

Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Haushalt, zum Beispiel das Abwaschen des Geschirrs. Dazu nahm er stets eine gehörige Portion Spülmittel, damit er auch genügend Schaum zu sehen bekam. Zu sehen bekam das aber auch einmal der Ehemann der Lehrerin, ein Doktor der Biologie, und der stellte meinen Freund sehr ernst zur Rede. Über die schädliche Wirkung der Tenside für die Lebensmittel auf den Tellern und das Abwasser im Klärwerk bekam er einen längeren Vortrag zu hören, und wir lachten uns zunächst schlapp über das scheinbar kauzige Wesen des Biologen.

Allerdings nicht sehr lange, denn mit etwas Nachdenken bekam der Einwurf des Doktors einen Sinn, und die Geschichte mit den Tensiden brannte sich als Symbol für Umweltverschmutzung in mein Gedächtnis ein. Später, während des Studiums in Münster, ging es politisch um „größere“ Dinge, zum Beispiel ein geplantes Atomkraftwerk in den Rieselfeldern oder um einen Großflughafen bei Drensteinfurt. Der Spülwasserschaum aber war im Hinterkopf immer dabei.




Eine Bühne für den Spitzentanz: Ballett am Rhein mit b.13

Nach zahlreichen Performances auf Industriehalden, in Fabrikhallen oder genreüberschreitend im Museum ist es tatsächlich wieder einmal eine interessante Erfahrung, ein klassisches Ballett zu sehen: Virtuoser Spitzentanz im weißen Röckchen, Tänzerinnen leicht wie Pusteblumen, ihre Bewegungen akkurat, perfekt und hochmusikalisch.

Und die Musik kommt nicht vom Band. Auf allerhöchstem Niveau bietet der dreiteilige Ballettabend b.13 des Balletts am Rhein Düsseldorf Duisburg, ausgehend von George Balanchines „Concerto Barocco“, über Hans van Manens „Kleines Requiem“ bis hin zu Martin Schläpfers „Ungarischen Tänzen“, einen kurzen Gang durch die Tanzgeschichte.

Dabei ist Balanchines Choreographie zu Bachs Musik von 1941 strenggenommen natürlich „neoklassisch“ zu nennen, auch weil er die klassische Formensprache behutsam zu variieren beginnt. Trotzdem: Die Tänzerinnen im Eröffnungsstück bewegen sich als homogene Einheit, die auch der einzige hinzukommende Tänzer nicht zu stören vermag. Der Bühnenhintergrund ist lichtblau, ansonsten zählen nur Musik und Bewegung, andere Ablenkungen sind nicht zugelassen. Erstaunt stellt man fest: Das genügt vollkommen, zumal auch das Zusammenspiel mit den beiden Violinen perfekt funktioniert.

Zeitsprung: In Hans van Manens Choreographie von 1996 sind Beziehungen das Thema. In einer Art Reigen stört immer ein hinzukommender Tänzer den innigen Pas de deux des tanzenden Paares. Eifersucht, Zorn und Leidenschaft sorgen für eine emotionale Hochspannung, die die Tänzer in eine vibrierende Körpersprache übersetzen. Dabei entwickeln sich auch unvorhergesehene Konstellationen: Finden zwei Männer zusammen, muss die Frau alleine bleiben. Für einen unglücklichen Ausgang spricht, dass van Manen das Stück für eine ungerade Zahl von sieben Tänzern konzipiert hat. Einer wird schließlich einsam sein – doch wer weiß, vielleicht kann er so zu neuen Ufern aufbrechen?

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b13 Ungarische Taenze, FOTO: Gert Weigelt

Als erwarteter Höhepunkt des Abends springt Martin Schläpfer mit seiner Uraufführung von Brahms‘ ungarischen Tänzen einen Schritt weiter in die Gegenwart. Energie, Lebensfreude und süffige „Zigeunermusik“, schwungvoll dargeboten von den Düsseldorfer Symphonikern, zeigen Temperament und Spielfreude der Compagnie. Aufbauend auf dem klassischen Repertoire eines Balanchine sowie den Errungenschaften des modernen Tanzes eines Hans van Manen, zeigt Schläpfer hier wieder seine ganz eigene, wunderbar ironische Tanzsprache. Da wedeln die Tänzer mit ungarischen Fähnchen, nur eine hat sich die europäische Flagge umgehängt, darunter bleibt sie nackt, um dann verschämt von der Bühne zu schleichen.

Auch das Zigeunerleben hat mit idyllischen Vorstellungen wenig zu tun. So lustig die Tänze, so hitzig bricht das Temperament auf – bis hin zur angedeuteten Vergewaltigung am Bühnenrand. Die halbstarken Männer tragen Schlagstöcke und das alte Bauernpaar in Tracht wird zum Schluss kalt und steif von der Bühne getragen. Man braucht die alten Leutchen nicht mehr, die Zukunft gehört den Individualisten. Das ist allerdings eine Steilvorlage für die großartigen Tänzer des Balletts am Rhein, ihrer Lust an der Improvisation und an der kreativen Ausgestaltung der Charaktere. So wird der (politische) Kommentar zu Ungarn zugleich durchdrungen vom Lebensgefühl der Tänzer heute, das sie heraustreten lässt aus dem tänzerischen Kollektiv.

Auf diese Weise stellt der Tanzabend eine innere Verbindung her zwischen seinen drei Choreographien, die auch zu einem tieferen Verständnis dessen führen, was wir heute auf Tanzbühnen sehen – ebenso wie in Fabrikhallen.

www.ballettamrhein.de




Edler Ton: Der Geiger Daniel Hope mit Elgars Violinkonzert in Essen

Entfesselung, Verklärung, Apotheose? Ja, schon. Aber Alexander Skriabin, der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten, wollte sein „Poème de l’extase“ nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen.

Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skriabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute weckt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 Bewunderung. In der Philharmonie Essen wurde es als Krönung des Konzerts des russischen Nationalorchesters mit Bravorufen quittiert.

Dabei war kaum Anlass für Jubel. Denn der Orchestergründer und Dirigent Mikhail Pletnev, einst ein hoffnungsvoller Pianist, fährt die Ekstase zwar mit grandiosem Fortissimo auf. Aber er bereitet sie nicht vor. Aus dem lyrisch-entspannten Beginn des Werks führt keine drängende Energie, kein unausweichlicher Bewegungsimpuls zur unvermeidlichen Entladung, sondern eine Abfolge sauber gestaffelter Zustände. Das selige Verströmen hin zum triumphal aufwachsenden Schluss legt die Vermutung nahe, dass sich Pletnev im Lyrischen mehr zu Hause fühlt als im Ekstatischen.

Rachmaninows „Toteninsel“ bestätigt das im Rückblick: Sinnig formt Pletnev den wiegenden Rhythmus, die allmähliche Steigerung, den gelassenen Gesang der Violine und Oboe. Aber untergründige Spannung will nicht aufkommen; dramatische Zuspitzung bleibt flach. Auch das Orchester hat seine Schwächen: Der düstere Höhepunkt mit dem Eintritt der Pauken bleibt klanglich ungefasst und spröde.

Mit Daniel Hope, dem britischen Geiger, brachten die Russen einen Trumpf mit: Sein verhaltener, nie zu brillant nach außen gekehrter Ton veredelte Edward Elgars Violinkonzert mit schier unendlichen, schmerzhaft schön erfüllten Linien. Die raschen Momente geraten Hope manchmal zu hastig – so, als wolle er schnell zur nächsten innerlichen Versenkung forteilen. Die russischen Orchestermusiker erfüllten mit dunkel-gerundeten Holzbläsern und dezenten Streichern ihre sensible Partnerrolle mit Bravour. So geriet der Auftakt schon zum Höhepunkt dieses Gastspiels. Seine Zugabe, Ravels „Kaddisch“, widmete Hope dem vor kurzem verstorbenen Hans Werner Henze.

(Der Bericht ist zuerst in der WAZ Essen erschienen)




Festival „Now!“: Neues von Hauschka auf Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Was ist das für ein Stil? Der „Spiegel“ hat sich Gedanken gemacht, als das Album „Silfra“ erschien, auf dem Hauschka gemeinsam mit der amerikanischen Geigerin Hilary Hahn improvisierte. Neo-Klassik? Post-Klassik? Oder spielt der Düsseldorfer Pianist, der durch sein „präpariertes Klavier“ bekannt wurde, so etwas wie Indie-Rock oder Post-Rock? Für Volker Bertelmann – so heißt Hauschka „bürgerlich“ – sind solche Zuordnungen egal: Er bezeichnet seine Musik als „zeitgenössisch“ und lässt es damit gut sein. Wer die Probe aufs Exempel machen will: Am Donnerstag, 15. November, ist Hauschka auf Zollverein zu Gast: Schacht XII, Halle 12, 20 Uhr.

Auf der Suche nach „seiner“ Musik hat Hauschka seine zehnjährige Klavierausbildung wiederentdeckt. Dass ein Klavier mehr können müsste als durch gepflegten Anschlag und Pedalgebrauch herauszulocken sei, forderte den Musiker heraus, als er Anfang des Jahrtausends über neue Wege nachdachte. Rock, Hip Hop, Singen in Bands: Das hatte er hinter sich, als er 2005 „The Prepared Piano“ aufnahm. Sein Klavier peppte er dafür auf, mit Leder, Filz oder Gummi zwischen den Saiten, mit folienumwickelnden Hämmerchen oder Klammern.

Das Ergebnis waren neue, wundersame Klänge, mal geräuschhaft, mal sphärisch wie von Elektronik verfremdet. Hauschka wurde in der Indie-Szene wahrgenommen als jemand, der das Experiment mit dem Klang aus einem fundierten musikalischen Hintergrund speist. „2004, als ich mit ‚Substantial‘ meine erste Platte herausbrachte, war ich mit Max Richter und zwei, drei anderen einer der wenigen in der Indie-Szene mit einem ernsthaften Musikanspruch.“ Hauschka hatte Erfolg: Acht Alben seit 2004, Filmmusiken und das Impro-Album „Silfra“ mit Hilary Hahn (2012) zeugen davon.

Wie kommt Hauschka in ein Programm wie das des Festivals „Now!“? Wo ist er verortet zwischen Luigi Nono, Helmut Lachenmann, György Ligeti, György Kurtág oder Bernd Alois Zimmermann? Hauschka bezieht sich nicht auf klassische Musik: „Die Berührung beschränkt sich auf das Instrument und vielleicht auf ein paar Zitate. Es gibt Szenarien von Klängen, die vielleicht mit Schostakowitsch in Verbindung gebracht werden können.“ Konzept oder Programm ist das nicht, auch wenn ihn manche mit Erik Saties Klang-Experimenten oder mit der amerikanischen Minimal Music in Berührung bringen. Mit Hilary Hahn, die sich sonst von Bach bis Barber bewegt, war er sich einig: „Wir wollten kein Album machen, das in der Klassik verortet ist.“

Hauschka fühlt sich wohl im Umfeld der zeitgenössischen Musik, wie sie das Festival „Now!“ vorstellt. Er sieht in den letzten Jahren einen Wandel: Die „klassische“ Szene sei viel weniger starr als noch vor einigen Jahren; die Suche nach einer neuen Identität lasse frühere Grenzen verschwimmen. Auch seine Zuhörer sieht er auf diesem Weg: „Mein Publikum ist auf der Suche nach Musik über Pop und Klassik hinaus. Es sucht ein neues Erlebnis und hat das Gefühl: Was ich hier mache, ist zeitgemäß.“

Dass er sich der Tonalität verpflichtet fühlt, könnte Vielen eine Brücke zum Neuen sein: „Ich glaube, das eröffnet einem größeren Kreis die Möglichkeit, sich mit neuer Musik zu beschäftigen.“ Bei seinem Festival „Approximation“, das er seit 2005 in Düsseldorf veranstaltet, beobachtet er, wie sich ein neues Publikum entwickelt: Klassik, experimentelle Elektronik und Independent Music überlagern sich und erschließen sich gegenseitig. „Das empfinden die Konzertbesucher als zeitgemäß.“

Hauschka sieht darin auch einen Teil seiner Erfolgsgeheimnisses: „Klassische neue Musik mit Anspruch bringt sich oft selbst in eine Ecke, aus der es schwer ist, sich locker zu präsentieren.“ Von Zuschreibungen unbelastet, fällt ihm das leichter. Hauschka ist froh, nicht mit Größen wie etwa John Cage verglichen zu werden. „Hätte ich damals, als ich anfing, Cage gekannt, hätte ich mich wohl nicht an das präparierte Klavier gesetzt.“

Beim Blick in die Zukunft geht der Trend für den Klavierkünstler in Richtung Komposition, weniger in Richtung neuer Experimente. „Ich habe das Gefühl, meinen bisherigen Klangkosmos auszutarieren.“ Weiterführende Entwicklungen hat es ja schon seit 2010 gegeben: In jenem Jahr erschien das Album „Foreign Landscapes“, auf dem das präparierte Klavier seine bisherige Solo-Funktion verliert. Hauschka schrieb erstmals Musik für ein zwölfköpfiges klassisches Ensemble vollständig auf. 2011 auf „Salon des Amateurs“ – mit vielen Bezügen zu moderner Tanzmusik – übernimmt das Klavier die Rolle eines Rhythmusinstruments. „Musik definiert in ein Notenbild zu bringen, war für mich ein spannender Versuch. Ich fragte mich, ob das die Magie der Musik wegnimmt.“ Hauschka schwebt vor, „dass sich Improvisation und Notation die Hand geben“.

Eine neue Erfahrung war für ihn auch, eine 18 Minuten lange Musik für ein klassisches Ensemble zur Inszenierung von „Puppen“ (Kevin Rittberger, Premiere Dezember 2011) für das Düsseldorfer Schauspielhaus zu schreiben. Am Frankfurter Schauspiel läuft weiterhin Kleists „Die Marquise von O.“ mit Hauschkas Musik, eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, ebenfalls in der Regie Rittbergers. „Dieses Format reizt mich“, bekennt der Musiker, „und ich möchte gerne mal 45 Minuten Musik komponieren, ohne das Gefühl zu haben, nach zehn Minuten mit meinem Geschirr zu Ende zu sein.“

Jetzt hat Hauschka erst einmal eine neue Filmmusik abgeschlossen: „Schnee von gestern“ heißt der israelische Dokumentarfilm der Filmemacherin Yael Reuveny, für den er mit einem Streichquartett zusammengearbeitet hat. Mit Musikern aus Kenia hat er eine neue Platte aufgenommen, die 2013 erscheinen soll. Zwei Tourneen werden ihn in die USA führten, wo er unter anderem am Massachusetts Institut of Technology (MIT) zu einer Lecture eingeladen ist. Ein solches Workshop hat Hauschka vor kurzem erst an der Folkwang Hochschule der Künste gehalten. Außerdem liegen mehrere Angebote für Filmmusiken vor. Man wird also von Hauschka hören – nicht nur im Konzert auf Zollverein, wo er am präparierten Klavier improvisiert.

Festival „Now!“: zurücknachvorn: Hauschka – Solo am präparierten Klavier. Donnerstag, 15. November, 20 Uhr, Zeche Zollverein, Schacht XII, Halle 12. Tickets: (0201) 81 22 200, www.zollverein.de




Wissenschaftliche Tagung zur Geschichte des Ruhrbergbaus

Am vergangenen Samstag gab es in der Wittener Zeche Nachtigall eine interessante Tagung zur Bergbaugeschichte. Die Beiträge der einzelnen Wissenschaftler gibt es bereits als Buch, zu bestellen für 14 Euro inklusive Versand unter http://www.bgvr.org/tagung/tagungsband

Zeche Nachtigall in Witten (Foto: lwl)

Hier eine Übersicht über die Themen:

Dr. Volker Wrede – Überblick über die Geologie und die
Rohstoffpotenziale des Ruhrgebietes

Dr. Jennifer Garner / Dr. Manuel Zeiler – Eisenzeitliche
Montanlandschaft Siegerland

Dr. Olaf Schmidt-Rutsch – Die digitale Rekonstruktion der Zeche
Nachtigall

Dr. Alexander Gorelik / Dipl.-Ing. Gero Steffens – Der
mittelalterliche bis frühneuzeitliche Bergbau am Eisenberg von
Olsberg

Dipl.-Min. Norbert Knauf – Einblicke in die Montangeschichte
der Grube „Grube Wohlfahrt“ in Hellenthal-Rescheid

Oliver Glasmacher – Schlebuscher Erbstollen (Wetter/Ruhr).
Montanhistorische Einordnung und Erforschung

Dr. Jan Ludwig – Ramsbecker Erzbergbau 1740 – 1907

Dipl.-Geol. Thorsten Seifert – Zollverein vor 1900 – Gründer-
und Ausbaujahre.




Bankberater können die Welt nicht retten – Bruce Willis will’s allerdings auch nicht

zur Verfügung gestellt vom DumontVerlag Wär schon schön, wenn man jemanden in seinem Leben hätte, der einen aus der Bredouille holt und rettet. Der ehemalige Bankberater von Tilman Rammstedt ist dieser Jemand anscheinend nicht. Dieser wäre am liebsten eine Salzstange und würde sich zu den anderen Salzstangen in den Einkaufswagen legen. Man kennt das.

Das Leben ist kompliziert geworden und keiner mehr da, der es einem erklären kann. Geschweige denn, dass Tilman Rammstedt wüsste, wie der Abgabetermin seines neuen Buches einzuhalten sei. Die Idee hat er: Er dichtet dem melancholischen Bankberater einen Überfall auf seine eigene Bank an. Dieser geht natürlich grandios schief, aber wie jetzt weiter? Das hypochondrische, an der Welt leidende Alter Ego Tilman Rammstedts kommt auf die nahe liegende Lösung: Hollywood. Dort sind sie doch zu finden, die Weltenretter – und wer könnte besser geeignet sein als der Experte für sechste Sinne und langsames Sterben, Bruce Willis, um in die Rolle des Bankberaters zu schlüpfen und dessen Schieflage zu begradigen? Beflügelt von seinem Lösungsansatz, setzt Herr Rammstedt sich an die Tasten und hackt ellenlange Mails an Herrn Willis hinein. Er bedrängt den Filmstar, umschmeichelt ihn, fleht und bettelt, wird zeitweilig beleidigend und nötigend. Bruce Willis jedoch antwortet nicht und Rammstedt beginnt zu fürchten, dass er sein Buch umbenennen müsse in „Die Abenteuer des Bruce Willis, die abrupt endeten, als er von einer Harpune durchbohrt wurde, weil er sich zu fein war, auch nur eine einzige Mail zu beantworten

Tilman Rammstedts neues Werk Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters besteht aus diesen Emails, die sich mit Erinnerungen an seinen mittlerweile ehemaligen Bankberater abwechseln. Dieser Bankberater kennt zumindest die halbe Wahrheit und langsam beginnt Rammstedt einzusehen, dass dies doch so wenig gar nicht ist. Denn „das meiste war schließlich einfach und der Rest nicht so schwer„: Ein Baum ist wie ein Festgeld. Es muss fest stehen und langsam wachsen. Nicht mehr und nicht weniger.

Der Bankberater steht dabei symbolisch für jeden, der beratend tätig ist und von dem die Leute erwarten, dass sie ihnen die Welt erklären, auch wenn das längst niemand mehr kann. Es hätte auch ein Steuerberater sein können, aber bei diesen lohnt es sich vielleicht nicht so sehr, wenn sie die eigene Kanzlei überfallen. Wer sich beim Titel des Romans Insiderwissen zur Finanzkrise erwartet hat, liegt völlig falsch. Dieses Thema kann man sich allenfalls dazu denken, man kann es aber auch lassen. Denn das ist nicht das Thema des Tilman Rammstedt. Genauso wie das Buch nichts mit Katzen zu tun hat, auch wenn eine auf dem Cover thront. Die Katze steht allenfalls für den toten Hund, der im Zweifel eine größere Hilfe ist als der Actionstar. Wen das irritiert, dem sei gesagt, das lernt man direkt als Anfänger bei jedweden sozialen Medien. Ohne sogenannten „Cat-Content“ und Banken-Bashing geht heutzutage fast nichts mehr.

In diesem Buch findet sich ein ganzes Konglomerat derzeit erfolgreicher Literaturprinzipien. (Briefroman, die direkte Ansprache von Ikonen der Popkultur und Metafiktion – die Thematisierung von Fiktion der Geschichten und Charaktere). Vor allem das Prinzip der Metafiktion reizt Rammstedt bis zum Äußersten aus. Er schaltet sich nicht nur gelegentlich ein, sondern ist klar erkennbar der Ich-Erzähler, welcher von der Schwierigkeit berichtet, aus einer guten Idee einen Roman zu machen. Gerade, wenn der Abgabetermin näher rückt und Bruce Willis immer noch nicht geantwortet hat. Er tut dies nicht mitleidheischend, sondern durchaus gewitzt. Es ist ein großer Lesespaß, wenn er dem stummen Willis damit droht, jederzeit Hubschrauber auffliegen lassen zu können oder wenn er seinen eigenen Verlag inständig bittet, ihm aus dem gut bestückten Verlags-Fundus doch bitte ein Buch zukommen zu lassen, in dem ein Gefängnisausbruch erklärt wird.

Die Emails haben deutliche Längen, da gerät der Autor gelegentlich ins Schwafeln. Doch die Einschübe mit den Erinnerungen an den Bankberater und dessen traurige Parabeln sind bei aller Lakonie sprachlich ungeheuer dicht und ausgefeilt. Bei aller Überspitzung ist Rammstedt da sehr nahe dran an der Realität.

Der Ausgang der Abenteuer bleibt ungewiss. Auf Seite 155 weiß Tilman Rammstedt noch nicht, an welcher Stelle der Geschichte er sich befindet. Auf Seite 999 verabschiedet er sich und wünscht Bruce Willis viel Glück. Leider haben es die Seiten 156-998 nicht mehr ins Buch geschafft und es bleibt somit der Phantasie des Lesers überlassen, ob Rammstedt sein so sehnlich erwünschtes glückliches Ende bekommt. Vielleicht hat er ja sogar statt Hollywood das Ruhrgebiet um Hilfe gebeten und Helge Schneider gefragt. Diesen hatte nämlich ich dauernd vor Augen, wenn es um den Bankberater ging. Warum auch immer.

Sicher hätte Helge sich gemeldet und sehr wahrscheinlich wäre ihm auch etwas eingefallen. Auf jeden Fall hätte er verstanden, dass man „manchmal ein Ziel erst hinter sich lassen muss, um es zu verstehen.“ So bleibt neben diesen Ungewissheiten noch die Frage offen: Werden wir je wieder einen Bruce-Willis-Film sehen können, ohne daran denken zu müssen, dass dieser Tilman Rammstedt im Stich gelassen hat?

Tilman Rammstedt: „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“. DuMont Verlag. 999 156 Seiten, €18,99.




Vom Hauen und Stechen im Theater: Kampftrainer Klaus Figge im Porträt

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Der Essener Klaus Figge war Geschichtslehrer, jetzt schreibt er selbst Geschichte – am Theater. Als Choreograph für Kampf- und Fechtszenen ist er im deutschsprachigen Theaterraum die erste Wahl. Auch noch mit 70 Jahren.

Peter Zadek und Peter Stein. Dieter Dorn und David Bösch. Karin Beier und Karin Henkel. Jürgen Kruse und Jürgen Hartmann. Regisseure, die, von ihrer Bekanntheit einmal abgesehen, nicht viel gemein haben. In einem jedoch gleichen sie sich: Sie alle setz(t)en auf Klaus Figge.

So sieht er also aus: der Mann, der mindestens 30 finale Kämpfe zwischen Hamlet und Laertes ersann, der Tybalt mit allen denkbaren Waffen auf Mercutio hetzte. Der Mann, dessen Name kaum je im Programmheft fehlt, wenn auf einer größeren deutschen Bühne gekämpft wird und der seit vier Jahrzehnten Schauspielschülern an der Folkwang Hochschule das Kämpfen lehrt – seit 41 geschlagenen Jahren, sozusagen: Überraschend klein ist er, sehr weiß seine Haare. Klaus Figge trägt Cowboystiefel und graue Cargo-Hosen. Sein verwaschener Kapuzenpulli ist weit und schlabberig, doch darunter erahnt man die Körperspannung, die den ehemaligen Sportler ausweist.

Figges stahlblaue Augen saugen sich gerade an dem Kampf fest, der auf einer schiefen, nur etwa sechs Quadratmeter großen Ebene ausgefochten wird. In der Mitte der kleinen Spielfläche steht auch noch ein Pfeiler, an den eine Schauspielerin gefesselt ist. Die schiefe Ebene wird später zum Schiff, der Pfeiler zum Mast, die Akteurin zu Wendy. Und die Kämpfenden, sie werden sich in Kapitän Hook und Peter Pan verwandeln. „Tak. Tak. Hoch. Und rum. Die müsste schneller sein, die Drehung“, murmelt er. Dann laut: „Stop! Bitte noch mal!“

Jeder Ausfallschritt muss stimmen

Andreas Grothgar lässt Haken und Degen sinken, Silvia Weiskopf dreht sich herum. Es ist der Schlusskampf, in dem Peter Pan den Hook besiegt und Wendy befreit. Bis zur Premiere ist es noch ein Monat. Die Schritte sitzen, doch erst seit drei Tagen proben die Schauspieler auf der Schräge. Für Improvisation ist kein Platz, jeder Ausfallschritt, jede Gewichtsverlagerung muss exakt sitzen, bevor das Tempo angezogen werden kann. Klaus Figge klettert etwas umständlich auf die Bühne – die Knie! – und nimmt den Degen, um die Drehung vorzumachen. Der nächste Durchgang. „Gut! Gut!“, ruft er. „Mal’n bisschen loben“, brummt er dann.

In seinem ersten Leben war Klaus Figge Sport- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Essen: Referendar, Studienrat, Oberstudienrat. Doch die Schule hatte ihn nie ganz. Schon 1971, kurz nach seinem Examen, nimmt Figge auch einen Lehrauftrag der Folkwang Hochschule an. Dort wird ein Lehrer für Bühnenkampf gesucht. Zufällig erfährt Figge von der Stelle und bewirbt sich, denn zufällig kann er fechten, sehr gut sogar – schon als Gymnasiast hatte er damit begonnen und das Fach an der Sporthochschule Köln sogar studiert. Der Fecht- und Kampf-Unterricht macht ihm Spaß, und schon bald kommt die erste Anfrage des Essener Schauspiels für eine Kampf-Choreografie. Mit dem Theater hat er bis dato kaum Berührung. Figge und das Theater, es war keine Liebe auf den ersten Blick.

Entscheidung gegen die Beamtenlaufbahn

Doch jede Produktion band ihn stärker an diese kleine verschworene Gemeinde, jedes Engagement zog weitere nach sich: Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, wurde zum Fürsprecher. Figges Schulleiter liebte das Theater, er ermöglichte die Seitensprünge seines Lehrers, der immer weiter Stunden reduzierte – und sich schließlich komplett gegen die Beamtenlaufbahn und für die Bühne entschied. Theater, das geht auf die Dauer nur ganz oder gar nicht.

Der Start in die große Bühnenwelt ist mit Uwe Ochsenknecht und Peter Simonischek verbunden. Klaus Figge hatte in Wuppertal die Fechtszenen für „Romeo und Julia“ choreografiert. In der Rolle des Romeo: der junge Uwe Ochsenknecht. „Er war gerade dabei, bekannt zu werden, deswegen saßen wohl Leute von der Schaubühne im Publikum. Sie fanden die Fechtszenen gut und luden mich nach Berlin ein, wo ebenfalls ,Romeo und Julia’ anstand“, erzählt Figge. „Den Tybalt sollte Peter Simonischek geben. Mit ihm hatte ich bereits in Düsseldorf gearbeitet, und als er hörte, dass ich engagiert werden sollte, empfahl er mich zusätzlich bei der Regie“, erzählt Figge. Kleine Anekdoten mit großen Namen – Figge könnte hunderte davon erzählen.

Heute hat Klaus Figge einen Luxus-Job. Wenn eine Theater-Produktion gut wird, dann ist der Erfolg auch sein Erfolg. Wenn sie scheitert, wird er – manchmal als einziger – lobend erwähnt. Zuletzt in Bochum, als die Kritik Katharina Thalbachs „Cyrano de Bergerac“ in seltener Einmütigkeit verriss. Über Klaus Figge hingegen hieß es, er habe „mit den Schauspielern wie immer Beachtliches erarbeitet“. Zu David Böschs „Romeo und Julia“ in Wien schrieb der „Standard“, die Fechtszenen seien „mustergültig choreografiert“ – ansonsten war der Rezensent wenig begeistert. Und über die Stockkämpfe in Sebastian Nüblings Ruhrtriennale-Produktion „Next Level Parzival“ hieß es, sie seien „von einer Präzision und Heftigkeit, wie man sie auf dem Theater selten sieht.“ Man kann sagen, Klaus Figge ist ein Liebling der Kritik. „Kampfchoreograph Nummer eins des deutschsprachigen Theaters“ nennt ihn das Deutschlandradio, die Mitteldeutsche Zeitung verstieg sich sogar zu der Formulierung, er sei der „renommierteste Meister der Kampfchoreografie“. Bühnenkampf-Legende ist die gängige Beschreibung.

Was macht diesen Mann zur Legende? Diesen 70-Jährigen, der zwar noch immer aus dem Stand vorwärts über die Schulter abrollen kann, dessen kaputte Knie ihn jedoch inzwischen daran hindern, die Bühnenrampe schwungvoll zu nehmen? Bühnenkampf-Lehrer gibt es schließlich an jeder Schauspielschule. Doch viele Regisseure wollen eben nur Figge. Christina Paulhofer etwa engagierte ihn zeitweise für fast jede Produktion. „Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn er dabei war“, sagt ihr langjähriger Assistent Henner Kallmeyer.

Kallmeyer ist der Regisseur des Essener „Peter Pan“, und auch für ihn stand außer Frage, dass er für die Kämpfe Figge holt. „Er holt aus den Schauspielern einfach mehr raus. Und es sieht am Ende geil aus“, sagt er, „ich kann eine Menge Figge-Kämpfe nacherzählen. Der Tollste war der Schlusskampf in Jürgen Kruses ,Trying Macbeth’. Die Schwerter wurden immer größer, bis zu zwei Meter lang.“

Auf seinem Gebiet einfach der Beste

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Man kann noch so viele Theaterleute fragen, die Antwort lautet stets ähnlich: Figge ist einfach der Beste. Und das hat nicht nur mit Techniken zu tun, und auch nicht nur mit der Ruhe und Souveränität, die er während der Proben ausstrahlt. Figge hat offenbar das Theater-Gen – szenische Phantasie, kombiniert mit einem Gespür für starke Bilder und dem Talent, mit wenig Aufwand große Wirkung zu erzielen. Er hat nicht nur Ahnung von Ring- oder Box-, von Karate-, Kung Fu- oder Schwerterkämpfen – er weiß auch, wie man sie auf die Bühne bringt. Und zwar so, dass die Zuschauer den Atem anhalten, die Schauspieler sich nicht verletzen und auch im dritten Rang noch etwas zu sehen ist. Figge weiß, aus welcher Perspektive man den tödlichen Stich zeigt. Er weiß, wie man zur Musik boxt und wie man Kampfgeschehen akustisch untermalt. Er weiß, dass ausgespuckte weiße Bohnen am besten Zahnverlust simulieren. Er weiß, dass Tybalt laut Shakespeare die Doppelte Finte und den Punto Reverso wie aus dem Lehrbuch beherrscht, während Mercutio eher der unkonventionelle Fechter ist.

Als Peter Zadek Angela Winkler als Hamlet wollte, brachte Klaus Figge ihr das Fechten bei, und als jüngst beim „Cyrano de Bergerac“ in Bochum ein Schauspieler kurzfristig ausfiel, da duellierte sich Klaus Figge höchstselbst mit Armin Rohde. „Den Ablauf kannte ich ja“, sagt er trocken. Das Publikum dankte mit mehrfachem Szenenapplaus.

Das Geheimnis des Klaus Figge ist vielleicht, dass er sich jeder Produktion, an der er mitarbeitet, mit Haut und Haar verschreibt. Er wird Teil des Ganzen, so wie alle am Theater. „Was machen Sie, wenn Sie mit einem Regiekonzept mal nicht einverstanden sind?“ – diese Frage kann Figge nicht beantworten, sie stellt sich einfach nicht. „Manchmal denke ich schon, so würde ich es nicht machen“, antwortet er dann vorsichtig. Aber wenn der Regisseur es so entscheidet, dann übt er mit zwei Schauspielerinnen auch das Fechten im Minirock und auf High Heels ein – obwohl in T.S. Eliots „Die Cocktailparty“ gar keine Fechtszene vorkommt. Dann choreographiert er in Bochum einen Kampf mit brennenden Äxten oder setzt in Hannover einen Ringkampf halbnackter Frauen im Sand in Szene.

Als Peter Zadek es sich anders überlegte

Oder er wirft das Ergebnis von vier Wochen Arbeit einfach weg, weil der Regisseur es sich anders überlegt hat. Noch so eine Anekdote: „Am Burgtheater inszenierte Zadek ,Der Jude von Malta’ mit August Diehl. Wir probten vier Wochen lang mit Offizierssäbeln. Die Szene war quasi perfekt, Zadek hatte sie aber noch nicht gesehen. Eines Tages sagte der Regisseur: Ich habe mir überlegt, wir machen den Kampf lieber mit Messern.“ Nicht einmal anschauen wollte Zadek die fertige Szene. „So etwas ist mir gottseidank nur ein Mal passiert“, sagt Figge, er lacht darüber.

Ein untypisches Erlebnis. Meist kennt Figge das Regiekonzept, dann erarbeitet der Bühnenkampf-Experte „seine“ Szenen autonom. So auch beim Essener „Peter Pan“: Wenn’s ums Hauen und Stechen geht, gibt Regisseur Kallmeyer die Hoheit an Figge ab und hält sich raus. Der Rahmen ist klar: Ein Stück für Kinder ab 6 Jahren – da braucht es actionreiche Szenen mit Witz und Pfiff, die nicht zu brutal werden. Klaus Figge kombiniert einen Fechtkampf mit einem Backpfeifen-Duell à la Bud Spencer, er lässt einen Piraten über Bord kitzeln und ersinnt Kaugummi-Blasen als Ablenkungsmanöver. Ein großer Kampf-Spaß, hinter dem wochenlange Arbeit an winzigen Stellungsdetails steckt.

Auf die Frage, mit welchen großen Regisseuren er noch nicht zusammengearbeitet hat, muss Figge lange überlegen. „Frank Castorf“, sagt er schließlich, „und Roger Vontobel.“ Allerdings: Es sind nicht die große Namen, die ihn an seiner Arbeit interessieren. „Klaus macht keinen Unterschied zwischen Burgtheater und freier Bühne“, weiß Regisseur Kallmeyer. Und erzählt, dass Klaus Figge neulich einen Stockkampf am Rottstraße 5 Theater einstudiert habe, einer kleinen freien Bühne in Bochum. „Es war zufällig eine Woche, in der ich Zeit hatte“, sagt Figge, „ich wollte eigentlich nur ein Mal hingehen, aber es hat mir Spaß gemacht.“ Er hätte es eigentlich vorher wissen müssen: Theater, das geht nur ganz oder gar nicht.

(Das Porträt wurde zuerst in der November-Ausgabe des Kulturmagazins K.West veröffentlicht).




Familienfreuden V: Die Tragik des Blutabnehmens

Spritze Blutabnehmen

Ganz schön fies: Blut abnehmen. (Bild: N. Albach)

Kommt vor, muss aber nicht – das war bislang meine Haltung zu Arztbesuchen. Und ist sie noch heute – wenn es um mich geht. Sobald unsere Tochter allerding kränkelt, sieht es anders aus. Ein Artikel im Spiegel über hysterische Eltern hatte mich schwören lassen, ein ausgewogenes Maß an Aufmerksamkeit und Ruhe an den Tag zu legen. Das gelingt mir auch ganz gut. Aber wenn ich mich dann entschließe, dass unsere Tochter zum Arzt muss, bin ich danach so fertig, als wäre ich zwei Stunden Delphin geschwommen.

Bestimmte Sachen weiß man ja vorher nicht. Zum Beispiel, dass Impfungen eine ganz miese Sache sind. Ich meine jetzt nicht die Debatte, ob Impfen überhaupt nötig ist – sondern die Spritzen an und für sich. Ich hatte mir vorgenommen, unser Kind die ganze Zeit anzustrahlen, um ihr die Angst zu nehmen. Als die Ärztin aber auf die blanken Oberschenkel unserer Tochter zielte und die schrie wie am Spieß – da schossen mir doch wirklich die Tränen ins Gesicht. So viel zur tapferen Mutti. Pustekuchen! Die Methode „Kind, schau auf mein schreckverzerrtes Gesicht und beruhige Dich“ funktionierte dann auch nicht so prächtig.

Beruhigend fand ich allerdings, dass ich damit nicht allein bin. Selbst die Arzthelferin in der Praxis war ganz blass um die Nase, als sie unserer Tochter letztens Blut abnehmen musste. „Das mache ich schon bei Erwachsenen nicht gern“, sagte sie mit zittriger Stimme. Als wir uns nach dem (brüllend kommentierten) Akt bei ihr bedankten, antwortete sie fast schluchzend in Richtung unseres Kindes: „Und Deine Eltern sagen auch noch Danke dafür!“ Wir waren die letzten Patienten an dem Abend. Als wir unsere Tochter beruhigt und angezogen hatten und aus dem Behandlungszimmer traten, waren schon alle Lichter gelöscht. Nur hinter dem Empfangstresen saß noch eine Gestalt. Die Arzthelferin, zusammengekauert und sinnierend über die Tragik des Blutabnehmens.




Vorwärts in die Vergangenheit: Verrückte Verlockung in Martin Suters „Die Zeit, die Zeit“

Schon immer hatte der Mensch das Bedürfnis, die Zeit zu besiegen und, wer weiß, vielleicht unsterblich zu sein. Von der Faszination, mal in die Vergangenheit, mal in Zukunft zu reisen, die Fehler von einst zu korrigieren und die Aussichten auf ein besseres Morgen zu verbessern, handelt ein ganzes literarisches Genre. Und wissen wir nicht spätestens seit Albert Einstein, dass Zeit und Raum nicht nur gekrümmt, sondern auch ziemlich relativ sind?

Der Schweizer Autor Martin Suter, dessen Romane seit Jahren auf den Bestenlisten stehen und der zuletzt mit den ersten Bänden der pfiffigen Krimi-Serie über den halbseidenen Dandy „Allmen“ bei den Lesern punkten konnte, nimmt sich jetzt in seinem Roman „Die Zeit, die Zeit“ nicht nur der Relativitätstheorie an. Er nutzt auch die Sehnsucht der Menschen, mit dem Wissen von heute in die Vergangenheit hinabzusteigen, um die Zukunft freudiger gestalten zu können, für ein furioses kriminalistisches Spiel.

Peter Taler wird seines Lebens nicht mehr froh. Vor einigen Monaten ist seine Frau ermordet worden, direkt vor ihrer Wohnung. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Ein Motiv ist nicht erkennbar. Hätte Taler, der sich kurz zuvor mit seiner Frau gestritten hatte und dann die beleidigte Leberwurst spielte, schneller auf das verzweifelte Klingeln seiner Frau reagiert, die Verblutende wäre vielleicht noch zu retten gewesen. So aber bleibt dem Trauernden nur, Tag für Tag aus dem Fenster zu schauen und seine Nachbarschaft zu beobachten.

Denn irgendetwas hat sich verändert, da draußen auf der Straße und in den Gärten und Häusern der anderen. Vor allem beim alten Knupp von gegenüber scheinen sich seltsame Dinge abzuspielen. Nur was und warum? Taler ahnt nicht, dass nicht nur er den 80-jährigen Knupp beobachtet, sondern der grimmige Kauz auch ein Auge auf Taler geworfen hat und alle seiner Regungen registriert. Denn auch Knupp hat seine Frau verloren, allerdings schon vor 20 Jahren. Seitdem ist sein Leben zerstört. Er kann und mag nicht allein leben, deshalb will er seine Frau wieder zum Leben erwecken und wie einst Orpheus ins Totenreich hinabsteigen, um die Geliebte zurückzuholen. Um seine Pläne in die Tat umsetzen zu können, sucht er einen Bruder im Geiste, einen Verbündeten für ein waghalsiges Experiment: Knupp will die Zeit besiegen, indem er die Umwelt, das Haus, den Garten, die Wohnung, eben alles so rekonstruiert und gestaltet, wie es zum Zeitpunkt des Todes seiner Frau aussah.

Taler sperrt sich lange gegen die Verführungskünste des Alten. Doch irgendwann erliegt er den verrückten Verlockungen, auch weil der Zeitreisende ihm verspricht, durch ein Loch in der Zeit den Gang der Welt verändern zu können und den Mord an seiner Frau ungeschehen zu machen. Was für ein hanebüchener Blödsinn, denkt vielleicht der Leser. Aber dann folgt man doch atemlos der spannend erzählten und filigran konstruierten Geschichte. Suter schafft es, den Leser vollends zu verwirren und zu faszinieren und dafür zu sorgen, dass wir das Unmögliche für machbar halten.

Martin Suter: „Die Zeit, die Zeit“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 297 S., 21,90 Euro.




Langer Nachhall: Was Recklinghausen am Kunstpreis „junger westen“ hat

Wenn ein Kunsthaus einen Querschnitt durch den Eigenbesitz zeigt, so ist das vielleicht nicht sonderlich spektakulär, es hat aber doch etwas für sich. Zum einen sind die Kosten einer solchen Sichtung überschaubar, zum anderen schärft man den Sinn für Profil und Schwerpunkte der Sammlung. Mag sein, dass sich die künftige Ankaufspolitik danach neu ausrichtet.

Die Kunsthalle Recklinghausen verdankt ihre Bestände ganz wesentlich dem Kunstpreis „junger westen“, der aus der gleichnamigen Künstlergruppe (Gründung 1948 / Auflösung 1962) hervorgegangen ist. Deren Mitbegründer Thomas Grochowiak war von 1953 bis Ende der 1970er Jahre Direktor der Kunsthalle. Kein Wunder, dass andere Künstler aus seinem Netzwerk hier Heimstatt und Hafen fanden.

Wenn jetzt ein Überblick zu den Preisträgern von 1948 bis 2011 gezeigt wird, so erweisen sich womöglich Stärken und Schwächen, gewiss auch schmerzliche Lücken der Sammlung. Auch kann man ungefähr ermessen, was heute noch Bestand hat und was dem Vergessen anheimgefallen ist.

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Genereller Eindruck: Die allermeisten Arbeiten sind auch jetzt noch durchaus vorzeigbar oder haben mit den Jahren gar an Bedeutung gewonnen, so etwa Bilder des nachmals weltberühmten Emil Schumacher, als er noch nicht dem Informel zugerechnet wurde. Ganz zu schweigen von einem Bild wie Gerhard Richters „Küchenstuhl“, das 1967 für schlanke 900 Mark erworben werden konnte. Heute würde man sich allenfalls wünschen, man hätte damals ein ganzes Konvolut aus seinem Atelier erworben. Einige andere Namen sind freilich allenfalls noch Fachleuten bekannt, sie sind in die zweite Reihe gerückt. Und manche Preisträger-Stücke sind auch jetzt im Depot geblieben, nicht zuletzt aus technischen oder Platzgründen. Wie denn überhaupt die Kunsthalle notgedrungen ein Institut der Wechselausstellungen ist und sonst keine Dauerschau bieten kann.

Kurzer Blick in die Historie: Die allerersten Ausstellungen der werdenden Gruppe gab es – mangels Museum – in der (damals gähnend leeren) Lebensmittelabteilung von Karstadt. Anfangs unterstützten die Künstler vom „jungen westen“ einander in Freundschaft, der Preis – zunächst gerade einmal 1000 Mark – wurde meist brüderlich zu mehreren geteilt. In der Frühzeit gab es zudem manchmal Sachpreise aus der Industrie, beispielsweise Maluntensilien oder auch ein Kofferradio. Ab 1956 wurden Jurys berufen, aus der gegenseitigen Akklamation wurde ein Verfahren der offenen Bewerbung, der die Urteilsfindung mit allem Für und Wider folgte. Es waren Entscheidungen mit Nachhall: Praktisch von allen Preisträgern (Frauen erst seit 1993, seither aber im Proporz) blieben Bilder in Recklinghausen – vielfach zum Freundschaftsentgelt überlassen. Hie und da gab es zur Abrundung auch Zukäufe aus dem Umkreis der Preisträger.

Heute beträgt die Dotierung des Kunstpreises „junger westen“ 10.000 Euro, doch hat die Auszeichnung nicht mehr den überragenden Stellenwert wie einst. Trotzdem gehen auf eine Ausschreibung (abwechselnd für Malerei, Arbeiten auf Papier und Skulpturen) rund 300 bis 600 Bewerbungen ein. Da es ein Förderpreis sein soll, liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren, ehedem durften Bewerber bis zu 40 Jahre alt sein.

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Die weitgehend chronologische Präsentation lässt jetzt auf jeder der drei Kunsthallen-Etagen eine andere Zeitgeist-Mischung hervortreten. Im Erdgeschoss findet man vorwiegend das solide Fundament der Sammlung aus den 50er Jahren (Thomas Grochowiak, Emil Schumacher, K.O. Götz, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Hans Werdehausen, HAP Grieshaber, Emil Cimiotti usw.), im ersten Stock werden Umbrüche der 60er und 70er dezent spürbar (Horst Antes, Gerhard Richter, Ansgar Nierhoff, Rolf Glasmeier). Ganz oben findet man sich schließlich in der Gegenwart wieder. Zugespitzt gesagt: Es ist, als würden archäologische Schichten der Sammlung freigelegt.

Wir können hier nicht alle 35 Künstler einzeln würdigen. Allerdings sollte man sich diese Ausstellung gerade nicht in schnöde summarischer Absicht ansehen, sondern sich sozusagen auf intensive „Lektüre“ einlassen und also zwar manches en passant anschauen, dafür aber bestimmte Arbeiten umso eingehender betrachten. Dann hat man vermutlich mehr vom Besuch. Meine persönliche Präferenz weist in die neuere Abteilung: Es sind die rätselvollen Raumschöpfungen der Berlinerin Heike Gallmeier, die den Preis 1999 erhalten hat. Ungewöhnlich ihr Verfahren: Sie malt Bilder, um aber sodann Fotografien der Gemälde zu zeigen. Ein Grenzgang zwischen den Medien.

Kunstpreis „junger westen“ 1948 bis 2011. Die Preisträger. Werke aus der Sammlung der Kunsthalle Recklinghausen. Sonntag, 11. November 2012 (Eröffnung 11 Uhr) bis 27. Januar 2013. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So und feiertags 11-18, Heiligabend/Silvester 11-13 Uhr. Führungen sonntags 11 Uhr. Kein Katalog. Infos im Internet: www.kunst-re.de




Meilensteine der Popmusik (21): Bruce Springsteen

Eine Mischung aus Elvis und James Dean, mit der Botschaft des jungen, zornigen Bob Dylan. Ein PR-Zombie – oder doch die „Zukunft des Rock’n’Roll“? So nämlich hatte ihn ein US-Kritiker hochgelobt, und seinen Spruch flugs für 50.000 US-Dollar an die Platten-Company verscherbelt. Wer war dieser neue Rebell Mitte der 70er?

Bruce Springsteen ist irisch-italienischer Abstammung und kam in New Jersey zur Welt. Er wuchs auf im spießigen Mief des US-Kleinbürgertums. Da waren die ungeliebten Sonntagsausflüge mit der Familie, und die Bewunderung für Vaters Achtzylinder. Die Schule war ein Graus. Viel später zog Bruce in einem Song ganz kurz Bilanz: „Von einer 2 1/2 Minuten-Single lernte ich mehr als von all´ meinen Lehrern …“ Diese Single war damals von den Beatles, und wurde so etwas wie ein Lebensmotto für Bruce Springsteen: „Twist and shout!“

Aber vorher kam noch die erste heimliche Liebe – unten am Fluss. Immer, wenn Bruce, der Teenie, dann spät nach Hause kam, warteten in der Küche noch die Eltern. Bruce hatte sich schon vorsorglich seine etwas zu langen Haare hinter den Kragen gesteckt, denn er wusste, dass sein Vater ihn, wie immer, ansprechen würde: „Was denkst du eigentlich, was du aus deinem Leben machst?“

Dann kam eines Tages der Musterungsbescheid. Bruce wurde nicht genommen. Nur seine Freunde flogen nach Vietnam. Einige kamen zurück, viele blieben dort. Fast 20 Jahre später besang Bruce Springsteen dieses Leben. Sein Leben und das vieler Amerikaner dieser Generation. Und wir fragten uns: Ist er nun ein Patriot oder ein Revoluzzer?

„Born in the USA“ zeigte schon auf dem Cover Flagge: Stars and Stripes, dazu Blue Jeans, Boots und Baseball-Cap. Willkommen im Schlaraffenland. Doch die Songs klärten auf: über die neue Depression, die Wunden des Vietnam-Krieges, Arbeitslosigkeit und die Not der armen Farmer des weiten Westens. Seine Abrechnung ließ keinen aus, weder Eltern, noch Politiker. Und auch die alten Freunde nicht, die mittlerweile angepasst deren Plätze übernommen hatten. Amerikas Jugend war begeistert und zog tausendfach mit Sternenbanner in seine Konzerte, die wie eine Mischung aus feierlicher Messe und ausgelassener Party zelebriert wurden. Dass seine Botschaft nicht nur rein amerikanisch war, bemerkte man bei seinen weltweiten Konzerterfolgen.

Diese LP mit allein sieben Single-Hits hat Bruce Springsteen zum Weltstar gemacht. Und hier – außerhalb der USA – wurde das Urteil dann auch objektiver. Er ist beides: Patriot und auch ein wenig Revolutionär, in erster Linie aber Rock‘ n‘ Roller ! Für seine eingeschworenen Fans ist es bis heute noch einfacher: Bruce hat immer Recht. Er ist „der Boss“.

Bruce Springsteen on vimeo




Monument, Witz, Spiel und Schönheit: Neue Musik für Orchester beim Festival „NOW!“

Jörg Widmann, Komponist des "Lied" für Orchester (2003/2009). Foto: Marco Borggreve

Jörg Widmann schreibt ein „Lied“ für Orchester und begibt sich dabei auf die Spuren österreichisch-schubertscher Melodienseligkeit sowie der musikalischen Brüche eines Gustav Mahler. Der Finne Magnus Lindberg, einst Propagandist des markigen „Sibelius ist tot!“, arbeitet mit kleinen tonalen Zentren, mit Inseln des Minimalismus und poppiger Rhythmik. Der Franzose Gérard Pesson wiederum liebt es gleich zitatengewaltig: Mahler, Bruckner, Messiaen. Schließlich der Italiener Salvatore Sciarrino: Sein Flötenkonzert liebäugelt mit einer traditionellen Gattung unter Verwendung von Lauten, die der Natur entlehnt zu sein scheinen.

So viele Blicke zurück – und doch reden wir von neuer Musik. In Form von großorchestralen, teils verdichteten, teils fragil aufgehellten Klangfeldern. Zu hören beim „NOW!“-Festival (in) der Essener Philharmonie. Gleichwohl verweigert sich das Avantgardistische nicht althergebrachten (bis heute gültigen?), uns passend erscheinenden Titeln. Lindbergs „Corrente II“:  Vom Monumentalen. Sciarrinos „Frammento e Adagio“: Vom Witz. Pessons „Aggravations et final“: Vom Spielerischen. Und Jörg Widmanns „Lied“: Von der Schönheit. Allesamt Tönendes, das eben mehr ist denn der konstruktive Umgang mit dem musikalischen Material.

Lindberg lässt es fließen. Aus düsterem Urgrund heraus, mit dumpfen Schlägen und Rasereien in tiefen Lagen, mit wilden Figurationen in wabernden Klangflächen. Ein archaisches Stück Musik, fast immer sich nervös artikulierend, nur bisweilen lichter, ruhiger dahingleitend. Insgesamt aber gibt sich Lindberg dem Rausch hin, bis zum Schlussklang, der wie eine volltönende Orgel anmutet.

Der Dirigent Brad Lubman. Foto: Erich Camping

Sciarrinos Flötenkonzert könnte gegensätzlicher kaum sein. Von fragiler Faktur, wie ein Dialog von Vögeln im sphärischen Raum. Denn der etwas affektiert virtuose Solist Michael Faust entlockt seinem Instrument weit mehr Pfeifgeräusche als Tonfolgen, oft im Austausch mit den Orchesterflötisten. Das wirkt erheiternd, gelegentlich auch monoton. Doch wie der Komponist sich mehr und mehr Stillstand und Stille erarbeitet, das Material entmaterialisiert, ist zugleich von großer Kraft.

Der Franzose Pesson wiederum setzt in seinem Stück vor allem aufs Geräusch. Es wird geschabt, gekratzt, geklopft, teils im Maschinenrhythmus, teils quirlig, wirbelig – als würde jemand am Radio knopfdrehend durch die Sender huschen. Dann tönt Mahlers Adagietto auf oder ein Bruckner-Scherzo. So wird der Orchestermusiker, hier sind es die Mitglieder des WDR Sinfonieorchesters Köln unter Brad Lubmans pointierter Leitung, zum Homo ludens. Technisches Können trifft auf muntere Spielfreude.

Jörg Widmann aber ist es überwiegend ernst. Er pflegt in Anlehnung an Schubert und Mahler die melodische Schönheit, die Kraft des Hymnus, allerdings auch die schmerzvolle Zerrissenheit zweier Künstlerseelen, der Hang zum Morbiden inklusive. Immer aber funkt der Vertreter der Moderne mit wilden Ausbrüchen oder enervierenden Klangschichtungen dazwischen. Herbe Schläge hier, sphärisches Erstarren dort. Und erneut macht sich die aus dem Hören gewonnene Erkenntnis breit, dass ein Neuerer ohne das Alte auf verlorenem Posten stünde.

Das mehrteilige Festival “NOW!” wird fortgesetzt mit einem Konzert am 9. November in der Folkwang Universität der Künste, Neue Aula (20 Uhr). 

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

www.philharmonie-essen.de

 

 




Denkwürdige Vokabeln (10): Paradigmenwechsel

Also, ich hätte da schon mal ein paar Vorschläge für das Unwort des Jahres: „Betreuungsgeld“. Oder: „Herdprämie“. Oder: „Lebensleistungsrente“. Oder: „Durchbruch“. Oder: „Paradigmenwechsel“.

Wir könnten das ad infinitum fortsetzen und blieben doch stets bei ein und demselben Ereignis, den acht Stunden langen Verhandlungen zwischen Persönlichkeiten, die sich und ihre Themen furchtbar ernst nehmen, aber ziemlich wenig dazu beitragen, dass auch andere dieses tun. Stattdessen reden und rühmen sie – meist sich selbst – um Themen herum, deren gesellschaftliche Durchschlagskraft der eines altersschwachen Kirmesboxers gleichkommt.

Und je nach dem IQ ihrer Leser-, Hörer- und Seherschaft stürzen sich die Medienvertreter und –innen auf diese Vokabeln, nutzen sie zum Ruhme einer erfolgreichen Koalition oder zur (inzwischen kommt selbiges häufiger vor) Abkanzlung einer Amateurtruppe, die indes von einer abkanzlungs-resistenten Kanzlerin angeführt wird.

Schlagzeilen von heute, 6. November 2012 (Foto: Bernd Berke)

Schlagzeilen von heute, 6. November 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ich habe noch Zeiten in Erinnerung, da konnten sich ernst zu nehmende Politiker und –innen schrecklich lange darüber streiten, was wohl der richtige Weg sei, die Republik und ihre östlichen Nachbarn durch eine Wende in den außenpolitischen Handlungsprinzipien einander näher zu bringen. Wenn das mal kein echter Paradigmenwechsel war. Heute reicht es bereits, sich um ein paar zwar recht kostspielige aber dennoch völlig dünnflüssige Wahlgeschenke zu balgen und ein noch flüssigeres Ergebnis zu erzielen, auf dass ein forscher Politiker den „Paradigmenwechsel“ bejubelt.

Zeus oder wer auch immer hilf! Thomas Samuel Kuhn, der 1962 in seiner Eigenschaft als amerikanischer Wissenschaftstheoretiker den Begriff in die Öffentlichkeit brachte, kreiselte womöglich im Grabe rum, wenn er erführe, wie inflationär man mit seiner Wortschöpfung hierzulande umgeht.

Aber, wenn wir so wollen, haben wir, als Mittler zwischen Öffentlichkeit und selbsternannten Eliten, eine gehörige Mitschuld daran, dass so ein Blödsinn erzählt wird. Mit unserem Verhalten haben wir politisch Verantwortlichen schon früh beigebracht, dass man möglichst hochtrabend formulieren muss, damit bei der späteren Berichterstattung eine Schlagzeile für diese oder jenen herausspringt. Hätte ein liberaler Bubi gesagt, dass er ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt habe, wäre es berichterstattenden Zunftangehörigen schwer gefallen, dieser Feststellung auch nur etwas Berichtenswertes abzugewinnen. Stellt er sich aber vor die Kameras und trompetet vom „Paradigmenwechsel“, klingt es so wuchtig, dass bereits die Zeile vorformuliert vor den inneren Augen erscheint. Was lehrt uns Lesende, Hörende, Zusehende das? Je blöder die Nachricht, die ich zu verkünden habe, desto blähender formuliere ich sie.

Ich räume ein, dass ich mit meinem Paradigma (griechisch: Beispiel, Muster, Vorbild) nicht in die Reihe der Favoriten für das Unwort des Jahres gelangen werde. Aber vielleicht mit der „Herdprämie“.




Derrick trifft Grönemeyer – Klamauk mit Niveau im Essener Theater Courage

Plakat des Essener Theater Courage, aufgenommen an der Theater eigenen Wall of Fame Wer kennt ihn nicht? Wen hat er nicht durch das halbe Leben begleitet? Oberinspektor Stephan Derrick und seinen Harry-hol-schon-mal-den-Wagen-Hi-Wi. Drängende Fragen blieben aber immer unbeantwortet. Kann Derrick singen und wenn ja, in wie vielen Tonlagen? Ist Harry wirklich so dumm oder ist das nur ein Teil unzähliger Maskeraden? Hat Derrick eine Frau oder ist er schwul? Mehr noch – sind „Steeeephan“ und Harry vielleicht sogar ein Paar?

Das Essener Theater Courage hatte ein Einsehen und hat sich der Beantwortung dieser drängenden, dräuenden Fragen angenommen. Gerade noch rechtzeitig, denn Derrick steht kurz vor der Pensionierung und sein letzter Fall fordert ihm alles ab. Bis nach Kölle muss er, seine bajuwarische Kompetenz ist dort gefragt. Der Veranstalter eines Doppelgänger-Contest zur Wahl der Super-Niete von Nippes wurde ermordet, justamente während ein Elvis-Double als Heulboje agierte.

Aus dieser Vorlage machen die Schauspieler Stephan Tillmans und Falk Hagen ein Singspiel für zwei Personen. Mit einfachen Mitteln bieten sie Klamauk auf hohem Niveau. Die meisten Pointen sitzen gut, andere hat man sich wohl eher vom Stammtisch mitgebracht. Dafür überzeugen die musikalischen und parodistischen Qualitäten zwischen Rammstein und „Kein bißchen Frieden“ durchgehend. Mit Gitarre, Xylophon und dem guten alten Pömpel unternehmen sie eine musikalische Zeitreise durch die Jahre, in denen der Fernseh-Derrick Freitagsabends eine feste Größe nicht nur in deutschen Wohnzimmern war. Spaß macht schon zu Beginn die Adaption des Fanta4-Klassikers „Sie ist weg“, mein persönliches Highlight war aber Falk Hagens Grönemeyer-Parodie. Hätte ich mir einen ganzen Abend lang angucken können.

Nicht nur die beiden Darsteller haben erkennbar Freude an dem, was sie da tun, auch das Publikum kann gut und gerne als begeistert bezeichnet werden. Dabei zeigen Tillmanns und Hagen auch durchaus Talent für schnelle Improvisation. Wenn im engen Kellertheater einer hustet, versteht der Rest halt nichts mehr und eine Wiederholung wird geschickt eingebaut. Und wenn im Vorraum die Theaterkatze kläglich maunzt, können die Darsteller sich eben nicht konzentrieren und bauen eine kleine Katzen-Verscheuchung-Nummer mal eben so geschickt in ihr Programm ein, dass es Szenenapplaus gibt.

Ich war nach längerer Zeit wieder im kleinen Essener Theater Courage und habe mich gefreut, dass dieses sich so wacker hält und gut angenommen wird. „Harry, hol schon mal den Wagen“ wird zwar wohl erst im nächsten Jahr wieder auf dem Spielplan stehen, aber die Essener bieten eine bunte Palette von Eigen-Inszenierungen an.

Homepage des Theaters: Theatercourage.de




Die spinnen, die Bonner: Theater um „Norma“

Was wäre auf einer Opernbühne zu sehen, wenn das mit der Sparpolitik im Kulturbetrieb so weiter ginge? Nichts! Brandmauer, kalte Scheinwerfer, schwarze Bühnenbretter. Florian Lutz‘ Inszenierung von Bellinis „Norma“ in Bonn thematisiert ein solches Schreckensszenario, dessen Realisierung mancherorts gar nicht mehr so fern liegt.

Man denke nur an die neuesten Nachrichten zur Schließung des Schauspielhauses in Wuppertal oder die Fusionsphantasien, die die Bonner Kulturpolitik selbst nach Köln schielen lässt. Vom Drama um den geschassten Kölner Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg ganz zu schweigen, der wegen Etatstreitigkeiten buchstäblich vom Hof gejagt wurde. Das Bonner Publikum allerdings goutiert den Einbruch der Realität in die schöne heile Opernwelt keineswegs. Es möchte seine Belcanto-Arien unter keinen Umständen durch eine hinzuerfundene Sprechrolle (Roland Silbernagl) unterbrochen sehen, die in der „Norma“ für eine Art reflexive Ebene steht: Das Schicksal der Druiden-Priesterin unter römischer Besatzung wird hier gelesen als Kampf der Künstlerpersönlichkeit mit dem Intendanten, der Nebenbuhlerin, dem untreuem Liebhaber aus B-Promi-Kreisen und den Bedingungen unter denen heute eine Norma-Produktion auf einer Opernbühne entstehen könnte – einschließlich drohendem Sparzwangs.

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

So interessant diese Regie-Idee, so heikel die Umsetzung: Tatsächlich gehen die teilweise etwas hölzern getexteten Einwürfe des fiktiven „Intendanten“ an die Schmerzgrenzen des Musikliebhabers. Gnadenlos quatscht der Impresario als Fremdkörper ins Orchesterspiel, unterbricht Handlungsfluss und manche schwelgerische Melodie. Mit einem Wort: Er nervt ungeheuer. Das Publikum, bis auf äußerste gereizt, brüllt ihn regelrecht nieder, kurz davor, den armen Mimen von der Bühne zu zerren und ihn aus seinem eigenen Saal zu werfen. Gleichzeitig befindet sich diese Inszenierung gerade hier an ihrem neuralgischen Punkt. Denn schließlich: Wo kann man ungestört eine „Norma“ sehen, wenn es kein Opernhaus mehr gibt, das es sich leisten kann, sie auf die Bühne zu bringen?

Glücklicherweise ist es in Bonn (noch) nicht ganz soweit und deswegen gibt es nach anfänglicher Kargheit eine Kulisse aus hereingerollten Bäumen und eine Menge Gallier, die als Asterix-Figuren kostümiert sind. Außerdem eine Norma (Miriam Clark), die ihre Partie mit großer Meisterschaft singt und eine Adalgisa (Nadja Stefanoff), deren Stimme ebenfalls eine Entdeckung ist. George Oniani als Pollione und Ramaz Chikviladze als Oroveso meistern ihre Partien souverän und mit der nötigen Leidenschaft. Die vielzitierte Arie „Casta Diva“ gab dann auch zu Schwärmereien Anlass – egal ob im Abendkleid oder im Comic-Kostüm gesungen. Dank der großartigen Besetzung und dem engagierten Spiel des Beethovenorchesters kamen die Opernfreunde doch noch auf ihre Kosten und sparten auch nicht mit Applaus für die (wahren) Künstler.

www.theater-bonn.de/production.asp?ProductionID=668




Die Violine als Wundervogel: Carolin Widmann ist Residenzkünstlerin in Duisburg

Carolin Widmann (Foto: Marco Borggreve)

Ein musisch derart hochbegabtes Geschwisterpaar wie Jörg und Carolin Widmann hat es in Deutschland wahrscheinlich seit Felix und Fanny Mendelssohn nicht mehr gegeben.

Seit Bruder und Schwester in ihrem Münchner Kinderzimmer große Opern von Mozart und Puccini mit Stofftieren nachspielten, entwickelten sie sich zu leuchtenden Exponenten des modernen Musiklebens: Jörg zum überragenden Klarinettisten und vielfach ausgezeichneten Komponisten, dessen Werke in aller Welt gespielt werden, Carolin zur nicht minder gefragten Violin-Virtuosin, deren CD-Einspielungen mit Kritikerlob und Preisen nachgerade überschüttet wurden.

Was diese Geigerin so ungewöhnlich, ja einzigartig macht, ist in der aktuellen Konzertsaison in Duisburg zu erleben. Als Residenzkünstlerin der Duisburger Philharmoniker ist Carolin Widmann bis zum 9. Juni 2013 in insgesamt vier Konzerten zu erleben. Als Solistin und Kammermusikerin wird sie Zeitgenössisches gleichberechtigt neben Werke der Romantik und der gemäßigten Moderne stellen. Die 36-Jährige mit dem roten Haarschopf ist eine, die gerne Vorbehalte ausräumt, die das Publikum für moderne Klänge zurück erobern möchte. Sie will möglichst vielen Menschen näher bringen, was ihr von Kindheit an selbstverständlich ist.

Das mag nach einer Mission klingen. Aber Carolin Widmann wirkt weder lehrerhaft noch verbissen. Zum Auftakt ihrer „Residency“ begegnet uns im Lehmbruck Museum eine quirlige und lebensfrohe Künstlerin, die sich mit Verve und hellwachem Geist für die Musik unserer Zeit einsetzt. Vor einem interessierten Kreis spielt sie im Museumsfoyer „Solo allein“: Ein Programm mit hoch virtuosen Solo-Stücken, musikalisch gehaltvoll genug, um als Meisterwerke der Violinliteratur gelten zu dürfen. Vom ersten Ton an ist bei ihr klar, dass diese nicht isolierte Inseln im Meer der Musikgeschichte sind, sondern dass sie durch klare Traditionslinien verbunden sind, umflossen vom gleichen Strom der Zeit. Die Schauspielerin Isis Krüger ergänzte den Abend durch die Rezitation von Gedichten Else Lasker-Schülers.

Widmann beginnt mit Salvatore Sciarrinos „Capricci“ für Solo-Violine, die sich unter ihren Händen so frappant als Reaktion auf die Capricen von Paganini erweisen, dass sich ein freudiges Wiedererkennen in das Staunen mischt. Sie jagt Sciarrinos Klangsplitter aufeinander, witzig und gefährlich, blendend virtuos und doch mit größter Natürlichkeit. Ihre wertvolle Guadagnini-Geige verwandelt sich unter ihren Händen in einen Wundervogel, der tiriliert und flötet, zwitschert, keckert und flirrt. Selbst in Ausbrüchen, die das Nebengeräusch nicht scheuen, bleibt ihr Spiel sinnlich und vielfarbig.

Blitzsauber und technisch tadellos meistert die Geigerin dann die berühmte Sonate „Obsession“ von Eugène Ysaye, die Bach-Zitate mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv der lateinischen Totenmesse verschränkt. Dabei geht es ihr nicht so sehr um die Demonstration geigerischer Opulenz. Widmann beweist ein untrügliches Gefühl für Atmosphäre, lässt die „Malinconia“ trüb dahin fließen, entzückt durch volltönende Akkorde und öffnet durch den Einbruch des dämonischen „Dies irae“-Motivs immer wieder Abgründe. „Les Furies“ hinterlassen bei ihr Eiseshauch und Schwefelgestank.

Umgeben von einem Halbkreis aus 8 Notenständern beschließt sie den Abend mit den selten im Konzertsaal aufgeführten „Anthèmes II“ von Pierre Boulez, die in der Fassung für Violine und Live-Elektronik erstmals 1997 in Donaueschingen erklangen. Beziehungsreich spielt der Werktitel mit alten englischen Psalmen- und Hymnenkompositionen, mit dem Begriff des Themas und dem Namen einer Blume, der Chrysantheme. Im Zusammenspiel mit der Live-Elektronik, für die ihr Detlef Heusinger, Thomas Hummel und Simon Spillner vom Experimentalstudio des SWR zur Seite stehen, betritt Widmann ein musikalisches Spiegelkabinett, in der die Elektronik ihren Klang vervielfacht. Die Geigerin spielt mit Echos, lässt die formal klar getrennten Abschnitte des Werks aufblühen. Ihr Violinton erreicht dabei eine biegsame Anmut, die dem Solokonzert von Felix Mendelssohn zur Ehre gereicht hätte.

Die Duisburger Philharmoniker und ihr Intendant Alfred Wendel haben mit Carolin Widmann eine wegweisende Künstlerin verpflichtet. Ihr zu lauschen, sei allen ans Herz gelegt: Wer diese Chance verpasst und weiter verständnislos den Kopf über die vermeintlich verkopfte Moderne schüttelt, ist fortan selbst Schuld.

(Weitere Termine mit Carolin Widmann: 14. und 15. November, 17. Mai und 9. Juni 2013. Informationen: www.duisburger-philharmoniker.de)




Abriss oder Architektur-Archiv: Was wird aus dem früheren Ostwall-Museum?

Es gibt Betrübliches von einer „prominenten“ Dortmunder Baulichkeit zu berichten. Das frühere Dortmunder Museum am Ostwall (dessen Bestände bekanntlich ins „Dortmunder U“ umgezogen sind) gammelt allem Anschein nach erbärmlich vor sich hin.

Schon der flüchtige Laienblick von außen lehrt jedenfalls das Gruseln. Rundum sprießt Vegetation durch die Ritzen zwischen den Steinen, ginge es so weiter, könnte irgendwann die „Natur“ das ganze Areal zurückerobert haben.

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Die Freitreppe hinterm Haus ist in einem kläglichen Zustand. Zwischenzeitlich sind hier angeblich Drogengeschäfte abgewickelt worden, das verwahrloste Ambiente hat sich wohl geradezu dafür angeboten. Die Plastiken im kaum gepflegten Gartenbereich sind nicht nur von Sprayern versaut worden, sondern dümpeln bei entsprechender Witterung auch in Wasserlöchern. An der Frontseite zum Ostwall hin zeigt sich der schmucklose Bau noch einigermaßen präsentabel, wenn auch schon die ersten Buchstaben der Aufschrift gestohlen worden sind. Vorne hui…

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Dabei heißt es, dass zwischenzeitlich schon etwa 800.000 Euro in die Sanierung gesteckt worden seien, um das Gebäude z. B. für eine etwaige Veräußerung aufzuhübschen. Ein Investor zeigt sich kaufbereit, will aber das frühere Museum abreißen und statt dessen Seniorenwohnungen errichten. Ob die Stadt solchen Lockungen nachgibt? Eigentlich war der Verkauf der Immobilie schon Ende 2010 beschlossene Sache. Doch dann haben sich die Kräfte verschoben: Es gibt eine womöglich reizvolle Alternative, die freilich bestens durchgerechnet werden muss.

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Das Ostwall-Museum ist – wie gesagt – im Oktober 2010 ins heute immer noch seltsam unfertige, gleichwohl sündhaft überteuerte „Dortmunder U“ (früherer Brauereiturm) umgezogen. Schon lange währt das Gezerre darum, was aus dem leeren Gebäude werden soll. Anfangs hatte es geheißen, die stetig gewachsene Jüdische Gemeinde könne das Objekt nutzen, nun ist seit geraumer Zeit von einem „Baukunst-Archiv NRW“ die Rede. Ein Kernbestand für eine solche Einrichtung befindet sich bereits in der Stadt: An der Universität (TU) werden seit 1995 Nachlässe von etwa 50 bedeutenden Architekten betreut. Es wäre ein Signal, wenn all dies und vielleicht mehr mitten in die Stadt rückte. Der Dortmunder Professor Wolfgang Sonne hat denn auch die Archiv-Idee ins Gespräch gebracht. Ein solches Institut in einer Stadt, in der etliche Kahlschläge und Bausünden zu besichtigen sind – das hätte gerade was! Es wäre zwar längst nicht so populär, aber gleichsam origineller als das künftige Deutsche Fußball-Museum, das quasi jedermann just in dieser Stadt erwarten würde.

Man hofft inständig, dass das Land NRW mindestens 80 Prozent der Umbaukosten fürs Baukunst-Archiv bezahlt. Die Entscheidungen zogen und ziehen sich hin, sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund. Offensichtlich und aus nachvollziehbaren Gründen scheuen die Kommunalpolitiker jedes Risiko, hier einen weiteren, schwer kalkulierbaren Kostgänger heranzuzüchten. Dies wäre in der verschuldeten Stadt auch schwerlich zu vermitteln.

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Es müsste also eine tragfähige Konstruktion mit Förderverein und eventuell mit Landeszuschüssen gefunden werden, mit denen die laufenden Kosten (ca. 300.000 Euro im Jahr, andere Schätzungen lauten auf 425.000 Euro) zu stemmen wären. Vor allem der ehemalige Bauminister Prof. Christoph Zöpel macht sich beim Förderverein, der im Juli in Düsseldorf begründet wurde, fürs Dortmunder Baukunst-Archiv stark. Auch Dortmunds früherer Baudezernent Klaus Fehlemann gehört zu den entschiedenen Befürwortern. Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kämmerer Jörg Stüdemann zeigen sich gleichfalls keineswegs abgeneigt; wenn es denn für die Stadt kostenneutral ausgeht…

Mit realistischen und belastbaren Vorschlägen zur Finanzierung eilt es jetzt wahrlich. Am 15. November soll im Dortmunder Rat (Sitzung ab 15 Uhr) die endgültige Entscheidung fallen. Wenn bis dahin nichts Vernünftiges auf dem Tisch liegt, dürfte es wohl doch zum Abriss kommen. Für diesen Fall kann man sich die hämischen Kommentare der überregionalen Presse schon ungefähr ausmalen. Auch kann man sich lebhaft vorstellen, welchen Sturm der Entrüstung ein vergleichbarer Vorgang in Städten mit starkem Bürgertum auslösen würde.




Ein Mensch zerbricht: Alban Bergs „Wozzeck“ im Konzerthaus Dortmund

Johan Reuter als "Wozzeck" (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Mit versteinertem Gesicht steht er da: Ein Bär von einem Mann, bebend, die Hände an der Hosennaht. Sichtlich gequält, aber wehrlos. Ein gefesselter Gigant, ein Vulkan kurz vor der Eruption.

Das ist Johann Christian Woyzeck, in der Oper von Alban Berg schlicht „Wozzeck“ genannt. Ein armer Soldat, der sich für ein wenig Geld krumm macht, der von seinen Vorgesetzten schikaniert und von seinen Mitmenschen mitleidlos ausgenutzt wird. Eine Kreatur wie ein geprügelter Hund.

Es hat ihn um 1800 wirklich gegeben, den Sohn eines Leipziger Perückenmachers, der aus Eifersucht zum Mörder wurde. Sein Schicksal befeuerte Georg Büchner zu seinem berühmten Dramenfragment und Alban Berg zu seiner bahnbrechenden Oper. Die Alban Berg gewidmete „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund erreichte durch einen exzellent besetzten „Wozzeck“ jetzt erschütternd intensive Stunden.

Vom Bariton Johan Reuter kann dabei kaum die Rede sein, denn der ist eigentlich gar nicht da. Der in Kopenhagen geborene Sänger muss sein wahres Ich wohl in der Garderobe abgelegt haben, um sich ganz und gar in Wozzeck zu verwandeln. Und so hetzt er über die Bühne als ein Getriebener, der Stimmen hört und die Erde unter seinen Füßen wanken fühlt. Wie mit Überdruck bricht die Titelfigur aus diesem großartigen Sängerdarsteller heraus. Seine Stimme gibt uns den Rest: vibrierend vor Erregung, steigert sie sich schubweise zu Ausbrüchen einer Verzweiflung, deren Wucht uns fortreißt wie eine Naturgewalt. Wozzeck stammelt, er stöhnt, er brüllt auf. Da gibt es kein Entrinnen: Seine Verstörung springt uns förmlich auf den Schoß, seine Qual wird die unsere.

Die wunderbare Angela Denoke ist als Marie eine herrlich vielseitige Partnerin. Aus ihrem klaren, reifen Sopran klingt die Einsamkeit der vernachlässigten Frau, die Rat- und Trostlosigkeit angesichts eines Mannes, dessen Zustände sie immer weniger versteht. Zugleich ist sie zärtlich als liebende Mutter, giftig als zänkische Nachbarin, buhlerisch schmeichelnd im Flirt mit dem Tambourmajor. Auch die Denoke kann sich bis zum stöhnenden Aufschrei steigern. Ins schier Uferlose aber wächst Maries Jammer, wenn sie in stiller Verzweiflung um Vergebung ihrer Sünden betet.

Die Nebenrollen sind erwartungsgemäß stark besetzt: der Hauptmann (mit leichter Tendenz zur Überzeichnung: Peter Hoare), der Doktor (zu Beginn etwas steif: Tijl Faveyts) und der Tambourmajor (mit auftrumpfender Macho-Attitüde: Hubert Francis) sind ein treffliches Trio infernale, das Wozzeck das Leben zur Hölle macht. Zum Erlebnis wird der Abend auch deshalb, weil das Philharmonia Orchestra und die Sänger der Dortmunder Chorakademie immer wieder punktgenaue Schlaglichter auf das Geschehen werfen. Bergs bestechend dichte, psychologisch aufgeladene Partitur wird so zum Kommentar, der mehr sagt als tausend Worte. Zuweilen greift Esa-Pekka Salonen am Dirigentenpult so beherzt in die Fortissimo-Skala, dass die Gesangssolisten nur mehr als Farbe in der Klangorgie wahrzunehmen sind. Rauschhaftem Musikgenuss steht das aber nicht unbedingt entgegen. Es war diesmal nicht die Lautstärke, die das Publikum zum Jubeln brachte.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Verschärfte Startbedingungen – für den Abitur-Jahrgang 2013 wird es eng

Ich wusste es. Ich wusste es. Ich wusste es. Hab ich es nicht immer gesagt? Hab ich. 2013 wird der Numerus clausus verschärft. Der doppelte Abitur-Jahrgang lässt grüßen. 1,2 für Germanistik in Bochum. Das ist der Richtwert, Stand der Gerüchte, die durch ruhrische Schulen wabern. Da schon von einigen Medien offiziell aufgegriffen, darf ich mich wohl auch offiziell empören. Ich wiederhole: 1,2 für Germanistik in Bochum. Ja, nee iss klar.

Man hat es ja auch nicht kommen sehen. Ist so wie mit Weihnachten. Kommt immer völlig überraschend. Haben etwa Schulen rechtzeitig informiert und ihre Bedenken im Ministerium angemeldet? Haben Eltern schon frühzeitig gewarnt, Initiativen gegründet, Unterschriften gesammelt? Haben sie? Ja, verdammt. Das haben sie. War da was?

Es wird eine Lösung gefunden werden. Ich seh und hör sie noch alle vor mir. Die gesammelten Schulminister(innen) der letzten 13 Jahre. Wie sie geschwurbelt versichern, dass man das Problem des doppelten Abi-Jahrgangs 2013 nicht unterschätzen werde, für Lösungen werde gesorgt. Am Allerwertesten wurde gesorgt. Nix iss. Numerus clausus wird hochgesetzt. That’s it. Fertig. Lehrstellen sind übrigens so früh wie selten alle vergeben. Dies als kleine Info am Rande für die, die eine Umorientierung in Erwägung ziehen sollten. Braucht Ihr nicht.

Unser Ältester begann im Jahr 2000 seine Schulkarriere, gehört also zu den Letzten, die noch nach 9 Jahren Gymnasium (kurz G9) zur Reifeprüfung antreten. Gemeinsam mit der Stufe, die erstmals nach 8 Jahren Gymnasium (kurz G8) ihr Abitur macht. So alles gut geht, werden wir im nächsten Jahr eine Abi-Feier haben, bei der noch nicht mal alle Eltern in die Aula passen. Patchwork-Familienstiefväter und Mütter müssen draussen bleiben. Omas und Opas sowieso. Von Geschwistern gar nicht zu reden. Das ist in dem Fall aber auch nicht so schlimm. Die haben sowieso keine Zeit, die hängen nämlich im G8-System und haben bestimmt noch Unterricht. Wie unser Jüngster. Dieser orientiert sich derzeit in der Orientierungsstufe. In erster Linie an wahnwitzigen Stundenplänen. Täglich bis mindestens 16:00 Uhr, Dienstag sogar bis 18:30 Uhr. Aber er hat noch Glück. Seit diesem Jahr gibt es endlich eine Mensa. Wird aber nicht genutzt. Weil ziemlich teuer. Und die meisten Eltern müssen ja sparen. Es warten Studiengebühren. Wenn das so weiter geht, wahrscheinlich sogar im Ausland. Gut, dass wenigstens der Jüngste einen Platz im stark nachgefragten Niederländisch-Kurs bekommen hat. Ich fand Maastricht ja immer schon schön.

Seit der Älteste im Jahr der Jahrhundertwende seine Schulkarriere begann, haben wir unzählige Reformen und Reförmchen mitgemacht. Alle mit der heißen Nadel gestrickt, alle unausgegoren, angefangen mit der gleitenden Grundschuleinführung, weiter über Grundschule ohne Noten bis nun zum Gedöns um G8/G9.

Ich betone übrigens ausdrücklich, ich klage in diesem Punkt nicht über die Schulen. Die haben getan, was sie konnten und stimmen in mein Klagelied mit ein. Ich erinnere mich an Schuljahre ohne Bücher, weil diese noch nicht an G8 angepasst waren, an Lehrer, die Stunden um Stunden am Kopierer verbrachten, um Unterrichtsmaterial zu haben. Ich freue mich, dass mir die diversen Lücken im Unterrichtsplan Raum lassen, um meinen Kindern Brecht und Böll nahezubringen. Und fein, dass ich Zeitzeugin bin, dann kann ich glatt noch was zur Wiedervereinigung vermitteln, bis dahin werden wir es im Umterricht wohl nämlich nicht mehr schaffen. Ich erinnere mich genau an Elternabende, in denen das Ministerium ausrichten ließ, für den Abi-Jahrgang 2013 würden die Stufen getrennt bleiben und entsprechend des Wissensstandes unterrichtet werden. War da nicht mal was? Ging nicht. Ach so. Ja dann. Gut, dass die Schule reagiert und für die G8er, die nächstes Jahr ran müssen, Förderunterricht einplant. Das können die Eltern nämlich nicht auch noch leisten. Die gehen schließlich arbeiten. Es warten Studiengebühren. Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber so ist das. Endlos könnte ich mich aufregen, endlos.

(Die Autorin beherbergt und kümmert sich um einen, der 2013 nach 13 Jahren Schule Abi macht; um eine, die 2013 nach 12 Jahren Schule Abi macht und einen, der 2015 nach 12 Jahren Schule macht. Zufrieden ist keiner der drei. Ich darf mich also aufregen.)