Ansichten eines Hörbuch-Junkies (5): Frank Goosens Liebe zum Revier

Mir wird ja zunehmend klarer, dass es Texte gibt, die nur als Hörbuch wirklich das wiederzugeben in der Lage sind, was ihr Autor aussagen will.

Sie wirken abgestimmt und wohl legiert – vom Verfasser über den Sprecher oder dessen weibliche Entsprechung auf den Hörleser und seine weibliche Entsprechung ein. Sie malen buntfarbige Bilder oder dralldreisten Unfug mit Sprache und Stimme, stellen für mich als ausgewiesen Junkie dieses Genres inzwischen eine eigenständige Kunstgattung dar. Das war schon häufiger der Fall, beispielsweise bei den Eberhofer-Krimis von Rita Falk, deren Würze nicht zuletzt durch das bayerische Idiom des Christian Tramitz schmackhaft wird, oder beim abgedrehten „Er ist wieder da“ von Timur Vermes, in dem Christoph Maria Herbst den „Föhrer“ grandios durch sechs Stunden trompetet, ohne zu albern oder zu ernst dabei zu wirken, so dass die Gratwanderung dieses feinsinnigen Versuches weder plump noch plöd daher kommt.

34511047z

Und nun nahm mich Frank Goosens „Sommerfest“ gefangen, weil Frank Goosens Stimme es mir vorlas und ich zunehmend felsenfester überzeugt war, dass nur er, genau er dazu in der Lage war, seinen Text zu sprechen. Denn nur er kann „Tüss“ so sagen, dass es zwar seine hochdeutsch gemeinte Anmutung bewahrt, aber voll nach Revier klingt, oder Klümpchen, den Begriff, den man schon in Köln nicht mehr als revierne Schwester der Kamelle erkennt. Nur er kann unsere Sprache so sprechen, als sei sie eben d a s Kommunikationsinstrument einer Kulturregion, der einzigen, die rund 60 Kilometer Autobahn sperren kann, um den längsten Tisch der Welt mit fröhlich palavernden Menschen zu füllen.

Zugegeben, ganz fein anders klingt es, wenn ein Bochumer spricht, in den Ohren eines Nachbarn, der aus Köln vor Jahrzehnten nach Dortmund einwanderte, also in meinen Ohren. Aber es klingt dennoch wie zuhause, es fühlt sich fast so an, als erzähle er meine Geschichte, weil ich so vieles wiedererkenne. Wie den generationsübergreifenden Zusammenhalt in einer Kleingartensiedlung, die Unterhaltung Erwachsener, während die Brut pöhlt und um die Entdeckung für die zweite Liga kämpft. Oder das Erinnerungsgedusel alter Freunde, die sich in unterschiedlichen Schichten des Bochumer Soziotops wiedertreffen und nachts beschließen, wie früher zu sein, als sie noch jung waren. Oder die Geschichte von der goldenen Schraube, aus Adolf Winkelmanns Film „Jede Menge Kohle“, die mir Adolf so um 1967 einmal erzählte. Kea, das konnte der auf zwei lockere Stunden ausdehnen bis der Gag kam: „Und drehte, und drehte … und dann fiel ihm der Arsch ab!“

Schauspieler Stefan, der aus München angereist ist, um das Elternhaus einem Makler zu übergeben, auf dass der es verkaufe, weil kürzlich der letzte Bewohner dahin schied, ein Nennonkel, der es in Schuss gehalten hatte, nachdem die Eltern gestorben waren, Stefan ist der „Local Heroe“. Was soll er mit einem Haus in Bochum, wenn sein Theater den Vertrag nicht verlängert; wenn er am Montag doch an der Isar Vorsprechen hat, für eine Fernsehserie, die er nicht einmal kennt. „Toto“ Starek, der leicht eindimensionale Handlanger von „Diggo“ Decker, dem gar nicht so dusseligen Grobschlachter, Frank Tenholdt, der gebildete Bewahrer des Industriekultur-Erbes seines einst Kohle kratzenden Vaters, Franks schöne Frau Karin, die mal Stefan geküsst hat und natürlich „Charly“, also Charlotte, die Enkelin des Masurischen Hammers, der „Omma“ Luises (Stefans Omma) ewige Liebe war, aber auch deren unerfüllte. „Charly“, die erste Liebe von Stefan, der er den ersten Kuss seines Lebens gab, die ihn, wenn auch ein einziges Mal beischlafenderweise, aber stets als kleinen Bruder betrachtet hatte, oder? Sie und noch viele mehr begleiten ihn, den Schauspieler, aus München angereist („Muss man dich kennen?“), durch ein langes Wochenende, in dessen Verlauf Stefan nichts von dem geregelt kriegt, was er eigentlich tun wollte. Aber alles, das den Willen zur Lebensumkehr bei ihm auslöst.

Anka, die Freundin im fernen München, verliert sich, ebenso wie dieses immer fremder werdende München. Bisweilen tölpelt der ewige Ruhri aus Stefan heraus, bisweilen sehnt er sich selbst angesichts der pöbelnden Ruhris aus seiner wiedererkannten Jugend an die Isar zurück, das aber immer seltener. „Was soll ich denn hier?“ heißt es einmal hilflos aus Stefans Mund. „Was sollst du woanders?“ lautet die Entgegnung der „Charly“-Charlotte. Dafür merkt man ihm und dem Erzähler Frank Goosen an, wie der Held mit jeder Begegnung und jeder Erweckung von Erinnerung immer mehr am Heimweh l e i d e t und die Gegenwehr nachlässt, wenn er wieder einmal innerlich feststellt, dass „Totto“ blöd ist, Frank Tenholdt ein Spinner, „Diggo“ Decker das Urbild des Revier-Prolls und … ach „Charly“.

Da ich noch vielen anderen gönne, die wunderschönen Stücke zu genießen, lasse ich es mal dabei und empfehle jedermensch, sich anzuhören, was Frank Goosen seinen Leuten daheim und Fliehenden – in welche Himmelsrichtung auch immer – an die Hand gibt. Dass jeder und jede dahin gehört, wo er/sie sich am wohlsten fühlt, und das ist bei uns, ist doch klar. Stefans Koffer fährt allein nach München zurück, die Bahn nimmt ihn mit, aus der Stefan im letzten Moment noch springt, um doch noch bei „Charly“ nachzufragen, ob sie gemeinsam was machen, so etwa Theater in der alten Kneipe vom Masurischen Hammer, „Omma Luises“ ewige Liebe. Im Koffer ist auch der Schlüssel zum Elternhaus, das er immer noch nicht verkauft hat. Tja, und wie es ausgeht, das erzählt Frank Goosen noch, aber nicht, wie es weiter geht mit dem Hinterzimmertheater und allen anderen Plänen, mit den „Tottos“, Diggos“, mit Frank und seiner untreuen Karin. Aber das können wir uns ausdenken.

Frank Goosen (Autor und Vorleser): „Sommerfest“. Hörbuch (6 CDs / 425 Minuten) im Verlag Roof Music; Tacheles! Ca. 22 €




Abschied vom Meisterwerk nach 21 Jahren: Axel Cortis „La Traviata“ letztmals in Frankfurt

Nach 21 Jahren ist Frankfurts „La Traviata“ immer noch ein Publikumsrenner, doch nun heißt es Abschied nehmen von der Inszenierung Axel Cortis: Intendant Bernd Loebe teilt mit, die Oper werde einen Schnitt machen und Cortis viel gerühmte Arbeit aus dem Repertoire nehmen. Die Begründung überzeugt nicht: Ein Haus wie Frankfurt sollte nicht nach Platzproblemen entscheiden, und dass in bestehenden Inszenierungen neue Darsteller eingesetzt werden, ist an großen Häusern gang und gäbe und muss nicht zwangsläufig zu Qualitätsabfall führen.

Im Falle der tiefsinnigen Bildwelt Bert Kistners (Bühne) und Gaby Freys (Kostüme) ist die künstlerische Halbwertszeit noch lange nicht erreicht: So mancher Zeitgeist-Schnickschnack ist nach wenigen Jahren nur noch mit Mühe zu erdulden. Axel Cortis „Traviata“ dagegen bewegt und berührt immer noch, selbst wenn ein Tenor den Alfredo gibt, der nur sein romanisches Gesten-Repertoire einzubringen hat. Die Inszenierung ist eine derjenigen, die man als „zeitlos“ bezeichnen kann – vielleicht widerstrebt aber genau das manchem Dramaturgenkopf, der glaubt, auf der Bühne sollten stets die Schlagzeilen von gestern „reflektiert“ werden. Jammerschade: Frankfurts „Traviata“ hätte das Zeug gehabt, als Klassiker zu überleben.

So füllt sich der mondäne Salon Bert Kistners mit seiner zentralen, geschwungenen Treppe zum letzten Mal mit Halbweltdamen, Kollaborateuren und Nazi-Offizieren – denn Corti, Jahrgang 1933, hatte Alexandre Dumas‘ Drama in das besetzte Paris des Zweiten Weltkriegs verlegt, eine Zeit, die er als Kind noch erlebt hatte. Noch einmal ziehen sich Violetta und Alfredo in das blaugraue Haus am Meer zurück, vor dem der Sandstrand Weite, der Horizont Unendlichkeit verheißt, aber eine rot-weiße Markierungslinie bis in den Himmel hinein eine Grenze zieht. Noch einmal tanzen unter den apokalyptischen Gespenstern eines Otto Dix unter einem Zirkuszelt französische Mariannen und preußische Pickelhauben das Spiel von Aufruhr und Freiheit (Choreografie: David Kern). Und noch einmal nimmt Violetta im Wartesaal eines Bahnhofs Abschied von der Welt, von ihrem Leben, ihren Illusionen und Hoffnungen.

Corti zeigt auf einzigartige Weise das individuelle Schicksal, die persönliche Tragödie der „Traviata“, das Scheitern zweier junger Menschen an Zwängen und Verstrickungen, verbunden mit der unheilvollen Atmosphäre einer Zeit, die uns näher liegt als die Sphäre der eleganten Kurtisanen der Epoche Verdis und Dumas‘. Immer noch schockierend, wenn vor der Chorstretta des ersten Akts die Luftschutzsirenen jaulen, Violetta die Leuchten löscht, durch die Fenster die Lichtfinger der Flak im Dunst der Nacht sichtbar werden. Sie suchen den Himmel ab, während die allein gelassene Violetta („È strano“) die Spur des Himmels in sich selbst zu erahnen beginnt. Selten wurden Bedrohung und Einsamkeit der „bevölkerten Wüste“ der Riesenstadt in so abgründige und gleichzeitig ästhetische Bilder gefasst. Wie überhaupt Kistners Bühne nicht hoch genug zu rühmen ist: Das Flair der Zeit, die Schönheit der Impression, aber auch der Ausgriff ins Symbolische und Mythische sind glücklich verbunden.

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis "La Traviata" an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis „La Traviata“ an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Exemplarisch ist das im dritten Akt zu erleben: Der Bahnhof als mythischer Ort der Moderne, Symbol der unerbittlich verfließenden Zeit (die Bahnhofsuhr), der unsichtbaren Geister, die entscheiden, wann ein Zug ankommt, steht oder abfährt (die Rot oder Grün zeigenden Signale), säkularisierte Kathedrale der Technik und des Fortschritts (die riesigen Eisenkonstruktionen im Hintergrund) und gleichzeitig Ort des Abschieds, der Entscheidung, der Fremde und Unbehaustheit.

Corti stellt Violettas Sterben in den Kontext eines großen, unmenschlichen, entpersönlichten Sterbens: Während sich die jungen Menschen voll trügerischer Hoffnung ein letztes Mal in die Arme sinken, den Traum vom Leben anderswo („Parigi, o cara, noi lascieremo…“) besingen, kontrollieren Wehrmachtssoldaten mit Hund die Papiere der anderen Wartenden und führen zwei alte Männer ab.

Trauer, Schmerz, Ohnmacht werden individuell und politisch-gesellschaftlich konnotiert, ohne dass Corti versucht, das eine gegen das andere auszuspielen. Er stellt den Zusammenhang zwischen der Existenz des Einzelnen und dem Raum der Gesellschaft her, ohne dem Leid seine Würde, der Angst ihre Gewalt zu nehmen. Solche machtvollen Bilder wirken auch, wenn sich die Darsteller nicht vollkommen in das Regiekonzept einfinden – obwohl diese letzte Wiederaufnahme von Tobias Heyder ohne die Zusatzmätzchen manch früherer Einstudierer auskommt. Vielleicht hätte Bernd Loebe mal unter den zahlreichen Fans dieser Inszenierung fragen sollen: Einige hätten ihm nach Jahren noch aussagestarke Details aus der Inszenierung aus der Erinnerung referieren können – auch ohne Regiebuch.

Wenn allerdings ein Tenor wie Francesco Demuro auftritt, stehen die Signale für Personenregie generell auf Rot. Der „international gefeierte“ Sänger (so die Homepage der Frankfurter Oper) stellt den Alfredo aus, wie er sich von Seattle bis Santiago in jede verbrauchte „Traviata“-Routine einpassen könnte. Wenn denn nun wenigstens die Stimme etwas von der fehlenden Faszination der Bühnenerscheinung zurückbrächte! Aber Demuro wird, nach beachtlich energischem Start, im Kern immer dünner, im Schmelz immer ranziger, im Vibrato klirrender. Die Stimme löst sich von der Verankerung im Körper und hat im dritten Akt nur mehr markierte Piani und angestrengt-dünne Höhe zu bieten. Wie ein Sänger mit schönem Potenzial, aber so unausgereifter Technik „international gefeiert“ sein kann, ist eines der Rätsel der Opernwelt, dessen Erklärung man lieber nicht wissen möchte.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Anders entwickelt sich im Lauf des Abends der Germont von Jean-François Lapointe. Der kanadische Bariton beginnt gedeckt und mit einem knödelig-angestrengten Timbre, kann sich aber im Duett frei singen und zeigt dann eine versierte Beherrschung der Technik und des ausdrucksvollen Singens. Ein beeindruckendes Debüt eines Sängers, der am Ende viel Jubel erntet.

Für den erkrankten polnischen Sopran Aleksandra Kurzak singt Cristina-Antoaneta Pasaroiu die Violetta: Die Rolle liegt ihr im Lyrischen ausgezeichnet; vor allem im Dritten Akt lässt sie intensiv miterleben, wie mit ihrem Körper ihre Seelenkraft verfällt, wie die letzten Funken der Hoffnung das mühevolle Aufbegehren noch einmal nähren, um dann im Wissen um das unausweichliche Ende zu verlöschen. Für die differenzierten emotionalen Aspekte der Arie im ersten Akt und die weiten, dramatischen Bögen des zweiten fehlt der Sängerin das freie, weite Volumen, die Expansions- und Steigerungsfähigkeit. Vielleicht kommt die – oft unterschätzte – Rolle doch noch etwas zu früh?

Frankfurts Ensemble ist schon oft gerühmt worden; Anlass dazu gibt auch die Besetzung der Nebenrollen in dieser „Traviata“: Nina Tarandek lässt hinter der zugespitzten Eleganz ihrer Roben das warme Herz der Flora spüren; mit Elizabeth Reiter ist Annina einmal nicht mit einem Schlachtross aus dem Gnadenbrot-Stall besetzt, sondern mit einer klug gestaltenden, stimmlich niveauvollen Sängerin; Franz Mayer gibt als Douphol einen kaltherzigen Generalissimus, der die ständigen Störungen durch private Verwicklungen als lästig empfindet.

In der musikalischen Leitung der Wiederaufnahme debütiert der israelische Jungstar Omer Meir Wellber an der Frankfurter Oper; einer der zahlreichen Assistenten Daniel Barenboims, die Karriere machen. Er nähert sich Verdis empfindlicher Partitur ohne profilierten Blick. Das Orchester spielt präsent, mit weich geformten Piano-Momenten, trefflich koordiniert. Aber dort, wo die formende Hand des Dirigenten spürbar sein sollte, fehlt die Kontur: Meir Wellber atmet wenig mit den Sängern, achtet kaum auf die musikalische Rhetorik, trivialisiert manches schnelle Tempo und arbeitet dicht gesetzte Orchesterstellen und Tutti nicht ausreichend plastisch aus. – Die Vorstellungsserie ist so gut wie ausverkauft, lediglich am 1. Januar gibt es noch ausreichend freie Plätze, um eine Inszenierung zu erleben, die ähnlich wie der Frankfurter Berghaus-Ring zur Legende werden dürfte.