Bilder einer leeren Rundschau-Redaktion

Der leere Newsdesk (Foto: Bernd Berke)

Der leere Newsdesk (Alle Fotos bis auf die WR-Doppelseite: Bernd Berke)

Heute, am 31. Januar 2013, ist der letzte Tag der Rundschau-Redaktion. Der allerletzte. Für immer.

Ab morgen werden – je nach Lokalausgabe – Journalisten von Ruhr-Nachrichten, Hellweger Anzeiger, Westfalenpost oder Lüdenscheider Nachrichten die leere Hülle mit dem Titel „Westfälische Rundschau“ füllen, während der überregionale Mantelteil vom zentralen Essener Newsdesk der WAZ-Gruppe geliefert wird. Da wird zusammengestoppelt, was nicht zusammen gehört. Nennt das Resultat Zombie, nennt es sonstwie; es ist allemal beispiellos in der bundesdeutschen Presselandschaft. Und es ist (ab Samstagausgabe, 2. Februar) nicht mehr die Rundschau – ganz egal, was vorne draufsteht.

Die leere Nachrichten- und Politik-Redaktion (Foto: Bernd Berke)

Die leere Nachrichten- und Politik-Redaktion

Der traditionsreiche Name der Zeitung, die erstmals am 20. März 1946 erschienen war, ist also fortan nur noch ein unsinniges Signal ohne wahre Bedeutung. Das Blatt ohne eigene Redaktion, mithin auch ohne eigenen Geist und eigene Meinung, wird als untotes Mischprodukt durch die Medienlandschaft geistern. Aber wie lange noch? Es hat offenbar schon in den letzten Tagen Abo-Kündigungen gehagelt. Und wenn die Menschen erst merken, was ihnen da künftig vorgesetzt wird… So leicht lässt sich der Westfale nicht „beim Bock tun“.

Der leere Konferenzraum (Foto: Bernd Berke)

Der leere Konferenzraum

Bei Durchsicht meiner alten Fotos, die ich in der Dortmunder WR-Zentraledaktion am Brüderweg aufgenommen habe, bin ich auf einen Stapel gestoßen, der mir ziemlich genau zur heutigen Atmosphäre zu passen scheint. Die Redlichkeit gebietet es, die Entstehungszeit zu markieren: Nach einem Desk-Spätdienst am 28. November 2008 war ich der letzte anwesende Redakteur und habe die ansonsten leeren Räume fotografiert; allerdings schon in dem Bewusstsein, dass ich die Zeitung kurz darauf – nach rund 30 Jahren – aus freien Stücken verlassen würde. Natürlich mit zwiespältigen Gefühlen, wie denn sonst? Obwohl ich also selbst die Entscheidungshoheit hatte, habe ich danach einige Monate gebraucht, um mich allmählich ins neue Dasein einzufinden.

Nochmals der leere Desk, auf der Bildschirmwand die fertig produzierten Seiten. (Foto: Bernd Berke)

Nochmals der leere Desk, auf der Bildschirmwand die fertig produzierten Seiten.

Das Privileg der Freiwilligkeit genießen die Kolleginnen und Kollegen, die ab morgen erst einmal ohne Erwerbsarbeit sind, leider nicht. Sie sind völlig überraschend und äußerst kurzfristig kollektiv vor die Tür gesetzt worden. Man kann allen nur wünschen, dass sie wieder rasch in neue Lebensspuren kommen und/oder die erforderliche Zwischenzeit mit einer Abfindung überbrücken können. Die freien Mitarbeiter haben nicht einmal diesen Trost. Es ist zum Heulen. Und zum Zürnen.

Leerer Redaktionsflur, 3. Etage (Foto: Bernd Berke)

Leerer Redaktionsflur, 3. Etage

Heute wirken die hier gezeigten Bilder wie ein Menetekel. Jedenfalls liegt, so finde ich, Melancholie wie Mehltau auf der menschenlosen Szenerie. Das Motto „Der Letzte macht das Licht aus“ ist oft und manchmal allzu flapsig strapaziert worden, aber hier stimmt es.

Wo Betriebsamkeit herrschte, gähnt nun die Leere. Wo rege debattiert, zuweilen ordentlich gestritten und geflucht, aber auch viel gelacht wurde, bleibt es nun gespenstisch stumm. Wo Aktualität drängte, stehen und liegen die Dinge jetzt nur noch zum baldigen Abtransport umher.

Die Bildschirmwand, nunmehr abgeschaltet (Foto: Bernd Berke)

Die Bildschirmwand, nunmehr abgeschaltet

Heute soll es zum Abschied am späteren Abend noch einen Redaktionsumtrunk geben. Spontan habe ich gedacht: „Da gehst du auch hin.“ Doch nein! Wenn man die letzten 14 Tage nicht im Inneren der WR erlebt hat, kann man sich auf die jetzige Stimmungslage schwerlich einschwingen, die ich mir als eine Art Verzweiflungseuphorie vorstelle. Na, wer weiß. Jedenfalls rufe ich heute aus gebührender Distanz, aber kollegial und freundschaftlich hinüber: „Prost! Auf die Zukunft. Bis demnächst mal. Macht’s gut!“

Aus besseren Zeiten: Beilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau am 20.3.2006 - Doppelseite mit Porträts der damaligen WR-Redaktionsmitglieder.

Aus besseren Zeiten: Beilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau am 20.3.2006 – Doppelseite mit Porträts der damaligen WR-Redaktionsmitglieder. Vor allem ab 2009 wurde die Personalstärke schon erheblich ausgedünnt.

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Blutiger Unernst: Einige Gedanken zu Quentin Tarantinos „Django Unchained“

Den Job des Kopfgeldjägers erlernt Django (Jamie Foxx, rechts) von Dr. King Schultz (Christoph Waltz. Copyright: Sony Pictures Releasing GmbH)

Den Job des Kopfgeldjägers erlernt Django (Jamie Foxx, rechts) von Dr. King Schultz (Christoph Waltz. Copyright: Sony Pictures Releasing GmbH)

Wie grausam und menschenverachtend die Sklaverei war, weiß heutzutage wahrscheinlich jeder. Es gab Harriet Beecher Stowes Roman „Onkel Toms Hütte“, es gab in den späten 1970er Jahren die Fernsehserie „Roots“, deren Held Kunta Kinte vielen im Gedächtnis geblieben sein dürfte. Wem also sollte es neu sein, dass brutale Auspeitschungen einst eine gängige Praxis waren und manch weißer Farmer nicht zögerte, einen geflohenen Sklaven von seinen Hunden zerreißen zu lassen?

Trotzdem ist alles etwas anders, wenn der US-amerikanische Regisseur Quentin Tarantino uns das jetzt im Kino zeigt. Das Unrecht, das uns in seinem neuen Film „Django Unchained“ entgegen tritt, ist expliziter, himmelschreiender, bestialischer als das abstrakte Wissen in unseren Köpfen. Für seine ausführlichen Darstellungen von Gewalt hat Tarantino immer wieder Kritik geerntet. Indes zeigt „Django Unchained“ zunächst nichts, wogegen wir Einwände erheben dürften. Die historische Wahrheit sah womöglich noch grausamer aus.

Allerdings entwickelt sich Django, dieser körperlich und seelisch schon fast gebrochene Sklave, allmählich zum furchtbaren Rache-Engel. Dieser Mann, intensiv gespielt von Jamie Foxx, muss zum Titelhelden erst noch reifen. Dann aber steuert er unaufhaltsam auf ein bluttriefendes Finale zu. Der ihm nach Kräften hilft auf diesem Weg, ist der deutsche Zahnarzt Dr. King Schultz, der sein Geld in Wahrheit als Kopfgeldjäger verdient. Mit seinem gepflegten Bart, seinem Sinn für das Absurde und seiner übertrieben geschliffenen Sprache gibt er dem neuen Tarantino-Film die typisch ironische Tonlage vor. Christoph Waltz ist in dieser Rolle köstlich überdreht und wendig. Der auf einer Metallspirale wippende und wackelnde Riesen-Backenzahn, der den Kutschwagen des Doktors krönt, lässt von vorneherein keinen Zweifel daran, dass es Tarantino erneut blutiger Unernst ist.

Die Namen der Hauptdarsteller gleichen absichtsvoll schlechten Kalauern. In Anlehnung an Richard Wagner heißt Djangos Frau „Broomhilde von Shaft“: So mutiert die heroische Walküre, die auf einem Pferd durch die Lüfte reitet, zu einer Dienstmagd von Besenstiel. Der fiese Plantagenbesitzer Calvin Candie, von Leonardo DiCaprio fürwahr als Ekelpaket XXL dargestellt, lebt auf seiner Farm „Candyland“ das süße Leben eines reichen Südstaatlers. Und Django heißt mit Nachnamen natürlich „Freeman“.

Tarantino-Fans finden in Django die bekannte Handschrift wieder: Den virtuosen Mix zahlreicher Film-Zitate, den effektvollen Einsatz von Musik, den kleinen Gast-Auftritt des Regisseurs, den plötzlichen Umschlag von packender Dramatik in albernen Slapstick und nicht zuletzt die Verneigung vor dem Genre des Italo-Western. Der Auftritt des originalen „Django“-Darstellers Franco Nero ist dafür nur ein Beispiel. Tarantinos Schauspieler haben Gesichter, die Geschichten erzählen. Deshalb kann die Kamera schier endlos auf ihnen verweilen, kann in die dunklen Augen der Schwarzen eintauchen, als ließen sich in ihnen alle Rätsel der Vergangenheit ergründen. Als teuflisch dienstbarer Geist entfaltet Calvin Candies ergebener Haussklave Stephen (gespielt von Samuel Jackson) die ganze Schwärze, zu der die menschliche Seele fähig ist.

Aber der grandios finstere Diener hat sein Handwerk von den Weißen gelernt. Sie sind in diesem Film die wahren Dreckskerle. Tarantino zeichnet sie als fühllose, berechnende Tyrannen, die durch Unterdrückung herrschen und ihre Macht durch Lug und Trug sichern. Die Kultivierteren unter ihnen, und das ist vielleicht bezeichnend, wirken sogar noch zynischer und abstoßender als das ungewaschene Pack am Wegesrand. Es ist, als schlüge Tarantino das große Sündenbuch des weißen Mannes auf. Als wolle er die Geschichte umschreiben. Sein Django reitet als gerechter Rächer. Er bricht über alle Folterer und Menschenschinder herein wie das jüngste Gericht.

Das alles ist, wie gesagt, nicht ernst gemeint. Gleichwohl juchzt unser Herz, wenn Django seinem Pferd die Sporen gibt. Wenigstens im Kino sind die Bösen noch zweifelsfrei zu erkennen. Wenigstens hier erhalten sie noch ihre gerechte Strafe. Neu ist auch dieses Strickmuster nicht. Aber bei Tarantino geht die Seelenhygiene mit wahren Strömen von Blut einher. Da spritzt Erdbeersirup in Hektolitern – und wir finden das auch noch komisch.




Schnell her mit der nächsten Debatte!

Immer und immer wieder diese Debatten. Auch in der letzten Zeit ging es wüst her. Haben wir da etwas versäumt?

Seitdem die maßgeblichen Kulturteile überregionaler Zeitungen sich vor Jahr und Tag zu „Debatten-Feuilletons“ erklärt haben, um notfalls jeden Kram durch die kulturkritische Mühle zu drehen, müssen wir stets auf dem Posten sein. Sonst entgehen uns womöglich Meinungen, die wir uns niemals hätten träumen lassen.

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Nehmen wir nur den Kinderbuch-Streit, der jetzt so manche Redaktion – wie es so unschön heißt – „in Atem gehalten“ hat. Darf man Worte wie „Neger“ etwa in einem Buch von Astrid Lindgren stehen lassen – oder muss man sie nun endlich flugs ersetzen? Je nun, lasst sie einfach stehen, denn alles andere wäre eine idiotische Verfälschung. Aber verwendet diese Worte halt heute nicht mehr. So einfach könnte das sein. Aber damit ließen sich all die Spalten, Seiten und Sendeplätze nicht füllen. Man muss sich also öffentlich erhitzen und dabei so gekonnt provozieren, dass sich andere zur Gegenmeinung aufschwingen. Und so weiter. Erst dann wird eine richtig schöne, weil heftige Debatte daraus.

Dann hatten wir wieder Nazi, Nazi, Nazi. Hitler- und Goebbels-Vergleiche oder Antisemitismus-Vorwürfe gehen unter allen Debattenthemen immer noch am besten; erst recht, wenn man zwei prominente Publizisten gegeneinander hetzen kann – in diesem Falle bekanntlich Henryk M. Broder und Jakob Augstein. Dann ist endlich mal wieder Krawall auf der Bühne. Und jede(r) bringt sich in Stellung und feuert seine Worte ab. Ein saftiger Rufmord ist rasch geschrieben.

Und noch so ein Duell: Die Suhrkamp-Chefin, Schriftstellerin und Unseld-Witwe Ulla Berkéwicz tritt seit Monaten gegen den Verlags-Miteigentümer Hans Barlach an, den der Suhrkamp-Autor Peter Handke als den Bösen schlechthin erkannt haben will. Wieder so eine Frontstellung, wie sie für kernige Debatten zündkräftig ist. Hier steht natürlich gleich ein Gutteil der deutschen Kultur (oder wenigstens die „Suhrkamp-Kultur“) auf dem Spiel. Jedenfalls droht der Verlag in unsinnigen Scharmützeln zerrieben zu werden, was ja traurig genug ist. Unterfüttern lässt sich der juristische Dauerstreit, gegen den einst „Dallas“ und „Denver“ Kuschelgruppen waren, noch mit dem uralten Muster „Die Schöne und das Biest“.

Selbst ums unsägliche „Dschungelcamp“ kommt man heute angeblich nicht mehr herum. Beim Quotenbringer herrsche ja (höhere?) Ironie, befinden nun manche Edelschreiber. Andere halten empört dagegen. Also scheint’s legitim zu sein, sich selbst über diesen Dreck auch im Feuilleton die Köpfe heiß zu reden. Da sehnt man sich fast wieder nach Schmutz- und Schund-Kampagnen zurück. Aber nee. Nicht ernsthaft.

Wenn man schon tief ins Triviale driften darf, so muss man natürlich auch küchenpsychologisch erörtern, warum bestimmte Promi-Beziehungen (Wulff, Van der Vaart) scheitern. Und bloß die Expertenbefragung nicht vergessen!

Da war es halt nur noch ein kleiner Schritt bis zur nächsten Geschlechterdebatte, die von einer Stern-Journalistin ein Jahr nach dem offenbar schlüpfrigen Vorfall lanciert wurde und den FDP-Mann Brüderle in Bedrängnis bringen sollte. Müßig zu erwähnen, dass Sex neben Nazi stets am besten läuft. Übrigens: Nicht nur heimlicher Nazi, auch Sexist kann eigentlich jeder sein. Gut, nicht wahr? So können sich alle irgendwie betroffen fühlen. Auch fallen in derlei Fällen immer ein paar ungemein witzige Wortspiele oder Vergleiche ab, so etwa „Prüderle“ oder – nochmal zurück – die puppenlustige Einlassung, Henryk M. Broder sei der Bud Spencer des deutschen Debattenwesens.

Es ist nicht damit getan, dass Journalisten und Talkshowgäste die widerstreitenden Meinungen vorturnen. Auch wir sind gehalten, uns ständig zu positionieren und Meinungen zu haben. Wir sind doch nicht von gestern! Im fidelen Jahresend-Quiz fragen die Blätter dann gern ab, ob man auch ja jeden Hype mitbekommen hat und sich noch an kuriose Details erinnert. Macht euch ruhig schon mal Notizen für Ende 2013. Stichwort „Säue, durchs Dorf getriebene“.

Gewiss: Natürlich sind viele kluge und interessante Beiträge zu goutieren. Manche Debatten kann man wahrhaftig als Anstöße verstehen, nach denen denen sich möglichst breite Teile der Gesellschaft über ihr Wesen und Wirken verständigen könnten. Aber ach, allzu oft ist es eben nur Raunen, Rauschen und Zeitvertreib. Dann springt die Medien-Maschinerie einfach zu schnell an, damit nur ja wieder neue „Aufreger“ produziert werden. So kommt es, dass man nicht nur von Politik-, sondern auch von Medien-Verdrossenheit reden kann.

Eine Wette, die darauf setzt, dass die Deutschen auf dem Felde aufgeregter Debatten Weltmeister werden könnten, hätte gute Aussichten. Gelassenheit wohnt woanders. Und manchmal wäre man gerne Eremit. Beispielsweise dann, wenn die nächste Grass-Debatte anhebt.




Vor acht Jahrzehnten in Ennepetal: Schüsse und Verletzte zur Machtübergabe an Hitler

Am 30. Januar 1933, vor acht Jahrzehnten, machte der alte Soldat und Reichspräsident Hindenburg den Anführer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Hindenburg und seine rechtsnationalen Freunde glaubten, diese Meute im Griff zu haben, doch in Wirklichkeit bedeutete die Machtübergabe den Beginn der schlimmsten Diktatur der europäischen Geschichte.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Im ganzen deutschen Reich wurde noch am Abend des 30. Januar der Machtwechsel mit Fackelzügen gefeiert. Aber auch Gegner der von diesen damals schon so bezeichneten „Hitler-Papen-Diktatur“ waren noch aktiv, wie das Beispiel der kleinen Stadt Ennepetal zeigt. Die „Milspe-Voerder Zeitung“ (MV) berichtete am Nachmittag des 31. Januar 1933: „Heute in aller Frühe zog ein Sprechchor durch die Straßen. Vermutlich handelte es sich um Anhänger einer Linkspartei, die Niederrufe auf die neue Regierung Hitler erklingen ließen.“

Die Lage wurde aber dramatischer, als am 2. Februar auch Schusswaffen ins Spiel kamen. Die MV-Zeitung schrieb am Tag danach: „Eine Prügelei entstand gestern Mittag zwischen politischen Gegnern hinter dem Amtsgebäude, wobei ein Anhänger der NSDAP bedrängt wurde und eine Schusswaffe zog, worauf er von der herbeieilenden Polizei in Schutzhaft genommen wurde. Es sammelte sich eine große Menschenmenge an, doch konnte die Polizei im Verein mit dem alarmierten Schwelmer Überfallkommando die Ordnung aufrechterhalten“.

Nicht berichtet wurde in der Zeitung, was sich in den Akten über schwere Unruhen mit drei Schwerverletzten am Tag nach der Machtübergabe in Gevelsberg und Milspe (heute Ennepetal) abspielte: Ein Demonstrationszug mit NSDAP-Anhängern sowie SA- und SS-Leuten hatte sich am Abend des 1. Februar von Gevelsberg aus in Bewegung gesetzt und war in Richtung Milspe gezogen. Gegen 22.40 Uhr kam er in Milspe an und wollte nach links in Richtung Voerde abbiegen. Den Schluss bildete eine SA-Gruppe. „Plötzlich fielen drei Schüsse kurz hintereinander“, heißt es im Polizeiprotokoll. „Die Menge stob auseinander. Die Polizeibeamten, und zwar nur zwei, liefen zurück und fanden ein Gewoge auf der Straße, das sie alleine nicht beherrschen konnten.“ Drei Verletzte wurden sofort in eine benachbarte Arztpraxis geschleppt. Weil sich vor Ort nicht habe klären lassen, ob die Schüsse aus dem Zug heraus oder vom Publikum am Straßenrand ausgegangen seien, „konnten irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen nicht getroffen werden“, heißt es in den Akten. Jedenfalls wurden der Sozialdemokrat Thomas Drabent, der christliche Arbeiter Karl Grothe und der Kommunist Hermann Schott durch Schüsse schwer verwundet.

Am Tag danach kursierte ein Flugblatt: „Arbeiterblut floss in Milspe! Das ist der Auftakt der Hitler-Papen-Diktatur! Die SA räumt mit der Pistole in der Hand die Straße“. Eine für den Nachmittag angekündigte Demonstration der KPD gegen „die braunen Mordbanden“ wurde von der Polizei jedoch verboten. Die NSDAP erklärte in einem Brief an die Zeitung unter der Überschrift „Kommunistische Mordhetze fordert drei Opfer“, dass „die zaghafte Behandlung dieses … verführten Untermenschentums ein Ende haben muss.“ Wenige Wochen später wurden die Gemeinderatsmitglieder der KPD und einige Sozialdemokraten verhaftet, die NSDAP sicherte sich auch vor Ort die Macht.

 




„Himmlische Juwelen“: Donna Leons Krimi auf den Spuren eines Barock-Komponisten

Caterina Pelligrini teilt das Schicksal vieler Akademiker der Generation Praktikum. Sie weiß zwar alles über Händel und Bach, Mozart und Haydn, aber als hoch spezialisierte Musikwissenschaftlerin findet sie keine feste Anstellung.

Ihr schlecht bezahlter Job in Manchester hat zudem den Nachteil, dass sie weder England noch die postindustrielle Metropole besonders mag. Die Sonne Italiens, das Essen und das wuselige Chaos fehlen ihr. Als eine Stiftung ihr eine Arbeit in ihrer Heimatstadt Venedig anbietet, verdrängt sie schnell alle Zweifel und kehrt in die geliebte Lagunenstadt zurück.

Dass die Stiftung kaum arbeitsfähig ist, noch nicht einmal einen eigenen Computer besitzt, findet sie zwar etwas seltsam. Doch Caterina ist wie geblendet von ihrer Aufgabe, soll sie doch herausfinden, ob sich in den Truhen, die auf mysteriöse Weise ihren Weg aus den Archiven des Vatikans nach Venedig gefunden haben und die den Nachlass des Komponisten und Kirchenfürsten Agostino Steffani beherbergen, womöglich Schätze von großem Wert befinden.

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Die zwei geldgierigen Cousins, die sich um den Nachlass ihres Vorfahrens streiten und sich von einem zwielichtigen Anwalt beraten lassen, hoffen jedenfalls, dass Caterina wertvolle Notenblätter oder gar kostbare Edelsteine zutage fördert. Und ist nicht in den Briefen Steffanis tatsächlich von „Himmlischen Juwelen“ die Rede?

Jahr für Jahr veröffentlicht die in Venedig lebende amerikanische Autorin Donna Leon einen neuen Kriminalroman. Ihr ebenso sympathischer wie melancholischer Commissario Brunetti hat nun schon 20 Fälle gelöst, sich mit Menschenhandel und Mafia, Atomschmuggel und Giftmüll herumgeschlagen. Brunetti ist Liebhaber der klassischen Literatur und Musik. Eigentlich schade, dass er nicht dabei sein darf, wenn Donna Leon sich unter dem Titel „Himmlische Juwelen“ auf Spurensuche nach dem fast vergessenen Komponisten Agostino Steffani (1654-1728) begibt. Aber wahrscheinlich hätte der gewiefte Brunetti die Sache mit den geheimnisvollen Truhen sofort durchschaut.

Weil die Biografie des Komponisten Agostino Steffani bis heute Rätsel aufgibt und es möglich ist, dass er ein Spion und Kastrat war, kann man aus dem historischen Dunkel kriminalistischen Honig saugen. Genau das ist die Aufgabe von Donna Leon, die ohnehin ein Faible für Barockmusik hat und keine Premiere einer Händel-Oper verpasst. Also wühlt sich ihre Musikwissenschaftlerin Caterina durch die Archive, rekonstruiert das Leben des Komponisten, der in Bayern kurfürstlicher Geheim-Diplomat und Kammermusik-Direktor war, in Hannover zum Minister aufstieg, als Bischof die Rekatholisierung des protestantischen Nordens vorantreiben sollte und, so wollen es Gerüchte, in ein Mordkomplott verstrickt war.

Genug Stoff also für einen Krimi, der den Bogen vom Gestern ins Heute schlägt. Dass er diesmal nicht ganz so spannend ist, liegt daran, dass die Steffani-Erben im Roman reichlich einfältig sind und dass historische Dokumente manchmal ziemlich verstaubt sein können.

Donna Leon: „Himmlische Juwelen“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 298 Seiten, 22,90 Euro.




Alltagsnicken (5): Wir hatten doch noch telefoniert

Ich hatte gerade erst das Vermögen des schmerzfreien Gehens wieder erlangt, ich hatte den Frost des vergangenen Samstags aus meinen hinfälligen Knochen geschüttelt, ich saß verdrossen und missgelaunt – warum, das könnt Ihr ahnen – in meinem Büro, als mich ein Anruf erreichte.

Am anderen Ende der Leitung redete eine gewohnte Stimme fröhlich auf mich ein. Der Mann erläuterte mir quasi in einem Atemzug, dass er sich gerade im Krankenhaus befinde, es aber immer besser ginge, nur, dass es ihm schlecht werde, wenn er die Nachrichten über die umstrukturierende Erdrosselung der Westfälischen Rundschau lese und dass wir uns dringend baldigst zusammensetzen sollten, um gemeinsam über eine lokale Internetzeitung zu grübeln, deren Erscheinen nun umso dringlicher geboten sei.

Es war Klaus Seifert, der ehemalige Chefredakteur des Hellweger Anzeigers (HA), der Zeitung, die ab 1. Februar – nach den Visionen des Pontifex Maximus mit Namen Christian Nienhaus – in Unna und Kamen den lokalen Teil zur ganzkörperamputierten Rundschau liefern soll. Klaus Seifert, der war mal mein Chef, nachdem ich beim HA angeheuert hatte und bald darauf zur Rundschau wechselte. Wir haben stets gern zusammengearbeitet, haben bisweilen auch heftig gestritten, aber über eines hätte ich nie klagen dürfen, weil es nicht geschah: über Respektlosigkeit. Wie ich später von ihm erfuhr, galt das auch in umgekehrter Richtung.

Gestern glaubte ich nicht an ein Gerücht, das krakig durch die Stadt tentakelte, wehrte ich energisch ab und verwies darauf, dass ich doch am Montag noch mit ihm gesprochen habe, dass wir Alten noch an gemeinsamen Plänen arbeiteten. Heute musste ich feststellen, dass manches Gerücht erschütternd reale Hintergründe hat. Klaus Seifert, kaum 72 Jahre alt, ist nicht mehr am Leben. Das letzte worüber wir sprachen, war das gemeinsame Entsetzen über das Ende der WR. Er hat es kaum glauben wollen, wie zynisch kalt die Essener die Amputation durchzogen, wie wenig der Faktor Mensch zählte und fragte immer wieder nach, ob das denn wirklich so gewesen sei.

Nicht erst seit den miesen Nachrichten über die erschlagene Zukunft der WR wissen wir, wie sehr Zeitungen und ihre Macher die Kultur einer Stadt, die Atmosphäre in ihr mitbestimmen. Ein guter Freund und langjähriger Kollege, der auch als Ruheständler sich liebend gern einmischte, lebt nicht mehr. Klaus würde es mir nachsehen, dass ich bei den Gedanken an ihn beinahe automatisch diese Assoziation hatte: Bald werden noch viele andere Stimmen verstummen, weil ihr Rundschau-Sprachrohr nicht mehr existiert.

Ade, Klaus Seifert.




Die schier unerträgliche „Spannung“ vor dem Ende der Rundschau-Redaktion

Es würde einen jetzt doch mal brennend interessieren, wie Rundschau-Chefredakteur Malte Hinz das gemeint hat, als er dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ sagte, er erwarte die neue „Westfälische Rundschau“ nachgerade mit Spannung. Der Mann, der seinen gut dotierten Posten behält, jedoch (weil ohne eigenes Redaktionsteam) ab Februar an einem Essener Schreibtisch sitzt, ist also wahrhaftig „gespannt“ auf die künftig fremdbelieferte Zombie-Zeitung. Ist das bloß einfältig oder ist es schlimmer?

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Im selben „Zapp“-Beitrag äußert sich Christian Nienhaus, einer der mächtigen Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, beinahe schon rührend blauäugig: Er behauptet, die Tradition der WR werde weiterhin beachtet. Auch hoffe er, dass die Abonnenten von der Umstellung möglichst wenig merken…

Wie gut, dass es jetzt ein spürbares Gegengewicht zu solchen – um es überaus höflich zu sagen – verwaschenen Äußerungen gibt, nämlich eine von 216 Kolleg(inn)en der WAZ und der NRZ in Essen unterzeichnete Erklärung zur Schließung der WR-Redaktion, die u.a. hier im Wortlaut nachzulesen ist und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Alle Achtung! Auch Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) hat inzwischen – wie berichtet – klare Worte gefunden, desgleichen der Bürgermeister von Arnsberg, Hans-Josef Vogel. Überdies haben (Stand 24. Januar, 13:00 Uhr) schon rund 5400 Menschen einen Solidaritäts-Aufruf für die WR-Redaktion online unterzeichnet.

Dennoch sieht es leider so aus, als könnte in Kürze – ungeachtet aller menschlichen Schicksale, die an der Schließung hängen – die Liegenschaftsverwaltung der WAZ-Gruppe verstärkt tätig werden. Denn mit der Entlassung der WR-Redaktion und der freien Mitarbeiter würden etliche Immobilien (bisherige Redaktionsräume) in zentralen Ortslagen frei werden; im einstigen Haupthaus am Dortmunder Brüderweg sogar mehrere Etagen mit Pförtnerloge und einigen Tiefgaragenplätzen. Da kann man also entweder Mieten sparen oder sogar Verkaufs- und Vermietungs-Einnahmen erzielen. Sag’ ich mal als Laie.

„Gespannt“ darf man auch sein, wie der Dortmunder Häuserblock Brüderweg/Ostenhellweg sich künftig darstellen wird. Falls der WR-Leserladen am Ostenhellweg bestehen bleibt (wonach es – ausweislich heute flugs geschalteter Eigenanzeigen – erst einmal aussieht), würde freilich die Seite am Brüderweg reichlich kahl wirken. Oder montiert man die alten Rundschau-Schilder etwa gar nicht ab? Vielleicht sollte man nun noch mal die Geschichte mit Potemkin nachlesen, um mental gewappnet zu sein.

Furchtbar „gespannt“ bin ich auch auf die Namen und sonstigen Angaben im künftigen Impressum der Etikettenschwindel-WR. Hierbei darf man sicherlich besondere Kreativität, wenn nicht gar avancierte Gebrauchslyrik aus dem Geist des Absurden erwarten.

Und weiter mit der schier unerträglichen „Hochspannung“: Wie wird die WAZ in ihrem Mantelteil eigentlich künftig aus Dortmund berichten? Schickt sie gelegentlich eigene Leute aus Essen hin? Oder wird die Lokalredaktion der Ruhr-Nachrichten künftig den WAZ-Videokonferenzen zugeschaltet und nimmt etwaige Themenwünsche entgegen? Wird da überhaupt koordiniert oder darf man sich schon jetzt auf prächtige „Doubletten“ und andere Pannen einstellen?

Ja, die „Spannung“ hört gar nicht mehr auf: Was ist an dem Gerücht dran, dass die Ruhr-Nachrichten – nach einer gewissen Schamfrist – ihre Bochumer Lokalredaktion schließen könnten, nachdem die WAZ-Gruppe den RN in Dortmund das Feld überlassen hat? Sollte es da etwa Gebietsabsprachen geben? Da wäre ja geradezu…

P.S.: Ich bin seit Kindertagen ein Anhänger von Borussia Dortmund und freue mich immer, wenn der Verein gewinnt. Nun aber mal in aller Freundschaft so gefragt: Hat sich eigentlich der ruhmreiche BVB, der seit vielen Jahrzehnten von der Berichterstattung (phasenweise auch von nibelungentreuer Hofberichterstattung) der WR profitiert hat, mit einer einzigen Zeile zur bevorstehenden Schließung der WR-Redaktion geäußert? Sollten wir da etwas übersehen haben? Dann sind wir für spannende Hinweise sehr dankbar. Wie bitte? Der BVB und die Ruhr-Nachrichten seien „Medienpartner“? Und BVB-Pressesprecher Sascha Fligge sei just aus dem Hause Ruhr-Nachrichten zu Borussia gekommen? Ja, was sollen wir denn jetzt denken?




25 Jahre Klavier-Festival Ruhr: „Man muss die Dinge zu Ende denken“

Alle wollen bei der Geburtstagsparty dabei sein: Das Medieninteresse war groß bei der Programmvorstellung des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr, das in diesem Sommer seinen 25 Geburtstag feiert. Vom 4. Mai bis 19. Juli ist die internationale Pianisten-Elite wieder im Ruhrgebiet und angrenzenden Landesteilen zu Gast.

„Let’s go to the opera“ heißt das Motto des Jubiläumsprogramms, das damit den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi Reverenz erweist. So wird der Einfluss beider Opernkomponisten auf die Welt der Klaviertranskriptionen und -paraphrasen im 19. und 20. Jahrhundert spürbar. Sein Silberjubiläum feiert das Festival u.a. mit Wiedereinladungen an große Pianisten unserer Zeit, darunter Martha Argerich, Evgeny Kissin, Maria Joao Pires, Murray Perahia, Krystian Zimerman und Marc-André Hamelin, der in diesem Jahr mit dem Preis des Klavier-Festivals Ruhr geehrt wird. Auch die Geiger Gidon Kremer und Frank Peter Zimmermann kehren mit ihren Klavierpartnern zum Festival zurück.

Eröffnet wird die Jubiläumsausgabe des Festivals am 4. Mai um 20 Uhr mit Tschaikowskys 1. Klavierkonzert b-Moll in der Bochumer Jahrhunderthalle, gespielt von dem 1987 im russischen Gorki geborenen Pianisten Igor Levit. Begleitet wird Levit vom WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Krzysztof Urbánski, das im Anschluss „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky interpretiert. Unter www.klavierfestival.de findet sich das umfangreiche Gesamtprogramm des knapp dreimonatigen Klaviersommers.

„Man muss die Dinge zu Ende denken“, zitiert Festivalleiter Franz Xaver Ohnesorg einen der damaligen Gründungsväter vom Initiativkreise Ruhrgebiet, Alfred Herrhausen. 1988 lernte der Intendant den Wirtschaftsführer auf dem Geburtstag eines gemeinsamen Freundes kennen, erzählt Ohnesorg bei der Pressekonferenz. Nun, im 25. Jahr des anfangs unter dem Titel „Bochumer Klaviersommer“ gestarteten Pianistentreffens hat Traudl Herrhausen die Schirmherrschaft übernommen. Seit zwei Jahren wird das Klavierfestival als eigene Stiftung geführt.

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

„Den Gründungsvätern aus der Wirtschaft kam es darauf an, einen kulturellen Akzent im Ruhrgebiet zu setzen“, so Traudl Herrhausen. Das hat das Festival schon lange geschafft. Inzwischen gilt es, neben dem Konzertpublikum auch den Nachwuchs nachhaltig für Musik zu begeistern. Was 2006 mit der „Little Piano School“ für 2-6jährige Kinder begonnen hat, hat sich unter dem Stichwort „Education Programme“ als fester Bestandteil auf dem Gebiet der kulturellen Bildung etabliert.

Damit Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft kreative musikalische Erfahrungen sammeln können, bringen die „Discovery Projects“ Förderschüler, Grundschüler und Gymnasiasten in Duisburg Marxloh zusammen. In diesem Jahr geht es um das Thema „Hochzeit“, passend dazu stehen „Les Noces“ von Igor Strawinsky im Mittelpunkt der Workshop-Arbeit. Mehr als 50 türkische Brautmodengeschäfte reihen sich auf der Weseler Straße in Duisburg Marxloh aneinander. „Viele Kinder sind regelmäßig zu Familienhochzeiten eingeladen“, berichtet der Leiter der Education-Programme, Tobias Bleek. „So können Hochzeitsrituale der unterschiedlichen Herkunftskulturen in die Choreographie einfließen.“

Der bildungsbiographisch entscheidende Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule steht im Zentrum eines Pilotprojekts, das das Klavierfestival Ruhr in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mercator entwickelt. Im „KlavierGarten“ des Klavierfestivals erleben Kindergartenkinder oft ihre erste musische Bildung. Um dieses Potential auch in der Grundschule weiter zu entwickeln, vernetzt das Projekt Kindertagesstätten und Grundschulen. Eine mit klassischer Musik illustrierte Version von „Wo die wilden Kerle wohnen“ bildet den Bezugspunkt; Profi-Musiker und Festival-Pianisten verwandeln den bekannten Stoff in klingende Geschichten. Weitere Informationen: www.klavierfestival.de/education




Warum die Lage bei Opel fast überhaupt nichts mit der WAZ-Gruppe zu tun hat

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Es könnte sein, dass manche WAZ-Entscheidungsträger in Essen diese Nachrichtenlage insgeheim sogar begrüßt haben – im wohlverstandenen Eigeninteresse: „Opel Bochum schließt bereits 2014“, so lautet heute (23. Januar) die Titelschlagzeile der „Westfälischen Rundschau“ (WR), die nur noch rund eine Woche lang eine eigene Redaktion hat.

Auf diese Weise, so scheint es, kann die WAZ-Gruppe endlich mal wieder von der Misere im eigenen Hause ablenken. Oder liegt hier ein Missverständnis vor?

Tatsächlich darf und muss man sich über die abermals verschärfte Situation bei Opel empören. Niemand, auch der Betriebsrat nicht, hatte mit einer solchen Entwicklung gerechnet: Nicht erst 2016 soll die Autoproduktion in Bochum eingestellt werden, sondern bereits 2014 – es sei denn, die Beschäftigten verzichten in den nächsten Jahren auf alle Tariferhöhungen. Da kann man von erheblichem Druck sprechen, es ließen sich auch noch andere Worte dafür finden.

Die Berichterstattung kommt vom zentralen Essener Newsdesk der WAZ, sie wird – mitsamt Gerd Heideckes Kommentar – für die WR in Dortmund übernommen. Von „Wildwest-Methoden“ bei General Motors/Opel ist da die Rede, der Colt sei offenbar entsichert. Das Unternehmen werde nun „die Folgen eines weiteren immensen Image-Schadens verkraften“ müssen. Der Opel-Werbepartner Borussia Dortmund und Trainer Jürgen Klopp stünden für „ehrliche Arbeit, authentisches Verhalten und Volksnähe – nicht gerade das, was die Opel-Manager an den Tag legen.“

Kurze Denkpause.

Wer wird aber so kühn sein, solche Zuschreibungen postwendend auf die WAZ-Gruppe anzuwenden? Wer wollte denn eine Schlagzeile wie „Rundschau-Redaktion schließt bereits im Februar“ drucken? Sollte da etwa auch im Ruhrgebiet, also im tiefen, wilden Westen ein Colt entsichert worden sein? Und sollte es etwa auch hier einen Image-Schaden geben? Das wäre ja nicht auszudenken!

Nein, nein, bei Opel geht es doch um ganz andere Größenordnungen. Und überhaupt sind das völlig verschiedene Branchen, nicht wahr? Also Schluss jetzt!




Der Weg zu den Oscars (3. und letzter Teil): Darsteller, Drehbücher, Diverses

Wenn ein Film in 14, 12 und 11 Kategorien und für „Best Picture“ nominiert wird, bleibt es nicht aus, dass da einige Doppelungen vorkommen. Es ist ja ein Zusammenspiel von Drehbuch, Regie, Schnitt, Maske, Bühnenausstattung und nicht zuletzt der Schauspieler, die den Film erst in diese Kategorie hieven. Darum werde ich hier nur noch dann einen Film kurz kommentieren, wenn er nicht schon in „Best Picture“ vorkam. Da habe ich ja schon auf weitere Preisverdächtige hingewiesen.

„Best Actor“ (bester Schauspieler) ist fast komplett bei „Best Picture“ abgedeckt, ebenso wie „Best Director“ (beste Regie).

Bei „Best Actor“ kommt noch Denzel Washington dazu in „Flight“, gut gemachtes mainstream Kino über einen Piloten, der besoffen und bekifft ein Flugzeug vor einer Katastrophe bewahrt, und der sich am Schluss zum reuigen Sünder bekennt.
Auch Joaquin Phoenix ist unter „Best Actor“ nominiert für seine Rolle in „The Master“, den ich leider noch nicht gesehen habe.

Philip Seymour Hoffman wird für „Best Supporting…“ ebenfalls in „The Master“ nominiert. Auf den freu ich mich besonders. Einer der wandlungsfähigsten Schauspieler in ganz Hollywood.

Bei „Best supporting Actress“ kommt noch Helen Hunt für „The Sessions“ dazu. Ein Film nach einer wahren Begebenheit. Mark O’Brien (John Hawkes) liegt in einer eisernen Lunge und möchte seine Jungfräulichkeit verlieren, ehe er stirbt. Die Sexualtherapeutin Cheryl (Helen Hunt) machts möglich. Zu technisch für mein Empfinden. Lieblos und unsexy Helen Hunt. Erinnert mich vage an „Ziemlich beste Freunde“, ebenfalls nach einer wahren Geschichte. So wahr und tragisch beide Schicksale sind, so sehr schwingt immer diese Durchhalteparole mit: „Egal, ob halb gelähmt oder ganz, halbtot oder unmittelbar dem Tode geweiht, Hauptsache, wir ziehen das fröhlich und mit Zuversicht durch“. Von mir nix.

Unter „Best Actress“ wird Naomi Watts für „The Impossible“ aufgeführt. Solide Leistung in einem Mainstream-Film. Großer Aufwand mit special effects. Auch hier wird ein Trauma aufgearbeitet: der Tsunami. Drückt auf die Tränendrüse. Auch hier liegt eine wahre Geschichte zugrunde, die einer spanischen Familie. Amerikanische Kinokassen klingeln lauter, wenn es sich im Katastrophenfilm um eine amerikanische Saubermannfamilie handelt.

Bei „Best Original Screenplay“ (Originaldrehbuch) kommt noch „Moonrise Kingdom“ dazu, ein fröhlicher coming-of-age Film über zwei Schulkinder, die von einem Camp ausreißen und von der gesamten Inselbevölkerung gesucht werden. Ein Genre-Film, sowas muss man mögen. Nix für mich.

Zuguterletzt: die Filme „Lincoln“, „Silver Linings Playbook“, „Life of Pi“, „Argo“ und „Zero Dark Thirty“ sind auch für „Best Film Editing“ nominiert, und das ist oft, ja, meistens, schon ein sehr positives Omen für „Best Picture“.

All die anderen Nominierungen für Musik, Maske, Ton und Kabelträger berücksichtige ich hier nicht. Die sind ohnehin schon fast alle in den Hauptkategorien erwähnt.

Aber einen, den ich mit Spannung erwartet hatte, und der mich sehr enttäuscht hat, kommentiere ich doch noch: „Hitchcock“ für „Best Makeup and Hairstyling“. Der Film: nicht gut. Das Makeup: noch weniger gut. Hairstyling kann nicht gemeint sein. Sir Alfreds Asche wird in der Urne rotieren, wenn er Hopkins sieht. Helen Mirren, die ich sehr mag, gibt eine höchst unglaubwürdige Powerfrau. Sepia die Optik. Aber auch die Stimmung.  Dieser Film ist zurecht für nichts Wesentliches nominiert. Da ist auch Maske und Frisur zu viel der Ehre.

Mehr kommt nicht, das ist schon mehr als genug bis hierher. Vielleicht bin ich zu streng? Vielleicht sollte ich berücksichtigen, dass die Verleihung der Oscars einfach ein riesengroßes Fest für alle ist, die am Entstehen von Filmen beteiligt sind. Hier geht es nicht um absolut messbare Werte. Und ich bin natürlich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit.

Das Medium Film wurde erfunden, um die Massen zu unterhalten, was davon Kunst war und ist, wurde später festgelegt von Menschen, die zu wissen glaubten, was davon denn nun weg könnte.




„Weiße Rose“ in Detmold: Musiktheater wider die Spaßgesellschaft

Fast siebzig Jahre ist es her, dass Sophie und Hans Scholl am 18. Februar 1943 in der Universität München verhaftet und wenige Tage später hingerichtet wurden. Und nach wie vor bleiben Mut, Entschlossenheit und Charaktertiefe der christlich motivierten Jugendlichen aus der „Weißen Rose“ ein Stachel im Fleisch einer saturierten Gesellschaft.

Der Film „Sophie Scholl – die letzten Tage“ von Marc Rothemund hatte 2005 diese uns so fernen Menschen wieder einmal nahe gerückt: Ihre philosophisch reflektierte, vom Glauben geprägte Lebenseinstellung, die sich in der letzten Konsequenz des Todes bewährt, steht quer zu pragmatischen und hedonistischen Lebensmodellen, stellt unserer Spaß- und Karrieregesellschaft unbequeme Fragen.

"Weiße Rose" in Detmold: die Eröffnungsszene. Foto: Landestheater/Klein

„Weiße Rose“ in Detmold: die Eröffnungsszene. Foto: Landestheater/Klein

Schon lange vor dem Film hat sich der Dresdner Komponist Udo Zimmermann mit der Widerstandsbewegung „Weißen Rose“ beschäftigt und ein dokumentarisches Stück Musiktheater geschaffen, das er 1986 für eine Hamburger Aufführung grundlegend umarbeitete. In dieser Form ist „Weiße Rose“ über viele deutsche Musiktheaterbühnen gegangen – jetzt wieder einmal in einer Premiere am Landestheater Detmold.

Zimmermanns etwa 75-minütiges Stück für zwei Sänger und fünfzehn Musiker auf ein Libretto von Wolfgang Willaschek verzichtet fast ganz auf historische Konkretion. Hans und Sophie Scholl stehen für Menschen, die ihren gewaltsamen Tod vor Augen sehen. Willaschek hat Zitate aus Briefen und Tagebüchern der Geschwister, aber auch Texte anderer Autoren wie Dietrich Bonhoeffer zu Szenen zusammengefasst, die in ihrer distanzierten Lyrik manchmal zu ästhetisch, beinahe abgehoben wirken. Es ist das Verdienst des 29-jährigen Regisseurs Sebastian Gruner, die abstrakte Konstellation an den historischen Ort rückgebunden zu haben, ohne eines der üblichen Nazi-Zeitstücke zu liefern.

Zu Beginn, als harte Akkordschläge im Orchester einen eisernen Rhythmus vorgeben, lässt Gruner auf der Bühne des Detmolder Sommertheaters zwei blutrote Hakenkreuzfahnen von oben herabrauschen. Vier Jugendliche marschieren mit an HJ- und BDM-Uniformen angelehnten Kostümen auf, heben die Hand zum Hitlergruß. Die unheimliche Zeit wird dramatisch vergegenwärtigt. Dann wankt Sophie Scholl und bricht zusammen.

Die Bühne von Hans-Günther Säbel – er ist Leiter des Malsaals am Landestheater – bildet zu der konkreten politisch-zeitgeschichtlichen Exposition einen abstrakten Rahmen, der im Lauf des Stücks bestimmend werden soll. Hans und Sophie wechseln die Kleider: Mit schlichten blaue Kombinationen hebt Tatiana Tarwitz – die Leiterin der Kostümabteilung zeichnet verantwortlich – den zeitgeschichtlichen Bezug auf, erinnert an Gefangenenkleidung, ohne sie zu aufdringlich historisch zu verorten. Das entspricht dem Stück, das ins Allgemeine ausholt und die menschliche Situation der Angst, gesteigert bis zur Panik Sophies, einholt.

Gruner arbeitet mit Mitteln der Distanzierung und Metaphorik, indem er etwa ein Karussellpferd einführt, oder einen Clown, der sich zur Todesfigur wandelt, konzentriert sich aber vornehmlich auf die Psychologie der Personen. Darin folgen ihm seine Darsteller Sarah Davidovic (Sophie) und Kai-Ingo Rudolph mit engagiertem Einsatz von Körpersprache und Mimik. An der szenischen Übersetzung der bildhaften oder kommentierenden musikalischen Chiffren Udo Zimmermanns erkennt man Gruners sichere Hand für die Erfordernisse des Musiktheaters.

Unbeschwerte Jugend als Kontrast zur Panik der Todesangst. Foto: Landestheater/Klein

Unbeschwerte Jugend als Kontrast zur Panik der Todesangst. Foto: Landestheater/Klein

Um den Kontrast zu steigern, baut er eine kurze Szene ein, in der Hans und Sophie in Abendkleidung ausgelassen zu einem Schlager der Grammophonzeit tanzen – abrupt herausgerissen von den knallenden Akkorden von Zimmermanns Musik. Eine Szene, die bestürzend verdeutlicht, wie der Stahltritt der Stiefel die unbeschwerte Jugend von Millionen Menschen zertreten hat.

Auch die Motivation der Scholls aus ihrem christlichen Glauben wird szenisch angesprochen, wenn Sophie mit der Bibel in der Hand an die Rampe tritt: „Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln …“. Das Ende führt Gruner wieder in die Konkretion zurück: Die weiß bespannten Wandelemente des Bühnenbilds bilden zwei Einzelzellen, in denen die Todeskandidaten letzte Gedanken fassen, bevor sie brutal abgeführt werden. „Freiheit“ ist das letzte Wort des Abends – übertragen aus einem Lautsprecher wie ein Vermächtnis. „Es lebe die Freiheit“ war der Abschiedsruf Hans Scholls auf dem Schafott.

Musikalisch kann sich die Detmolder Premiere der „Weißen Rose“ hören lassen: Matthias Wegele leitet das Kammerorchester im Bühnenhintergrund, von der Handlungsebene durch eine Gazewand getrennt, die erst am dramatischen Wendepunkt des Stücks durchscheinend wird. Zimmermann verlangt viel Solistisches, behutsame Klangmischungen in vielfältigen Piano-Schattierungen, aber auch schneidende Staccato-Akzente. Die Detmolder Musiker sind stets auf der Höhe der Partitur.

Kai-Ingo Rudolph setzt einen passend jugendlichen, manchmal in der Stütze gefährdeten, aber stets locker gehaltenen lyrischen Tenor ein und artikuliert ausgezeichnet. Die junge Sängerin Sarah Davidovic, Mitglied des Opernstudios Detmold, passt von der Erscheinung her ideal zum Bild der historischen Sophie Scholl. Ihr Sopran ist klangvoll und kräftig, aber ihre unfreie Tonproduktion führt zwangsläufig zu erheblichen Problemen mit der Bildung der Konsonanten und der Färbung der Vokale.

Viel Beifall für eine packende Produktion, die Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ wieder einmal als ein fast schon klassisch gewordenes Stück gegenwärtiges Musiktheater ins Bewusstsein hebt.




Der Weg zu den Oscars (Teil 2): Die Filme von Michael Haneke und Quentin Tarantino

„Amour“: Mein absoluter Favorit. Darf alle fünf Nominierungen gewinnen, wenn’s nach mir ginge. Aber besonders Michael Haneke („Best Director“), Emmanuelle Riva („Best Actress“). Mein ausführlicher Bericht steht hier: http://leah-live.blogspot.de/2012/10/liebe-ein-film-von-michael-haneke.html)

„Django Unchained“: Ach, Quentin Tarantino! Wie immer: Ironie, Spaß und rasante Action mit dem Tarantino-üblichen Maß an Schießen, Prügeln und Messerstecherei. Es muss nicht immer Sinn ergeben, es dürfen Fragen offen bleiben. Oder anders, Fragen sollten gar nicht gestellt werden. Einfach so hinnehmen, wie es angeboten wird.

Warum sollte ich mir Gedanken darüber machen, wieso so plötzlich und vor allem so bequem der etwas merkwürdige deutsche Zahnarzt Dr. King Schultz (Christoph Waltz, nominiert für „Best Supporting…“, den Golden Globe hat er schon) mitten im Wald auf einen Sklavenhändler trifft, und der ausgerechnet diesen Django im Angebot hat, der genau weiß, wo die vom Zahnarzt (und dem Sheriff) gesuchten Verbrecher„dead or alive“ sind, und wie sie aussehen? Dr. Schultz ist hauptamtlich als Kopfgeldjäger unterwegs, und er praktiziert die in Western weitverbreitete Regel: „Erst schießen, dann fragen“ oder „Nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher“. Oder waren das die Indianer? Sein Gegenspieler ist der berüchtigte und gnadenlose Sklavenhalter Calvin Candie (Leo diCaprio).

Warum Tarantino nicht als „Best Director“ nominiert wurde, ist mir schleierhaft, aber wenigstens doch noch für „Best Original Screenplay“. Jamie Foxx (als Django) geht auch leer aus. Dass diCaprio, das Hollywood-Zugpferd, nicht nominiert wurde, ist eine Überraschung. An dieser Stelle empfehle ich gern noch mal „Lincoln“ zum besseren Verständnis des historischen Hintergrunds. Christoph Waltz schätze ich schon seit vielen Jahren sehr. „Parole Chicago“ – unvergessen. In der Rolle des Dr. Schultz ist Waltz ein hervorragender „Guter“. In Tarantinos „Inglourious Basterds“ ist Waltz ein hervorragender „Böser“. Ich nehm ihm beides ab. Tarantino hat Waltz zum Weltstar gemacht. Waltz hat „seinen“ Regisseur gefunden.

Es herrscht allgemeine Aufregung über den mindestens hundertfachen Gebrauch von „Nigger“. Heute möchte das zu Recht niemand mehr hören, aber „them was the times“, so hieß das Schimpfwort jener Zeiten eben. Wenn heutzutage hier (oder anderswo) ein Film über das Dritte Reich gedreht wird, dann spricht niemand über „Menschen mit unterschiedlicher Religion“ oder „…mit Migrationshintergrund“. Das ist so, als würde man in neueren Filmen, die vor 100 Jahren spielen, von einem „Smartphone“ sprechen, wenn man ein Morsegerät meint. In „Django unchained“ spricht man eben die Sprache, die zu Zeiten des Sklavenhandels üblich war.

Man darf, ja man muss sich allerdings darüber empören, wenn dieses Wort heute (mit der vollen Absicht zu beleidigen und erniedrigen) noch immer benutzt wird. Und es wird ja. Leider.

– Fortsetzung folgt –




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Wagner-Jahr 2013: „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus – zurück zur Mystifizierung?

Angela Denoke und Simon O'Neill in "Parsifal" im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Angela Denoke und Simon O’Neill in „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Wagner und die Religion: In keinem anderen Werk kristallisiert sich dieses Verhältnis so heraus wie im „Parsifal“, der die „Weihe“ schon in seiner Bezeichnung trägt.

Spätestens seit der tempophilen Aufnahme mit Pierre Boulez gehört es zum gängigen ideologischen Repertoire moderner Deutungen, vom „Bühnenweihfestspiel“ den Weihrauch wegzublasen. Schluss mit der Mystifizierung, weg mit den erhabenen Tempi vergangener Tage – und das mit Unterstützung durch Wagner-Zitate, etwa der Klage, seine Musik werde doch stets viel zu langsam gespielt.

Nun ist die Frage nach dem Religiösen in Wagners Philosophie – die sich ja nicht auf die Musik beschränkt – ein Irrgarten mit vielen Ausgängen. Und Inszenierungen der letzten Jahre (von Schlingensief in Bayreuth bis Bieito in Stuttgart) haben sich dem Thema sehr unterschiedlich genähert. Einig waren sie nur in einem: Mit der „Kunstreligion“ alter Prägung wollten sie nichts mehr zu tun haben.

Genau jene holt nun Thomas Hengelbrock wieder in den Konzertsaal. So sehr er musikalisch für den Weg zurück zu den Klangvorstellungen der Zeit Wagners als Schritt vorwärts wirbt, so konservativ wünscht er historisch gewordenes Verhalten: Bei der Aufführung des „Parsifal“ auf Instrumenten der Wagner-Zeit im Konzerthaus in Dortmund fordert er auf, nach dem ersten Aufzug nicht zu applaudieren, bringt erste Klatscher mit einer Geste zum Schweigen. Sind wir wieder in der Kunstkirche Richards des Allergrößten? Was soll die Retro-Mystifizierung der Grals-Enthüllung zum Pseudo-Gottesdienst?

Dass Hengelbrock ansonsten musikalisch nichts „heilig“ ist, steht dazu in einem auffälligen Gegensatz: Denn der Dirigent, der seit Jahren für frischen Wind in der Szene der „historisch informierten“ Aufführungspraxis gesorgt hat, hinterfragt auch im Falle Wagners konsequent die bisherigen Gepflogenheiten. Bach, Händel, Mendelssohn auf Darmsaiten? Keine Frage! Aber Wagner auf organischem Material? Das war für viele Musiker, obwohl historisch unhinterfragbar, bisher kein Thema. Kritisch sieht Hengelbrock auch den Klang moderner Holzblasinstrumente. Flöte, Oboe, Englischhorn: In seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, mit dem er in Dortmund – und bald in Essen und Madrid – den „Parsifal“ konzertant aufführt, spielen nicht moderne Weiterentwicklungen, sondern sorgfältig durch Quellen und Studien abgesicherte Instrumente, wie sie sich Wagner wohl gewünscht oder wie er sie gehört hat.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erhellend: Ein schlanker, lichter Streicherklang, der durchaus die Substanz für das überwältigende Crescendo mitbringt; flexible, farbenreiche Holzbläser, die eigenständig neben die Streicher treten, statt wie in „konventionellen“ Aufführungen oft lediglich als Farbakzent im Mischklang wahrnehmbar zu sein. Auch das markante Blech bringt ein Spiel voller Nuancen und koloristischer Finessen mit ein. Selten waren die Bläser zu Beginn des Klingsor-Aktes so rau zu hören wie in Dortmund: Das Böse grinst aus ihrem Spiel.

Kein Zweifel: Das Erlebnis des Klangs wird vielfältiger, detailreicher. Schwerer herzustellen sind freilich jene geheimnisvollen, unverortbaren, sensualistischen Mischungen, die – auch ohne Plädoyer für den Weihrauch in der Musik – die Faszination des „Parsifal“-Klangbilds ausmachen. Wagner war, glaubt man seinen eigenen Beschreibungen, von diesem mystisch angehauchten, aus weiter, weiter Ferne schwebenden Ton fasziniert und berührt. Und er steht für viele „Parsifal“-Anhänger ja auch für jene zeitlose Mystik, die dem Werk innewohnt. Um ihn zu schätzen, muss man keine mystische Vernebelung betreiben; aber vielleicht gilt es anzuerkennen, dass ein „Parsifal“ ohne Transzendenz, wie er einer materialistischen Deutung vorschwebt, dem Werk und den Intentionen seines Schöpfers nicht gerecht wird.

Die Problematik der Hengelbrock’schen Deutung sehe ich eher im Tempo und in der Phrasierung. Schon im Vorspiel lässt er keine Zeit, den Ton ausschwingen zu lassen, schneidet die Phrasen allzu korrekt zurecht. Sein Karfreitag mutet eher an wie die Prozession einer preußischen Militärmusik. Hengelbrock meidet vor allem in rein instrumentalen Teilen eine atmende, organische Phrasierung – die er den Sängern ohne weiteres zugesteht. Das macht die „Parsifal“-Musik manchmal steif und im schlimmsten Falle belanglos: ein Manko, das seinem Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 in Teilen des Feuilletons und des Publikums zu Recht viel Kritik eintrug.

So fehlt dann auch die Zeit für den Klang, sich einzuschwingen – ein Phänomen, das durch den historisch fragwürdigen Verzicht auf jegliches durchgehendes Vibrato noch verstärkt wird. Dennoch: Hengelbrocks Experiment wirft auf den „Parsifal“ und auf das Mühen um einen historisch verantworteten und musikalisch tragfähigen Klang für Wagner ein aufschlussreiches Licht. Er hat mit seinem „Parsifal“ nicht der Weisheit letzten Schluss vorgelegt, aber einen Meilenstein gesetzt. Anderen ist es aufgegeben, diesen Weg weiterzugehen.

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Unter den Sängern der Dortmunder Aufführung darf Angela Denoke an erster Stelle genannt werden: Ihre Kundry war beglückend entspannt, geistig durchreflektiert und mit stimmlichen Mitteln bewegend gestaltet. Die Sängerin hat einen langen und bisweilen dornigen Weg der stimmlichen Entwicklung hinter sich; das Ergebnis ist rundum überzeugend. Auch Johannes Martin KränzlesKlingsor erschöpft sich nicht in einer schönen, wohlgeformten Stimme, sondern bringt mit Hilfe einer reifen Technik zum Ausdruck, was in dieser komplexen Figur steckt: Die aus Verletzungen und Traumata erwachsende Bosheit hat selten ein Sänger so überzeugend in vokale Farben getaucht.

Der Gurnemanz wurde erst kurzfristig mit dem Bass Frank van Hove besetzt: eine klare, nicht sehr große, geradlinige Stimme, ausgezeichnet artikulierend und sorgfältig den Text ausdeutend, freilich auch ohne die Sonorität und Fülle einer klassischen Wagner-Stimme. Diesem Ideal kommt eher Victor von Halem als Titurel entgegen; allerdings muss man bei ihm auch die kehlige Färbung der Töne in Kauf nehmen. Simon O’Neills Parsifal war trotz seines gestalterischen Engagements keine Offenbarung: zu klein, beengt in der Emission, knödelig quäkend im Ton. Nur im zweiten Aufzug gelang es ihm, sich zu befreien, seinen Tenor hin und wieder strömen zu lassen statt ihm eine grelle Tonproduktion aufzudrängen.

Mit großen Erwartungen befrachtet, enttäuschte Matthias Goernes Auftritt als Amfortas. Es ist vor allem das gedeckte, unfreie Timbre, das den Klang eindimensional werden lässt, dazu kommen guttural klingende Vokale und begrenzte Expansionsfähigkeit. Seine Textausdeutung dagegen ist tadellos und verrät die Erfahrung des Liedsängers. Der Balthasar-Neumann-Chor und die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund beschworen eher Palestrina – mit dem sich Wagner eingehend befasst hatte – als den füllig-sensiblen Klang, der aus den mystischen Höhen Bayreuths herabströmt. Am 26. Januar ist der Hengelbrock’sche „Parsifal“ in der Philharmonie Essen zu erleben.




Ivo Pogorelich in Essen: In den Klüften des Klangs

Musik ist eine Kunst, die wie kaum eine andere der Zeit unterworfen ist: Ohne Zeit keine Melodie, kein Rhythmus, kein Verlauf. Musiker ohne Zeitgefühl könnten ihren Job an den Nagel hängen. Der Pianist Ivo Pogorelich ist so umstritten, weil er so exzentrisch mit der Zeit umgeht.

Die Zeiten des „jungen Wilden“ sind vorbei: Pogorelich geht gemessenen, fast ein wenig gebrochenen Schritts zum Flügel, lässt sich Zeit, sich niederzulassen, lauscht, noch bevor ein Ton erklungen ist. Und was dann kommt, wirkt wie ein ganz persönlicher Kampf mit der Zeit: Pogorelich scheint ihre Herrschaft nicht anerkennen zu wollen. Chopins wuchtige Akkorde zur Eröffnung der b-Moll-Sonate op. 35 – der mit dem allbekannten Trauermarsch – will er gar nicht enden lassen, lässt sie aus dem Flügel dröhnen, als gehe es darum, ein für Millionen Jahre unbewegliches Klanggebirge aufzutürmen.

Und dann das Gegenteil: Pogorelich rast durch die Läufe, als wolle er selbst den schnellsten Puls der Zeit hinter sich lassen. Er kennt keine Oberstimme mehr, keine Kontur, keine Phrase. Alles ist purer Rausch. Nur nicht innehalten, nur nichts ausformen. Weiter, immer weiter, raketenschnell, den Schall als träge verhöhnt.

Aber im Scherzo der Sonate findet Pogorelich auf einmal mitten im Hochdruck zur Muße. Da sinnt er einer Melodie nach, flicht sie zu einem intensiven Band von Tönen, die er am liebsten nicht aus seinen Händen lassen würde. Denkt über einzelne Anschläge nach, formt das Cantabile mit unendlicher Zärtlichkeit aus. Dazwischen der Trauermarsch, ernüchternd konventionell.

Franz Liszts Mephisto-Walzer Nr. 1 hat er schon gespielt, als ihn das Klavier-Festival Ruhr 2009 ins Dortmunder Konzerthaus lockte. Donner und Rausch rumoren in unmittelbarer Nachbarschaft von zäher, in sich versinkender Dauer. Und Chopins c-Moll-Nocturne op. 48/1? Eine Klanglandschaft wie ein romantischer Stich, der die Natur monumentalisiert und ihre wilde Größe erregend steigert.

Die h-Moll-Sonate Franz Liszts als Krönung des Konzerts war gleichzeitig die extremste Ausformung des für Pogorelich typischen Subjektivismus: Das Thema zerfällt in eine Folge statischer Klang-Ereignisse, zwischen denen Pogorelich sich und dem aufmerksam lauschenden Publikum Meditationen über Liszt’sche Notenwerte zumutet. Verläufe und Entwicklungen – für die Sonatenform unverzichtbar – verfließen in den Klüften des Klangs zur Unkenntlichkeit. Matter Beifall: Das Publikum nötigte zum Verzicht auf eine Zugabe.




Der Weg zu den Oscars: Was taugen die nominierten Filme? (Teil 1)

Ich hab’s geahnt. Es ist soweit: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß!“ So resigniere ich immer öfter vor den Werken, die zur Prämierung bei den Oscar-Festivitäten (diesmal am 24. Februar) freigegeben werden. Die Ausbeute wird geringer. Also meine jetzt.

Das geneigte Hollywood-Publikum bekifft sich ja nach wie vor am eigenen Ruhmesdunst, rotiert im Glanze der Ritte in Sonnenuntergänge, Shoot-outs und Show-downs. Das muss so, denn wozu sonst der ganze Firlefanz.

Nun ist es ja auch nicht so, dass ich plötzlich keine Filme mehr mag, aber offenbar haben sich (mein) Geschmack und (deren) Angebot etwas auseinandergelebt. Tapfer hab ich nun an Auge und Hirn vorbei laufen lassen, was an Krumen vom Tisch des Freundes „in da bizzness“ zu meinen Füßen fiel.

Wie voriges Jahr konzentriere ich mich auf die Nominierungen in den Hauptkategorien. Mein Töpfchen Senf steht bereit:

Best Picture

„Beasts of the Southern Wild“: Ein unsentimentaler, leider wenig beachteter Film über eine bunte Gruppe von Menschen, die im „Bathtub“ – einer kleinen Insel im Mississippi-Delta von Louisiana – leben. Alle Darsteller sind Laien. Die phantasievolle und sehr niedliche kleine Hushpuppy (Quevenzhané Wallis ist für „Best Actress“ nominiert) philosophiert viel für eine Sechsjährige und nimmt ihr Leben in die Hand, als ihr Vater stirbt. Benh Zeitlin „Best Dirctor“. Aber egal. Für mich auch in diesen beiden Kategorien leider chancenlos. Schade um die schöne Geschichte. Es sei denn, Hushpuppys Niedlichkeitsfaktor obsiegt. Und der rekordträchtige Nebensatz: jüngste Oscargewinnerin aller Zeiten.

„Silver Linings Playbook“ – musste ich nach gefühlten drei Stunden abbrechen, was echten 40 Minuten entsprach. Verspürte das starke Verlangen nach Valium. Robert de Niro und Jacki Weaver für „Best supporting…“, David O. Russell „Best Director“, Bradley Cooper „Best Actor“, Jennifer Lawrence „Best Actress“. Bin ich so verpeilt? Von mir gibt’s nix, bin immer noch gerädert, wenn ich nur dran denke. Und vielleicht tu ich damit all den Darstellern großes Unrecht. But who said life is fair?

„Lincoln“: Eine Geschichtsstunde für Amerikaner und alle, die an amerikanischer Historie interessiert sind. Etwas dröge. Im Zusammenhang mit „Django Unchained“ wertvolle Verständnishilfe zur Sklavenbefreiung. Nicht besonders unterhaltsam für den europäischen Kinogänger, aber sehr gute Schauspieler: Tommy Lee Jones und Sally Field für „Best supporting…“, Daniel Day Lewis „Best Actor“, Steven Spielberg „Best Director“. Wenn solche Oscars dazu beitragen könnten, dass das Leben des bunten Volks derer, die sich alle Amerikaner nennen, friedlicher vonstatten gehen könnte, dann sollen sie meinetwegen abräumen. Alles.

„Les Miserables“: Ein Musical, gar nicht mein Genre. Galeerensträflinge, die in Reih und Glied im hüfthohen Wasser stehen, an armdicken Tauen zerren und dabei singen… danke, nein danke! Sorry, Anne Hathaway („Best Supporting“), Hugh Jackman („Best Actor“), ihr seid sicher toll, aber ich hab euch nicht sehen können.

„Life of Pi“: Oh je, oh je. Das Buch hab ich nicht geschafft. Der Film, so dachte ich, wird einfacher. Schöne Bilder, viel Meer, viel Abenteuer, tolle Tricks mit Wasser, Dschungel, Tiger und seafood. Und am Ende hab ich mich dann doch gefragt: wie denn, was denn nun? Ich bin zu wenig Emo, Epi und Eso für solche Filme, die bestimmt ganz, ganz toll und wunderschön sind. Nur eben für mich nicht. Ang Lee ist auch für „Best Director“ nominiert.

„Argo“ Eine moderne „Cloak and Dagger“-Geschichte (Mantel- und Degenstück). Ein aufwändiges „böhmisches Dorf“ wird aufgebaut in Form eines Filmsets im Iran, wo nach der Stürmung der amerikanischen Botschaft sechs Mitarbeiter in die kanadische Botschaft flohen. CIA und Kanadier schmieden die Befreiungspläne. Unter dem Vorwand, einen Film drehen zu wollen, etabliert sich ein kanadisches Team, um die Flüchtlinge als „production crew“ außer Landes zu schaffen. Alan Arkin ist für „Best supporting…“ nominiert. Das ist ein spannender Film und sicher auch Aufarbeitung eines amerikanischen Traumas. Eines der vielen. Wie z.B. auch

„Zero Dark Thirty“. OMG – Terroristen und deren Bekämpfung und Verhörung. Sehr brutal (Folterungen in epischer Breite), eine verbissene, aber sehr gute Jessica Chastain („Best Actress“ Nomi) auf der (erfolgreichen) Jagd auf Bin Laden, auch für „Best Original Screenplay“ nominiert. Spannend, aber nichts für schwache Nerven.

– Fortsetzung folgt –




„Kultgarage“: Was Kabarett mit Brandschutz zu tun hat

Seit drei Jahren gibt es das ungewöhnliche Experiment der „Kultgarage“ in Ennepetal: Die örtliche Sparkasse lädt junge Nachwuchs-Kabarettisten in ihr Haus ein und lässt sie frei schalten und walten. Kultgarage heißt die Reihe, weil sie ursprünglich in der ausgeräumten Tiefgarage der Bank stattfand – bis die örtlichen Brandschutzmeister einschritten. Seitdem findet die Unterhaltung im Veranstaltungssaal der Sparkasse statt.

Thilo Seibel

Thilo Seibel

Fünf Abende sind für 2013 bereits gesichert. Die Kurzbeschreibung der Künstler stammt vom Veranstalter:

Stefan Waghubinger – 10. Mai 2013

Von Benjamin Blümchen im Schlafzimmer über die ultimative Lösung der Klimakatastrophe bis zur Nahtoderfahrung beim Zahnarzt – niemand scheitert schöner am Leben. Stefan Waghubinger jammert auf höchstem (Bildungs-)Niveau.

Thilo Seibel – 14. Juni 2013

Ein Polit-Handwerker greift durch: Egal ob Griechenland-Krise, Wasserschaden oder Krankenhausnotaufnahme wegen verhakter Intimpiercings beim Seitensprung – der Fachmann weiß: Das wird teuer!

Barbara Ruscher – 12. Juli 2013

Warum schweigt der Mann am Grill? Weil er sich schämt, dass er die Wurst nicht selbst gejagt hat? Warum werden zigtausend Legehennen notgeschlachtet, nur Ursula von der Leyen nicht? Panierfehler! Ein Fischstäbchen packt aus…

Mia Pittroff – 9. August 2013

Humor, trocken wie Heizungsluft, gute Beobachtungen und wunderbar groteske Bilder, das sind die Markenzeichen von Mia Pittroff. Ein Fan: „Wie der frühe Polt. Nur weiblich halt …und hübscher!“

Hans Gerzlich – 13. September 2013

Wenn Sie reich sind, werden Sie erfahren, woher Ihr Geld kommt. Wenn Sie nicht reich sind, werden Sie erfahren, warum Sie es auch nicht mehr werden. Alles hängt zusammen: Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt vorne Ihr Auge.

Immer freitags, Einlass immer 19:30 Uhr, Kultstart immer 20:00 Uhr In Ennepetal-Milspe, Sparkassen-Souterrain, Eingang Südstraße.

Karten unter Telefon(0 23 33) 97 93 00.

 

 




Schurke und Biedermann: Ausstellung zum 100. Geburtstag des Schauspielers Gert Fröbe

Gert Fröbe in "Es geschah am hellichten Tag". Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Gert Fröbe in „Es geschah am hellichten Tag“. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Den irren Blick wird so schnell niemand vergessen. Dieses gehetzte Angesicht, gezeichnet von Gier und Angst zugleich. Brutal und erbarmungswürdig, boshaft und hilflos. Die Studie über einen Kinderschänder wurde zu Legende: „Es geschah am hellichten Tag“ mit Heinz Rühmann als Kommissar, 1958 erschienen, war einer der viel beachteten deutschsprachigen Filme der Fünfziger Jahre.

Die Rolle des Mörders übernahm ein Schauspieler, der damals schon seit zehn Jahren aus dem deutschen Film nicht mehr wegzudenken war: Gert Fröbe. Ihm schien die Rolle der Bösewichter auf den fülligen Leib geschneidert zu sein. In dem Skandalfilm „Das Mädchen Rosemarie“ (1958) hatte er den Generaldirektor Bruster verkörpert, einen skrupellosen Wirtschaftskapitän der Nachkriegszeit. Und schon 1957 war er als menschenverachtender Mr. Gillis im prominent besetzten Film „Robinson soll nicht sterben“ (mit Horst Buchholz und Romy Schneider) aufgetaucht.

Aus Anlass des 100. Geburtstags des gewichtigen Sachsen (genaues Datum: 25. Februar 1913) zeigt das Filmmuseum Düsseldorf noch bis 28. Februar eine Studio-Ausstellung. Sie entstand gemeinsam mit dem Sammler Markus Grieb aus Dortmund. Zu sehen sind zahlreiche, wenig bekannte Fotos aus Fröbes Jugend und von seinen Bühnenauftritten. Präsentiert werden auch Original-Drehbücher, etwa von „Goldfinger“ – Fröbes größter internationaler Erfolg – und von „Es geschah am hellichten Tag“; außerdem sind Briefe und Reproduktionen von Gemälden des Hobbymalers zu sehen.

Kaum bekannt ist, dass Fröbe 1937 seine Schauspielerkarriere am Stadttheater in Wuppertal begonnen hat. Zuvor hatte er sich 1933 bis 1935 als Bühnenmaler in Dresden ausbilden lassen und Schauspielunterricht bei Erich Ponto, Paul Günther und Lothar Müthel in Berlin genommen. Nach Wuppertal folgten Engagements in Frankfurt und Wien. Er selbst sagt zu dieser Zeit: „Ich habe mehr als zwanzig Jahre Theater gespielt. Habe in der Provinz angefangen – was viele Kollegen heute als unwürdig bezeichnen. Es muss eben nicht gleich München oder Berlin sein … Als Schauspieler muss man sowas wie eine Persönlichkeit werden. Wenn man auf die Bühne kommt, müssen die Leute sagen: Ah da kommt jemand! – Dazu muss aber in einem etwas gewachsen sein. Und dazu trägt alles bei: die Liebe, die Trauer, der Schmerz, die Hoffnung und auch das Unglücklichsein. Das alles trägt dazu bei, die Persönlichkeit zu formen, von der man eines Tages sagen kann: das war ein vernünftiger Schauspieler.“

Fröbe hat sich schon in jungen Jahren als Künstler, wenn auch nicht unbedingt als Filmschauspieler gesehen. Geboren und aufgewachsen ist er in Zwickau-Planitz. Mit der Welt des Theaters kam er im Stadttheater seiner Heimat in Berührung, wo er kleine Handlangerdienste leistete. Nebenbei verdiente er sich als Stehgeiger sein Geld. Der 1,85 Meter große Mann war damals noch spindeldürr und wurde wegen seines rötlichen Haares „Der rote Geiger“ genannt.

Fröbe liebte es, Anekdoten aus seinem Leben zu erzählen. Seine Rezitationsabende waren legendär; von Kleinkunst fühlte er sich ein Leben lang angezogen. Bei seinen Besuchen in der DDR gab er heimlich Vorleseabende. Aber er galt auch als der „Mann mit den tausend Gesichtern“ – für einen Schauspieler durchaus ein Kompliment. Seine darstellerischen Facetten reichten vom abgründig Bösen („Via Mala“, 1961) über banal brutale Typen und Kriminelle bis hin zu gemütvollen Knallchargen („Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ 1965 oder „Der Raub der Sabinerinnen“ 1982). Fröbe konnte auch auf der Seite des Gesetzes mit seiner Charakterkunst brillieren, so als Kommissar in drei Dr. Mabuse-Filmen anfangs der sechziger Jahre.

Fröbe noch spindeldürr in seinem Debütfilm "Berliner Ballade" als sprichwörtlich gewordener Otto Normalverbraucher. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Fröbe noch spindeldürr in seinem Debütfilm „Berliner Ballade“ als sprichwörtlich gewordener Otto Normalverbraucher. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Eine seiner Rollen sollte sprichwörtlich werden: Als „Otto Normalverbraucher“ begründete Fröbe seine Filmkarriere in „Berliner Ballade“ von 1948. Vier Jahre später tauchte er als deutscher Offizier in dem Kriegsfilm „Entscheidung vor Morgengrauen“ auf. Unter den vielen Tagesproduktionen der folgenden Jahre fällt seine Rolle als Detektiv in „Herr Satan persönlich“ auf. Und kurz vor dem Aufsehen erregenden Kindsmörder-Drama von 1958 war er ebenfalls mit Heinz Rühmann in der Halbstarken-Moralgeschichte „Der Pauker“ als geistig einfach gestrickter Catcher mit goldenem Herzen zu erleben. Für seine Darstellung des kleinen Gauners Paul Wittkowski, der sich als falscher Pfarrer ausgibt, erhielt Fröbe 1961 den Ernst-Lubitsch-Preis für die beste komödiantische Leistung im deutschen Film. „Der Gauner und der liebe Gott“ zeigt ihn von einer liebenswert durchtriebenen Seite. Zahlreiche weitere Auszeichnungen folgten.

„Es geschah am hellichten Tag“, dessen Drehbuch Friedrich Dürrenmatt erstellt hatte, war für Fröbe ein entscheidender Meilenstein, der ihm die wohl größte Rolle seiner Schauspielerkarriere bescherte: In „James Bond 007 – Goldfinger“ (1964) besetzte Regisseur Guy Hamilton den Widersacher Bonds, Auric Goldfinger, mit dem deutschen Mimen. Bond-Darsteller Sean Connery soll später Fröbe als seinen einzigen echten Gegenspieler gewürdigt haben. Wie vielseitig dieser Mann war, zeigt ein Film wie „Der Räuber Hotzenplotz“ (1974). Fröbe einmal nicht als finsterer, dämonischer Typ, sondern als verschmitzter Kinderliebling.

Am Ende seiner Karriere fand er zur Kleinkunst zurück, zu der ihn einst kein Geringerer als Karl Valentin ermutigt hatte. Dass sein Abschied im Fernsehen stattfand, dass seine letzten Auftritte in den Serien „Der kleine Vampir“ und „Die Schwarzwaldklinik“ stattfanden, war so nicht geplant: Fröbe starb am 5. September 1988 unerwartet an einem Herzinfarkt. In einem Nachruf fasst der „Spiegel“ die Lebensleistung des Schauspielers zusammen: „Kein Zweifel, Fröbe hatte Format. Er füllte Bühne und Leinwand, in jeder Hinsicht. Aber noch wichtiger ist: Er hatte die schauspielerische Intelligenz, dieses Format, diese raumgreifende Fülle in Frage stellen zu können. Er spielte nie so ganz sich selbst, sondern kommentierte mit Skepsis und Schlauheit menschliche Ungetüme. Vielleicht blieb deshalb die Sympathie auf seiner Seite.“




Auf der Demo gegen die Rundschau-Demontage

Der Demonstrationszug an der Reinoldikirche (Foto: Bernd Berke)

Der Demonstrationszug an der Reinoldikirche (Foto: Bernd Berke)

Es war beileibe nicht nur eine gewerkschaftliche Routine-Veranstaltung.

Wer an der Dortmunder Demo gegen die Schließung der Rundschau-Redaktion teilgenommen hat, hat die Atmosphäre spüren können: Es war eine Mischung aus Sprachlosigkeit, Zorn, tiefer Bedrückung und Sorge um die Zukunft. Viele Kolleginnen und Kollegen, zumal auch freie Mitarbeiter, die nicht einmal Abfindungen nach Sozialplan bekommen, stehen jetzt vor schweren Zeiten.

Doch es war auch nicht nur ein Trauerzug. Denn gleichzeitig war da eine Stimmung des Aufbegehrens. Selbst wenn die WAZ-Gewaltigen ihre Entscheidung kaum revidieren dürften, hatte die Veranstaltung ihren Sinn. Denn schon aus blanker Selbstachtung und aus demokratischer Verantwortung muss man mit diesem Verlagsskandal an die breite Öffentlichkeit gehen und die Leser aufklären, dass ihnen ab Februar eine absurde Mixtur aus WAZ und Ruhr-Nachrichten (bzw. je nach Stadt Westfalenpost, Hellweger Anzeiger etc.) als nur noch so genannte „Westfälische Rundschau“ vorgesetzt wird.

Geschätzte 1000 Menschen (laut Polizei: 500) waren trotz schneidender Kälte im Demonstrationszug dabei, der vom Rundschauhaus am Brüderweg zur Kundgebung am Alten Markt im Herzen der Stadt führte. NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider und NRW-Medienministerin Angelica Schwall-Düren waren die prominentesten Redner auf dem Podium. Video-Ausschnitte aus den Ansprachen findet man hier.

Am bündigsten brachte wohl Martin Kaysh die Lage auf den Punkt, der Kabarettist und „Steiger“ beim Dortmunder Alternativkarneval „Geierabend“, der zeitweise selbst als Journalist (u.a. bei der WAZ) gearbeitet hat. Sein komplettes Manuskript ist hier nachzulesen.

Unter den Medienleuten, die die Demo begleiteten, waren auch Fotografen der Ruhr-Nachrichten und der Westfälischen Rundschau. Man darf gespannt sein, was am Montag in den beiden Blättern vorzufinden sein wird. Am Rande der Veranstaltung war zu hören, dass selbst eine WR-Schlagzeile zur Kältewelle („Es hat uns eiskalt erwischt“) vor Drucklegung gestrichen wurde, weil man sie als Anspielung auf die Schließung der WR-Redaktion hätte verstehen können… Soll man lachen über solche Hysterie oder soll man weinen über das Zensoren-Gehabe, das sich in den letzten Tagen bei der WAZ-Gruppe geradezu breit gemacht hat?

Übrigens wurden auf der Demonstration auch WR-Chefredakteur Malte Hinz (der seinen Posten auch künftig behält) und sein ehemaliger Stellvertreter Frank Fligge (der jetzt in der Essener WAZ-Zentrale tätig ist) gesichtet. Im Protestblog www.medienmoral-nrw.de haben die beiden häufig verbale Prügel bezogen. Aber dieses Fass machen wir hier jetzt nicht auf. Dazu ist die Gemengelage denn doch zu kompliziert. Doch sagen wir mal so: Es muss für Hinz schon ein ganz eigentümliches Gefühl sein, gut dotierter Chef eines redaktionslosen Titels zu bleiben, während seine bisherige Truppe ein ungleich schlechteres Ende erwischt.




Protest gegen die Schließung der Rundschau-Redaktion wächst

Es gibt Anzeichen von Widerspenstigkeit, ja von Widerstand gegen die Entscheidung des Essener WAZ-Mediengruppe, die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau zu schließen und das Traditionsblatt nur noch als bloßes Etikett mit Fremdinhalten weiterzuführen:

Der Glossenplatz auf Seite 2 der Westfälischen Rundschau blieb heute (Ausgabe vom 17. Januar) weitgehend leer. Statt dessen teilte die WR-Redaktion lakonisch mit, aus guten Gründen sei ihr nichts eingefallen (siehe Foto). Die Kollegen der Essener WAZ sandten an paralleler Stelle in ihrem Blatt, also auch am Glossenplatz, ein Signal der Solidarität, indem sie ebenfalls etlichen Weißraum freiließen und sinngemäß feststellten, sie seien angesichts der Kündigung von 120 WR-Redakteur(inn)en nicht zum Scherzen aufgelegt.

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Eine von der Rundschau-Redaktion hergestellte Sonderseite mit kritischen Stellungnahmen zur WR-Schließung ist hingegen nur in der abendlichen Postausgabe erschienen und offenbar im Laufe der weiteren Produktion (auf Geheiß aus der Essener Konzernzentrale) „gezogen“ (also entfernt und durch andere Inhalte ersetzt) worden. Näheres dazu steht im Facebook-Auftritt „WR muss bleiben“, wo man sich jetzt auch die besagte Seite ansehen kann.

Außerdem hat der stellvertretende WR-Chefredakteur Lars Reckermann den Lokalredaktionen die Berichterstattung in eigener Sache per Rundschreiben untersagt. Bei den Ruhrbaronen findet sich ein Faksimile des Schreibens. Auch Reckermanns Vorgehen riecht streng nach Zensur. Eine andere, ausgesprochen wohlwollende Lesart besagt, dass Lars Reckermann die Redakteure – nach entsprechenden Warnungen aus Essen – mit seinem Schreiben davor bewahren wollte, Ansprüche auf Abfindungen zu verwirken. Tatsächlich ist auch eine Kollegin, die mir einen Hinweis geben wollte, von ihrem Lokalchef ermahnt worden, dabei wenigstens äußerst diskret vorzugehen. Übrigens: Während offiziell klar ist, dass Malte Hinz auch künftig als Chefredakteur einer quasi redaktionslosen WR firmieren soll, ist offenbar noch in der Schwebe, was aus Reckermann wird.

Am Samstag, 19. Januar, wird um 11 Uhr am Dortmunder Brüderweg 9 (Rundschauhaus) eine Solidaritäts-Demonstration für die WR-Redaktion beginnen, die zum Alten Markt im Herzen Dortmunds ziehen soll. Der Aufruf zu dieser Demo steht u. a. im Nachrichtenportal der Stadt Dortmund.

Unterdessen unterzeichnen nicht nur Journalisten, sondern auch zahlreiche Leser eine Online-Petition, die die Geschäftsführung der WAZ-Gruppe zum Umdenken bewegen soll. Mag auch die Hoffnung gering sein, mit diesem Mittel etwas Entscheidendes zu bewegen, so gilt doch auch hier der alte Satz: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Bei Facebook gibt es inzwischen eine Solidaritäts-Seite für die Rundschau – mit einer Resonanz, die in die Tausende geht.

Es regt sich auch Protest unter den Kulturschaffenden der Region: Das Theater Dortmund – Zitat- „bedauert die Entscheidung, die ‚Westfälische Rundschau‘ als eigenständiges Blatt einzustellen, sehr und empfindet dies als herben Verlust für die Medienszene Nordrhein-Westfalens. Die kritische und informative Begleitung der Theaterarbeit durch die Mitarbeiter der ‚Westfälischen Rundschau‘ war stets eine wichtige Stimme im Zusammenspiel der Meinungen und Ansichten zu kulturellen Themen, und dies weit über Dortmund hinaus. Die Entscheidung, die ‚Westfälische Rundschau‘ nicht mehr in der bisherigen Form zu publizieren, bedeutet einen spürbaren Einschnitt.“

Auch gibt es eine öffentliche Stellungnahme von Jac van Steen, dem scheidenden Orchesterchef der Philharmoniker. Darin heißt es: „Mit großer Fassungslosigkeit muss ich (…) meinem Erstaunen über die Schließung der WR-Redaktionen Ausdruck verleihen. (…) Diese Entscheidung bedeutet eine Degradierung unserer demokratischen Grundausstattung von Meinungsfreiheit in möglichst vielfältiger Breite. Eine sehr bedenkliche Entwicklung nicht nur für die Kunst und Kultur.“

Das Dortmunder Kulturzentrum domicil ließ verlauten: „Wir (…) sind noch immer sprachlos über die Abwicklung der Westfälischen Rundschau durch die Geschäftsführung des WAZ-Konzerns. Wir möchten uns (…) mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages, die wohl in Kürze auf der Straße stehen werden, solidarisch zeigen, zum anderen aber auch darauf hinweisen, dass gerade eine lebendige Kulturszene von fachkundiger, auch kritischer journalistischer Vermittlung, breiter Öffentlichkeit und vor allem Meinungsvielfalt lebt, die nun durch die Schließung der Redaktion der Westfälischen Rundschau in Dortmund massiv verliert und einseitig zu werden droht. Die Abwicklung der eigenständigen WR-Redaktion ist ein großer Verlust für die Stadt.“

Eine weitere Reaktion aus dem Dortmunder Kulturleben trägt die Unterschriften von Kurt Eichler (Geschäftsführer der Kulturbetriebe Dortmund), Claudia Kokoschka (Leiterin des Kulturbüros) und Wolfgang Weick (Leitender städtischer Museumsdirektor).

Vergleichsweise vorsichtig hatte sich zuvor Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) geäußert. Er sei ob der Nachricht über die Schließung der WR-Redaktion „fassungslos“. Und: „Ich habe das Angebot einer pluralistischen Medienlandschaft in unserer Stadt immer geschätzt.“

Inzwischen (22. Januar) hat sich Sierau allerdings sehr viel deutlicher geäußert und davon gesprochen, dass die WAZ-Gruppe ihrer Verantwortung nicht gerecht werde. Im Wortlaut kann man sein Statement hier nachlesen.

Apropos: Vermutlich werden schon ab Anfang Februar die Ruhr-Nachrichten das Monopol in der Dortmunder Lokalberichterstattung haben; ein unguter Zustand, der sich mit demokratischer Auseinandersetzung nur schwer vertragen dürfte. Schon jetzt könnten und sollten sich daher die unabhängigen Online-Medien der Region (Ruhrbarone, Pottblog, Revierpassagen usw.) darauf verständigen, Marktgebaren und journalistische Arbeitsergebnisse der Ruhr-Nachrichten künftig etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch dem WDR kommt hierbei eine erhöhte Verantwortung zu.

Noch eine kleine Anmerkung: Der Informationsdienst Ruhr (idr), ein Ableger des in Essen angesiedelten Regionalverbands Ruhr (RVR), der jede Kleinigkeit vermeldet, mit der die so genannte „Ruhrstadt“ vermeintlich hochgejubelt werden kann, bringt natürlich keine einzige Zeile über die Demontage der Westfälischen Rundschau. Es passt nicht in den PR-Rahmen. Es ist halt nicht positiv. Und aus Essener Perspektive sieht die Welt sowieso ganz anders aus.

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LINKS

Hat die WR wirklich 50 Mio. Euro Schulden angehäuft? http://meedia.de/print/waz-gruppe-und-ddvg-weiter-im-clinch/2013/01/17.html

Die nüchterne Sicht der Dinge und…

…die emotionale Sicht der Dinge.

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Den wohl besten Überblick bekommt man hier: https://www.facebook.com/WRMussBleiben

Die teilweise kontroverse Debatte findet man im „Medienmoral“-Protestblog.

Viele weitere Links der letzten Tage stehen unter dem vorherigen Artikel.




„Aus“ für die Rundschau-Redaktion: Dortmund und das Umland verlieren ein Traditionsblatt

Jetzt ist es offiziell, die Essener WAZ-Gruppe hat eine radikale Sparmaßnahme ergriffen: Die 580.000-Einwohner-Stadt Dortmund und ihr Umland verlieren mit der Westfälischen Rundschau (WR) eine einstmals stolze, traditionsreiche Zeitung. Rund 120 Redakteurinnen und Redakteure sind betroffen, außerdem zahllose freie Mitarbeiter.

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Auch wenn der Titel (als bloßes Etikett) erhalten bleibt, so kommen die Inhalte ab Februar nur noch von anderen. Den Mantelteil liefert die WAZ, diverse bisherige Konkurrenten steuern die lokalen Inhalte bei. Sogar die Dortmunder Lokalredaktion, ein bislang noch verbliebenes Herzstück des Blattes, wird aufgelöst. Die „WR“-Lokalteile für Dortmund, Lünen und Schwerte liefern künftig die Ruhr-Nachrichten. Allein einen solchen Gedanken hätte man früher weit von sich gewiesen. Unna und Kamen werden vom „Hellweger Anzeiger“ bedient. Im Märkischen Kreis wird die künftig nur noch so genannte „Westfälische Rundschau“ lokal vom Märkischen Zeitungsverlag (Verleger Dirk Ippen) gestaltet, Arnsberg und Hagen werden komplett von der Westfalenpost übernommen. Die WP soll auch aus Wetter/Herdecke und Ennepe-Süd berichten und dazu sogar eine neue Lokalredaktion aufbauen. Es sieht also ganz so aus, als wäre die WP konzernintern eine (un)heimliche Profiteurin des WR-Verfalls.

Meine persönliche Konsequenz wird sein, eine formal und inhaltlich derart gestückelte Zeitung, ja den journalistischen Bastard, der auf diese Weise entsteht, schleunigst abzubestellen.

Man sagt nicht zu viel, wenn man feststellt: Damit wird die WR endgültig Leib und Seele verlieren, sie wird zur Zombie-Zeitung. Der frühere Geist der Redaktion hatte sich ohnehin schon Hauch um Hauch verflüchtigt. Das Betriebsklima am Dortmunder Brüderweg und in den restlichen eigenen Lokalredaktionen war, wie man vielfach hörte, in letzter Zeit zunehmend angespannt.

Ich habe heute einige Anrufe von früheren WR-Kollegen bekommen, natürlich sind alle mehr als betrübt, teilweise völlig niedergeschlagen, ohnmächtig wütend, zutiefst erschüttert. Bewusst habe ich es vermieden, meinerseits Betroffene anzusprechen. Ich wäre mir wie ein nachrichtengieriger „Witwenschüttler“ vorgekommen. Man kann es ja wahrlich nachfühlen, wie vor allem den Kolleg(inn)en über 45 zumute ist, die vielleicht keine andere Stelle mehr finden werden, aber auch noch nicht nah genug am Rentenalter sind. Von sozialverträglichen Lösungen ist nun die Rede, von Abfindungen, die freilich nicht mehr so großzügig ausfallen dürften wie vor vier Jahren, als im Rahmen von „Strukturänderungen“ 300 Journalisten die WAZ-Gruppe verließen. Auch sollen den Betroffenen bevorzugt Stellen angeboten werden, die bei der WAZ frei werden – allerdings nur in den größten Glücksfällen nah beim bisherigen Wohnort. Wenn überhaupt.

Das Volontariat eingerechnet, habe ich etwas über 30 Jahre für die Westfälische Rundschau gearbeitet, davon rund 27 Jahre in der Kulturredaktion. Es war vor allem die Zeit der Chefredakteure Günter Hammer (bis 1988) und Frank Bünte (1988-2004), danach kamen in atemloserer, ja schließlich fast schon panischer Folge Klaus Schrotthofer (2004-2007), Kathrin Lenzer (2007/2008) und Malte Hinz (ab Dezember 2008), zum Ende hin ein „König“ ohne nennenswerte Ländereien.

Aber das sind nur dürre Daten und Fakten. Selbstverständlich bin ich mit dem Blatt emotional verbunden – auch wenn ich es vor fast genau vier Jahren verlassen habe. Ein Großteil meines – nicht nur beruflichen – Lebens hängt daran. Ich habe in und um Dortmund nicht nur viele fähige und freundliche Kolleg(inn)en getroffen, sondern habe auch meine Frau bei der WR kennen gelernt.

Die am 20. März 1946 neu lizensierte WR, die vor allem früher als SPD-nah galt, verstand sich als Nachfolgerin des Dortmunder „Generalanzeigers“, der 1933 von den Nazis geschlossen (bzw. mit einer NS-Gazette zwangsvereinigt) worden war und außerhalb von Berlin die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung gewesen sein soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Zeiten, da hatte die Westfälische Rundschau ein Verbreitungsgebiet, das bis ins Emsland und – von Dortmund aus südwärts – bis in den Nordzipfel von Rheinland-Pfalz reichte. Der spätere NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement war in den besseren Jahren ebenso WR-Redakteur wie der investigative Journalist Hans Leyendecker, heute seit etlichen Jahren bei der Süddeutschen Zeitung. Seit 1975 gehörte die Rundschau zur WAZ-Gruppe. Stück für Stück schmolz der „Beritt“ zusammen, bis immerhin noch das westfälische Ruhrgebiet, Sauer- und Siegerland als Kernbereiche übrig blieben.

In den letzten Jahren bröckelten auch die südwestfälischen Gebiete, die Zeitung machte angeblich Millionenverluste. Man konnte das Unheil, das sicherlich nicht zuletzt durch Management-Fehler herbeigeführt wurde, schrittweise kommen sehen…

P.S.: Soeben den WAZ/WR-Leserservice in Sachen Abokündigung angerufen. Warum ich denn kündigen wolle, es bleibe doch alles wie bisher… Am liebsten wäre ich sehr grob geworden, doch die Dame im Callcenter kann ja auch nichts dafür, dass offenbar solche idiotischen Sprachregelungen ausgegeben werden.

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(mit Nachrichtenmaterial von dpa, finanznachrichten.de, kress.de , newsroom.de und meedia.de)

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LINK-SAMMLUNG (je nach Bedarf laufend aktualisiert)

Hier wird für den Erhalt der Zeitung demonstriert (Samstag, 19. Januar, 11 Uhr, ab Rundschauhaus am Brüderweg 9 in Dortmund): https://www.facebook.com/events/132643046896868/

Bei medienmoral-nrw.de kann diskutiert werden: http://www.medienmoral-nrw.de/2013/01/wr-redaktion-wird-abgewickelt/

Hier steht eine Online-Petition: http://rundschau-retten.de/

Hier eine Stellungnahme des Deutschen Journalistenverbandes (DJV): http://www.djv-nrw.de/php/evewa2.php?d=1358258319\&menu=01001&NEWSNR=1798&GSAG=1b8313e66e4b2e665040fab5a083083d

Stellungnahme der SPD (mit 13,1% Miteigentümer der WR), deren Medienholding angeblich im Vorfeld nicht informiert war und deshalb rechtliche Schritte prüfen will: http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2013-01/25695368-erklaerung-des-unternehmensbereichs-der-spd-zur-heutigen-mitteilung-der-waz-zur-aufloesung-der-eigenstaendigen-redaktion-der-westfaelischen-rundschau-wr-007.htm

Ein kritischer Bericht bei www.horizont.net: http://www.horizont.net/aktuell/medien/pages/protected/Seelenlose-Redaktionsklempnerei-WAZ-steht-wegen-Kahlschlag-bei-Westfaelischer-Rundschau-am-Pranger_112382.html

„Der Fisch stinkt vom Kopf“, schreibt Bülend Ürük bei newsroom.de: http://www.newsroom.de/news/detail/$HVIUEOMULROS/westflische_rundschau_ein_flickwerk_von_einer_zeitung

Die Sicht der „Rheinischen Post“: http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/westfaelische-rundschau-wird-aufgegeben-1.3135415

So steht es bei Spiegel online: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/westfaelische-rundschau-waz-gruppe-streicht-redaktion-120-stellen-a-877623.html

Die TAZ schreibt: http://www.taz.de/Westfaelische-Rundschau/!109070/

Und so berichtet der WDR in seinem Online-Auftritt: http://www1.wdr.de/themen/medienseite/westfaelischerundschau100.html

Ein sehr persönlich gehaltener Beitrag bei den „Ruhrbaronen“: http://www.ruhrbarone.de/westfaelische-rundschau-du-bist-zeitungskrise/

Der frühere WR-Cheferedakteur Frank Bünte hat sich in der „Lokalzeit“ des WDR-Fernsehens geäußert: http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/2013/01/16/lokalzeit-dortmund-rundschau.xml

Hajo Jahn blickt in die ganz alten Zeiten der WR zurück: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18665




Das nahe Ende der „Westfälischen Rundschau“: Kurzer Nachruf auf meine Jugendliebe

Ich hatte meine ersten Arbeitstage als Volontär gerade hinter mir. Jeden Tag fuhr ich mit Straßenbahn und Zug nach Herne, um dort an der Ruhr-Nachrichten-Ausgabe mitzuwirken.

Auf dem Reiseweg ins spannende Ungewisse studierte ich gern ein Heft namens „Der Monat“, das unter anderen von Melvin Lasky herausgegeben wurde, einem amerikanischen Journalisten, der viel in der und für die noch relativ junge Republik tat. Besonders riss mich ein Text ins Blatt, der sich mit der Zeitungslandschaft im Ruhrgebiet beschäftigte, ich weiß nicht mehr, wer das schrieb. Aber ich fand eine Zeile darin, die mir es leichter machte, mein Volontariat bei den RN vor mir selbst und vielen meiner Freunde zu begründen. Sinngemäß lautete es: „Tapfer und erfolgreich wehrt sich Verleger Lensing-Wolff gegen die Expansion der WAZ.“

Meine Zuneigung blieb zwar bei der Westfälischen Rundschau, die jeden Tag bei meinen Eltern vor der Haustüre Seydlitzstraße 37 lag, aber immerhin, ich arbeitete bei einem Blatt, das sich tapfer und erfolgreich zur Wehr setzte. Dass es dies nach wie vor tut, finde ich gut. Wie erfolgreich es am Ende gegenüber der WAZ sein wird, hätte ich damals nicht geahnt. Dass der wesentliche Teil der „Gruppe“, der wenig später meine vieljährige berufliche Heimat, ja Familie werden würde und es stets bei aller Kritik blieb, dass also meine WR mal von den RN mit Inhalten gefüllt werden würde, wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Ich fühlte mich wie zu Beginn meiner bescheidenen Karriere als Lohnschreiber, als ich gemeinsam mit Konrad Harmelink hinauf ins Kabuff von Bernd Dagge kraxelte und der mir wohlgelaunt die Konditionen erläuterte, die die „Gruppe“ mir bieten könne. Ich untersagte mir, ungläubig zu glotzen und begann mich sogleich zu beglückwünschen, dass ich nun doch nicht nach … wo auch immer gehen würde. Das war 1977 – und was ist heute?

Heute ist ein ganz trauriger Tag, meine Jugendliebe existiert nicht mehr, ist eine hohle Hülle, in die andere Inhalte schreiben. Meine WR wird von derselben „Gruppe“ abgestoßen, die einst ordentlich Geld mit ihr verdiente und Günter Hammer noch gestattete, nach seiner Amtszeit als Chefredakteur letzter Herausgeber zu werden, was ich ihr zum Vorteil anrechnete.

Die „Gruppe“ von heute erscheint mir als zuwider. Sie hat heute das Dasein einer Zeitung beendet, für die 1946 Heinrich Sträter, Ernst Sattler und Fritz Henßler die Lizenz von den Briten erhalten hatten. Ich sag’s mit Max Liebermann: Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.




Bauer sucht Frau: Shakespeares „Wie es euch gefällt“ im Düsseldorfer Schauspielhaus

Im Düsseldorfer Schauspielhaus riecht es nach Kuhstall. Die Bühne ist weit in der Zuschauerraum hineingebaut, der Boden mit Stroh und Mist bedeckt. Wenn die Schauspieler auftreten, zieht eine nach Landleben duftende Staubwolke über die Köpfe des Publikums. Die 29jährige Hausregisseurin Nora Schlocker kehrt in ihrer Inszenierung von „Wie es euch gefällt“ die archaische Seite von Shakespeare hervor und nimmt seinen Text zugleich betont wörtlich.

Wie zu Shakespeares Zeiten sind alle Rollen ausschließlich mit Männern besetzt. Das Verwirrspiel der Geschlechter erhält dadurch aus heutiger Sicht eine zusätzlich irritierende Note, die aber umso tiefer in das Stück hineinführt. Tatsächlich entfalten hier die Leidenschaften der menschlichen Seele wie unerfüllte Liebe, quälende Eifersucht, Habgier, Neid und Edelmut eine Art überzeitliche Dimension. Ob nun Mann oder Weib, als Mann verkleidetes Weib oder als Weib verkleideter Mann leiden, lieben, quälen oder fliehen, das ändert an der Heftigkeit der Gefühle nichts. Doch zugleich bietet diese Grundentscheidung der Regie ein großes Reservoir an kreativer Energie für die Schauspieler: Mit Facettenreichtum, Witz und Liebe zum Detail agiert das Ensemble, dass es eine Lust ist, ihm zuzusehen. Damit trifft Nora Schlocker einen Nerv, denn wie heißt es so schön in „Wie es euch gefällt“: „Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler.“

Viele Doppelbesetzungen geben den Schauspielern Gelegenheit, ihre Verwandlungsfähigkeit zu beweisen. Allen voran Sven Walser, der als Adame, Herzog und als Schäfer Silvius eine je eigene Körpersprache entwickelt. Arrogantes Lächeln und Winken, heute würde man sagen albernes Promi-Getue, charakterisiert den Herzog, der kaltblütig Verbannungsurteile ausspricht, während er scheinheilig-heiter Bussis ins Publikum wirft. Der liebeskranke Schäfer Silvius dagegen könnte der Fernsehserie „Bauer sucht Frau“ entsprungen sein: Er ist auf derart linkische Weise der abweisenden Phoebe verfallen, dass man dazu neigt, sich für ihn fremd zu schämen. Auch Jonas Anders als Hirsch mimt schwitzend und mit vollem Körpereinsatz das sterbende Tier. Theaterblut für die Jagdszenen steht in Plastikeimern bereit und wird reichlich vergossen.

Den Narren Touchstone (Dirk Ossig) hat Schlocker in ein rheinisches Karnevalskostüm gesteckt und sein Witz kommt ebenso ritualisiert daher, wie die Posen des verordneten Frohsinns in der fünften Jahreszeit. Damit gelingt der Regisseurin ein interessanter Kunstgriff: Sie übersetzt den aus heutiger Sicht etwas altmodischen Witz Shakespeares in eine uns bekannte, ebenso verstaubte Form des Frohsinns. So nimmt sie zwar der Komödie die Heiterkeit, verleiht ihr aber gleichzeitig den Charme einer ungelenken Melancholie, der darin besteht, dass all das schöne Träumen und Sehnen irgendwie im Profanen endet. Statt einer Utopie des Landlebens, wo alle Verbannten, Liebeskranken, Verstoßenen und Transvestiten ihr Glück im Gegenentwurf zur Zivilisation finden, zeigt sie Stall, Wald und Schäferwesen, so blöd, wie sie eben sind. Es stinkt, staubt und das nächste Schlammloch zum Einsauen ist auch nicht weit.

Die Idee scheint der ersten Szene entnommen, in der Orlando (Aleksandar Radenkovic) seinen Bruder anklagt: „Er zieht mich bäurisch zu Hause auf wie seine Tiere auf dem Mist.“ Als kräftiger Stallbursche gewinnt er im Ringkampf, dadurch Rosalinds (Florian Jahr) Herz und leider auch die Verbannung im Wald von Arden. In dem wird in den nächsten zwei Stunden getobt und geliebt, gesungen und gekämpft, gefressen und verraten. Bis am Ende jeder den zu ihm passenden Partner gefunden hat. Doch so richtig glücklich sehen alle Beteiligten dabei nicht aus, eher müde. Der Kampf gegen die Verwicklungen des Schicksals hat sie stumpf gemacht.

Der Applaus im Düsseldorfer Schauspielhaus blieb ein wenig verhalten. Anscheinend ist dieser Shakespeare den Premierenzuschauern olfaktorisch zu sehr auf die Pelle gerückt. Buchstäblich steht Düsseldorf nach Erkrankung des Intendanten Holm, der sein Amt abgegeben hat, vor der Frage, was für ein Theater hier denn nun eigentlich gefällt – solange die Antwort noch gesucht wird, scheint das Beste zu sein: Einfach weiterspielen…

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Essener Philharmoniker: Neues Vergnügen an Tschaikowsky

Ur- und Erstaufführungen sind selten in den auf reibungslosen Genuss ausgerichteten Sinfoniekonzerten der Essener Philharmoniker.

So ist das fünf Jahre alte Schlagzeugkonzert des 54jährigen Engländers Simon Holt eine exotische Wahl. Obwohl das etwa halbstündige Werk mit dem Titel „A table of noises“ eher durch die virtuosen Partien für den Solisten Colin Currie als durch entschlossene Neutönerei auffällt, war der Beifall am Ende matt und ratlos. Tapfer hörte man sich die luftigen Xylophon-Soli an, die aparten Klangfarben der Bassklarinette bei ihrem „Treffen“ mit dem Schlagzeug, die fein strukturierten Dialoge mit dem sparsam eingesetzten Orchester. Man spürt, dass Holts Liebe der Kammermusik gilt.

Aber auch der Dirigent Thierry Fischer pflegt einen bewusst auf Transparenz ausgerichteten Ansatz. Das kommt dem Zugstück dieses fünften Sinfoniekonzerts der Saison, Tschaikowskys unverwüstlicher Fünfter, zugute. Kein luxuriöses Schaustück wird herauspoliert; keine „russische Seele“ tobt sich in prallem Fortissimo und saftig ausgepinselten Harmonien aus. Wo andere ihre Orchester schon beim ersten Aufbeghren auf Hochspannung treiben, herrscht bei dem Schweizer Dirigenten noch achtsames Mezzoforte. So hat er den Raum, dynamische Spannungen wirklich auszunutzen, Höhepunkte wie den ersten Blecheinsatz im ersten Satz auszukosten.

Und selten hört man eine so kluge Disposition von Lautstärke und Klang wie von den düsteren Piano-Abgründen des Beginns bis zur leidenschaftlichen Bestätigung des berühmten „Schicksalsmotivs“. Auch die Philharmoniker können so – etwa in den Horn- und Klarinettensoli – ihre Fähigkeit zeigen, Klang zu schattieren, zu differenzieren, allmählich zu steigern. Die lyrischen Qualitäten, die auch Orchesterchef Stefan Soltesz immer wieder abfordert, werden durch Fischers Dirigat aufs Schönste entfaltet. So begegnet man selbst der abgegriffenen Tschaikowsky-Sinfonie mit Vergnügen und neuem Interesse.




Schnee statt Feuer: Die Csárdásfürstin am Theater Dortmund

Heike Susanne Daum als Csárdásfürstin mit Peter Bording als Edwin, Sohn des Fürsten zu Lippert-Weylersheim (Foto: Thomas M. Jauk)

Heike Susanne Daum als Csárdásfürstin mit Peter Bording als Edwin, Sohn des Fürsten zu Lippert-Weylersheim (Foto: Thomas M. Jauk)

Das Regieteam ist längst in alle Winde zerstreut. Angereist sind dafür die Kostüme und das Bühnenbild: Vom Staatstheater Nürnberg wurden sie für die Premiere der Operette „Die Csárdásfürstin“ zum Theater Dortmund gebracht. Hier erhält der Besucher statt eines Programmhefts nur mehr ein mageres Faltblatt. Das sind die Folgen von Sparmaßnahmen, die das Haus in seinem Kampf um größeren Publikumszuspruch verzweifelt auszugleichen versucht.

Nach Kräften müht sich das Dortmunder Ensemble, der in Nürnberg abgespielten Produktion neues Leben einzuhauchen. Aber so viel die Akteure auch auf dem Tisch tanzen mögen: Die Inszenierung der Berliner Choreographin und Regisseurin Ricarda Regina Ludigkeit, die sich auf ein Konzept des Gärtnerplatz-Theaterintendanten Josef Ernst Köpplinger stützt, ist viel zu schwach und zu schwunglos, um das ungarische Feuer von Emmerich Kálmáns Publikumshit zu entzünden. Selbst die Dortmunder Philharmoniker, die unter Leitung von Philipp Armbruster wirbelnde Csárdás- und schmachtende Walzerklänge anstimmen, klingen dafür oft zu behäbig.

Im historisierenden Ambiente, gerahmt von einer stuckverzierten Säulenfront, konzentriert sich die Regie vor allem darauf, niemandem weh zu tun. Der soziale Sprengstoff, der durch Standesdünkel entsteht, bleibt ebenso zaghaft gestreift wie der plötzliche Kriegsausbruch auf dem Balkan, den Soldaten durch ein chaplineskes Spiel mit der Weltkugel andeuten. So versinkt die Operette müde im Plüsch des Theatersessels, statt mit gefährlicher Leichtigkeit auf dem Abgrund zu taumeln. Im Bühnenhintergrund, wo es unentwegt schneit, öffnen sich immer wieder Türen, um den Blick auf traumgleiche Bilder frei zu geben. Dieser szenische Adventskalender, übrigens weitgehend sinnbefreit, lenkt indes nicht davon ab, wie zäh die Regie mit Kálmáns Operette ringt.

Unterdessen hat Heike Susanne Daum in der Titelpartie ein Glaubwürdigkeitsproblem. Von Statur und Ausstrahlung könnte sie eher als Edwins Mutter durchgehen als für dessen große Liebe. Für eine Varieté-Tänzerin wirkt sie zu unbeweglich; für eine große Diva fehlt ihr die Eleganz. Stimmlich bietet sie robuste, nicht ohne Druck erreichte Höhen, die hart in galligen Trotz umschlagen können. Peter Bording, der als Edwin für den erkrankten Lucian Krasznec einspringt, hebt das Niveau des Abends mit seinem angenehm balsamischen Tenor um eine beachtliche Stufe an. Dies lässt sich sonst nur noch von schauspielerischen Einzelleistungen sagen: Zum Beispiel von Thomas Günzler, der einen grandios verschlampten Wiener Portier mimt, und von Johanna Schoppa, die als Frau des Fürsten zu Lipper-Weylersheim eine wunderbar raue Herzensweisheit verströmt. Selbst der unverwüstliche Hannes Brock (als Feri Bácsi) und der gut disponierte Opernchor können an diesem Abend nicht viel ausrichten.

Nur die gute Zusammenarbeit mit anderen Bühnen erlaube es dem Dortmunder Opernhaus, noch immer zehn Neuproduktionen pro Spielzeit herauszubringen, betonte Intendant Jens-Daniel Herzog im Anschluss an die Premiere. Im Vergleich zu den fünf Premieren des Essener Aalto-Theaters klingt das zunächst imposant. Ob die schiere Quantität wirklich einen Ausweg aus der Krise bietet und ob sich diese Vielzahl auf Dauer stemmen lässt, steht freilich auf einem anderen Blatt. Gerüchte besagen, dass Dortmunds Stadtväter in der kommenden Opernsaison weitere Einsparungen in Höhe von 750.000 Euro verlangen werden.

(Informationen zum Stück: http://www.theaterdo.de/detail/event/1835/)




Aus legendären Zeiten beim Suhrkamp-Verlag: Briefwechsel zwischen Handke und Unseld

Welch ein Autor! Welch ein Verleger! Welch ein schwieriges Wechselspiel.

Mit solchen Ausrufen, zuweilen auch Seufzern, könnte man diese umfängliche Lektüre begleiten und beschließen: Peter Handkes Briefwechsel mit dem einstigen Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld hat zwar hin und wieder überraschend kleinliche, oft aber auch erhebende oder sogar monumentale Momente. Hier begegnen sich zwei Menschen, die einander bestärkt und die je auf ihre Weise Literaturgeschichte geschrieben haben.

Wer Handke nur für einen Bewohner des Elfenbeinturms hält, wird sich vielleicht wundern, wie penibel und argwöhnisch er – wenn es um seine Werke geht – Auflagenhöhen, Werbeaufwand und vor allem Honorare überwacht. Ohne Vorschüsse und Darlehen wäre es ja zu Beginn auch schwerlich gegangen. Doch hernach hat er den Ruhm des Verlages wahrlich gemehrt. Es war ein Nehmen und Geben. Und manchmal war es ein Fest.

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Unseld jedenfalls muss ihm häufig Rechenschaft ablegen und ihn von Zeit zu Zeit mit solchen Versicherungen beschwichtigen: „Für mich bist du der wichtigste Autor des Verlages.“ Nur gut, dass die Suhrkamp-Autoren in aller Regel nicht gewusst haben, was Unseld jeweils den anderen geschrieben hat. In Stunden der wunden Empfindung konnte Handke aber selbst auf Lob und Preis so trübselig antworten: „Und möchte nichts hören von ,großem Erfolg’ und ,wichtigstem Autor’. Das tut mir NUR WEH.“

Geistvoller Geschäftsmann mit Hang zu großzügigen Gesten

Diesen Siegfried Unseld muss man einfach bewundern. Es ist phänomenal, wie einlässlich und genau er sich mit Handkes Schriften befasst, auch wenn der Sensibilissimus manchmal meint, man behandle ihn lieblos und nachlässig. Wie Unseld trotz aller literarischen Begeisterungsfähigkeit und trotz aller Neigung zur großzügigen Gesten immer noch genug Geschäftsmann bleibt, um den Verlag in Schwung zu halten! Wie behutsam er lavieren muss, um einen schwierigen, oft divenhaft sich gebenden Charakter wie Handke nicht zu verprellen. Wenn man sich vorstellt, mit wie vielen ähnlich eigensinnigen Autoren er teilweise zur gleichen Zeit zu tun hatte (man denke allein an Martin Walser, Max Frisch, Uwe Johnson oder Thomas Bernhard), so ist des Staunens kein Ende. Er war ein Verleger-Genie. Und sein damals noch traditionell in Frankfurt angesiedelter Verlag war der beste im Lande und darüber hinaus. Das waren Zeiten.

Zwischendurch fragt man sich unwillkürlich, was Unseld wohl zur heutigen, durchaus misslichen Situation des Suhrkamp-Verlages (der bekanntlich im Streit zwischen den Eigentümern zerrieben zu werden droht) gesagt und vor allem, was er dagegen unternommen hätte. Doch derlei Gedanken sind müßig. Die Lebenden müssen es ausfechten, ohne dass alles zerbricht. In diesem Sinne kann man auch den beteiligten Juristen nur eine glückliche Hand wünschen.

Ein junger Dichter ohne Konto und Telefon

Zurück zum Buch. Der bis zum April 2002 reichende Briefwechsel Handke/Unseld setzt 1965 ein, als die später so innige und fruchtbringende Verlagsbeziehung angebahnt wird. Zu jener Zeit verfügt der junge Dichter weder über ein Konto noch über ein eigenes Telefon…

Alsbald entfaltet sich mit dem rasch wachsenden Oeuvre eine (manchmal gefährdet erscheinende) Freundschaft zwischen Autor und Verleger, Handke selbst spricht in der Rückschau lieber von Brüderlichkeit.

Peter Handke wird, so gut es eben geht, sehr früh auch an Details der Buchherstellung beteiligt. Er legt größten Wert auf minimale Änderungen in Textdarbietung oder Umschlaggestaltung und kann über Druckfehler äußerst zornig werden. Lektoren und andere Suhrkamp-Mitarbeiter hatten es gewiss nicht leicht („Es ist klar, dass die Korrektoren und Setzer da eine schmähliche Arbeit geleistet haben…“).

Diese kostspieligen Korrekturen

Handkes nachträgliche Korrekturen auch inhaltlicher Art sind mitunter so ausufernd und treffen zeitlich so knapp ein, dass ein kompletter Neusatz der Texte erforderlich wird und Produktionsabläufe ins Schlingern geraten. Da erinnert Unseld auch schon mal an die immensen Extrakosten solcher Maßnahmen – freilich mit Engelszungen. Verstimmt ist Unseld allerdings, wenn der Österreicher Handke einzelne Texte an den Salzburger Residenz Verlag gibt. Das wertet er als eine Art Treuebruch.

Die insgesamt 611 Briefe drehen sich über weite Strecken fast ausschließlich um Werkprozesse, Verlags- und Buchmarkt-Angelegenheiten. Sofern Handke für Theater und Film arbeitet, werden natürlich auch diese Bereiche berührt.

Politische Zeitläufte gleiten fast spurlos vorüber

Bereits am 27. Januar 1967 schreibt Peter Handke: „Die Zeit der engagierten Literatur ist vorbei, es kommt eine Zeit der Reflexion, hoffe ich…“ Zeitgeschichtliche Vorgänge (wie etwa 1968 und die Folgen oder die „bleierne Zeit“ der späten 1970er) gleiten denn auch in diesem Briefwechsel beinahe spurlos vorüber, auch sucht man später Äußerungen über die Fährnisse der deutschen Vereinigung vergebens. Handkes sehr eigenwillige Position zu Serbien und Jugoslawien spiegelt sich jedoch auch in einigen Briefen. Unseld nahm ihn hierbei vor Angriffen in Schutz und übte keinerlei Zensur, erlaubte sich allerdings, in der Sache wesentlich anderer Meinung zu sein.

Bei so manchen literarischen Gipfeltreffen, die am Rande vorkommen, hätte man liebend gern am Nebentisch gesessen: Was hat Handke in Paris im Beisein Unselds mit Samuel Beckett und Paul Celan beredet? Worüber hat er sich mit dem anfangs noch geschätzten Thomas Bernhard unterhalten, dessen Schöpfungen („Es ist so eine schamlose Schein-Literatur“) er später in Bausch und Bogen verworfen hat? Doch was soll die unsinnige Neugier? Was bleibt, sind ohnehin die Bücher, die quer durch die Zeiten miteinander sprechen.

Man erfährt hier einiges über die Höhenkämme des Literaturbetriebs. Liest man auch all die Anmerkungen und Auszüge aus Unselds Notizen mit, die manches erst richtig erschließen, so hat man einige Zeit gründlich mit dem Buch zu schaffen. Es ist schon interessant zu verfolgen, wer sich wann mit welchen Mitteln für oder gegen wen einsetzt und wie beispielsweise Preisträger gekürt werden.

Die Wut auf Rezensenten

Beinahe schon alttestamentarisch ist bisweilen Handkes Furor, vor allem, wenn er sich gegen Kritiker (speziell Marcel Reich-Ranicki) richtet. Einmal verlangt er, die Rezensenten gar nicht mehr vorab zu bemustern: „Und ich bitte noch einmal, zu beachten, daß es keine Besprechungsexemplare geben soll, für niemanden.“

Unmittelbar nach Abschluss seiner Manuskripte, in deren Wortgefüge er sich zutiefst hineinbegeben hat, ist Handke verständlicherweise ungemein empfindlich und reizbar. Einige Male trifft der Bannstrahl eben auch Unseld („Unsere Wege trennen sich hiermit, unwiderruflich“), der ein fertiges Opus nach Handkes Ansicht mal zu langsam liest oder mal zu beliebig und gleichgültig lobt. Doch letzten Endes ist Handke dann doch immer dankbar gewesen, einen so geist- und kraftvollen Tatmenschen neben sich zu wissen. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

Peter Handke / Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp Verlag. 798 Seiten mit Anhang, Registern sowie einigen Schwarzweiß-Fotos. 39,95 Euro.




Eine stolze Partei feiert ihren 150. Geburtstag – ein Geschichtsbuch gehört dazu

In diesem Jahr feiert die deutsche Sozialdemokratie ihren 150. Geburtstag. Stolz erklären ihre Anführer, die älteste demokratische Partei Europas zu sein, und die SPD sei nie – wie andere – gezwungen gewesen, ihren Namen ändern zu müssen. Am Gründungstag, dem 23. Mai, wird es in Leipzig einen pompösen Festakt geben. Möglicherweise beehrt ja sogar die Bundeskanzlerin ihre politischen Gegner mit ihrer Anwesenheit.

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Passend zu diesem Jubiläum ist im parteieigenen Vorwärts-Buchverlag ein neues Buch über die Geschichte der SPD erschienen: Peter Brandt, Sohn des ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt und Professor für Geschichte an der Fernuniversität Hagen, hat es zusammen mit Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, verfasst. „Mehr Demokratie wagen – Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010“ heißt das Werk mit dem wissenschaftlichen Anspruch, das aber dennoch leicht lesbar geworden ist.

Das Anfangsjahr mag irritieren, aber natürlich entstand die Partei der Arbeiterbewegung nicht im luftleeren Raum. Vom Frühsozialismus in den Auslandsvereinen der Handwerksgesellen schreiben die Autoren ebenso wie über den Verlauf und das Scheitern der Revolution 1848/49, bevor sie auf Ferdinand Lassalle und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein kommen – die Keimzelle der späteren Partei SPD. Über die Bismarckjahre und die Kaiserzeit geht es weiter in die Weimarer Republik und zur Beschreibung der standhaften Weigerung der Sozialdemokraten, die Machtübergabe an Hitler und die Nationalsozialisten zu akzeptieren. Verfolgung und Exil waren das zwangsläufige Ergebnis.

Interessanterweise nennen die beiden Autoren ihr letztes Kapitel „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts oder neue Umbruchzeit 1980-2010?“ Vom „stufenweisen Machtverlust“ und der „Suche nach dem SPD-Milieu“ ist da die Rede. Ihr Fazit? „Die Zukunftsaussichten der SPD als einer Partei eigener Prägung hängen letztlich davon ab, ob die herrschende Variante des finanzmarktdominierten Kapitalismus sich immer weiter durchsetzen wird.“

Wissenschaftlich will diese Geschichtsschreibung sein, fast 600 Anmerkungen und eine ausführliche Literaturliste finden sich im Anhang, aber natürlich – das zeigt schon der herausgebende Verlag – werden die Sympathien für den Gegenstand der Untersuchung nicht verheimlicht. Von Willy Brandts Sohn hätte man wohl auch nichts Anderes erwartet.

Peter Brandt/Detlef Lehnert: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010. Vorwärts buch Verlag, Berlin. 296 Seiten. 20 Euro.




Dortmund in den 20er Jahren: Groß- und Weltstadtträume in der westfälischen Provinz

Dortmund in den 1920er Jahren – war da was? Da wird doch wohl nicht viel „Betrieb“ gewesen sein, oder?

Nun. Wie man’s nimmt. Es war gewiss kein Vergleich mit Berlin. Auch war es kein goldenes, aber doch ein vielfach hoffnungsvolles Jahrzehnt in Westfalens größter, seinerzeit (bis zur Weltwirtschaftskrise 1929) deutlich aufstrebender Stadt. Für den Sammelband „Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise“ haben 23 Autor(inn)en jeweils in kurzen Aufsätzen einige Grundlinien der damaligen Entwicklung skizziert, die sich nach und nach zum facettenreichen Bild fügen. Hierauf könnten künftige Standardwerke aufbauen.

Das thematische Spektrum reicht von Bergbau und Brauereien über Begleitumstände der Motorisierung und den früheren Flughafen – bis hin zur lokalen Politik, zum Theater, der blühenden Kinolandschaft (angesichts der heutigen Dürftigkeit muss man da unwillkürlich seufzen) und den offenbar beachtlichen Vergnügungslokalen. Jawohl. Es hat da ein paar imponierende Etablissements gegeben, die national wohl allenfalls hinter Berlin oder Hamburg zurückstanden. Mehr noch: Die 1925 eröffnete, „alte“ Westfalenhalle (1952 völlig veränderter Neubau nach Kriegszerstörung) mit ihren Sechstagerennen, Boxereignissen oder Max Reinhardts gigantischen Mysterienspielen („Das Mirakel“) weckte bei manchen Menschen gar Weltstadt-Illusionen. Doch schon damals hat man sich des Bahnhofs geschämt, der nicht ins lokalpatriotische Wunschbild passen wollte. Es gibt Dinge von unheimlicher Dauer.

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Immerhin erschien in Dortmund der tief bis ins Rheinland ausstrahlende, erzdemokratische „Generalanzeiger“ (GA), die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung außerhalb Berlins. Nebenbei geflüstert: Es macht einen geradezu ein klein wenig stolz, zu Beginn des Berufslebens noch in einstigen GA-Gebäuden an der Bremer Straße gearbeitet zu haben. Jetzt aber Schluss mit Rührseligkeit! Zumal Dortmund heute – so betrüblich man das finden mag – leider keine Pressestadt von exzellentem Rang mehr ist.

Das literarische und künstlerische Leben der 20er Jahre wird auf lokaler Ebene zwar abgehandelt, es hat jedoch bei weitem nicht die Dimensionen und Wirkkräfte des populären Amüsements erreicht. Auch hierbei kann man in der Stadt missliche Nachwirkungen bis in die heutige Zeit spüren.

Auch im Dortmund der 1920er kann man von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprechen: proletarische Lebensformen, natürlich; provinzielle Enge und dörfliche Lebensweise in den Vororten; als Gegenkraft der feste bürgerliche Wille, endlich urban zu werden in einem entschieden modernen Sinne, wobei freilich die technisch-industriellen Aspekte der Moderne überwogen. Die Ideen der Futuristen und deren bedingungslose Maschinen-Begeisterung gaben den Takt vor. Da ließ man auch jede Rücksicht auf die Reste der mittelalterlichen Stadt fahren. „Vorwärts, vorwärts“ hieß die hämmernde Devise.

Alles, was irgend nach Großstadt roch, sollte gesteigert werden. In der Folge sind eine ganze Reihe von Gebäuden, die teilweise noch heute das Stadtbild mit nüchtern-neusachlichem Gestus prägen, in jenen Jahren entstanden. Zu nennen sind vor allem der mächtige Turm der Dortmunder Union-Brauerei (heute „Dortmunder U“) sowie der Dreiklang aus Westfalenhalle (1925), Kampfbahn Rote Erde (1926) und Volksbad (1927).

Übrigens gilt es gerade jetzt, ein weiteres wuchtiges Baudenkmal der 20er zu retten, nämlich die kühn geschwungene, bisherige AOK-Zentrale am Königswall. Deren ursprüngliche, zwischenzeitlich mit Platten verblendete Fassade muss nach dem kürzlich erfolgten Auszug der Krankenkasse unbedingt wieder ans Licht geholt werden. Alles andere wäre Frevel.

„Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise“. Sonderausgabe der Zeitschrift „Heimat Dortmund“ (Doppelheft 1+2/2012). Hrsg.: Günther Högl (ehem. Stadtarchiv-Leiter) und Karl-Peter-Ellerbrock (Direktor Westfälisches Wirtschaftsarchiv). Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten. 10 Euro.




Meilensteine der Popmusik (26): The Eagles

Spätestens mit den Beach Boys lernten auch Nicht-Amerikaner das gelobte Land kennen: Kalifornien. Die Musik der amerikanischen Westküste hatte Einfluss auf vieles, was in den 60er und 70er Jahren in den internationalen Hitparaden landete.

EaglesDie Eagles z.B. mischten kalifornischen Surf-Sound und Country-Rock, schufen einen neuen Standard, an dem sich die Konkurrenz die Zähne ausbeißen sollte. Die ehemalige Begleitband von Linda Ronstadt beschloss 1971, sich einfach selbstständig zu machen. Eine gute Entscheidung: sie wurde eine der erfolgreichsten Formationen der 70er. Unter den vier Gründungsmitgliedern war kein einziger waschechter Kalifornier zu finden.

Doch Kalifornien ist überall. Genauso wie die anfangs banale Themenauswahl; wie so oft in der Popgeschichte ging es um Mädchen, Autos und Rock’n‘Roll. Bei dieser Belanglosigkeit setzten auch die Kritiker der Eagles an, und davon gab es reichlich in den USA. Es wurden regelrechte Kampagnen geführt, gegen dieses, wie sie sagten, oberflächliche Gesäusel, zumeist beherrscht von einer Art Verherrlichung längst vergangener Cowboy-Romantik: Männer haben die Power, Frauen sind hübsches Beiwerk. Und schon jubelten die Patrioten, die in den Eagles eine treibende Kraft des amerikanischen Traumes sahen: Unschuld, Versuchung, Ernüchterung. Das Leben in Kalifornien war plötzlich wieder sinnbildlich für eine ganze Nation.

Das Mediengezerre um ihre Musik interessierte die mittlerweile fünf Eagles 1976 herzlich wenig. Erstens gab ihnen der Erfolg recht, zweitens hingen sie schon fast neun Monate im Studio rum, mehr oder weniger abgeschnitten von der Außenwelt. Geplant war ein Album, das an Perfektion alles bisher Dagewesene übertreffen sollte. Der Gitarrist Don Felder erklärte es so: „Das einzige Problem der Band ist, dass wir einen so hohen Standard anlegen – an das, was wir spielen, an die Texte, die wir schreiben, an unsere Bühnen-Show. Nach einiger Zeit geht das jedem von uns auf die Nerven. Aber es ist unser Ziel, das Beste daraus zu machen. Jeder kleinste Teil einer Produktion wird immer und immer wieder verfeinert“.

Sänger und Gitarrist Glenn Frey hat es einmal mit dem Schreinern eines Tisches verglichen: „Du kloppst nicht einfach ein paar Holzstücke zusammen und schüttest dann den Lack drüber. Es dauert seine Zeit, ihn abzuschleifen und die richtigen Beschläge zu finden, denn du baust ein Meisterstück. Du versuchst, etwas zu schaffen – ein Zeichen seiner Zeit“.

Keine Frage, dass Don Henley, Glenn Frey, Don Felder, Joe Walsh und Randy Meissner dieses Ziel damals erreicht haben. Nach ihrem Meisterstück „Hotel California“ brauchten sie 1 1/2 Jahre Pause, so leergepumpt waren sie. Am meisten hatte sie das Titelstück beansprucht. Es war von vornherein als Single vorgesehen, doch veränderte sich das Stück im Laufe der aufreibenden Produktionsarbeit so sehr, dass die Eagles beim Abhören der letzten Mischung immer skeptischer wurden, und eine größere Akzeptanz dieses Liedes nicht mehr einkalkulierten.

Hier lagen sie dann doch einmal falsch, denn ihre Abrechnung mit Sonne, Strand, Geld und ewiger Jugend, mit Flower Power und Show-Business, mit Verführung und Verlogenheit, eben mit ihrer Vorstellung des gelobten Landes Kalifornien, wurde für die Eagles zum größten Erfolg überhaupt. Der ganze Song beschrieb von vorne bis hinten einen Alptraum – das Hotel Kalifornien, das sich nur durch Ausweglosigkeit auszeichnet: „Das Letzte, an das ich mich erinnern kann ist, dass ich den Ausgang suchte. Ich musste einfach die Rückfahrkarte finden zu dem Ort, wo ich eigentlich herkam. ‚Entspannen Sie sich‘ sagte der Nachtportier  ‚wir haben hier nur gelernt, Gäste zu empfangen. Sie könnten zwar jederzeit auschecken, aber wirklich abreisen können sie nie aus diesem Hotel California …‘“

the Eagles on youtube

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22), The Kinks (23), Michael Jackson (24), Bob Dylan (25)




Hinter jeder Wand eine andere Welt – Marie NDiayes Roman „Ein Tag zu lang“

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Kennen Sie auch dieses seltsame Gefühl, dass die Wirklichkeit nur eine bröckelnde Fassade ist, hinter der eine ganz andere Welt lauert?

Dass die Realität nur ein Gedankenkäfig ist, der unsere Fantasie gefangen hält? Dass nur ein winziger, unachtsamer Schritt nötig ist, um vollends die Kontrolle über unseren Alltag zu verlieren und in ein neues Leben zu geraten, das wir einfach nicht verstehen?

Genau das widerfährt dem Lehrer Herman, der jeden Sommer mit seiner Familie aus dem lauten, heißen Paris flieht und die Ferien in seinem Haus in der französischen Provinz verbringt. Herman begeht den unverzeihlichen Fehler, einen Tag länger als sonst zu bleiben: und schon gerät alles aus den Fugen. Seine Frau und sein Kind sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, und niemand im nahe gelegenen Ort hat Interesse daran, Herman behilflich zu sein und die Verschwundenen zu suchen.

Und dann das Wetter! Wo sonst für Herman nur eitel Sonnenschein herrscht, bricht von einem Tag zum anderen der Herbst aus. Es regnet ununterbrochen, und nicht nur die Wege, auch die Welt, so wie sie Herman kannte, versinkt in einem undurchdringlichen Schlamm aus Lug und Trug. Ob Herman jemals wieder aus diesem Labyrinth aus Schein und Sein hinausfinden kann, ist doch sehr die Frage. Herman, so wie ihn Marie NDiaye in ihrem neuem Roman „Ein Tag zu lang“ zeichnet, erinnert mehr als nur ein bisschen an Franz Kafkas Landvermesser Josef K., der, je dringlicher er dem Schloss zustrebt, sich desto weiter von seinem Ziel entfernt. Wie Josef K. kann sich auch Herman nicht dagegen wehren, seine ursprünglichen Absichten fast gänzlich zu vergessen und seine Identität aufzugeben.

Die französische Autorin, die für ihren Roman „Drei starke Frauen“ die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, den Prix Goncourt, bekam, lebt seit einigen Jahren mit ihrer Familie in Berlin. Aus der Ferne und mit den Augen von Josef K. schaut sie auf ihre französische Heimat wie auf ein Bild der Surrealisten. Hinter jedem Spiegel lauert ein neuer Spiegel, hinter jeder Wand eine andere Welt. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Normalität und Wahnsinn, Fiktion und Fantasie verschwimmen genauso wie die Vorurteile zwischen Großstädtern und Provinzlern. Im Dauerregen lösen sich alle Gewissheiten auf. Herman wird zum Dorfbewohner und wird irgendwann Frau und Kind wiedersehen. Aber werden sie ihn auch erkennen? Und wird Herman seine Familie und sein altes Leben überhaupt zurückhaben wollen?

Marie NDiaye: „Ein Tag zu lang“. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, Berlin 2012, 159 S., 17,95 Euro.




Ein seltenes 24-Stunden-Freiluft-Museum mit alten Metall-Maschinen

Niemand zweifelt an der Bedeutung des Ruhrgebiets für die deutsche Industriegeschichte. Früher bezeichnete man das Revier übrigens in offiziellen Quellen als „rheinisch-westfälisches Industriegebiet“. Aber der Ursprung dieser Industrie liegt etwas weiter südlich, in den idyllischen Tälern des Sauerlandes, an den Nebenflüssen von Ennepe und Lenne, Volme und Ruhr. Hier begann die systematische Entwicklung der Erz-Verhüttung und der Kleineisenindustrie, angetrieben von der reichlich vorhandenen Wasserkraft.

PRAKTICA

Blick in die Museumshalle.
(Foto: lwl)

Manche Städte dort haben zur Erinnerung an diese Geschichte Teile alter Maschinen im öffentlichen Raum ausgestellt, Schwungräder zum Beispiel, doch nirgends wurde das so konsequent gemacht wie in Ennepetal. Dort haben Privatleute vor knapp drei Jahrzehnten die Initiative für ein „Straßen-Industrie-Museum“ ergriffen. Inzwischen findet man an 27 Stellen im Stadtgebiet alte Maschinen aus der Metallverarbeitung in der Region auf Betonsockeln, davor eine in Metall gegossene Schrifttafel mit Erläuterungen über die Funktion des Teils und seiner Herkunft, also den Hersteller und das „Fabriksken“, in der das Maschinchen seine Arbeit machte.

So findet man die „Doppelarmige Exzenterpresse“ vor der Sparkasse oder die „Langhobelmaschine“ vor dem Berufskolleg, die „Stabstahl-Schere“ steht an der Sonnen-Apotheke, ein „Luftdruckhammer“ auf dem Marktplatz und der „Fallhammer mit Schmiedeofen“ vor der Hauptschule Friedenshöhe. Für dieses 24-Stunden-Museum gibt es ein Orientierungsheft mit dem Plan für einen „Spaziergang durch 400 Jahre Eisengeschichte“. Und nicht nur das Museum selbst geht auf Privatinitiative zurück: Auch die Pflege der Objekte haben „Paten“ übernommen – Schulen und Vereine, aber auch Handwerksbetriebe aus dem Stadtgebiet. Ergänzt wird das Straßenmuseum seit ein paar Jahren durch das „Industrie-Museum Ennepetal“, das ebenfalls von einer privaten Stiftung in den Räumen einer denkmalgeschützten ehemaligen Eisengießerei aufgebaut wird und das von April bis November jeweils am ersten Sonntag eines Monats bei freiem Eintritt öffentlich zugänglich ist.

Weitere Informationen:

http://www.ennepetal.de/Strassenindustriemuseum.485.0.html

http://www.industrie-museum-ennepetal.de




Familienfreuden VII: Vorsatz Nummer Eins – Windeleinfühlungsvermögen

 

Auch ein Baby kann Vorsätze haben. Bild: Nadine Albach

Auch ein Baby kann Vorsätze haben. Bild: Nadine Albach

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Beim Aufräumen habe ich jetzt einen merkwürdigen Zettel gefunden. Ganz klein und schwer zu entziffern. Mittlerweile bin ich aber der Überzeugung: Es ist die Liste mit guten Vorsätzen unserer Tochter Fiona.

So etwas kann man sich offenbar schon vornehmen, wenn man gerade erst ein paar Monate auf der Welt ist.

Die Liste will ich den Revierpassagieren natürlich nicht vorenthalten – vielleicht fühlen Sie sich ja inspiriert?

Hier also die guten Vorsätze von Fiona für 2013:

  • Muss Fassungsvermögen meiner Windeln besser beachten!
  • Will an meiner Aussprache arbeiten: Selbst für mich klar artikulierte Wünsche werden nur unzureichend verstanden. Dabei ist doch logisch, dass „Aaaaoouuu“ heißt, dass ich mir den gelben Spielzeugzwerg vorknöpfen will. Vielleicht muss ich auch langsamer sprechen.
  • Treffsicherheit verbessern – vor allem, wenn es darum geht, den Brei in den Mund zu kriegen. Den letzten großen Pastinakenkrieg habe ich eindeutig verloren.
  • Zuneigungsbekundungen überdenken: Mochte die Tante doch so gern, der ich jüngst auf den Schal gespuckt habe…
  • Nicht mehr alles in den Mund stecken, zumindest nicht gleichzeitig. Obwohl… warum eigentlich nicht?
  • Muss dringend herausfinden, wie die beiden Leute heißen, die mich da ständig umschwirren. Werde sie einfach Mama und Papa nennen.
  • Muss Mama und Papa dringend neue Lieder beibringen. Kann „Die Affen rasen durch den Wald“ nicht mehr hören.
  • Alle Menschen anlächeln – verbreitet Fröhlichkeit.

 

In diesem Sinne: Guten Start in ein glückliches 2013!




Vor 45 Jahren: „Zur Sache Schätzchen“

Als ich heute morgen wie gewohnt meiner Leib-und-Magen-Sendung „Zeitzeichen“ lauschte, überkam mich das gewaltige Grinsen. Das hatte den Vorteil, dass auf dem Bahnsteig niemand die scheibenwischende Bewegung vollzog, weil ich eben nicht lauthals lachte und man hätte denken können, dass ich wohl einen an der Waffel habe. Es beim Grinsen zu belassen, fiel mir leicht, hat dieser Gesichtsausdruck doch etwas von wohlwollender Weisheit und warmer Rückschau.

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Was da mein zugegebenermaßen träumerisches Nostalgie-Gemüt bewegte? Am 4. Dezember 1968 wurde der Film „Zur Sache Schätzchen“ von May Spils uraufgeführt und führte dazu, dass ein Schwarz-Weiß-Streifen mit dem possierlichen Budget von 350.000 Mark (Für die, die nur Euro kennen, das waren ca. 175.000 Euro.) mitten in den Bierernst aufrührerischer Zeiten ausgelassene Heiterkeit kübelte und Typen als solche geradezu adelte, die den Tag vergammelten und sekündlich saucoole (den Begriff gab es zwar noch nicht, aber coole Typen gab’s) Sprüche absonderten und die uniformierte Staatsgewalt nicht mit Eiern oder ähnlichem bewarfen, sondern sie nach Strich und Faden verarschten, eben nicht ernst nahmen.

„Zur Sache Schätzchen“ war kein großer Film und auch nicht die Antwort auf das frankophone Kino seiner Zeit. Es war nicht einmal ein Spross des „Neuen deutschen Films“, der im allgemeinen ziemlich schwermütig daherzukommen pflegte. Aber er war ein Film, den mensch nie vergaß, den mensch sich noch heute anschauen kann. Er ist zeitlos und er zeigt, was in der Zeit, zu der er spielt, los war.

May Spils, die eine Hypothek, die sie auf den elterlichen Hof aufnahm, verfilmte, schrieb das Drehbuch gemeinsam mit Freund Werner Enke. Und der war dann auch Hauptdarsteller des Films – oder mehr seiner selbst. Denn bisweilen erschien er erst gar nicht am Set oder wollte gleich wieder verschwinden, weil er an dem Drehtag „so Scheiße aussah“. Die geliebte May und das „Schätzchen“ Uschi Glas mussten dann angestrengt sein fabelhaftes Aussehen preisen, um ihn bei der Arbeit zu halten. Produzent Peter Schamoni dankte es den beiden immer wieder mit ungespielter Erleichterung.

Dafür schenkte Werner Enke der deutschen Umgangssprache jede Menge Floskeln, die ihr bis dahin nicht wirklich bekannt waren. „Fummeln“ im Sinne von zwischenmenschlichem Körperkontakt (damals höchstens mal im Sinne von „Fummel nicht in den Haaren rum!“ benutzt) beispielsweise oder „abgeschlafft“ für antriebsarm oder so was. Ich maule heute noch allzu rasante Chauffeure mit den Worten an: „Fahr‘ nicht so einen harten Reifen!“. Das sagte Werner Enke zu einem Freund, der sein Auto von einer Münchner Straßenbahn schleppen ließ. Und wenn es wieder mal ganz übel kommt, so Schicksal oder ähnliches, dann kommt unweigerlich: „’s wird böse enden.“ Aber ich gestehe, so schön sonor und gelangweilt wie Werner Enke kriege ich das nicht hin.

Das „Schätzchen“ war d e r Erfolgsfilm der End-60er und ihres Stimmungsbildes. Millionen amüsierten sich über die anarchisch-flippigen Ideen, die eine Handlung begleiteten, die eigentlich keine richtige war. Sie begeisterten sich am possierlichen Uschi-Glas-Figürchen und ihrer Film-Figur. Irgendetwas zwischen Setzkasten und begabter Schauspielerei. Reichlich Nacheiferer liebten den luschigen Werner und wollten wie er sein, was vielen nicht schwer fiel, denn sie waren längst wie er. Und ich kann noch heute über abgeschlaffte Scherze grinsen, obwohl ich seit dem 4. Dezember 1968, also vor 45 Jahren, schon reichlich mehr im Kino sah und manche Filme besser waren. Aber das „Schätzchen“ konnte eben zeitlos sein und zugleich zeigen, was in der Zeit los war.

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Hier ein Trailer zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=P9EsMknKgSI




„Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich…?“ – Gerhard Henschels „Abenteuerroman“

Wenn ein Autor sein Buch Abenteuerroman nennt, startet das Kopfkino des Lesers. Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ oder vielleicht auch Stevensons Schatzinsel dürften ihm in den Sinn kommen. Der Schriftsteller Gerhard Henschel, der sich hier zu Wort meldet, wählt indes vermeintlich banalere Motive, lässt er doch einen jungen Mann namens Martin Schlosser über sein Leben Anfang der 1980er Jahre erzählen.

Die Fans von Henschel kennen die Hauptfigur aus den Vorgängerbüchern („Kindheitsroman“, Jugendroman“, „Liebesroman“). Schlosser lebt jetzt in der tiefen Provinz, dem niedersächsischen Meppen. Die Handlung beginnt, als er kurz vor dem Abitur steht. Flockig-locker ergreift der Romanheld das Wort, der eigentlich so recht kein Wässerchen trüben kann. So hält er sich gern ein Hintertürchen offen. Beispiel Bundeswehr. Von der Wehrpflicht, so etwas hat es ja mal in der praktischen Ausführung in Deutschland gegeben, ist er ebenso wenig überzeugt wie vom Pazifismus. Also lässt sich Schlosser erst einmal auf die Bundeswehr ein. Spätestens hier bekommt der Buchtitel dann doch seine Berechtigung, sind doch die Erlebnisse abenteuerlich genug. Einer Mutprobe kommt dann schon der Antrag von Schlosser auf Kriegsdienstverweigerung gleich. Dass er so glimpflich aus der Nummer rauskommt und die Tage bis zur Entlassung ohne große Schikanen übersteht, ist für die damaligen Verhältnisse als andere als selbstverständlich.

Henschel

Frank und frei breitet Schlosser sein Liebesleben aus, wobei sich das anfangs eher bescheiden ausnimmt. Das Bild, das Autor Henschel von dem Pärchen Martin und Freundin Heike zeichnet, bleibt allerdings bis zum Schluss recht schablonenhaft. Beide sind wohl eher der friedensbewegten Anti-Atomkraft-Bewegung zuzuordnen, Heike studiert zudem Pädagogik. Martin hat es in der Zweierbeziehung stark auf das Körperliche abgesehen, wobei Heike zwar keine Kostverächterin ist, aber ihr Gegenüber gern in Gespräche mit der Überschrift „Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich und was sagt uns das?“ verwickelt.

Wann die zarten Bande wohl reißen werden, drängt sich förmlich als Frage auf, zumal beide auch abseits ihres gemeinsamen Weges eines nicht verabscheuen: Abenteuer. Womit wir wieder beim Titel wären.
Von Beginn an ist Henschels Buch wie ein Kaleidoskop angelegt. Kleine Erzählstücke fügen sich zum großen Ganzen. Martin Schlosser wechselt häufig Thema und Perspektive. Gerade noch berichtet er vom Besuch bei einem Freund, dann ist er schon wieder auf der Suche nach einer Zivildienststelle. Zwischendrin greift auch das politische Geschehen Raum (Kriegsrecht in Polen, Verhältnis BRD-DDR, Falklandkrieg, Kanzlerdämmerung) – und all das versieht der junge Mann gern mit seinen persönlichen Notizen. Nach dem Sturz von Helmut Schmidt merkt er an, dass neben Innenminister Zimmermann jetzt wohl auch die anderen Finsterlinge emporkommen würden und meint Barzel, Dregger, Wörner und vor allem Strauß, den Strippenzieher. Zu einem politischen Engagement mag sich Martin aber doch nie durchringen, er tritt vielmehr aus der SPD aus und ärgert sich, dass man ihm die Parteizeitung auch danach noch zuschickt.

Henschel formt eine Figur, die gern auch über den Dingen zu stehen scheint und die vor allem aus der Literatur Honig saugt. Gern liest Martin Schlosser Zeilen des Lyrikers Rolf-Dieter Brinkmann, der zeit seines Lebens auf der Suche nach seinem wahren Ich war. Schlosser schafft es aber augenscheinlich, innere Distanz zu wahren. Das soll ihm während der Zivi-Zeit, als er einen schwerstbehinderten Jugendlichen betreuen muss, zum Vorteil gereichen. Welchen Nutzen ihm sein Studium der Fächer Germanistik, Philosophie und Soziologie bringt, wird sich erst in einem Folgeband herausstellen. Das wäre durchaus wünschenswert.

Gerhard Henschel: „Abenteuerroman“. Hoffmann und Campe, 576 S. 24,99 Euro