Ein langer Fußballabend mit Bayern, dem BVB und ganz viel Gerede

So ein langer Fußballabend ist schon ganz schön anstrengend. Beispielsweise mit dem „Spiel der Spiele“ im DFB-Pokal: Bayern München gegen Borussia Dortmund. Um 20.15 Uhr geht’s los, um 23 Uhr ist immer noch nicht Schluss, da folgt – zum Leidwesen vieler Frauen – noch der „Sportschau-Club“. Welch ein unaufhörliches Gerede!

Mal ganz offen gesagt: Sonst erspare ich mir die Vor- und Nachbereitung und schaue mir nur die puren 90 oder auch 120 Minuten Spielzeit an. Mehr brauche ich nicht. Jetzt aber habe ich mir mal wieder die ganze Dröhnung gegeben. Puh!

Zuspitzung auf Teufel komm ‚raus

Vor dem Anpfiff wird dramatisiert und zugespitzt, dass es nur so seine Art hat. Essenz: Der Stachel der vielen Niederlagen gegen Dortmund sitzt bei den Bayern tief, sie wollen Revanche, es gehe ums Prestige, es sei eine Frage der Ehre. Nebenher kommen dann auch solche Sätze zustande: „Die Fußballwelt schaut zu – Emotionen garantiert“. Und das vorläufige Fazit vor dem Spiel? Offenbar wollen beide Mannschaften gewinnen. Wer hätte das gedacht?

ARD-Experte Mehmet Scholl (Archivbild von 2010 - © WDR/Herby Sachs)

ARD-Experte Mehmet Scholl (Archivbild von 2010 – © WDR/Herby Sachs)

Immerhin gibt es schlechtere Fußball-Duos als Gerhard Delling und Mehmet Scholl, der zuweilen erfrischend ehrlich urteilt. Seine Sympathien für den FC Bayern kann er freilich nicht ganz verbergen. Warum auch? Es wäre nur verkrampft. Apropos: Ich lebe seit Jahrzehnten in Dortmund. Zu wem habe ich wohl gehalten? Richtig. Aber ich gebe zu: Diesmal hat Bayern verdient gewonnen. Doch wartet nur ab…

Wie Steffen Simon dem Spielverlauf folgt

Es gibt auch Kommentatoren, die erheblich mehr nerven als Steffen Simon. Doch seine Bewertungen sind furchtbar opportunistisch, sie richten sich ganz nach dem jeweiligen Spielverlauf und schwanken in der Tendenz wie ein Schilfrohr im Winde. Worte wie „Mentalitätsbestie“ rutschen ihm auch mal heraus. Der Mann hat offenbar eine Heidenangst, dass er mal falsch liegen könnte. Aber nicht doch! Er passt sich jeder Wendung sofort an.

Zwischendurch und nachher werden – wie üblich – alle möglichen Leute befragt: BVB-Trainer Jürgen Klopp (leicht vergrätzt), Bayern-Coach Jupp Heynckes mit verhaltenem Triumph über einen – so wörtlich – „Gegner, der sich wehrt“, sodann die Herren Schweinsteiger und Weidenfeller, Bundestrainer Jogi Löw und und und. Die absurdeste Frage des Abends geht an Bayern-Verteidiger Philipp Lahm: „Habt ihr das so gewollt?“ Tja. Kann schon sein. Wahrscheinlich wollten sie ja wirklich überlegen sein.

Der Jux zum guten Schluss

Es ist der Selbstzweck eines solchen Abends, das Gespräch (oder auch Geschwätz) möglichst lange in Gang zu halten. Im abschließenden „Sportschau-Club“ (Gäste beim sympathischen Moderator Alexander Bommes: André Schürrle, Lewis Holtby) wird dann fast nur noch gejuxt, es geht jedenfalls betont entspannt zu. Schließlich muss auch der hartgesottene Fußballfan vor dem Schlafengehen ‚runterkommen.

Mit Arnd Zeigler hat man dabei jetzt einen ausgesprochen originellen und intelligenten Fußball-Interpreten an Bord. Da ist man doppelt froh, dass der elend gemütliche Waldemar Hartmann bei solchen Gelegenheiten nicht mehr dabei ist…

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




„ear“ schmeichelt den Ohren!

Manchmal braucht es erst ein paar Umwege und Zufälle, damit man auf etwas Besonderes stößt. Das war so im Falle meiner Ohren und der Band „ear“ – mittlerweile eine Beziehung des zumindest einseitigen Wohlgefallens. Wer seinen Gehörgängen ebenso etwas Schönes bieten möchte, hat jetzt die Chance dazu bei zwei Konzerten in Dortmund.

Die Band ear: Raphael Tschernuth und Günther Harder. Foto: www.ear-theband.com

Die Band ear: Raphael Tschernuth und Günther Harder. Foto: www.ear-theband.com

Günther Harder kannte ich „nur“ als Schauspieler im Dortmunder Ensemble unter Michael Gruner. Als einen, der auf der Bühne nicht nur steht, sondern ganz da ist, mit ausgeprägtem Sinn für Situationskomik, die er in Inszenierungen wie „Kommt ein Mann zur Welt“ von Hermann Schmidt-Rahmer aufs Köstlichste ausleben konnte. Den zutiefst zynischen Zweifler in einem Houellebecq-Best Of hat man ihm ebenso abgenommen, wie den von Schulmädchen mit großen Augen angehimmelten Schiller’schen Räuber. Und dann, eines Pressekonferenzen-Nachmittags, lehnt sich Günther K. Harder an ein Klavier und fängt einfach so an zu singen. Schön und eindringlich, das man sich wunderte, warum diese Facette einem bislang unbekannt war.

Das war allerdings nicht Herrn Harders Schuld. Denn als „ear“ firmiert er schon seit 2002 mit Raphael Tschernuth. Die beiden haben sich in einer bayerischen Kleinstadt musikalisch zusammengetan und sind es geblieben, auch wenn es sie mittlerweile nach Berlin und Leipzig verschlagen hat. Höchst produktiv sind sie auch noch: Gerade ist mit „Out in the open“ ihr sechstes Album erschienen, ganz ohne Label und Management, zu kaufen über ihre Homepage http://www.ear-theband.com

Dort ist auch zu lesen, dass „ear“ mal durchaus mit elektronischen Einflüssen angefangen hat. Diese Klangfarbe der beiden kenne ich nicht – ich habe erst reingelauscht, als sie schon mitten in der Alternative-Pop-Phase angekommen waren. Und ich bin hängen geblieben an diesen klaren, schönen, melancholischen Melodien und Textzeilen, die man mit in den Tag nimmt.

„ear“ macht Musik für die Stunden im Auto, wenn die Sonne auf- oder untergeht und die Fragen kommen. Nachdenklich, aber nicht zerschmetternd. So, wie „Trying to Fall“ von ihrem neuen Album schon mit der Frage „Where did we go with our lives?“ einsteigt. Wer sich also auf Wanderschaft begibt, im Kopf, in die Weite da draußen, der findet in der Musik von „ear“ einen sympathischen Begleiter, der einen durchaus auch mal zum Summen bringen kann.

Also, auf geht’s:

28.02.2013 – Dortmund – Subrosa beim 3Klang Festival ab 19 Uhr

01.03.2013 – Dortmund – Salon Fink, 20.30 Uhr




Zeitgeist-Zeugen: Warum „Zero Dark Thirty“ beim Oscar nur einen Trostpreis erhalten hat

Populäres Kino ist, wenn es gut gemacht ist, stets ein Seismograph für den Zeitgeist. Mit manchmal erschreckend ausschlagenden Zacken wie „Zero Dark Thirty“ der Amerikanerin Kathryn Bigelow. Dass dieser Film über die Jagd auf Osama Bin Laden keinen der Oscar-Blumentöpfe gewinnen würde, war von vornherein klar: Er ist heiß umstritten, einige Republikaner im US-Kongress verlangten sogar eine Untersuchung.

Das Schockierende an dem Thriller ist aber nicht, dass er (angeblich) geheime politisch Informationen verwendet, sondern dass er kompromisslos die dunkle Seite entfesselter Brutalität unserer Zivilisation zeigt: In „Zero Dark Thirty“ taugt jedes Mittel, um ans Ziel zu kommen. Und der Film verschwendet weder in seinem Plot noch in seinen Personen auch nur einen Gedanken an eine Kritik dieses brutalen Utilitarismus. Erlaubt ist, was nützt.

Dunkelzone der Gesellschaft

Dass Kathryn Bigelow mit diesem erbarmungslosen Blick auf die ethikfreie Dunkelzone unserer moralisierenden Gesellschaften schon in der Vorauswahl nicht landen konnte, hat wohl wenig mit der Qualität ihrer Arbeit zu tun. „Zero Dark Thirty“ hat lediglich einen – wie es ein Magazin heute nennt – „Trostpreis“ erhalten: Paul N.J. Ottosson muss sich einen Oscar für den Tonschnitt  mit Per Hallberg und Karen Baker Landers für „Skyfall“ teilen. Auch die viel gerühmte und bereits mit dem „Golden Globe 2013“ und dem „Broadcast Film Critics Association Award“ ausgezeichnete Hauptdarstellerin Jessica Chastain ging leer aus: Ihr wurde die 22jährige Jennifer Lawrence („Silver Linings“) vorgezogen.

Bigelow hat sich mit ihrem schonungslosen Streifen zwischen alle Stühle gesetzt: Den Linken gilt er als Verherrlichung von Folter, die Rechten witterten gleich Verrat und Beweihräucherung Obamas, nur weil der am TV im Film irgendwelche geänderten Zeiten ankündigt. Das beziehen die CIA-Folterer auf sich und raten sich gegenseitig zur Vorsicht. Ihre Methoden könnten auf einmal political incorrect werden. Doch der Film bringt nichts, was sich nicht aus Medienberichten rund um Guantanamo und Abu Ghreib erschließen und mit ein wenig Fantasie fürs Perverse ergänzen ließe.

Die Szenen sprechen für sich

Aber ist „Zero Dark Thirty“ eine „Verherrlichung“ der Folter? Muss ein menschlich zutiefst abschreckendes Verhalten in einem Film noch durch beschwichtigende oder kritische Kommentare bewertet werden, um in eine moralisch einwandfreie Position eingeordnet zu werden? Das ist zumindest im Falle von Bigelows Film nicht nötig. Die Szenen sprechen für sich: Wenn dem hilflos an Kabeln hängenden Häftling Ammar zu Beginn die verschissenen Hosen heruntergerissen werden, damit vor den Augen der Agentin Maya – das ist Jessica Chastain – sein „Gehänge“ bloßliegt, dann spricht diese entwürdigende Szene eine deutliche Sprache, die auch ohne Kommentar abschreckend genug ist.

Brutale Szenen gehören heute zum Filmgeschäft, und in vielen B-Movies wird Ekelhafteres gezeigt als in „Zero Dark Thirty“. Was das Verstörende ist: Bigelow lässt die Täter keine Sekunde an ihrem Handeln zweifeln. Sie gehören nicht einmal so sehr zum Typ der „aufrechten“ Patrioten, die für ihre Nation alles, aber auch alles erledigen würden. Sie sind vielmehr perfekte Angestellte, völlig reibungsfrei funktionierende Rädchen des furchtbaren Getriebes, die sich höchstens mal interne Karrierekämpfe liefern oder bei der erfolgsarmen Fahndung nach Al-Qaida-Tätern ihr Gesicht nicht verlieren wollen.

Das Grauen beschleicht den Zuschauer, wenn er diese Menschen verfolgt: Ihre zwangshafte Fixierung auf den Erfolg, ihr eiskalter Umgang mit ihren Mitmenschen, ihre private und emotionale Verelendung. Wenn Maya endlich Osama erwischt hat und im Flugzeug ganz alleine nach Hause reist, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Es sind nicht einmal Tränen, die vom Abfallen der jahrelangen Anspannung zeugen. Maya vergießt sie, weil ihr das einzige und ausschließliche Lebensziel, das sie über Jahre beherrscht hat, nun genommen ist. Eindrücklicher lässt sich die Enthumanisierung dieser Anti-Terror-Roboter nicht einfangen als in dieser simplen Abschluss-Sequenz.

Entlarvung der „erweiterten Verhörmethoden“

Der Film tritt nicht – wie unterstellt – für die „erweiterten Verhörmethoden“ ein, die er zeigt. Sondern er entlarvt ihre ganze Sinnlosigkeit und Inhumanität, indem er sie lapidar und unverbrämt darstellt. Damit tritt er nicht für die Rechtfertigung der Täter oder für das fragwürdige Ethos der Bush-Regierung und ihrer Apologeten ein, wie die Historikerin Karen Greenberg behauptet. „Zero Dark Thirty“ ist eine Studie darüber, wie der totale Kampf gegen den Terror seine Protagonisten entmenschlicht. Und er wirft ein unverbrämt grelles Licht auf die Nischen unserer Gesellschaften, in denen das Abgründige gedeiht und sich mit dem Mäntelchen einer Legitimität umgeben kann, die von den Tätern bürokratisch korrekt verwaltet wird und daher in ihren Augen als gerechtfertigt gilt. Und er stützt damit eine ethische Position, die – trotz aller bekannten Problematik – der Folter Null Toleranz entgegenbringt.

Dass der Oscar-Segen des besten Films stattdessen an „Argo“ ging, spricht eine deutliche Sprache: Ben Affleck mag seinen Thriller fulminant inszeniert haben, die politische Botschaft bleibt im Rahmen: Amerikaner werden vor Islamisten gerettet und eine auch nur indirekte Kritik an herrschenden Konstellationen ist nicht ersichtlich. Auch ein Zeitgeist-Zeugnis.




Auf dem Weg zur Moderne: Otto und Paula Modersohn im Hagener Museum

Seit Januar und noch bis zum 21. April kann man sich in einem wirklich schönen Museum etwa 140 meist kleinformatige Gemälde und fast ebenso viele Zeichnungen von Otto Modersohn ansehen. Das Hagener Kunstquartier nennt in seinen Ankündigungen das Projekt zwar eine Doppelausstellung, doch Ottos Ehefrau Paula Modersohn-Becker ist nur in einem kleineren Nebenraum des Karl-Ernst-Osthaus-Museums mit wenigen Bildern vertreten.

Otto Modersohn, Landschaft im Winter.(Foto: Museum Hagen)

Otto Modersohn, Landschaft im Winter.
(Foto: Museum Hagen)

Otto Modersohn, Mitbegründer der Worpsweder Malerkolonie, wird hier zum ersten Mal in Hagen mit einer Ausstellung von Werken aus allen Schaffensperioden gezeigt. Dabei hatte er durch seine Freundschaft mit Osthaus schon eine besondere Beziehung zu der westfälischen Industriestadt: Zusammen mit Heinrich Vogeler organisierte Modersohn vor hundert Jahren in genau diesem Museum die erste Retrospektive Paula Modersohn-Beckers, die in jungen Jahren nach der Geburt des zweiten Kindes gestorben war.

Die Schau macht deutlich, dass Otto Modersohn tatsächlich ein exzellenter Landschaftsmaler war, der Stimmungen durch Schatten und andere Lichteffekte sehr stark ausdrücken konnte. Aber auch die wenigen Bilder mit Personen, überwiegend Kinder oder die Ehefrau Paula, zeigen seine malerische und auch handwerkliche Qualität.

Die Bilder stammen überwiegend aus Privatbesitz, dazu zählen auch die Modersohn-Stiftung in Worpswede und das Museum in Fischerhude, Modersohns Wohnort. Dies und die kurze Lebenszeit seiner Frau Paula erklärt auch das Ungleichgewicht in dieser Ausstellung. So könnte man durch die getrennte Hängung und die kleine Anzahl der Bilder Paulas den Eindruck eines Qualitätsgefälles bekommen, aber eher das Gegenteil ist richtig. Paula Modersohn-Becker war ohne Zweifel die modernere und ausdrucksstärkere Künstlerin. Das zeigen sogar schon diese wenigen Gemälde, und die Nationalsozialisten haben sie gerade deshalb als „entartet“ aus den Museen verbannt. Das wirkt bei diesen Bildern schon fast wie eine Adelung, aber selbst das hat Paula Modersohn-Becker natürlich nicht nötig. Jedenfalls zeigt die Hagener Ausstellung das alte Dilemma, das entsteht, wenn die Exponate nicht nach Qualität, sondern nach Verfügbarkeit zusammengestellt werden.

Otto Modersohn: Landschaften der Stille – Paula Modersohn-Becker: Eine expressive Malerin. Werke aus Privatbesitz. Bis 21. April 2013. Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Eintritt 6 Euro, Katalog 28 Euro. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Freitag 10 bis 17 Uhr, Donnerstag 13 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Montag geschlossen.




Vom Varieté bis zur Vorhölle: Die Comics und Trickfilme des Winsor McCay in Dortmund

Wer hätte das gedacht: Da präsentiert Dortmund die bislang wohl weltweit umfangreichste Retrospektive zum Werk von Winsor McCay.

Winsor Who? – McCay! Der US-Amerikaner, der von 1869 bis 1934 gelebt hat, gilt als eigentlicher Erfinder des Zeichentrickfilms, dessen frühe Standards er lange vor Walt Disney gesetzt hat. So geht die zeitsparende Folientechnik für Bildhintergründe auf ihn zurück. Überdies war er einer der genialen Pioniere des Comics.

Das Tor zum Schlummerland - Detail aus Winsor McCays "Little Nemo in Slumberland", 1906 (Bild: Katalog)

Das Tor zum Schlummerland – Detail aus Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“, 1906 (Bild: Katalog)

Diese besonders in Deutschland (NS-Zeit, Schundkampagne der 50er Jahre) lange unterdrückte bzw. gering geschätzte Kunstform entschied seinerzeit in den USA über Wohl und Wehe der Zeitungen. Nur wer die besten Comic-Zeichner hatte, konnte die Auflage nachhaltig steigern. Nachrichten aus Politik, Sport und Kultur waren demgegenüber fast zweitrangig. Die hatte ja, salopp gesagt, jeder. Der „New York Herald“ und später zahlreiche andere Blätter aber hatten Winsor McCay.

Die berühmtesten Serien McCays hießen „Dream oft the Rarebit Fiend“ (etwa: „Traum eines Käsetoast-Liebhabers“, ab 1904) und vor allem „Little Nemo in Slumberland“ („Der kleine Nemo im Schlummerland“, ab 1905). Vorbild dieser Kinderfigur war McCays Sohn Robert, der an Schlafstörungen litt und oft wüstes Zeug träumte. Während die irrwitzigen Käse-Episoden für ein erwachsenes Publikum gedacht waren, richtete sich Nemo in farbig gedruckten Wochenendbeilagen an ganze Familien und kam deshalb etwas entschärft daher.

Alptraumszene aus "Little Nemo in Slumberland", 1909 (Bild: Katalog)

Alptraumszene aus „Little Nemo in Slumberland“, 1909 (Bild: Katalog)

Das Kerngeschehen beider Langzeitserien, die sich über Hunderte von Folgen erstreckten, wird von phantastischen Träumen und Alpträumen bestimmt, die freilich stets unterhaltsam ausfabuliert werden. Tatsächlich findet McCay dabei zu einer fulminanten Bildsprache, die Elemente des Surrealismus vorwegnimmt und manche Fährte der Freudschen Traumdeutung kongenial vor Augen führt.

Derart tief und manchmal verstörend ist McCay ins irrlichternde, flackernde Traumreich vorgedrungen, dass es im Grunde kaum verwundert, wer sein Werk in den späten 1960er Jahren der Vergessenheit entrissen hat. Es waren Underground-Zeichner wie Robert Crumb, die in ihm gleichsam einen Vorläufer ihrer wilden und windungsreichen Trips gesehen haben. Die Ausstellung dokumentiert auch Ausläufer solcher Nachwirkungen.

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sind nun annähernd 200 Exponate aus allen Schaffensphasen zu sehen – zumeist ursprüngliche Entwürfe oder originale Zeitungsseiten, für die auf dem Sammlermarkt zuweilen zigtausend Dollar bezahlt werden. Schräg gegenüber im Foyer des RWE-Towers ergänzen einige zusätzliche Filme die Schau, die den Abschluss einer stark beachteten Tournee (u.a. Hannovers Wilhelm Busch Museum und Basels Cartoonmuseum) bildet – mit deutlich mehr Ausstellungsstücken als an den vorherigen Stationen.

Bildfolge aus "Dream of the Rarebit Fiend", 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel ("puzzle") - und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Bildfolge aus „Dream of the Rarebit Fiend“, 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel („puzzle“) – und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Der wahrhaft kundige Kurator der Schau, der gebürtige Dortmunder Alexander Braun, der notfalls stundenlang inspiriert und inspirierend über McCay sprechen kann, ist froh, dass just ein honoriges kulturgeschichtliches Museum den Schlusspunkt setzt, denn die anderen Stätten der Rundreise sind auf humorige Darstellungsformen spezialisiert. Hier aber erfahren die Comics nun die Nobilitierung, die solchen Künstlern und ihren Hervorbringungen gebührt. Heute nennen die Feuilletons bessere Comics ja auch ganz vornehm „Graphic Novels“.

Gewiss: Die Ursprünge McCays lagen im Varieté, im Vaudeville und in damals grassierenden Freak Shows. Mit seinen Filmen und sonstigen Vorführungen (z. B. als Schnellzeichner) hat der Workaholic, der bei Tag und Nacht in Schöpferlaune war, auch Jahrmarkts-Gelüste bedient, wie denn überhaupt das Kino anfangs eine Art Kirmesvergnügen gewesen ist und keine sonderlichen Hochkultur-Ambitionen gehabt hat.

Doch sowohl seine Filme als auch die Comics überwinden sehr rasch, ja quasi von Anfang an das starre Schema anderer Zeichner. Man sieht es schon am stets dynamisch wechselnden Zuschnitt der Bildformate, die – im Dienste der jeweiligen Geschichte – bis ins Extreme gehen können. Da werden beispielsweise ganze Bildfolgen mittels Zerrspiegel-Ästhetik in groteske Längenmaße gedehnt, andere verwirren durch endlose Treppenlabyrinthe. Und was der tausend Ideen mehr sind.

Zeichnung zum Trickfilm "Gertie, der Dinosaurier", 1914 (Bild: Katalog)

Zeichnung zum Trickfilm „Gertie, der Dinosaurier“, 1914 (Bild: Katalog)

Virtuos jongliert McCay mit den Zeichen- und Druck-Techniken des noch neuen Mediums, spannt weite, geradezu literarische Erzählbögen über viele Folgen hinweg und begibt sich alsbald immer mal wieder auf hintersinnige Meta-Ebenen, indem er etwa Dialoge mit seinen eigenen Figuren führt, die sich über schlampige Ausführung beschweren oder gleich in Tuscheflecken ertränkt werden. Höchst subtil sind Linienführung und Farbgebung, die durchaus an die Größen des Jugendstils heranreichen.

Und welche Visionen hatte dieser Selfmademan, der es übrigens zu einigem Wohlstand brachte! Zum US-Feiertag Thanksgiving denkt er sich einen Riesen-Truthahn aus, der ganze Häuser vertilgt – lange vor solchen Kinomonstern wie King Kong oder Godzilla. Seine immense Vorstellungskraft stellt er gelegentlich auch in den Dienst politischer Propaganda, so mit einem famosen Trickfilm über den Untergang der „Lusitania“ am 7. Mai 1915, die von einem deutschen U-Boot vor der irischen Küste versenkt worden war.

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Dieser schreckliche Vorfall bewog die öffentliche Meinung in den USA, im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland Stellung zu beziehen. Die Kriegserklärung folgte allerdings erst rund zwei Jahre später. Fürs Zeitungs-Imperium des Verleger-Tycoons Randolph Hearst, der ebenfalls in diesem Sinne gegen Deutschland agitierte, illustrierte McCay in jenen Jahren zahlreiche Leitartikel.

McCays Lusitania-Film nimmt Sequenzen vorweg, wie sie später die großen Katastrophenfilme geprägt haben. Und man traut seinen Augen nicht, wenn die Menschen (sich) en masse vom Schiff stürzen. Hat da einer etwa schon Schrecknisse wie die des 11. September 2001 vorausgesehen? Sagen wir so: Wie viele andere Künstler, so hatte auch McCay einen geheimen Zugang zur Vorhölle, er war in der Lage, überzeitliche Formen des Urbösen zu imaginieren.

Zweierlei sollte man als Besucher jedenfalls mitbringen: Erstens viel Zeit, um sich auf die Bildfolgen einzulassen. Zweitens einigermaßen belastbare Englisch-Kenntnisse, sonst hat man von all dem leider ziemlich wenig.

Winsor McCay – Comics, Filme, Träume. 23. Februar bis zum 9. Juni 2013. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Hansastraße 3). Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 49 Euro. Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Mo geschlossen. Infos über Führungen 0231/50-26028. Internet: www.museendortmund.de
Ergänzende Filmschau im RWE-Tower, Freistuhl 7. Vom 25. Februar bis zum 12. April 2013, werktags 9-18 Uhr (von außen durchs Schaufenster 24 Stunden lang zu sehen), Eintritt frei.




Die Stradivari als Flachbrett: Ray Chen im Konzerthaus Dortmund

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Ray Chen (24) wurde in Taiwan geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute in Amerika (Foto: Chris Dunlop)

Achtung, bitte anschnallen, gleich geht es los. Der zweite Satz von César Francks Violinsonate A-Dur steht bevor. Wild wird es im Konzertflügel brodeln, bevor die Violinstimme hinzu tritt: überstürzt lospreschend wie jemand, der immer gleich zwei oder drei Stufen auf einmal nimmt. Vor Leidenschaft schier taumelnd, wird sich ihr Thema vehement in die dunkelsten Farben der G-Saite wühlen.

Für den Geiger Ray Chen ist damit die Gelegenheit gekommen, als der „Junge Wilde“ hervor zu treten, als den das Konzerthaus Dortmund ihn jetzt präsentiert. Der gleichnamigen Nachwuchsreihe, der er drei Spielzeiten lang verbunden bleiben wird, kann er nun seine Reverenz erweisen.

Erwartungsgemäß geht Chen zur Attacke über. Er versetzt der vor Erregung kurzatmig abgerissenen Melodie scharfe Akzente, versucht seiner Stradivari alles Feuer zu entlocken. Was dabei heraus kommt, klingt hart und überraschend dünn. Der Violinton ist laut, aber ohne Tragkraft, forciert und in der Tiefe farbarm. Die kostbare „Lord Newlands“-Stradivari aus dem Jahr 1702, deren Strahlkraft und Durchsetzungsvermögen Isaac Stern einst rühmte, klingt unter Chens Händen nach einem enttäuschend flachen Stück Fichte. Auf die dramatischen Beleuchtungswechsel in Francks Sonate, auf ihre grüblerischen Abgründe versteht der 24-Jährige Sunnyboy sich nicht. Ihre existenziell gefährdete Fragilität, ihre schillernden Bruchstellen sind bei ihm wie mit einer Teflon-Schicht überzogen. Da bleiben alle Emotionen leicht abwaschbar. Wo Franck uns von der morbiden Schönheit fast verblühter Rosen erzählt, reicht Ray Chen uns einen Strauß mit Plastikblumen.

Auf der heiteren Seite der Musik fühlt sich der in Taiwan geborenen Australier, der am Curtis Institute of Music in Philadelphia ausgebildet wurde, weitaus wohler. In den salonhaft-eleganten Violinstücken von Saint-Saëns kann er seinen jungenhaften Charme spielen lassen, dem Violinton in der Höhe Süße geben und mit fixen Fingern ein Feuerwerk der Virtuosität zünden. Da gibt es fliegende Aufstrich-Staccati zu bestaunen, feine Flageolett-Töne und rasante Läufe, die sich mit größter Beweglichkeit in höchste Höhen schrauben. In zackiger Rhythmik lässt Ray Chen Saint-Saëns‘ „Introduktion und Rondo capriccioso“ tänzeln, zeigt dabei auch Freude an seinem technischen Können. Die effektvollen Piècen kommen geigerisch nahezu blitzsauber daher: Dass Chen als Musiker nicht weit unter die Oberfläche dringt, fällt bei diesen Stücken weniger ins Gewicht.

Nach gründlichem Exerzitium klingt Johann Sebastian Bachs E-Dur-Partita für Violine solo, mit der er den Abend eröffnet. Chen geigt das eröffnende Preludio schlank und klar, mit einem wie aus dem Handgelenk geschüttelten Detaché-Strich in der oberen Bogenhälfte. Er akzentuiert die silberhellen Farben der Tonart und unterstützt diese Tongebung in den Folgesätzen mit sparsamen Vibrato. Sein Timing und sein Rhythmusgefühl sind treffsicher, was besonders der Bourrée zu Gute kommt.

Warum sein Bach-Spiel trotzdem unter einer gewissen Farblosigkeit krankt, wird erst in der Reflexion dieses Werks durch den belgischen Geiger und Komponisten Eugène Ysaye ganz deutlich. Chens Ausdrucksmöglichkeiten sind viel zu begrenzt, um den Dämonen beizukommen, die bei Ysayes zweiter Solo-Sonate mit dem Beinamen „Obsession“ hinter jedem Takt lauern. Die zwanghaft anmutende Verschränkung von Bachs Solo-Partita mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv aus der lateinischen Totenmesse nimmt bei ihm keine überzeugende Form an. Vielmehr ist seine Interpretation unentschlossen und geprägt von willkürlich zerdehnten Tönen, die bedeutungsvoll den Zeigefinger erheben, ohne etwas zu sagen zu haben. An die Stelle einer eigenen Handschrift treten Manierismen. Die Stimmführung zersplittert, der „Tanz der Schatten“ (Danse des ombres) wird zu einer seltsamen Pizzicato-Polka. Vom Kern der Musik ist Ray Chen hier einmal mehr weit entfernt.

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Weitere Informationen zur Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund gibt es hier.




Zutaten der Erinnerung – Klaus Modicks Roman „Klack“ zoomt die frühen 1960er heran

„Au Backe!“ – „Zieh Leine!“ – Das sagt doch heute kein Mensch mehr. Richtig. Klaus Modicks Roman „Klack“ führt uns zurück in die Jahre 1961 und 1962, also geradewegs in die Zeit zwischen Erstarrung und keimender Aufbruchshoffnung, zwischen Adenauer und Beatles.

Das Titel gebende „Klack“-Geräusch kommt von einer billigen Agfa-Clack-Kamera, die der Ich-Erzähler namens Markus damals auf der Kirmes gewonnen und mit der er fortan Szenen und Vorfälle aus seinem damaligen Alltag festgehalten hat – eigentlich nach bloßem Zufallsprinzip und gleichsam aus der Hüfte geschossen, aber dennoch, über die Jahrzehnte hinweg, selbst im Misslingen vielsagend.

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Markus steckt in der tragikomischen Klemme zwischen Kindheit und Pubertät, er wächst in einer norddeutschen Provinzfamilie auf. Die Oma hält strikt auf Anstand und Sitte, schon Grass’ „Blechtrommel“ gilt ihr als scheußliche Pornographie. Der Vater (Apotheker) faselt unentwegt vom staunenswert zähen „Iwan“, will aber ansonsten vom Krieg nichts Genaues mehr wissen. Die Mutter fügt sich in die Hausfrauenrolle. Die ältere Schwester Hanna macht offenbar heimlich ihre ersten erotischen Erfahrungen; erst recht, als ein französischer Untermieter in die Dachkammer einzieht.

Im Grunde geht’s ihnen ja schon wieder gold. Nicht nur deswegen fühlt man sich hin und wieder im Duktus an Walter Kempowski erinnert. Auch mögen germanistische Seminare sich künftig am Vergleich mit Gerhard Henschels ähnlich gestrickten Büchern („Kindheitsroman“, „Jugendroman“) abarbeiten. Hier wie dort darf man sich an Generationsgenossenschaft wohlig wärmen, wohldosierte Zeitkritik aus sicherer Entfernung inbegriffen.

Die eigentliche, recht übersichtliche Handlung kommt in Gang und Markus’ Seele in Wallung, als nebenan, ins Haus, das ohnehin als „Schandfleck“ gilt, Italiener einziehen. Sie wurden seinerzeit in der bräsigen Wohlstandsrepublik Deutschland weithin als Schwächlinge des Zweiten Weltkriegs und „Spaghettifresser“ verunglimpft. Es ist lang her, doch vielleicht gar nicht so weit weg.

In diesem Falle gibt es noch mehr Empörungsstoff: Der italienische Vater, der (was sonst?) eine Eisdiele eröffnen will, ist Kommunist und spielt Gitarre, die halbwüchsige Tochter Clarissa hängt ihren roten (!) Schlüpfer sichtbar an die Wäscheleine. Unerhört, findet Markus’ Großmutter und lässt – ausgerechnet in jener Zeit des Berliner Mauerbaus – eine hohe Trennwand zwischen beiden Grundstücken hochziehen.

Markus selbst hingegen verguckt sich bebend in die süße Clarissa. Überhaupt sagen ihm jetzt italienische Lebensart und Sangeslust in höchstem Maße zu. Doch dieses Neigung, so glaubt er, muss er in seinem Herzen verschließen.

Womit denn noch ein paar Klischees angeklungen wären.

Was noch passiert, ist insgesamt nicht allzu überraschend. Man fühlt sich zwar ganz leidlich unterhalten, aber niemals sonderlich gefordert, auch nicht durch die eingestreuten Reflexions-Partikel über den Wirklichkeitsgehalt der Fotografie und die trügerische Erinnerung.

Doch halt! Am Ende besteht der Witz der munteren Erzählung wohl gerade darin, dass so gut wie nichts geschehen ist.

Wie zum Ausgleich trägt der Oldenburger Klaus Modick (Jahrgang 1951), ein angenehm bodenständiger und „geerdeter“ Autor, in seiner Geschichte das Zeitkolorit geradezu pastos auf. Er wird nicht müde, Moden, Musiktitel, Konsumgewohnheiten oder Redensarten jener Jahre anzuhäufen, als müsse er den Zeitrahmen der Handlung eigens immer wieder beglaubigen. Zur Not steht hier immer ein Kofferradio bereit, aus dem der passende Schlager plärrt. Im Extremfall hören sich Modicks Sätze schon mal so überaus umständlich an: „Hanna, schnieke rausgeputzt mit schwarzem Dralonrolli, dreiviertellanger, eng anliegender, am Saum geschlitzter schwarzer Caprihose, schwarzen Pumps und schwarzem Popelinemantel, eilte zur Tür.“ Im Neckermann-Katalog standen wahrscheinlich auch nicht mehr Details.

Die nachrichtlichen Großereignisse kommen gleichfalls vor, sofern ihre Folgen bis in den Alltag reichen: Mauerbau im August 1961, Sturmflut im Februar 1962, Kubakrise im Oktober 1962. Und unter allem schwelt im Kalten Krieg insgeheim die Angst vor der atomaren Vernichtung des ganzen Planeten… Wie klein und nichtig war dagegen der ganze Kram, über den man sich sonst so aufgeregt hat.

Klaus Modick: „Klack“. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 223 Seiten, 17,99 Euro.




Wagner als Schenkelklopfer: „Mnozil Brass“ im Konzerthaus Dortmund

Kinderüberraschung: "Mnozil Brass" feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm "Hojotoho!" (Foto: Mnozil Brass/Cartsten Bunnemann)

Kinder Überraschung: „Mnozil Brass“ feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm „Hojotoho!“ (Foto: Mnozil Brass/Carsten Bunnemann)

Wagalaweia, wer schnappt sich die Wurst? Das Waldvögelein wird flugs zur diebischen Elster. Auch andere Tiere entwickeln mächtig Appetit ob der Leckerbissen, die Siegfried aus seinem Wanderrucksack kramt. Zum Glück braucht es nicht viel, um den tumben Trottel abzulenken.

So wild Siegfried auch mit dem Holzschwert fuchtelt: Eine Wurst nach der anderen wird ihm gemopst. Viermal staunt er hierüber Bauklötze, dann kratzt er sich vor Verlegenheit mit dem Schwert den Rücken. Aber ach, er gerät dabei an das Eichenblatt, das Wotan ihm zuvor aufs Schulterblatt gepappt hat. Da liegt er denn tot, der traute Tor. Und das Publikum johlt vor Vergnügen, während die Musiker des Blechbläser-Ensembles „Mnozil Brass“ einen Trauermarsch anstimmen.

Der humoristische Beitrag zum 200. Geburtstag von Richard Wagner, den die sieben Österreicher nach der Uraufführung in Bayreuth nun auch im Konzerthaus Dortmund vorstellten, bietet zwei Stunden lang Nonsens zum Schenkelklopfen. Unter dem Titel „Hojotoho!“, bekannt als Schlachtruf der Walküre, ist Wagner zum Totlachen angesagt. Um Leitmotive effektvoll durch den Stilmixer zu jagen, hampeln sich die Gralsritter des virtuosen Blechs durch eine dramaturgisch sinnfreie Abfolge von Szenen, die fern an die Hanswurstiaden des Alt-Wiener Volkstheaters aus dem 18. Jahrhundert erinnert. Dem Oberhanswurst Thomas Gansch (Trompete), mit Backenbart und Baskenmütze unschwer als Widergänger des Meisters zu erkennen, machen freilich sechs Nebenhanswürste Konkurrenz, die auch alle zeigen wollen, was sie drauf haben.

Das führt zu Clownerien wie aus der Roncalli-Manege. Regisseur Philippe Arlaud, der in Bayreuth einst einen quietschbunten „Tannhäuser“ inszenierte, macht aus dem tollen Treiben einen musikalischen Kindergeburtstag. Gefeiert wird mit Partytröten und spitzen Papier-Hütchen. König Ludwig streut Schwanenfedern (Roman Rindberger, Trompete), Siegfried träumt unter dem „holden Abendstern“ von Amerika (Robert Rother, Trompete), Wotan versucht mit dem Dirigentenstab einen Teddybären mit Augenklappe zu erstechen (Leonhard Paul, Posaune). Das Spiel mit solchen Symbolen bleibt indes oft unverständlich. Im Publikum, das sich ansonsten wie Bolle amüsiert, ist immer wieder auch Verunsicherung zu spüren. War das jetzt eine Pointe? Dürfen wir lachen? Dass die äußerst aufwändige Licht-Regie von Philippe Arlaud an diesem Abend nicht ohne Patzer funktioniert, trägt mit zur Verwirrung bei.

In der virtuosen Beherrschung ihrer Instrumente zeigen sich „Mnozil Brass“ aber über jeden Zweifel erhaben. Kein Ton ist den Musikern zu hoch, kein Arrangement zu schwer. Mühelos gleiten sie vom deutschen Leitmotiv-Dschungel in den Big-Band-Sound amerikanischer Großstädte, vom Meistersinger-Vorspiel in eine Tschaikowsky-Sinfonie und vom Tannhäuser zum Tango. Ihr komisches Talent und ihre Entertainer-Qualitäten verjuxen sie indes auf niederem Niveau. Es braucht einfach mehr als Blödelei und Stepptanz-Einlagen, um einem Genie wie Richard Wagner mit Humor beizukommen. Vicco von Bülow alias Loriot hat das gewusst, als er mit wenigen Worten den gesamten „Ring des Nibelungen“ aufspießte. Wo er auf feingeistigen Spott und Hintersinn setzte, macht sich heute breit, was als „Comedy“ über TV-Kanäle flimmert. Lustig? Billig? Ach, egal. Es ist eh’ alles Wurst.

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Informationen zu Mnozil Brass: www.mnozilbrass.at

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Abenteuer des Adrian Tuppek im Ruhrgebiet – ein Glücksfund aus der E-Book-Szene

Glücksfall CoverKalt ist es in Dorsten, doch nicht nur deswegen schüttelt es den erfolglosen, aber ambitionierten Schriftsteller Adrian Tuppek.

Special Agent Jankowiak vom Finanzamt Marl sitzt ihm im Nacken und überhaupt – der Nebenjob als Testdieb hilft auch nur sehr bedingt über die Runden. Da liest er eine Bemerkung eines Erfolgsautors über die kurze Ent­stehungszeit seines Krimis und denkt bei sich, das kann er auch. Krimis gehen schließlich immer, das löst seine Finanzprobleme und wenn er sich selber unter Druck setzt, einen Krimi in sechs Tagen zu schreiben (unter Druck ist er immer am besten), dann schafft er das auch.

Eine Idee, ach was, zwei oder drei hat er bereits und probiert sie alle aus. Da braucht man ja nur in die Tageszeitung zu gucken, Diebstahl, Stalking, Börsenbetrug, Fälschung, Mord und Totschlag – alles frei Haus. Doch irgendwer will ihm Übel, irgendwer klaut ihm seine Ideen und ist gar so dreist, seine Geschichten als Hörer-Kommentar im Lokalfunk zu verbreiten, als Tuppek gerade zu Gast ist. Und woher kommt der Dachziegel, der plötzlich – ihn knapp verfehlend – auf dem Bürgerstieg landet?

Tuppek verdächtigt schließlich sein ganzes Umfeld, selbst seine ewige Jugendfreundin Lena ist vor Verdacht nicht gefeit. Und überhaupt – was hat Brad Pitt damit zu tun? Tuppek lässt sich nicht entmutigen, da ist er stur. Er hat schließlich seine Prinzipien – deswegen zieht er auch nicht weg aus dem Ruhrgebiet. Denn wenn er es hier nicht schafft, gute Geschichten zu schrei­ben, schafft er es woanders auch nicht.

Wie Tuppek lebt auch seine Schöpferin Doris Brockmann im nordöstlichen Ruhrgebiet (in Dorsten) und führt damit die Tradition erzählfreudiger Schriftstellerinnen aus dieser Stadt fort. Ihr Roman ist als Kindle-Version verfügbar und wird von ihr in Eigenregie vermarktet. So gesehen, war das Lesen dieses Romans durchaus ein Glücksfall. Denn genau das will man, wenn man sich  durch die Angebote der Indie-Autoren klickt. Eine kleine, feine Buch-Perle, sorgfältig recherchiert, klug beobachtend eine unterhaltsame Geschichte erzählend. Doris Brockmann ist dies gelungen. Behutsam ausformulierend, wohl auch ein wenig aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfend, begibt sie sich auf die Ebene der Metafiction und begleitet ihren Adrian Tuppek mit viel Empathie, aber auch augenzwinkernd bei seinem Kampf mit dem inneren Schweinehund. Das Ganze garniert mit ruhrischem Lokalkolorit, der den Ortskundigen immer wieder zustimmend grinsen lässt.

Was zunächst irritiert, ist der abrupte Schluss. Man muss schon zweimal darüber nachdenken, bis man ihn akzeptiert und als folgerichtig und gelungen einordnen kann.

Mehr über Tuppek und über die Autorin erfährt man auf ihrer Internet-Seite walk-the-lines, aber auch auf der Nominierungsliste zum Leipzig Award für Indie-Autoren.

Doris Brockmann: „Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall“. E-Book, ASIN: B005YF0WG8, Dateigröße: 834 KB, Seitenzahl als Print-Ausgabe: 117 Seiten. 0,99 Euro.

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Auch ohne E-Reader kann man das Buch lesen, indem man sich eine kostenlose App herunterlädt. Das Verfahren wird hier beschrieben (bis zum Seitenende scrollen): http://www.walk-the-lines.de/buch/

 




„Unser Song für Malmö“: Allerwelts-Pop mit Geschwafel

Warum habe ich mir das angetan? Was den Eurovision Song Contest anbelangt, bin ich auf dem Stand der Zeiten von Ralph Siegel. All das Gemöhre um Lena Meyer-Landrut und Stefan Raab habe ich nur aus großer Distanz verfolgt. Und nun plötzlich das: „Unser Song für Malmö“ (ARD), die deutsche Vorentscheidung für Europas angeblich bestes Stück Popmusik.

Ich wollte halt mal wieder sehen, wie das jetzt so läuft. Man soll sich ja nicht ganz von der Gegenwart abkoppeln. Also frisch hinein!

Siegerin beim deutschen Vorentscheid: Sängerin Natalie Horler von "Cascada" (Foto: NDR/Willi Weber)

Siegerin beim deutschen Vorentscheid: Sängerin Natalie Horler von „Cascada“ (Foto: NDR/Willi Weber)

Mit Moderatorin Anke Engelke, die das „Event“ in Hannover immerhin einigermaßen erträglich und mit ein paar humorigen Einsprengseln wie nach Drehbuch präsentierte, bin ich mir einig: Man würde das Ganze lieber weiter Schlager-Grandprix nennen – wie in der vielleicht tatsächlich besseren alten Zeit. Aber was soll’s? Auch dieses Rad lässt sich nicht mehr zurück drehen.

Angebliche Vielfalt

Zwar wurde immer wieder wortreich behauptet, wie vielfältig die Musikrichtungen heute vertreten seien, doch hat sich hier auf breiter Front ein meist wenig origineller Allerwelts-Pop durchgesetzt, der sich höchstens noch in Styling-Details unterscheidet. Wäre man überdies schlecht gelaunt, so würde man vielfach ein immergleiches Gedudel und Gehampel diagnostizieren. Und man würde argwöhnen, dass 80 Prozent der Veranstaltung aus Getue, oberflächlicher Mache und technischer Zurüstung bestehen. Ist es da nicht herzlich egal, wer den Wettbewerb gewinnt?

Will man aber gerecht sein, so muss man feststellen, dass hier fast durch die Bank Profis und keine Dilettanten am Werk sind. Die Anzahl der gut geschulten Stimmen und der passablen Instrumentalisten ist insgesamt recht beachtlich. Ob sie alle ihr Talent ausschöpfen, ist eine ganz andere Frage.

Bayern waren zu originell

Auch habe ich hin und wieder doch ein wenig aufgehorcht. Beispielsweise bei Betty Dittrich, der gebürtigen Schwedin aus Malmö. Es wäre doch hübsch gewesen, wenn sie Deutschland ausgerechnet in Malmö vertreten hätte – noch dazu mit „Lalala“, einem unbedarften, aber sympathischen Liedchen im Retro-Stil, als wären wir wieder in den Zeiten von Siw Malmkvist gelandet. Einen sehr speziellen Klang brachte LaBrassBanda hervor, jene Formation aus dem Chiemgau, die bayerische Blasmusik mit Ska, Mariachi und anderen traditionellen oder modernen Stilelementen mixt. Aber ihr Lied „Nackert“ war in diesem Umfeld wohl schon etwas zu originell.

Die Radiohörer von neun flotten ARD-Stationen fanden das bajuwarische Element zwar prima, doch das reichte nicht. Die Experten-Jury und das Votum der TV-Zuschauer hievten schließlich den Madonna-Verschnitt „Cascada“ (Sängerin Natalie Horler) mit dem Song „Glorious“ auf Platz eins. Nun denn. Viel Glück in Malmö am 18. Mai. Aber ich glaube nicht, dass sie dort Bäume ausreißen werden.

In die Länge gestreckt

Die Sendung wirkte arg in die Länge gestreckt. Zur Einstimmung und später erneut musste – natürlich – Lena Meyer-Landrut ran, die in Hannover ein Heimspiel hatte. Jeder der 12 Konkurrenten durfte sich zunächst in einem Image-Video vorstellen, bevor die Songs vorgetragen wurden. Über die Videos wollen wir lieber nicht allzu viele Worte verlieren. Wie sehr da mit Geschwafel Authentizität und Ehrlichkeit beschworen wurden, das ging auf keine Kuhhaut – und deutete zuweilen eher aufs Gegenteil hin. Ansonsten tobten sich mal wieder die ach so coolen Designer kostspielig aus, ob bei schrillen Klamotten oder mit gewittrigen Beleuchtungseffekten. Der Effekt ist alles. Am Ende taten einem die Augen weh. Und die Ohren? Ach, lassen wir das.

Lassen wir uns übrigens die Titelfolge beim deutschen Vorentscheid mal auf der Zunge zergehen: „Change“, „Little Sister“, „Heart on the Line“, „The Righteous Ones“, „Craving“, „Elevated“, „One Love“ und eben „Glorious“. Noch Fragen? Any questions?

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Diese TV-Kritik ist zuerst hier erschienen: www.seniorbook.de




Passionsspiele in Gelsenkirchen

Jesus von Rotthausen

Jesus von Rotthausen

Um Aufsehen zu erregen, muss sich jeder heutzutage was einfallen lassen, vor allem der Theatermensch. Da gibt’s kaum noch Möglichkeiten zum Skandal und ein Fernsehpromi ist auch nicht jeder Zeit zu bekommen. Und wenn, dann muss er namens- und nicht nur gesichtsbekannt sein.

Was tun? Ganz einfach: Man macht was, was nicht so recht ins Ruhrgebiet passt. Man lädt ein zur „Passion“ und wenn das noch aus Gelsenkirchen kommt, dann werden die Medien aufspringen müssen. So geschehen in dieser Woche. „Passionsspiele in Gelsenkirchen-Rotthausen“ hieß es da. Die „Bühne im Revier“ unter der Leitung von Elmar Rasch kündigt die 1. Gelsenkirchener Passionsspiele an. Die ersten – wohlgemerkt – dahinter verbirgt sich der Anfang einer Traditionsgeschichte.

Oberammergau ist überall

Weltweit kennt man die Passionsspiele von Oberammergau, wo seit 1680 alle zehn Jahre alle Dorfbewohner auf den Beinen sind, die letzten fünf Tage von Jesus Christus auf die Füße zu stellen. Dadurch wollte man damals von der Pest verschont bleiben. Am 22. Februar 1990 wurde durch Gerichtsentscheid den Oberammergauer Frauen die volle Gleichberechtigung bei der Mitwirkung an den Passionsspielen verschafft. Eine halbe Millionen Zuschauer aus aller Welt sehen die ca. 100 Aufführungen zwischen Mai und Oktober. Da kommt so einiges an Umsatz zusammen. Devotionalien aller Art finden reißenden Absatz.

Pilgerort Gelsenkirchen

Sollte eines Tages das Passionsspiel in Rotthausen den Stadtteil Schalke als Touristenziel übertreffen? Aber der 10-Jahreszyklus wäre für die Stadt ein zu visionärer Ansatz. Doch man fängt ja gerade erst an mit immerhin 14 Vorstellungen in der evangelischen Kirche an der Steeler Straße. Pastor Rolf Neuhaus ist zuversichtlich, die Stadt unterstützt die Unternehmung und die Sparkasse lässt sich auch nicht lumpen.

Es ist kalt, die Kirche ist bei der Premiere zu drei Vierteln besetzt. Leise klingt sakrale Musik. Keine Bühnenaufbauten, der Raum wird so genutzt wie er auch zu normalen Gottesdiensten benutzt wird. Der Pfarrer spricht, dann der Bezirksbürgermeister. Er weist auf Oberammergau hin und hofft tatsächlich, dass seine Stadt zu einem Mekka für Passionsfreunde wird. Am Anfang war das Wort. So fängt es dann auch an, das Spiel der Laien, Halb und Vollprofis. Johannes der Täufer ruft zur Taufe und die in „zeitgemäße“ Kostüme gehüllten Damen und Herren stehen an. Skeptiker würden sagen: „Andere taufen auch nur mit Wasser.“ „Seid füreinander da!“ ruft Jesus, gespielt von einem jungen Mann namens Jesse Krauß. Es scheint, als habe er sich auch äußerlich der Rolle verschrieben. Man sieht eine große Schar von Menschen „wie Du und ich“ als Volk. Wir sehen Schergen und Kostüme und kennen die Geschichte, die sich hier aufblättert vor dem Altar. Und natürlich geht Jesus langsamen Schritts die Gänge entlang. Keine Hektik! Der Heiland wirkt hier entschleunigend modern.

Keine Spur von Monty Python

Wer Monthy Python erwartet, wird enttäuscht sein. Es gibt keinen Jux zu vermelden. Eine Frau soll gesteinigt werden. Jesus nimmt einen davon und hält ihn dem Kirchenpublikum entgegen: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“  Auch hier in Gelsenkirchen meldet sich niemand, der von sich behauptet, er sei sündenfrei.  Es gibt also auch nichts Neues zu vermelden, außer, dass es jetzt Passionsspiele in Gelsenkirchen gibt. Holla, die Waldfee. Schade, dass die Kulturhauptstadt schon vorbei ist.

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Gelsenkirchen, Ev. Kirche, Steeler Straße 48. Karten 15 Euro. Die nächsten Vorstellungen im Februar: 15. Feb. (19 Uhr), 17. (17 Uhr), 22. (19 Uhr), 24. (17 Uhr). Weitere Termine im März. Internet-Infos: www.buehneimrevier.de (Tel.: 0209/149 79 866)




Köstliches am Wegesrand (3): Trauen Sie dem Sauerbraten – gerade mit Pferdefleisch

Ich fühle mich schon ganz übel, speiübel. Wie gern hatte ich einst diese, eine meiner Leibspeisen, genüsslich zu mir genommen. Sauerbraten, rheinisch, das Fleisch vom Stamme Trab-Trab, eine Woche eingelegt und dann umsichtig geschmort.

Dann die Soße: mit allerlei Gewürzen, Rübenkraut und Rosinen schmackhaft gemacht, mit Lebkuchen abgebunden, dampfend auf Tellern mit Rotkohl und Klößen angerichtet – und am Ende überfüllt ins Fresskoma gefallen, und jetzt das: „Wie gefährlich ist Pferdefleisch?“ fragt sorgenvoll die BILDungsferne Zeitung.

Wie, was? Das Fleisch vermutlich siecher Rösser aus Osteuropa wird in Fabriken zur Hacksoßenfüllung von Lasagne verarbeitet und ist angeblich inzwischen – nach England – auch in NRW aufgespürt worden. Und es kann sogar lebensbedrohlich werden, wenn man sich an der Muskulatur von Fury‘s Nachkommen laben sollte?

Sauerbraten mit Klößen - Fleischsorte unbekannt. (Foto: Hartmut910 / pixelio.de)

Sauerbraten mit Klößen – Fleischsorte unbekannt. (Foto: Hartmut910 / pixelio.de)

Mir bleibt speiübel und ich frage mich, wie blöd ist denn der oder die, die so was ernsthaft fragt? Oder anders, für wie blöd halten die eigentlich ihre Leser oder -innen? Da habe ich doch gerade noch eine liebe Freundin geärgergruselt, als sie die wunderbaren Heilkräfte ihrer Lieblingskreaturen rühmte, weil ich in ihrem Beisein stets die Größe der Pferde nach der Menge der potentiellen Sauerbraten-Portionen bemesse, was immer wieder helle Empörung bei ihr und anderen Liebhabern und -innen dieser Gattung hervorruft. Aber lecker isser dennoch, der Sauerbraten vom Pferd aus dem Rheinland – so mit Klößen und Rosinen in der Soße.

Das allwissende Blatt – vermutlich auch um die Unsinnigkeit seiner Schlagzeile wissend – gibt auf seine hirnrissige Frage auch eine Antwort, die ich hier nicht vorenthalten will: Ist das Pferdefleisch (was selbstverständlich häufig in bettelarmen Landstrichen vorkommt) zu stark mit dem Dopingmittel Phenylbutazon durchseucht, kann es sogar tödlich sein, den daraus gebruzzelten Sauerbraten zu verspeisen. Ok, sage ich mir, ok, dann esse ich doch lieber nur noch Schweinefleisch, da ist wenigstens stets eine klinische Dosis Antibiotikum drin, was mir den Gang zur Apotheke erspart, wenn ich ein Furunkel oder so was hätte.
Dann stellt die auflagenstärkste der allwissenden Zeitung aber gleich im folgenden Satz fest, dass Pferdefleisch im Normalzustand völlig folgenneutral beim Verzehr sei.

Noch mal ok. Dann ist das also so: Biokörnerbrötchen sind gefährlich, wenn ich sie vor dem Verzehr mit Marcumar impfe (dem Rattengift ähnlicher Blutverdünner). Also sollte ich, um sicher zu gehen, stets weiße Brötchen zu mir nehmen. Aber wie ist es dann, wenn mal wieder jemandem einfällt, die wirkungsvolle Schlagzeile über einen Bericht zum nächsten Skandal aufzuwürzen? Etwa: Großbanken machen mir Ihrem Geld, was sie wollen! Ach nee, kein gutes Beispiel, das würde ich ja sofort glauben.

Stellen wir abschließend fest: Sauerbraten ist auch vom Pferdefleisch nach wie vor köstlich, der Skandal an sich ist zwar empörend, wenn auch nicht sonderlich pfiffig eingefädelt. Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ging ein Pferdefleischskandal vom Unnaer Schlachthof aus und ergriff halb Europa. Der Betrug tickte auf, als bei einem Senatsessen in Bremen ein speisender Metzger fachmännisch feststellte, dass Rinderbug anders gefasert sei.

Trotzdem guten Appetit, aber nehmen Sie Pferdefleisch vom Metzger Ihres Vertrauens. Hier das Rezept:

Den Essig und das Wasser 1:1 in einen Topf mit Deckel geben. Das Pferdefleisch, ca. 1 Kilogramm, darin einlegen. Die Zwiebeln in Scheiben geschnitten mit den Wacholderbeeren und den Nelken dazu geben. Das Fleisch muss mit dem Sud bedeckt sein. Zugedeckt 3 Tage ziehen lassen, dabei einmal täglich wenden.

Nach 3 Tagen das Fleisch herausnehmen und gut mit Küchenrolle abtrocknen. Die Zwiebeln und Gewürze in einem Sieb abtropfen lassen. Das Fleisch mit Salz und Pfeffer würzen und dann reichlich mit Zucker einreiben. In einem Bräter scharf (heiß) anbraten, damit der Zucker schön karamellisiert und eine schöne Kruste entstehen kann. Die abgetropften Zwiebeln und Gewürze beigeben und mit anbraten. Zwischendurch immer mal mit dem Sud ablöschen, bis auch die Zwiebeln schön braun gebraten sind. Das ist wichtig, damit die Soße später auch ihre eigene dunkle Farbe erhält. Soviel von dem Sud in den Bräter geben, wie man an Soße braucht. Dann gut aufkochen lassen und den Braten bei geschlossenen Deckel ca. 1,5 – 2 Std. schmoren. Danach den Braten unbedingt abkühlen lassen, da er beim Schneiden sonst zu sehr zerfasert.

Jetzt kommt der schwierigste Teil, die Soße. Den Sud passieren, aufkochen lassen und etwas reduzieren. Dann die Printen oder Lebkuchen beigeben, aber nicht alle auf einmal. Sie sollen sich auflösen und die Soße binden. Sie sollte schön sämig sein. Je nach Geschmack noch etwas Zuckerrübensirup beigeben. Der eine mag es gerne säuerlich, der andere eben süßer. Die Fleischscheiben in der Soße erwärmen. Dazu reiche ich selbst gemachte Knödel halb-und-halb mit Rotkohl.




Beseelte Technik: Joyce DiDonato brilliert in der Essener Philharmonie

Mit zwei Vorurteilen räumt die amerikanische Sängerin Joyce DiDonato gründlich auf: Das erste ist, mit einer Stimme, die für Richard Strauss` „Ariadne auf Naxos“ oder für Massenets „Cendrillon“ geeignet sei, könne man Barockmusik nicht stilistisch adäquat singen. Auch das zweite hat keinen Bestand: Es müssen keine weißen, flachen, dünn vibrierenden Stimmchen sein, um den „informierten“ historischen Klang korrekt zu treffen.

Joyce DiDonato bringt für ihre „Drama Queens“ alles mit, was in den Schulen des Belcanto seit dem 17. Jahrhundert essentielle Kennzeichen einer guten Stimme und eines ausdrucksvollen, weil technisch richtigen Vortrags waren: ein maßvoll individuelles Timbre, ausgeglichene Tonbildung in allen Lagen, eine volle, verfärbungsfreie Emission des Tons im Piano wie im Forte, eine sichere Atemstütze, einwandfreie Artikulation, bruchloses Legato und eine bewundernswerte Messa di Voce, jenes freie Anschwellenlassen des Tones auf dem Atem, das seit jeher die Bewunderung der Gesangsenthusiasten hervorgerufen hat. Dazu tritt bei ihr eine gestische Bewältigung des Singens, die zu einem natürlich wirkenden Ausdruck führt.

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

DiDonatos Stimme ist trotz aller technischen Finesse kein kühles Instrument. Für all die gekrönten Protagonistinnen aus der barocken Oper von Antonio Cesti bis Antonio Vivaldi bringt sie zwar die Virtuosität für die Darstellung der Affekte mit. Aber sie beseelt ihren Vortrag gleichzeitig durch eine innere Glut der Emotion, die einen distanzierenden „Vortrag“ überwindet. Was sie von anderen, durchaus auch beeindruckenden modernen Diven des barocken Genres unterscheidet, ist die technisch nahezu makellose Absicherung der musikalischen Gefühlswelten.

Da gibt es keine hauchigen Seufzer, keine verdünnten Piano-Piepser, kein forciertes Auftrumpfen. Aber dafür eine faszinierende Palette aus der Stimme und ihrem Potenzial entwickelter Farben. Kein Verismo also: Der Kunstcharakter des Singens bleibt erhalten. Singen im Geist der großen Opern-Epochen vor der Romantik, nicht „expressiv“ aufgemischtes Pseudo-Barock. Was sie auch von den anämischen Versuchen mancher fiepiger Kopfsänger auf den Spuren ihrer entmannten Vorgänger angenehm unterscheidet.

In der Philharmonie Essen streifte Joyce DiDonato noch einmal durch die Welt der antiken und mythologischen Herrscherinnen: Persische und mykenische Prinzessinnen fügen sich in Tod und Wonne; gleich zwei Mal beseelen die ägyptische Königin Cleopatra  edle Resignation und gespenstische Rachelust: Johann Adolf Hasses „Morte col fiero aspetto“ spiegelt jene barocke, aus dem christlichen Glauben gespeiste Vertrautheit mit dem Tod wider, aus der Mozart die lebensbeendende Macht noch als seinen „Freund“ bezeichnen konnte: Kein grausam-schreckliches Gesicht zeigt der Tod, denn er befreit die Seele aus dem Gefängnis der menschlichen Existenz. DiDonato fängt diese edle Resignation in exquisiten Farben und dynamischen Schattierungen ein.

Die Cleopatra aus Händels „Giulio Cesare“ ist aus einem anderen Holz: Sie beklagt in „Piangerò la sorte mia“ ihr Schicksal in wehmütigem Piano, um kurz darauf in energischer Koloratur dem Tyrannen Qualen aus dem Jenseits anzudrohen. Wie Joyce DiDonato Händels Phrasierungsbögen mit Glut und Glanz erfüllt, ist hinreißend. Nach Giovanni Portas „Madre diletta, abbracciami“, ein ergreifendes Lamento aus der Oper „Ifigenia in Aulide“, wagt das Publikum kaum zu klatschen, so intensiv gestaltet die Sängerin diesen Abschied von der Mutter. Und in Händels „Brilla nell‘ alma“ aus der selten gespielten Oper „Alessandro“ glänzt DiDonato mit frei und locker gefügten Koloraturenketten und technisch perfekt gebildeten Trillern – aber eben nicht als Selbstzweck, sondern als superbe Ausformung innerer Regungen.

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Unter den drei Zugaben entrückt Reinhard Keisers „Lascia mi piangere“ aus „Fredegonda“ das Auditorium noch einmal in die elysischen Gefilde einer lyrischen Delikatesse, die momentan in der Welt des Gesangs nur mit Mühe ihresgleichen findet. „Il Complesso Barocco“, das begleitende Ensemble mit dem wendigen Geiger Dmitry Sinkovsky an der Spitze, wurde durch die „Queen“ des Abends auf den zweiten Platz verwiesen: nicht ganz zu Recht, wie Instrumentalstücke aus Glucks „Armide“ und Händels „Radamisto“ nahelegen. Der staubtrockene „historische“ Klang der Italiener wird freilich allein durch die farbenreiche, sinnliche Stimme DiDonatos in Frage gestellt: Vielleicht darf es auch auf Darmsaiten und Holzblättchen mittlerweile wieder etwas klangfroher zugehen?




Meilensteine der Popmusik (27): The Who

„Things they do look awful cold, hope i die before i get old…“ (My Generation/1965)

Superlative schmücken die großen Pop- und Rockstars bis heute, häufig erfunden und benutzt von der Industrie, um die Schützlinge noch besser zu vermarkten. King of Rock´n´Roll, King of Pop, Queen of Soul – die jeweils größte, wildeste und auch berühmteste Rockband – das waren die gängigen Prädikate. Eine Band aus dem Nordwestens Londons, die sich als erste Band überhaupt einen 100 Watt-Verstärker bauen ließ (damals in den 60-ern eine kleine, technische Sensation) setzte da andere Maßstäbe. Bei ihren Liveauftritten wurden neue Rekordwerte in Phon gemessen, sie firmierten fortan als die „lauteste Rockband der Welt“: The Who.

tommy

Ende der 50-er kam in den Arbeitervierteln der britischen Großstädte eine neue Jugendsubkultur auf. Die Mods (abgeleitet vom engl. „modernist“) versteckten ihre ärmliche Herkunft in schicken Designeranzügen und teurer Markenkleidung. Als Wetterschutz für den Ausflug auf dem italienischen Motorroller diente der Parka. Heftige Saufgelage und ständige Einnahme von Amphetaminen waren Voraussetzungen für jedes durchfeierte Wochenende. Dazu kamen regelmäßige Prügeleien mit den rivalisierenden Rockerbanden. Die Musik der Mods war schwarz, ihr Leitspruch lautete: „der Schein bestimmt das Sein“. Die musikalischen Helden kamen aus ihrer Mitte, und waren zu ihrer Zeit das wohl Abgefahrenste, was die damals brandneue britische Beatmusik zu bieten hatte.

Schon 1962 kamen Pete Townshend, Roger Daltrey und John Entwistle zusammen, ihre Musik klang wie eine umfassende Frustbewältigung der Nachkriegszeit im britischen Kleinbürgertum. Dabei waren Sänger Roger Daltrey und Bassist John Entwistle noch zurückhaltend in ihrem Auftritt. Den wahren Derwisch gab Gitarrist Pete Townshend auf der Bühne. Schon zwei Jahre später stieß der kongeniale Drummer Keith Moon zur Gruppe.

Von nun an endete fast jedes Konzert von The Who in einem zelebrierten Wutausbruch. Angeblich wurden im Laufe der Jahre über 3000 Gitarren auf der Bühne zerstört, dazu kamen etliche Schlagzeugsets und sonstiges Equipment. Am Ende blieb oft nur ein rauchendes, schwarzes Loch übrig. Die Abrissbirnen Townshend und Moon stürzten die Band immer wieder in große finanzielle Nöte, doch wie sagte ihr Kopf Pete Townshend dann: „Die Kunst geht vor!“  Und vor der Kunst kam die Droge, vorzugsweise als Alkohol. Das beförderte die Zerstörungswut der beiden Protagonisten, die ihnen alsbald auch Sperrvermerke von weltweiten Hotelketten eintrug. Die Drogen brachten den eigentlich introvertierten, mit Selbstzweifeln kämpfenden Pete Townshend an den Rand des Wahnsinns.

In diesen, für ihn schlimmsten Stunden, kreiert Pete Townshend sein Meisterwerk. Die rührende Geschichte vom taubstummen und blinden Flipperweltmeister Tommy Walker geht 1969 als erste große Rockoper um die Welt. Als Platte, Musical und schließlich auch als Film schreibt „Tommy“ Rockgeschichte, und macht den Kopf von The Who zum Multimillionär. Die Folgen für Pete Townshend sind katastrophal. Er driftet immer weiter ab in den Drogensumpf, statt Befriedigung kamen neuer Druck und alte Zweifel: „Ich war ein zutiefst verzweifelter Mann, saß wie ein Arschloch hinten im Fond des Mercedes 600, trank Cognac, diktierte Antworten auf Fanpost und hörte laut Musik. Manchmal, damit klar wurde, dass ein dreckiger Rockstar im Wagen saß und kein mächtiger Wirtschaftsboss, Diktator oder Papst, ließ ich die Scheibe herunter und streckte meine Doc Martens Stiefel raus.“ Als er 1978 vom plötzlichen Tod seines Saufkumpels Keith Moon erfuhr, war auch sein Leben für einen Moment am Ende. Der tiefe Schock ließ ihn trotzdem noch einmal auf Tournee gehen, direkt nach dem Tod des Schlagzeugers und Freundes.

Es begann ein langer Weg zu sich selbst, der bis heute noch nicht abgeschlossen scheint. Entzug und Therapie dauerten Jahrzehnte lang. Pete Townshend überlebte auch den Bassisten John Entwistle, der 2002 nach erhöhtem Kokainkonsum einem Herzinfarkt erlag. Obwohl sich The Who vor 30 Jahren offiziell trennten, gab es immer wieder Live-Comebacks und 2006 sogar eine neue Studio-CD. Ganze Generationen von Punk-, New Wave-, Hard Rock- und Brit-Popgruppen haben sich von der lautesten Rockgruppe der Welt inspirieren lassen. Und die Superlative bleiben letztlich für immer. Mag Paul McCartney vielleicht der reichste Rockmusiker sein, Elton John die schönsten Songs geschrieben, und Rod Stewart die hübschesten Blondinen abgeschleppt haben – für den mittlerweile fast tauben, 67-jährigen Pete Townshend bleibt unbestritten ein Prädikat: er ist der „durchgeknallteste“ Rockstar der Geschichte.

The Who on youtube

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Die bisherigen „Meilensteine“:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22), The Kinks (23), Michael Jackson (24), Bob Dylan (25), The Eagles (26)

 




Der Meeresgott schweigt – Cees Nootebooms „Briefe an Poseidon“

Gefallen an ungewöhnlichen Gedankenspielen und Bereitschaft, sich auf Mystisches und Mythologisches einzulassen, sollten die Leser der „Briefe an Poseidon“ auf jeden Fall mitbringen. Es ist schon ein eigenwilliges Buch, das Cees Nooteboom geschrieben hat, in dessen Tiefen es sich aber durchaus einzutauchen lohnt.

In vielen kurzen, prägnanten Episoden schreibt der Autor über Begebenheiten, die ihn berührt haben. Nun richtet er seine Texte allerdings an einen Adressaten, von dem er wohl gerne eine Antwort hätte, aber sie kaum erhalten wird. Nooteboom wendet sich an den Meeresgott Poseidon. Dass nun gerade diese griechische Gestalt zur Projektionsfläche wird, ist ebenso Zufall wie die Ereignisse, von denen der Autor erzählt. Es war an einem Februartag 2008 auf dem Münchener Viktualienmarkt, als er in einem Fischrestaurant auf eine Serviette starrt, die die Gottheit mit dem Dreizack zeigt. Das Buch, auf das er zuvor gestoßen war, ein Werk des Schriftstellers Sándor Márai (der mit seinen Vorlieben für Lesen, Reisen und Beobachten eine Art Alter ego von Nooteboom gewesen sein könnte), inspirierte den mehrfach ausgezeichneten Schriftsteller zu seiner besonderen Art von Korrespondenz.

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Es sind beispielsweise große Werke alter Meister, wie Gemälde von Brouwer, Rubens oder da Vinci, die Nooteboom anrühren. Nun beschreibt er nicht nur die Bilder eingehend, die übrigens in einem ausführlichen Anmerkungsapparat abgedruckt sind, er verknüpft mit den Betrachtungen auch gern Geschichten, die sich mit den Arbeiten in Beziehung setzen lassen. Mal sind es eher Randnotizen aus den Geschichtsbüchern, zu denen gehören dürfte, dass Samuel Beckett seine Vorliebe für Rubens sich auch durch die Nazis nicht vermiesen ließ und dessen Werke auch in einem Jahr wie 1936 im Kaiser Friedrich-Museum von Berlin anschaute.

Mal bietet sich aber auch beim Anblick eines Hafenbildes aus der beginnenden Neuzeit die Gelegenheit, zutiefst menschliche Fragen zu stellen. Wie ist es denn wohl eigentlich, wenn ein Mensch infolge eines Schiffsunglücks oder Flugzeugabsturzes in das Meer versinkt? Da müsste doch eigentlich Poseidon Expertenwissen mitbringen. Doch der schweigt. Nooteboom malt sich aus, wie oft dieser Gott wohl schon diese Dramen miterlebt haben muss. In solchen Worten steckt auch etwas Vorwurfsvolles. Der Verfasser berührt dabei durchaus die Frage, die auch Christen bewegt, warum nämlich ihr Gott Unheil und Übel zulässt. Indem Nooteboom mit Poseidon ringt, die griechische Mythologie mit ihren oftmals brutalen Machtkämpfen in Frage stellt, gewinnt das Buch eine durchaus religiöse Dimension. Und manchmal scheint der Autor Zwiegespräche mit „seinem“ Gott zu führen.

Bestechend an diesem neuen Buch von Nooteboom ist zudem die Präzision, wenn er über Tier- und Pflanzenwelt, das Weltall oder historische Ereignisse schreibt. Er selbst lässt sich gern von Eindrücken überwältigen. Dazu reicht das Wachstum einer Agave oder das Entdecken eines Lebewesens in den Untiefen des Meeres aus. Politisch bleibt sein Buch stets hochaktuell, verweist er doch auf ein Werk des griechischen Geschichtsschreibers Polybios (200 – 120 v. Chr.). Wenn er dessen Zeilen lese, habe er den Eindruck, die Tageszeitung von heute in Händen zu halten. Truppenbewegungen, Allianzen, Schlachten: Seit Poseidons Karrierebeginn hat sich so gut wie nichts geändert…

Cees Nooteboom: „Briefe an Poseidon“. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, 224 Seiten, 19,95 Euro.




Blitz aus heiterem Himmel: Der Papst tritt zurück

Zuerst lag es nahe, an einen Faschingsscherz zu denken, als gegen Mittag die Meldung verbreitet wurde: Der Papst tritt zurück!

Inzwischen sind die Quellen abgesichert, die Ansprache von Benedikt XVI. vor den Kardinälen heute, am Vormittag des Rosenmontags, liegt im Wortlaut vor: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“ Ab 28. Februar, 20 Uhr – so der Papst – sei der Bischofssitz von Rom, der Stuhl des heiligen Petrus, vakant.

Der Rücktritt kommt überraschend, wie ein „Blitz aus heiterem Himmel“, wie Kardinal Angelo Sodano kommentierte. Offenbar hat sich der Papst schon längere Zeit mit dem Gedanken an einen Rücktritt befasst, aber im Vatikan höchstens mit wenigen Vertrauten darüber gesprochen. In den vergangenen Monaten habe er gespürt, dass in ihm die Kraft des Körpers und des Geistes abgenommen habe, bekennt der Papst. Und zwar derart, dass „ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen“.

Eine ernste Entscheidung. Ob sie auf eine fortschreitende Erkrankung des 85-jährigen oder auf das Gefühl zunehmender Schwäche im Alter hinweist, dürfte in den nächsten Tagen reichlich Stoff für Spekulationen geben. Bisher hat es in der Geschichte der Kirche nur wenige Rücktritte von Päpsten gegeben: Einer war Cölestin V., der 1294 – zerrieben vom Streit des römischen Adels – auf das Amt verzichtete. In den Wirren des Spätmittelalters mit seinen Gegenpäpsten gab es mehrere erzwungene Rücktritte. Benedikt dürfte der erste Papst sein, der tatsächlich in voller Freiheit auf das Amt des Bischofs von Rom verzichtet.

Lange Zeit war kirchenrechtlich umstritten, ob ein Papst überhaupt zurücktreten könne. Der neue „Codex Iuris Canonici“ von 1983 legt fest, der Rücktritt müsse lediglich frei geschehen und hinreichend kundgemacht werden. In diesem Fall beginnt – wie beim Tod eines Papstes – die sogenannte Sedisvakanz. In dieser Zeit trägt der „Camerlengo“ – der Kardinal-Kämmerer der Katholischen Kirche – die „Sorge um die zeitlichen Güter und Rechte des Heiligen Stuhls“. Die päpstlichen Vollmachten verwaltet das Kardinalskollegium. Der Papst selbst wird nach seinem Rücktritt den Status eines emeritierten Bischofs haben.

Die Wahl des neuen Papstes – wählbar ist theoretisch jeder getaufte, vernunftbegabte, rechtgläubige Katholik – geschieht durch das Konklave, die Wahlversammlung der derzeit 118 wahlberechtigten Kardinäle. Es beginnt frühestens am 15., spätestens am 20. Tag nach dem Rücktritt und muss in der Sixtinischen Kapelle abgehalten werden. Das Wort „Konklave“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „verschlossener Raum“. Während der Wahl sind die Kardinäle von der Außenwelt abgeschirmt und zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Bis Ostern dürfte ein neuer Papst die Katholische Kirche leiten.

Papst Benedikt XVI. ist der 265. Papst der Kirche. Er wurde am 19. April 2005 in einem der kürzesten Konklaves der Kirchengeschichte gewählt. Seine erste Auslandsreise führte ihn im August 2005 zum Weltjugendtag nach Köln. In der Öffentlichkeit führte die erste Wahl eines Deutschen seit dem 1523 gestorbenen Hadrian VI. zu breiter Zustimmung („Wir sind Papst“), während in kirchlichen Kreisen die Meinungen geteilt waren: Die einen schätzten den Präfekten der Glaubenskongregation und engen Mitarbeiter Papst Johannes Pauls II. als hochkarätigen Theologen mit tiefer Spiritualität, die anderen sahen in ihm einen zu strengen, erzkonservativen Kirchenmann und unterstellten ihm die Tendenz, die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils zurücknehmen zu wollen.

Tatsächlich kam es im Pontifikat Benedikts XVI. immer wieder zu Entscheidungen, die von konservativen Kreisen in der Katholischen Kirche bejubelt, von den Skeptikern aber als Bestätigung ihrer Bedenken aufgefasst wurden. Dazu gehört etwa sein versöhnlicher Kurs gegenüber den Traditionalisten der Bewegung „Priesterbruderschaft Pius X.“, während er andererseits Thesen des lateinamerikanischen Befreiungstheologen Jon Sobrino verurteilen ließ. Dazu zählt auch die Aufwertung des vorkonziliaren Ritus der Messfeier. Und obwohl der Papst jeder Form des Antisemitismus eine scharfe Absage erteilte, verstörte 2008 die Reform der Karfreitagsbitte für die Juden.

In der internationalen Öffentlichkeit genießt Benedikt XVI. großes Ansehen wegen seines kompromisslosen Eintretens für Frieden, Menschenrechte und Religionsfreiheit. Dass er als Papst sein theologisches Werk – parallel zu seinem Amt und seinen offiziellen Erklärungen und Enzykliken – fortgesetzt hat, ist einzigartig: 2007 erschien der erste Band eines umfassenden Werks zu „Jesus von Nazareth“; der dritte, abschließende, folgte im Advent 2012. Wegweisende päpstliche Rundschreiben wie die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ (2009) erzielten nicht die verdiente Beachtung. Das lag wohl auch an den Missbrauchsskandalen, die seit 2009 die Kirche erschütterten und in vielen Ländern ein bis dahin nicht für möglich gehaltenes Ausmaß erreichten. Immer wieder äußerte sich Benedikt XVI. auch missverständlich, so etwa in Regensburg in einer viel kritisierten Redepassage zu den Muslimen oder bei seinem letzten Deutschlandbesuch im September 2011 mit dem Begriff der „Entweltlichung“ der Kirche.

Benedikt XVI. hat in den knapp acht Jahren seines Pontifikats – seiner Linie treu – versucht, die wesentlichen Positionen des christlichen Glaubens vernunftgemäß zu erklären und zu begründen. Dass er damit ausgerechnet in der Katholischen Kirche seines Heimatlands viele Gläubige nicht erreicht hat; dass sich seit 2005 der Graben zwischen Kirche und moderner Welt eher noch weiter geöffnet hat; dass die kritische Haltung gegen bestimmte kirchliche Lehren inzwischen auch den inneren Kern der Kirchenmitglieder erreicht hat, gehört zur persönlichen Tragik dieses intellektuell und theologisch hochstehenden, persönlich integren Papstes. Dass er in klarer Einsicht in seine persönliche Situation auf sein Amt verzichtet, ist ein entschlossener Schritt, der bewundernswerten Mut zeigt. Schließlich ist der Rücktritt auch ein Zeichen der Demut, mit dem der Papst sein Amt verwaltet hat. Denn Machtgelüste waren Joseph Ratzinger fremd – da waren sich Insider bis auf wenige Ausnahmen immer einig.

Inzwischen wurde bekannt, der Papst werde nach Ende seiner Amtszeit zunächst in Castel Gandolfo wohnen und dann in das bisherige Karmel-Kloster innerhalb der Mauern des Vatikan ziehen, um dort ein „Leben in Gebet und Meditation“ zu führen. Die ersten Reaktionen auf den Rücktritt sind geprägt von Überraschung und von Respekt für die Lebensleistung Benedikts XVI.




Geschundenes Teufelsweib: Schostakowitschs „Lady Macbeth“ in Gelsenkirchen

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

26 Jahre alt war Dmitri Schostakowitsch, als er es wagte, Stalins Sowjetunion erneut den Spiegel vorzuhalten. Mit den Mitteln der Groteske wirft seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ grelle Schlaglichter auf brutale Herrschaftsstrukturen und den viehisch verrohten Menschenschlag, den sie hervor bringen. Das Gelsenkirchener Musiktheater zeigt das tollkühne Meisterwerk jetzt in der Fassung, die Hausherr Michael Schulz vor anderthalb Jahren für die Bühne des Staatstheaters Kassel erarbeitete.

Die Schwärze der menschlichen Abgründe, in die Schostakowitsch uns blicken lässt, hebt sich trefflich von Dirk Beckers weißer Bühne ab, in der ein paar junge Birken Natur andeuten. Im Schlussbild senkt sich die Decke herab: Ihre kreisrunde Öffnung zum Himmel verwandelt sich dann zur Mauer eines Konzentrationslagers. Weshalb die Titelheldin Katerina Ismailova und ihr Geliebter Sergej letztlich dort enden, erzählt Michael Schulz mit klarem Blick auf die desolaten Verhältnisse und sicherem Gespür für die Psychologie der Figuren.

Katerina, dieses lebenshungrige Teufelsweib, lauert wie ein Tier hinter dem Gazevorhang, vor dem ihr tyrannischer Schwiegervater patrouilliert wie ein drohender Schatten. Sie muss morden, wenn sie leben will, findet ihrer Verbrechen wegen aber keinen Frieden. Ihren Weg vom Opfer zur Täterin, die abermals benutzt und gebrochen wird, arbeitet Schulz mit reduzierten Mitteln gekonnt heraus. Er holt die Blechbläser auf die Bühne, auf dass ihre wüsten Fanfaren uns die ganze Geilheit und Falschheit dieser Welt in die Ohren trompeten.

Schwach wird die schlüssige Inszenierung nur dann, wenn sie der Satire zusätzliche Lustigkeit aufpfropfen will. Dann spielt eine Turnsportgruppe mit einer Stalin-Büste Fangen, und die Komsomolzen-Parade im dritten Akt schwenkt statt roter Fahnen plötzlich Luftballons. Solche Clownerien fordern ein glucksendes Lachen heraus, das angesichts der Millionen Opfer von Stalins blutigem Zirkus besser im Halse stecken bliebe.

Schier Unglaubliches klingt dafür aus dem Orchestergraben. Von dort hämmern uns orgiastische Ausbrüche und wüst rammelnde Rhythmen entgegen. Vulgarität und Rohheit spritzen aus der Partitur, verzerrte Operetten-Zitate träufeln ätzende Ironie hinein. Die Musik höhnt und stöhnt, aber die Neue Philharmonie Westfalen flankiert die erschreckenden Exzesse mit zärtlichsten Rusalka- und Tristan-Klängen, wenn Katerina ihr kurzes Liebesglück genießen darf. Der bereits viel gerühmte Aufschwung, den das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann genommen hat, ist nach dieser Premiere endgültig als Sensation einzustufen.

Große Klanggewalt entfalten auch Opern- und Extrachor des Theaters. In der Titelpartie zeigt der Sopran von Yamina Maamar neben glutvollem Trotz und fordernder Leidenschaft zuweilen Schärfen, berührt aber in den leisen Momenten, in denen Katerina die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift. Lars-Oliver Rühl klingt als Sergej häufig statisch, gleicht Defizite aber durch schauspielerische Vehemenz aus. Als völlig verhärteter Gutsbesitzer, der gleichwohl Sorgen kennt, überzeugt Tomas Möwes mit charakterstarkem Bariton.

Wenn Katerina diesen grausamen Schwiegervater vergiftet, ahnt sie ihr eigenes Ende noch nicht. Denn so tief kann der Mensch offenbar nicht sinken, dass er keinen noch Elenderen fände, um ihn zu treten und zu schinden.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Nähere Informationen zum Stück/Karten: www.musiktheater-im-revier.de)




Wagnisse erwünscht – das Programm der Ruhrfestspiele 2013

Programmheft RuhrfestspieleAufbruch und Utopie – unter diesem Motto stehen in diesem Jahr die Ruhrfestspiele. Nach ergiebigem Studium des Programmheftes stellt sich allerdings schon die Frage, ob das Motto nicht ein wenig zu gewagt und da eher der Wunsch der Vater des Mottogedankens ist.

Wenig spektakulär, kaum wagemutig mutet das Programm an. Schon quantitativ ist es weniger umfangreich als in den letzten Jahren. Ein Zeichen, dass auch das Programmheft kleiner ist als sonst? Ein Zeichen, dass man in der sonst so umlagerten Kartenstelle sogar in der ersten Woche des Vorverkaufs ohne Wartezeit sofort drankommt? Ich hoffe nicht. Denn eigentlich ist es ja Konsens, dass die Ruhrfestspiele den Machern und dem Publikum gleichermaßen am Herzen liegen.

Geben wir also jener Epoche eine Chance, die gerne die Geburt der Moderne genannt wird. Denn aus dieser Zeit, beginnend mit dem wilhelminischen Zeitalter bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, sind die Werke, die 2013 zur Aufführung auf dem Hügel und umliegender Spielstätten gelangen. Kafka, Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, Fallada – um nur wenige zu nennen, deren Werke das gewünschte Spannungsfeld zwischen Realität und Utopie zeigen sollen.

Hedda Gabler wird die Ruhrfestspiele eröffnen, eine Premiere in Ko-Produktion mit dem Deutschen Theater, Berlin. Auch im weiteren Verlauf setzt man auf bewährte Ko-Produktionen, so mit dem Théâtre National du Luxembourg. Das St.Pauli Theater Hamburg, welches in den letzten Jahren vielleicht nicht immer für Highlights, aber zuverlässig für Kontroversen sorgte, ist diesmal leider nur mit einer, eher brav anmutenden Ko-Produktion dabei.

Internationale Stars glänzen eher durch Abwesenheit, auf dem Hügel bereits bekannte Akteure wie Angela Winkler oder Christian Brückner geben sich aber wieder die Ehre. Auch auf einige Stars der Theaterszene, wie die wunderbare Birgit Minichmayr, für die der schöne Festspielort auf dem Recklinghäuser Hügel Neuland ist, darf man sich freuen. Mit der Halle des alten Bergwerks König Ludwig wird zudem ein neuer, traditionsträchtiger Spielort präsentiert.

Ein umjubeltes Highlight war im letzten Jahr das Ballett Onegin in der Choreographie von Boris Eifman. Eifman und seine St.Petersburger werden auch dieses Jahr wieder da sein, diesmal mit Red Giselle, eine der wenigen Produktionen, für die es bereits jetzt nur noch wenige Karten gibt. Ein besonderes Event erwartet man sich dieses Jahr vom Abschlusskonzert. Keine Geringeren als die Fantastischen Vier dürfen den Hügel rocken und wohl wie ihre Vorgänger von der einzigartigen Location begeistert sein.

Allerdings wird gerade beim Abschlusskonzert mit einer langjährigen Tradition gebrochen. Bonuskarten waren einmal. In diesem Jahr gibt es gerade mal 5 Euro Nachlass für die ersten 1500 Ticketkäufer, die mehr als 6 Karten für die Ruhrfestspiele erwerben. Bei 40 Euro pro Karte für das Abschlusskonzert ein mehr als mageres Goodie. Keine Frage, 40 Euro ist ein fairer Preis für Konzerte dieser Art, den Fanta4 sicher auch angemessen. Das soll hier auch gar nicht bezweifelt werden. Dennoch – die Ruhrfestspiele sollten immer auch ein Festival auch für die sogenannten kleinen Leute sein und ihnen den Zugang zu solchen Veranstaltungen ermöglichen. Zudem bleibt zu bedenken, dass man auf dem Open-Air-Hügel nicht überall wirklich gut sehen kann, zudem hat dort um 22:00 Uhr Schluss zu sein.

Bleibt die Frage, ob diese neue Praxis den Fanta4 geschuldet oder ob es einfach nur folgerichtig für eine Stadt ist, die gerade erst die Grundbesitzabgaben und die Gewerbesteuern deutlich erhöhte, dafür sogar extra in einem Brief um Verständnis warb und es sich nun wohl kaum mehr leisten kann, Karten zu verschenken.

Ausführliche Infos zu den Veranstaltungen finden sich auf der Internetseite der Ruhrfestspiele Recklinghausen.




Das Revier und der Stahl – am Anfang stand die Industrie-Spionage

Der Weltkonzern Thyssen-Krupp will sich in Europa von seinem Stahlgeschäft trennen – diese Nachricht erschreckte in den letzten Tagen nicht nur die übel betroffenen Arbeiter und Angestellten des Konzerns. Dabei gehört das Stahlkochen doch zur Kernkompetenz der Ruhrgebiets-Industrie. Oder etwa doch nicht?

Der Behlinger Hammer im Tal der Ennepe gehörte den Harkorts.

Der Behlinger Hammer im Tal der Ennepe gehörte den Harkorts.

Ein unvollständiger historischer Rückblick auf die Reviergeschichte zeigt Überraschungen: Die Familie Harkort betrieb im 18. Jahrhundert neben ihrem Werk in Haspe bereits im oberen Tal der Ennepe ein Erzbergwerk und dazu in der Nähe ein Wasser betriebenes Hammerwerk, auf dem Gebiet der heutigen Stadt Ennepetal gelegen. In dem Hammerwerk wurde verhüttetes Eisen aus der Region und aus dem Siegerland geschmiedet, denn die Stahlherstellung beherrschte man noch nicht. Erste Versuche in einer Wittener Fabrik und an anderen Orten an der Ruhr scheiterten, weil man mit Holzkohlefeuerung die für den Stahlguss erforderlichen Temperaturen nicht erreichen konnte.

Erst Friedrich Harkort, der heute als Pionier anerkannt ist, lernte durch Industriespionage in England das Puddelstahlverfahren kennen. Er brachte, gegen den Widerstand der anderen Fabrikanten, nicht nur das Verfahren mit nach Deutschland, sondern auch die passenden Fachleute. In Wetter an der Ruhr baute er seine „Mechanischen Werkstätten“, die Keimzelle des späteren Mannesmann-Demag-Konzerns. Hier arbeitete er mit dem englischen Meister Thomas und zahlreichen in England abgeworbenen Arbeitern zusammen, die zwar schon morgens kräftig Schnaps und Bier tranken, aber in ihrem fachlichen Können unschlagbar waren.

1811 gründete Friedrich Krupp das erst Gussstahlwerk in Deutschland, doch das Stahlkochen in großem Stil gelang aber erst später, als man aus der Steinkohle industriell den Koks herstellen und damit den Brennstoff für deutlich höhere Temperaturen bereitstellen konnte.

Am Anfang der Industrieentwicklung im Ruhrgebiet aber stand, wie heute ähnlich in China, die Industriespionage.




Als der Beat auch ins Ruhrgebiet kam

Ach ja, diese geschenktauglichen Generationenbücher! Da fühlt man sich beim Lesen und Betrachten so heimelig aufgehoben.

Man hört von Menschen, die mit dem selben Zeitaroma aufgewachsen sind und weitgehend ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie man selbst. Widersprüche gibt’s im Leben sonst genug, hier aber erhält man rundum Bestätigung.

Nicht nur oberflächlich lassen sich solche Gemeinsamkeiten ungefähr seit Mitte der 50er Jahre vor allem an populärkulturellen Phänomenen ablesen: Man huldigt den gleichen Moden, Musikvorlieben, Kultmarken, Reklamesprüchen, lässigen Redensarten oder auch Fernsehfiguren.

Derlei Bücher heißen dann gern mal so: „Mini, Beat und Texashosen“. Unschwer zu erkennen, dass es sich um die 1960er Jahre dreht. Der Titel klingt liebenswert, kurios und beinahe schon putzig; Grundtenor ist der Seufzer all jener, die ein wenig in die Jahre gekommen sind: „Ach, weißt du noch…“ Und: „War es nicht schön, obwohl alles viel bescheidener zuging als heute?“

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Noch näher fühlt sich das alles an, wenn der regionale Aspekt hinzukommt. Also hatte die WAZ ihre Ruhrgebiets-Leserschaft aufgerufen, sich an die 60er im Revier zu erinnern. Dortmund kommt allerdings nur am Rande vor, denn die Stadt hat ja nie zum Kernland der WAZ gehört.

Entstanden ist eine streckenweise interessante und aufschlussreiche Materialsammlung in Text und Bildern, ein Heimatbuch mit vielen kleinen Impressionen und manchen funkelnden Facetten. Auf tiefere Sondierungen oder analytische Ansätze muss man hingegen verzichten.

Die rund 80 Erinnerungs-Texte ergeben – auf wechselndem Reflexionsniveau – dennoch ein Mosaik der Zeit. Gerade die privaten Fotos aus Partykellern, von Beatkonzerten, Spielstraßen oder Autoausflügen bersten zuweilen geradezu vor jener neuen Zeitstimmung, die sich allmählich neben die traditionell geprägten Lebensbereiche schob und auch das Proletarische weit hinter sich lassen wollte.

Solch ein Buch ist im Grunde relativ rasch beisammen. Lesertexte auswählen, ordnen, redigieren, illustrieren, Vorwort und Chronik hinzufügen – fertig ist die Laube. Wie günstig zudem, dass der Klartext Verlag zum WAZ-Imperium gehört. Da bleibt gleich alles in der Familie.

Den bei weitem größten Raum nimmt das Anfangskapitel über Musik ein. Etliche Geschichten ranken sich um drei zentrale Daten: Auftritt der Rolling Stones in der Essener Grugahalle (12.9.1965), Gastspiel der Beatles am selben Ort (25.6.1966) und Internationale Essener Songtage (25. bis 29.9.1968) mit Dutzenden Programmpunkten von Degenhardt bis Fugs, von Amon Düül bis Frank Zappa. Übrigens: Nach einigen Vorgruppen haben die Stones, wie sich ein Leser erinnert, im September 1965 angeblich nur 18 Minuten (!) gespielt, und zwar ziemlich miserabel.

Es ist heute kaum noch vorstellbar, auf welche teils absurden gesellschaftlichen Widerstände die anfangs so genannte „Beatmusik“ damals traf. Manche Ko-Autoren des Bandes vergolden freilich in der Rückschau selbst diese misslichen Verhältnisse. Zitat: „Aber die tolle Rolling-Stones-Musik war für die Eltern einfach nur ‚Negermusik’. Die 60er waren eine Superzeit!“ Der Übergang hört sich arg abrupt an.

Die weiteren, nicht immer trennscharf abgegrenzten Kapitel heißen Mode, Moral, Alltag und Auf Achse. Man spürt an vielen Stellen, dass das Ruhrgebiet damals (vor Gründung der ersten Hochschulen) zwar noch einigermaßen prosperierte, aber doch in manchen Belangen sehr provinziell gewesen ist. Fotos von Studentendemos stammen denn auch aus Berlin, Frankfurt und Hamburg, nur ein Ostermarschbild kommt aus Essen. Manche Essenzen des Zeitgeistes kamen im Revier nur sehr verdünnt und verspätet an. Man kann sehr gut nachempfinden, dass damals etwa unter Jugendlichen in Kamp-Lintfort besonders große Sehnsucht nach London aufkommen musste. Gerade solche ungeheuren Diskrepanzen machen einen Reiz dieses Buches aus.

„Mini, Beat und Texashosen“. Erinnerungen an die 60er Jahre im Ruhrgebiet. Hrsg.: Rolf Potthoff, Achim Nöllenheidt. Klatext Verlag, Essen, 176 Seiten, 13,95 Euro.




Familienfreuden VIII: Druckerschwärze ahoi!

Wenn Fiona aufwacht – was derzeit noch zu einer verträglichen Uhrzeit geschieht -, gibt es für sie schon jetzt kleine Morgenrituale.

Schnalzübungen mit der Zunge lassen uns ahnen, welche irren Abenteuer sie nachts erlebt hat. Und die Spritze, die eigentlich keinen richtig lustigen Hintergrund hat (es sei denn, Bakterien für die Darmflora könnten singen), wird von ihr liebevoll in die Hände genommen wie sonst nur Hubbi, der rasselnde Hund.

Doch selbst Hubbi, Otto die Krake oder Chantal, der kuschelige Schnuffeltuchbär (ein Zoo seltsamer Vornamentiere) sind vergessen, wenn Fiona die Zeitung erblickt. Fiona weiß schon jetzt, dass dieses schwarz-weiße Druckwerk zum Frühstückstisch gehört, wie für sie die Muttermilch. Mit großen Augen betrachtet sie die bunten Fotos und greift nach ihnen, als könne sie die Menschen darauf anfassen. Und wenn ich ihr den ein oder anderen Artikel vorlese, kommentiert sie die Geschichten mit lauten „Aaahs“, „Buuuhs“ und „Pfffts“, als wüsste sie schon ganz genau, was ein guter Text ist.

Letztens, als ich in den Genuss meines Kaffees versunken war, hörte ich plötzlich ein wildes Rascheln und glucksende Laute: Fiona, den unbeobachteten Moment nutzend, hatte sich die Zeitung geschnappt und sich komplett eingewickelt in diese Worte, die die Welt beschreiben. Glücklicher konnte sie kaum aussehen. Auch wenn die anschließende Waschorgie auf wenig Begeisterung stieß – Druckerschwärze, ahoi!

Ach, Zeitung Du, ohne Dich geht es nicht beim Frühstück!




Klassenkampf light: Schauspielhaus Bochum zeigt Brechts „Im Dickicht der Städte“

Am Schönsten ist das Bühnenbild: Aus tausenden bunten LED-Leuchten zusammengesetzt, glitzert auf schwarzem Bühnenhintergrund das nächtliche Chicago. Auch in seiner Zerstörung funkelt es noch verführerisch, wenn sich die die kleinen Lämpchen schon längst über den Bühnenboden verteilt haben. Am zweitschönsten ist die Musik: Nadja Robiné im Amy Winehouse-Outfit bereichert die Szenerie mit coolen Songs und jazzig angehauchten Rhythmen, arrangiert hat das Daniel Murena für das Schauspielhaus Bochum.

Ansonsten führt Roger Vontobels Inszenierung von Bertolts Brechts „Im Dickicht der Städte“ vor, was aus dem guten alten Klassenkampf geworden wäre, gäbe es ihn heute noch. Statt in einer Leihbücherei würde George Garga (Florian Lange) in einer Videothek arbeiten, was der Zuschauer dann auch großformatig im Video zu sehen bekommt. Die armen Leute, in diesem Falle seine Eltern, säßen unförmig verfettet und chipsfressend auf dem Sofa und glotzten Unterschichtsfernsehen. Seine Schwester Marie ginge lieber mit dem trashigen Brutalo-Rapper, Typ nervöser Irak-Veteran, als sich mit einem „Schlitzauge“ einzulassen.

Foto: Arno Declair

Foto: Arno Declair

Obwohl das „Schlitzauge“ namens Shlink schweinereich und folglich von einer Gang halbseidener Mafia-Typen umgeben wäre. Aus reiner Willkür und um des Kampfes willen, hat der Holzhändler die Absicht, den armen George Garga in den Abgrund zu stoßen und ihm seine Überzeugungen gleich mit abzukaufen.

Doch warum Holzhandel? Hier hätte Vontobel in seinem Brecht 2.0 eigentlich so einen Internetfritzen mit Allmachtsfantasien entwerfen müssen – wie beispielsweise WikiLeaks-Gründer Julian Assange oder so. Aber bei genauem Hinsehen: Ähnelt Matthias Redlhammer mit seinem silbergrauen Haar und seinem schwarzen Anzug dem nicht sogar ein bisschen?

Im Grunde also hat der Relaunch von Brechts Frühwerk (Uraufführung 1923) ganz gut geklappt. Die Frage ist nun, warum die Inszenierung trotzdem nicht so recht zündet. Ist uns der Klassenkampf einfach zu fern? Kapieren wir nicht mehr seine existenzielle Schärfe, weil unser Unglück (teilweise) sozial abgefedert wird? Ist die Vereinzelung schuld, das Phlegma, sich zusammenzutun und zu engagieren? Oder das resignierte Gefühl, gegen einen übermächtigen Gegner, der einfach mal so die WR-Redaktionsstelle oder den Opel-Arbeitsplatz abschafft, sowieso nichts ausrichten zu können?

Dabei sagt doch Shlink: „Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, dass es birst, wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, dass sie alle gefrieren. Ja, so groß ist die Vereinzelung, dass es nicht einmal einen Kampf gibt.“

Vielleicht haben wir unseren Brecht ja inzwischen eingeholt oder er uns: Die Krieger sind müde, Kämpfe finden nur noch als Scheininszenierungen in der Glotze und im Videospiel statt. Und natürlich in Weltgegenden, die uns nichts angehen. Und zwei Kämpfern zuzusehen, die selbst gar keine Lust haben zu gewinnen, ist naturgemäß öde. Ach, zapp das mal weg und gib lieber die Chipstüte rüber. Ich trink noch einen Bubble Tea.

Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11204749




Endzeitstimmung in der Tanzschule: „Skin Deep Song“ in Essen uraufgeführt

Kann es einen trostloseren Ort geben als eine ehemalige Tanzschule? Eine vergessene Disco-Kugel hängt zwischen kaputten Deckenplatten, aus denen lose Kabel baumeln. Eine verstaubte Theke, ein Klavier, ein Glittervorhang. Das Arrangement gehört freilich zum Bühnenbild (Andreas Jander) – doch für die Uraufführung von „Skin Deep Song“ hätte das Theater Essen trotzdem keinen passenderen Ort finden können als diese ehemalige Tanzschule hinterm Bahnhof, die vom Theater eigentlich nur als Probebühne genutzt wird.

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Passend deshalb, weil das Stück des US-Dramatikers Noah Haidle in einem Tanzsaal spielt. Thomas Krupa übertrug es ins Deutsche und setzte es in Essen zum ersten Mal überhaupt in Szene.

Als „Endzeit-Stück“ wurde es vorab bezeichnet, es wurden Verbindungen zu den Stücken Becketts und zu Cormac McCarthys „Die Straße“ nahe gelegt – dieser Vergleich ist bis auf das Katastrophen-Motiv jedoch weit hergeholt.

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Tilo Beu)

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Thilo Beu)

„Skin Deep Song“ erzählt vordergründig vom Trauma zweier Schwestern, die das Attentat auf ihre Eltern, ein Königspaar, mit Rollenspielen und Witze-Erzählen zu verarbeiten versuchen. Haltlos irren sie in Kriegszeiten durch einen unbestimmten Raum, schleppen ihre toten, in Säcke verschnürten Eltern mühsam hinter sich her und ergehen sich in Erinnerungen, die sie mal zum Lachen, mal zum Weinen bringen.

In Rückblicken erfährt der Zuschauer mehr über die Familie, die da zerstört wurde: Eine furchtbar unsympathische Bande mit einem ordinären, despotischen Vater (Tom Gerber), einer hysterischen Mutter (Bettina Schmidt) und zwei albernen, kichernden Prinzessinnen. Mitten im vom König selbst angezettelten Krieg wollen sie ein rauschendes Fest feiern. Bis der Attentäter kommt und die Eltern hinrichtet – vor den Augen der Schwestern, von denen eine soeben zum ersten Mal mit einem Jungen getanzt und ihn geküsst hat.

Hintergründig ist dies also eine Geschichte vom Erwachsenwerden, vom mitunter brutalen Abschiednehmen – Abschied von der Kindheit, von den Eltern, von der exklusiven Innigkeit der Beziehung zur Schwester, die durch neue Beziehungen abgelöst werden wird. Das Attentat markiert jenen Punkt im Leben der Mädchen, an dem sich einfach alles ändert, irgendwo zwischen Pubertät und Erwachsensein. Die Vergangenheit? War zwar mit dieser Familie auch eine ziemliche Katastrophe, aber immerhin vertraut und berechenbar. Die Zukunft? Höchst unsicher, weshalb die Mädchen sich in ihren Rollenspielen lieber eigene verbindliche Regeln geben.

Silvia Weiskopf und Floriane Kleinpaß spielen diese gestörten, verstörten Schwestern höchst anrührend und überzeugen ebenso in den Rückblenden als niedlich-naive, behütete Dummchen mit wallendem Langhaar wie als glatzköpfige, in eine neue Welt gespuckte Girlie-Frauen.

Am Ende schenkt das Stück dem Zuschauer ein tröstliches Ende, wie es typisch ist für die Absolventen amerikanischer Schreibschulen: Die Schwestern begraben endlich ihre Eltern und erklimmen so eine nächste Stufe der Trauer. In ihrem dementen Opa (Heiner Stadelmann) haben sie zudem ein versöhnendes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefunden.

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Nähere Infomationen hier

(Der Beitrag erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Hilflos im Hahnenkampf: „Der Troubadour“ am Theater Dortmund

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine Mey) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder "Troubadour"-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine May) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder „Troubadour“-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das ist nun so eine richtige Männergeschichte. Nicht wissend, dass sie Brüder sind, bekämpfen sich Graf Luna und Manrico bis aufs Messer. Das Schicksal hat sie zu politischen Gegnern gemacht, und als wäre dies nicht genug, buhlen beide auch noch um die Gunst der gleichen Frau.

Auf der Opernbühne gibt dies Anlass genug für schluchzende tenorale Liebesständchen, zorndurchbebte Racheschwüre und wuchtige Ensembleszenen, wie Giuseppe Verdi sie in seinem Meisterwerk „Il Trovatore“ zu einer wahren Glanzparade von Ohrwürmern reiht. Um das Verdi-Jahr 2013 zu feiern, hat das Theater Dortmund jetzt seine Hausregisseurin Katharina Thoma mit einer Neuinszenierung der populären Oper beauftragt. Wie zuvor in ihrer Fassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“, verlegt sie die Handlung auch diesmal in einen Betonbunker mit verschiebbaren Elementen: freilich mit weit geringerem Erfolg. Thoma findet keine übergreifende Idee für das blockhaft aufgeteilte Libretto, das die Story in deutlich abgesetzten Tableaus erzählt. Die Vorgeschichte von der Zigeunerin, die im Wahn ihr eigenes Kind ins Feuer warf und Manrico fortan wie ihren Sohn groß zog, versucht sie mit filmischen Einblendungen verständlich zu machen. Aber ihr Versuch, den mittelalterlichen Stellvertreterstreit um den Thron von Aragón in unsere Zeit zu übersetzen, wirkt hilflos.

Die Mannen von Graf Luna sind als nicht näher bestimmte Soldateska gezeichnet. Manrico ist ein Draufgänger in Motorrad-Kluft: Zum Glück darf er seinen lächerlichen Helm nach dem ersten Auftritt ablegen. Eine reichlich beliebige Bilderflut zitiert die Schrecken des Bürgerkriegs. Damit Sondereinsatzkommandos, Nonnen und Zigeunergruppen sich nicht restlos verheddern, wirft die Regie in den Akt-Übergängen einfach mal eine Alarmsirene an. Dazu blinkt ein gelbes Warnlicht, als befänden wir uns auf einer ungesicherten Baustelle. Ratlosigkeit macht sich breit. Immerhin kommt es kurz vor Manricos Hinrichtung zu einem innigen Bild, wenn er und Azucena in einem ehemaligen Duschraum gefangen gehalten werden. Da bilden schmutzige nackte Fliesen den Hintergrund für reine, glühende Emotion.

Das Solistenquartett ist in Dortmund mit drei Gästen und einem Ensemblemitglied ansprechend besetzt. Der Südkoreaner Sangmin Lee, seit dieser Spielzeit in Dortmund engagiert, durchmischt den mit grimmigen Machtanspruch des Grafen Luna zunehmend mit Untertönen glühender Verzweiflung, je mehr dieser im Kampf um Leonora den kürzeren zieht. Ihr Rollendebüt als Leonora gibt Susanne Braunsteffer. Ihr Sopran verbindet Durchschlagskraft und Leidenschaft mit einem Timbre, das eher zuverlässig robust klingt als elegant. Die ungeformten, ja statischen Töne, mit denen Stefano La Colla der Titelpartie zunächst Gewalt antut, weichen im zweiten Teil des Abends gottlob beseelteren Klängen. So tritt zur Kraft des hohen C zunehmend auch Gefühl. Obgleich die Mezzosopranistin Hermine May keine sehr kräftige Stimme besitzt, ist die Zigeunerin Azucena mit ihr passgenau besetzt. Sie findet dämonisch dunkle Farben, die sie in Momenten des Wahns immer wieder zu flammenden Spitzen steigert.

Die von Granville Walker vorbereiteten Chöre verwechseln Kraft nicht mit übertriebener Lautstärke, sondern bilden einen festen Rahmen für die Hahnenkämpfe der Protagonisten. Aufmerksam und subtil agieren die Dortmunder Philharmoniker: Unter der Leitung von Lancelot Fuhry spulen sie die zahlreichen Kabaletten und Kavatinen keineswegs routiniert herunter, sondern geben ihnen elastisch federnde Grund-Rhythmen. Flirrend untermalen sie Azucenas Visionen vom Scheiterhaufen, seufzend und zärtlich den Traum der Liebenden von einem letzten Frieden.

Was die Produktion musikalisch zu bieten hat, wird von der Szene letztlich verspielt. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil die Gewohnheit, die Handlung dieser Oper zum unfreiwillig Lächerlichen hin abzuwerten, im Grunde mangelnder Kenntnis entspringt.

(Informationen zum Stück: http://www.theaterdo.de/detail/event/1969/)




Opel Bochum mal aus einer anderen Sicht

Hier und heute mal etwas Anderes zum Thema Opel: Als kleiner Junge war ich oft bei meinen Großeltern in Bochum-Weitmar zu Besuch. Für ein Kind aus dem dörflichen Münsterland war das Ruhrgebiet eine aufregende Sache. Als dann die ersten Berichte über den geplanten Opel-Bau beim Opa bekakelt wurden, war ich überrascht. Konnte man eine große Autofabrik einfach so bauen? Auf eine Wiese?

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Eine Fabrik, das war in meiner Vorstellung ein Sammelsurium unterschiedlicher Bauteile, die nach und nach aus einer Werkstatt entstanden waren, die mit der Firma wuchsen und dann eben eine Fabrik geworden waren.

Tatsächlich wurde Opel Bochum gebaut. Das war für uns eine Attraktion, die man von außen staunend besichtigte. Später war ich dann mit einem Freund in Eisenach, kurz nach der Maueröffnung und noch vor dem Ende der DDR. Damals im Februar 1990 lag ein stinkender Braunkohlerauch über der Stadt. Sie wirkte wie gelähmt, die Menschen gingen wortlos durch die Straßen, kein Lachen und Plaudern wie in westlichen Fußgängerzonen – von Aufbruch keine Spur. Wir tranken einen Kaffee in einer HO-Gaststätte. An einer langen Theke saßen morgens um 10 mindestens zwei Dutzend schweigende Männer und tranken Bier aus Flaschen.

opel-logo

In diesem Eisenach entstand dann auch eine Opel-Fabrik, noch moderner als die in Bochum und heute ebenfalls in Teilen schon wieder veraltet. Wann wird sie geschlossen? Der Braunkohlengestank in Eisenach ist weg, erzählen mir Bekannte. Die Stimmung näherte sich dem Westen an, vor allem Volksmusik sei dort beliebt. Die Menschen lachen und plaudern auch auf der Straße miteinander. Das bleibt so, bis Opel dicht macht. Vielleicht sollte ich mir ein neues Auto kaufen.




Ist das noch die Rundschau? Ein erster Blick ins neue Mischprodukt…

Sie haben es getan. Sie haben es tatsächlich getan. Nach wie vor prangt oben rechts auf der Titelseite der Frakturschriftzug „GeneralAnzeiger – Zeitung für Dortmund“.

Vor mir liegt die erste Dortmunder Ausgabe der nur noch so genannten „Westfälischen Rundschau“ (WR), die ohne eigene Redaktion entstanden ist. Diesen Klon aus WAZ (Mantelteil) und Ruhr-Nachrichten (Lokalteil) mit der historischen Bezeichnung „GeneralAnzeiger“ zu schmücken, der eben nur speziell auf die bisherige WR bezogen werden kann, das ist dreiste Geschichtsklitterung.

Der traditionelle Schriftzug ziert immer noch die Titelseite...

Der traditionelle Schriftzug ziert immer noch die Titelseite…

Aber schauen wir uns die bislang beispiellose Blattmixtur einmal etwas näher an. Hierbei geht es nicht um die journalistische Qualität einzelner Artikel, sondern eher um die generelle Anmutung des Produkts.

Offenbar gab es die diskrete Anweisung, in dieser ersten Zombie-Ausgabe Dortmunder Themen auch im Mantelteil in den Vordergrund zu stellen, um die Leser(innen) in dieser Stadt vorerst zu beruhigen. Sport-Aufmacher ist ein großflächiges Interview mit BVB-Geschäftsführer Watzke, dessen Verein sich noch immer nicht zum Dortmunder Zeitungsschwund geäußert hat. Für die Regionalseite (Seite 3) ist Andreas Böhme (früher WR, jetzt WAZ-Reporter) nach Dortmund gefahren, um einen Mordprozess zu beobachten.

Mal sehen, wie die Stadt künftig im überregionalen Teil vorkommt. Prognose: Die Schwerpunkte im Mantel werden sich tendenziell weiter in die Mitte und den Westen des Ruhrgebiets verlagern, also in die Kernlande der WAZ und somit ganz weit weg von der südwestfälischen Leserschaft.

Geradezu grotesk wird es heute auf der Seite „Hören & Sehen“ (Medien). Da feiert David Schraven, Chef des WAZ-Recherchepools, diese Eigenlob-Geschichte groß ab, die wie ein Hohn wirken muss: „WR-Reporter Newcomer des Jahres“. Preisträger Daniel Drepper (wieso er als WR-Reporter firmiert, erschließt sich nicht) habe hartnäckig Hintergründe zur deutschen Sportförderung recherchiert. Clou nebenbei: Die im Verlauf dieser Recherche bizarrerweise erforderlichen 13000 Euro zur Akteneinsicht beim Bundesinnenministerium hatten seinerzeit WAZ-Gruppe sowie die Gewerkschaften DJV und DJU gemeinsam aufgebracht; just jene beiden Arbeitnehmer-Organisationen also, die nun seit Wochen gegen die Schließung der Rundschau-Redaktion durch die WAZ-Gruppe zu Felde ziehen; so auch heute mit einer weiteren Demo in Dortmund.

Apropos: Wie soll man die WR jetzt eigentlich nennen? Etwa „Absteiger des Jahres“? Ach, wer wollte da nicht zynisch werden?

Doch weiter im Text: Das Impressum des Mantelteils ist – erst einmal gleich geblieben. Auch die seit Freitag „freigestellten“ Rundschau-Leute stehen noch drin. Mag sein, dass es dafür rechtliche Gründe gibt, aber die müssen ziemlich kompliziert sein… Auf jeden Fall hilft es, den abrupten Übergang zu kaschieren.

Nun aber zum Dortmunder Lokalteil, der ja jetzt von den Ruhr-Nachrichten geliefert wird. Es gibt da heute so herrliche technische Möglichkeiten, das gesamte Tagesschaffen einer Redaktion ins Layout einer anderen Zeitung einfließen zu lassen – wenn man das Ganze von langer Hand vorbereitet hat.

Ein knapper Hinweis, dass sich am Lokalteil etwas geändert hat

Ein knapper Hinweis, dass sich am Lokalteil etwas geändert hat

Für den Lokalteil übernimmt die WR nun das komplette Impressum der Ruhr-Nachrichten. Doch nur ein paar dürre Zeilen auf Lokalseite eins kündigen an, dass in Dortmund ab sofort „das Medienhaus Lensing“ Lokal- und Lokalsportseiten für die WR zuliefere. „Medienhaus Lensing“ heißt natürlich im Klartext Ruhr-Nachrichten, aber das wäre für manche WR-Leser vielleicht ein Reizwort. Also vermeidet man es tunlichst.

Nun. Nichts gegen die Journalisten der Ruhr-Nachrichten. Auch sie verstehen ihr Handwerk. Sie sollen halt die Ruhr-Nachrichten machen. Doch es wäre für alle gut gewesen, wenn die Rundschau-Leute weiter die Rundschau gemacht hätten.

Auf den flüchtigen ersten Blick sieht alles äußerlich weitestgehend nach Rundschau aus. Überschriften, Spaltenbreite, Layout. Man wird jedoch erleben, wie Serien, Rubriken oder sonstige Eigenheiten und Sichtweisen der Rundschau fehlen werden. Man sieht jetzt lauter Autorennamen durchs Blatt geistern, die den WR-Lesern bislang unbekannt waren. Statt dessen werden sie vielleicht andere, altvertraute Namen vermissen. Es wird sich bald erweisen, ob solche Namen nur Schall und Rauch sind oder ob das Publikum eben doch merkt, dass ihm da etwas anderes untergejubelt wird. Auch inhaltlich werden die RN-Kollegen sicherlich andere Schwerpunkte setzen.

RN-Kolumnist Bruno Knust ist nun auch WR-Kolumnist.

RN-Kolumnist Bruno Knust ist nun auch WR-Kolumnist.

Seit Jahren hat der Dortmunder Komiker Bruno Knust bei den Ruhr-Nachrichten seine „Günna“-Kolumne. Heute wird er den Rundschau-Abonnenten als Zugewinn verkauft, ja geradezu eingehämmert: „Neuer Kolumnist der WR“ – „…jetzt jeden Samstag in Ihrer WR“. Nicht komisch. Gar nicht komisch.

Das alles sind ja noch Kleinigkeiten. Doch wehe, wenn in der Stadt demnächst (politische) Konflikte entstehen, die bislang von zwei Zeitungen aus mehreren, manchmal gegenläufigen Blickwinkeln geschildert werden konnten. Finden dann manche Positionen nur noch wenig Gehör oder gar kein Forum mehr? Immerhin betreiben die Ruhrbarone seit gestern einen Dortmunder Lokalableger ihres Blogs. Ruhrbarone-Chef Stefan Laurin stellt sich übrigens ausgesprochen gut mit der WAZ-Gruppe. Der „Süddeutschen Zeitung“ sagte er jetzt: „Man kann der WAZ-Gruppe nicht unterstellen, dass sie die Leser für dumm verkaufen will. Das ist eher ein Bild des allgemeinen Zeitungssterbens: Der Branche geht es furchtbar! Die WAZ versucht, ein Werbeumfeld zu erhalten, das ist legitim.“

Noch einmal zurück zur anfangs beschworenen Historie der Rundschau: Es wäre dringend zu wünschen, dass im Chaos der letzten Wochen jemand daran gedacht hat, die alten WR-Zeitungsbände (ab 1946) aus dem Archivkeller am Brüderweg zu retten – beispielsweise, um sie dem Dortmunder Institut für Zeitungsforschung zu überreichen. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass sie demnächst vielleicht in einem Baucontainer versenkt werden.

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Nachtrag am 5. Februar: Und so hat sich das WR-Impressum vom 4. Februar (rechts) auf den 5. Februar (links) geändert

WR-Impressum am 5. Februar (links) und am 4. Februar (rechts)

WR-Impressum am 5. Februar (links) und am 4. Februar (rechts)