Der Fremde, im Museumsraum gefangen: Ibsens „Peer Gynt“ in Düsseldorf

Was macht der Zugereiste, der Fremde an schmuddeligen Wintertagen in Düsseldorf? Wenn man nicht über die Rheinpromenade flanieren mag und Shopping auf der Kö zu teuer ist? Genau: Er geht in eines der hochkarätigen Museen der Kunststadt, spaziert in wohltuender Stille zwischen großformatigen Fotos umher, die sich realistisch geben, aber auf eine andere Wahrheit verweisen wollen. Die die Sehnsucht nach fernen Welten wecken und nach einem „höher hinaus“, nach einem Überschreiten der dörflichen Grenzen, nach einem Ende des kunstsinnigen Flüsterns.

Wie ein Fremdköper benimmt sich denn auch „Peer Gynt“ im Norwegerpullover (Olaf Johannessen) in den heiligen Hallen. Denn Staffan Valdemar Holm, der schwedische Ex-Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, hat Ibsens mythenbeladenem Helden in seiner neuesten Inszenierung ein Museum auf die Bühne gebaut. Lautstark streitet Peer dort mit der Mutter, sein ganzer Körper gespannt vor Aggressivität. Pöbelnd stört er den Hochzeitszug, ein Outlaw, den die Missbilligung der Gesellschaft zu besonders provozierendem Benehmen anstachelt. Doch es kommt noch besser: In ungezügeltem Trieb schändet er die Braut, stößt sie dann von sich. Wie ein reißender Wolf fährt er in die Herde der pietistisch korrekt gekleideten Trachtenmädchen, bespringt eine nach der anderen ohne zu ermüden. Doch auch das reicht ihm nicht. Wem das Menschsein zu eng wird, der sollte vielleicht ein Troll werden?

Staffan Valdemar HolmFoto: Sebastian Hoppe

Staffan Valdemar Holm
Foto: Sebastian Hoppe

Es fällt schwer, als Zuschauer in Holms neuester Inszenierung nicht nach biographischen Anspielungen zu suchen: Aus gesundheitlichen Gründen hatte Holm Ende letzten Jahres seinen Posten als Intendant niedergelegt. Mit großer Offenheit hatte er über sein Burnout gesprochen und ebenso seinen Unmut über Sparmaßnamen und Auslastungsdruck öffentlich gemacht. In seiner Talkreihe „Gebrochen Deutsch“ thematisierte Holm mit feiner Ironie den „ausländischen“ Blick auf Düsseldorf, Merkwürdigkeiten, die Zugereisten auffallen, von den Hiesigen dagegen für selbstverständlich gehalten werden. So hat es „Peer Gynt“ nun in eine nordrhein-westfälische Kunstsammlung verschlagen – doch wie kommt er da bloß wieder raus?

Die Antwort lautet: Gar nicht. Denn ob Peer Gynt Thronfolger bei den Trollen wird oder reicher Sklavenhändler in Übersee, er bleibt doch immer im Museumsraum gefangen, nur die Ausstellungswände verschieben sich und die Bilder wechseln. Seine Geschichte bleibt immer eine vermittelte, eine, die man sich seit langer Zeit erzählt und die wir eher vom Hörensagen kennen. Denn wer von uns hätte schon eine richtige Heldenreise selbst erlebt? Deswegen kommt einem Peer Gynt auch eher vor wie ein Zukurzgekommener mit Borderline-Syndrom. Ihm bei seinen Eskapaden zuzusehen, hat durchaus Unterhaltungswert: Holms Inszenierung beweist Leichtigkeit und subversiven Witz, besonders das Trollvölkchen mit dicken Brillen und langen Plüschschwänzen entlarvt das Spießertum auf skurrile Weise.

Auch wenn der zweite Teil ein paar Längen aufwiest, so zieht die letzte Szene den Zuschauer noch einmal in ihren Bann. In einer verzweifelten Pantomime klammert sich Peer an seine große Liebe Solvejg (Anna Kubin), die er einst verliess. Doch er kann seine früheren Taten nicht ungeschehen machen und steht wieder mit nichts da wie zu Beginn, obwohl er doch alles erringen wollte.

Zum Glück hat wenigstens jemand zwischendurch Fotos gemacht und sie an die Wand gehängt. Wie geronnene Seelenzustände, die wir ein wenig distanziert betrachten. Ein fremdes Schicksal eben.

http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Premieren/Peer_Gynt.867709




Rätselhafter Ausklang: Strauss‘ „Alpensinfonie“ in der Philharmonie Essen

Aufführungen der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss sind stets ein herausforderndes Ereignis: Gebraucht wird ein Riesenorchester und ein Dirigent, der die Klangmassen nicht nur wuchtig und monumental ausspielt, sondern gliedert, staffelt und zügelt.

Marc Albrecht versuchte mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest in der Philharmonie Essen sein Bestes: Er hielt die Dynamik im Zaum, damit die Höhepunkte wirken. Er nahm die lautmalerischen und die effektvollen Stellen zurück, damit das Werk nicht allzu sehr zu einer tönenden Gebirgspostkarte verkommt.

Vor allem aber konnte er zeigen, dass Strauss nicht bloß gewaltige Filmmusik geschrieben hat, sondern die literarischen Naturbilder im Sinne der Romantik aufzufassen sind: Aus der tonal verdunkelten Tiefe steigt der musikalische „Wanderer“ auf zu leuchtend ungebrochener C-Dur-Vollkommenheit, um sich dann Stürmen und Gewittern zu stellen und in einem rätselhaften Cluster in der Tonart b-Moll die Wanderung „ausklingen“ zu lassen. Die „Nacht“, die sich am Ende einstellt, ist nicht mehr romantisch-samten, sondern irritierend dunkel; das b-Moll des Nebels lässt sie undurchsichtig werden.

Wer die Sinfonie vom Ende her betrachtet, fragt sich, ob die filmischen Schauplatz-Bezeichnungen der Sätze nicht eher ihren Sinn verschleiern als erhellen. Und es schleicht sich ein Verdacht ein, den der Komponist Helmut Lachenmann einmal geäußert hat: Dass Strauss hier näher an Mahler und Schostakowitsch rückt, als die Bewunderer und Verächter des umstrittenen Werks wahrnehmen. Albrechts Verdienst war es, die Sprödigkeiten nicht zum samtenen Klang zu glätten, sondern als Ausdrucks-Ausrufezeichen stehen zu lassen. Reibungslose Schönheit hatten die Niederländer nicht im Sinn. Andererseits will Albrecht auch das Illustrative, das Vordergründige nicht leugnen. Aber die „gespenstische Emphase“, die Lachenmann in dieser Musik vernehmen will, macht er greifbar.

Einige Besucher des Pro-Arte-Konzerts wollten sich der Wanderung nicht aussetzen. Sie ließen sich in der Pause die Mäntel geben und begnügten sich mit Beethovens Viertem Klavierkonzert – wohl in der Meinung, diese Musik sei tiefgründiger oder verständlicher als der Strauss-Brocken. Irrtum: Sie ist nur vertrauter. Alexei Volodin spielte mit lockerer, eleganter Hand, klassizistischer Noblesse, Detail-Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffenheit, vor allem im mittleren Satz, den er gemeinsam mit dem Dirigenten zum expressiven Adagio verlangsamte. Über den Gebrauch des Pedals und die saloppe Präzision mancher Stelle ließe sich streiten; ebenso über das überdrehte Tempo in der Chopin-Zugabe.




Morgenröte der Moderne: Wiener Philharmoniker spielen Bruckners 8. in Essen

Zubin Mehta und die Wiener Philharmoniker in Essen (Foto: Sven Lorenz)

Zubin Mehta und die Wiener Philharmoniker in Essen (Foto: Sven Lorenz)

„Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört“, konstatierte Wiens Kritikerpapst Eduard Hanslick einst verdrossen über die 8. Sinfonie von Anton Bruckner. Er beklagte die vielen Wagner-Reminiszenzen des Werks, seinen scheinbar ordnungslosen Aufbau und seine „grausame Länge“ von rund 80 Minuten.

Die Zukunftsmusik hatte Hanslick indes richtig erkannt: Bruckners harmonische Abenteuer trieben die Loslösung von der Grundtonart voran, deren Absicherung Gustav Mahler und nach ihm Arnold Schönberg schließlich ganz aufgaben.

Die Zumutungen als wegweisend zu deuten und das Werk trotz sperriger Zerklüftungen zu erschließen, scheint kaum ein Orchester berufener als die Wiener Philharmoniker. Nach seinem Gastspiel im Kulturhauptstadtjahr 2010 kehrte das weltberühmte Orchester jetzt nach Essen zurück. Bruckners so häufig blockhaft gespielte Musik, deren Kraftströme zu einem enervierenden Geziehe und Geschiebe führen können, klingt unter der Leitung von Zubin Mehta überraschend natürlich und melodisch. Keine Messe wird da gefeiert, kein musikalisches Hochamt zelebriert. Unter Mehtas unaufgeregter, ja stoisch beherrschter Stabführung klingt Bruckner nicht bombastisch aufgedonnert, sondern wie ein Naturlaut.

Das Gebirge aus Klang, das uns vom ersten Takt an immer majestätischer entgegen wächst, erhält durch die Horngruppe und vier Wagner-Tuben seine charakteristisch dunkle Färbung. Bei den Wiener Philharmonikern tönen sie wie aus mystischen Abgründen herüber. Von der Milde der Todverkündigung bis zu den Triumph schmetternden Trompetenfanfaren offenbart sich eine Klangkultur, die auf der Welt ihresgleichen sucht: rund und sonor und überströmend farbenreich, auch wenn Mehta das C-Dur in den Schlusstakten fast zu sehr dröhnen lässt. Dafür entwickelt das Scherzo durch seinen stringenten Zugriff einen schlanken Swing. Der Streicherklang schwebt im Adagio scheinbar ohne metrischen Puls im Raum, samtig wie ein Hauch, zuweilen ins Morbide umschlagend. Wie hier alles unmerklich auf einen dramatischen Höhepunkt zutreibt, um endlich in tiefstem Frieden auszuklingen, gehört zu den großen Momenten dieses Abends.

Natürlich finden Wagner-Anhänger eine Fülle bekannter Wendungen und offensichtlicher Entlehnungen. Das Rauschen der Harfen über dumpfen Posaunen-Akkorden, die aufgeregten schnellen Streicher-Tremoli und vor allem die Verwendung der Wagner-Tuben künden vom Einfluss des Meisters.

Bei den Wiener Philharmonikern klingt das erwartungsgemäß luxuriös. Wundersam hingegen wirkt, dass in Mehtas Interpretation bereits der Morgen von Gustav Mahler herauf zu dämmern scheint. Das Gespür für die Brüche im Kraftvollen, für die Fragilität der Schönheit rückt Bruckner auf faszinierende Weise an die Moderne heran. Der beinahe überlaute, 20 Takte währende Schlussjubel in C-Dur, den Hanslick „unmenschlich“ nannte, gleicht an diesem Abend einem Sieg, dem keine Dauer beschieden ist. Die Sinfonie stößt an ihre Grenzen, das Riesen-Werk zeigt Risse. Nicht lange mehr wird bestehen, was Bruckners Welt im Innersten zusammenhält.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen zum Programm der Philharmonie unter http://www.philharmonie-essen.de)