Meilensteine der Popmusik (29): Prince

Das Geschäft war härter und noch körperlicher geworden. Genügte in den 50er- und 60er-Jahren ein Hüftwackeln von Elvis („The Pelvis“), oder ein unterstützendes Aufstöhnen von Tom Jones („The Tiger“), so ging es jetzt (fast zwei Jahrzehnte später) richtig zur Sache.

Michael Jackson prüfte durch Selbstbetastung, mehrmals pro Song, ob denn noch alles vorhanden sei. Hardrock-Gruppen ließen reihenweise die Hosen runter, Madonnas Möpse rotierten wie Pilotenaugen beim Sturzflug. Doch König der Geilheit war eindeutig Prince. Nie zuvor wurde ein Mikro so systematisch abgeleckt, ein Mikroständer so intensiv betastet und abgerieben wie vom kleinen Scharfmacher aus Minneapolis. Dazu ein Stöhnen, Ächzen, Aufjaulen, bis hin zu schrillen, ekstatischen Schreien. Ein Haufen verschreckter Kritiker vermutete sogleich den Kern etwaigen Talents in der Hose. Da lagen sie gar nicht mal so falsch.

 

PrinceDer kleine Prince Rogers Nelson hatte eine musikalische und doch disharmonische Kindheit. Sein Vater John, ein Jazzer, verließ die Familie, als Prince gerade mal 10 Jahre alt war. Als ein Stiefvater auftauchte, riss er aus und flüchtete zum leiblichen Vater. Dieser konnte seinem Sohn zwar musikalisch einiges bieten, ansonsten verstanden sich die beiden dann doch nicht so wie erhofft. Also pendelte Prince in Zukunft immer zwischen zwei Familien, auf der Suche nach Wärme. Die fand der mittlerweile 16-jährige im Keller einer Nachbarin. Zusammen mit deren Sohn schmückte er die kahlen Wände mit Kaninchenfellen und Spiegeln. In dieser heimeligen Atmosphäre entstanden Songs am Fließband, drei bis vier pro Tag. Prince hatte sich alle Instrumente selbst beigebracht, über 27 insgesamt (!). Ansonsten war er allein. „Ich hatte nichts um mich herum – nicht einen Menschen, als ich anfing zu schreiben. Ich vermied auch jeden Kontakt zu Mädchen. So entstanden reine Phantasien, zumeist sexueller Art.“

Ein kleiner örtlicher Studiobesitzer überließ ihm schließlich für die Produktion eines Werbe-Jingles seine Technik. Prince, die „One-Man-Band“, nutzte diese Chance und fertigte sogleich Demobänder an. Sie brachten ihm, dem absoluten Newcomer, einen phantastischen Plattenvertrag mit dem Plattenriesen Warner ein. Der gerade 18-jährige bekam völlige Freiheit als Künstler und Produzent. Er bedankte sich und klotzte ran wie ein Profi. Schnell war das großzügig bemessene 100.000-Dollar-Budget überschritten, die Plattenbosse waren erstaunlicherweise nur leicht irritiert. Sie setzten weiter auf  die zentralen Themen ihres Rookies: Sex und Einsamkeit. Schon mit der nächsten Scheibe wurden sie belohnt: Prince wurde der neue Dampfkocher des Soul-Rocks.

Fünf Jahre später, 1984, wurde diese ganze Lebensgeschichte noch einmal erzählt, vom Meister selbst. „Purple Rain“ war ein autobiographischer Film, den begeisterte US-Kritiker als besten Rockfilm aller Zeiten feierten. Prince hatte seine Produktionsmethoden nicht geändert, er machte alles noch genauso wie damals im Kaninchenfell-Keller. Dazu sein damaliger Toningenieur vom „Sunset Sound“ in Los Angeles: „Bei Prince ist nichts ’normal‘. Er macht seine Platten nicht wie andere Kollegen. Er hat keine zeitliche Ordnung, plant keine Einzel-Sets für bestimmte Zuspielungen. Er kommt einfach ins Studio mit einem fertigen Song im Kopf, nimmt ihn auf, überspielt vielleicht ein paarmal, singt dazu, und mischt ihn schließlich ab. Alles in einem Abwasch, vom Anfang bis zum Schluss.“

„Purple Rain“, die Karriere von Prince in Film und Musik, löste in den USA eine Hysterie aus, wie sie Ältere nur noch von den Beatles kannten. Weit über 10 Millionen Platten konnte er allein in den Staaten verkaufen, zusätzlich die Single-Hits „When doves cry“, „Let’s go crazy“, „I would die for U“ und „Take me with U“. „Purple Rain“ wurde Album des Jahres, ausgezeichnet mit allen Orden, die das Showbiz in den USA zu bieten hat: Platin mehrfach, Grammys, American Award und nicht zuletzt einen Oscar für die beste Filmmusik. Das Publikum raste, konnte nicht genug kriegen vom „Hexer“. In fünf Monaten wurde er auf seiner US-Monster-Tour in 32 Städten von 1,7 Millionen Fans gefeiert.

„Außer der Musikalität habe ich noch eines von meinem Vater geerbt: Die Sturheit!“ Eine Eigenschaft, die das Phänomen Prince ermöglichte. Jahrelang feilte er an seinem genialen Talent, pumpte er seinen Kopf voll mit träumerischen Songs. Als er sie raus ließ, gab es keinen Widerstand, weder bei der Industrie noch beim Konsumenten; denn Prince erwies sich in jeder Hinsicht als Ausnahme-Künstler, als der wohl innovativste seiner Zeit.

Prince on dailymotion

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22), The Kinks (23), Michael Jackson (24), Bob Dylan (25), The Eagles (26), The Who (27), Electric Light Orchestra (28)




„Dortmunder Modell“: Die Stadt muss kleinlich sparen, ihr Airport macht Millionen „Miese“

Kürzlich konnte man im Dortmunder Lokalteil der Ruhr-Nachrichten (RN) erfahren, wie kleinlich inzwischen die Sparschrauben bei der Stadt angesetzt und festgedreht werden. Beispiele erwünscht? Bitte sehr: Zootiere bekommen ab jetzt weniger Frischkost. Macht gerade mal 10 000 Euro im Jahr. Brunnen sprudeln künftig seltener, was Strom und Wasser spart. 35 000 Euro im Jahr. Vom Kulturbereich mal wieder ganz zu schweigen.

Völlig ohne weitere Erläuterung finden sich in dem RN-Artikel Posten wie die Kündigung der „Alarmaufschaltung zur Überwachung“ der kommunalen Kindertagesstätten (was besagt das, bitte?) mit einer Ersparnis von 36 000 Euro, die hoffentlich niemand bereuen wird. Ferner werden die Kosten für Lebensmittel in den Kitas um 12,5 Prozent oder 175 000 Euro gekürzt. Das ist schon ein größerer Batzen. Steigen also die Elternbeiträge? Oder wird die Verpflegung einfach reduziert? Erläuterung Fehlanzeige. Nach dem eher als tabellarisches Kuriositäten-Kabinett angelegten Bericht hat man mehr Fragen als vorher.

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Doch darauf wollte ich gar nicht in erster Linie hinaus. Halten wir uns noch einmal die genannten Beträge vor Augen, um sodann das aktuelle Jahres-Defizit des Dortmunder Flughafens erst richtig würdigen zu können. Der von den Stadtspitzen aus Prestigegründen seit jeher gehätschelte Airport, der ja auch ein paar nette Pöstchen bietet, hat – wie jetzt bekannt wurde – 2012 abermals 18,5 Millionen Euro Miese gemacht. Das ist eine Million weniger als 2011 und das geringste Minus seit 2003, also haben wir es quasi noch mit einer vergleichsweise guten Nachricht zu tun.

Man kann sich ungefähr ausmalen, was sich da im Lauf der Jahre angesammelt hat. Und wer springt finanziell ein? Nun, die allzeit ziemlich klamme Stadt Dortmund (26% Anteile) und die Dortmunder Stadtwerke DSW 21 (74% Anteile), eine hundertprozentige Tochter der Stadt. Mit den Strom-, Gas- und Wasserpreisen subventionieren Einwohner und Wirtschaft also den Flughafen ganz gehörig.

Absurde Rechenaufgabe: Wie vielen Zootieren könnte man da wie viele hundert Jahre lang Frischkost nach Herzenslust kredenzen? Doch mal ganz ernsthaft: Wie viele Theater, Museen, Schulen, Kindergärten, Sportvereine oder Schwimmbäder könnte man wirksam fördern, wenn es diesen Flughafen nicht gäbe? Wie viele Straßen ließen sich schnellstens reparieren, wie viele Sozialleistungen bezahlen?

Wer solche Verluste schreibt wie der Dortmunder Flughafen, der wird doch wohl wenigstens einen Airport von internationaler Bedeutung betreiben? Nun ja, wie man’s nimmt. Eigentlich eher nicht. Das offizielle Dortmund gefällt sich darin, dass die heimische Geschäftswelt von hier aus aufbrechen kann – freilich geht’s direkt weder nach Berlin noch nach Paris, Rom, Mailand oder Madrid. Ein paar Touristen fliegen nach „Malle“ oder Faro, einige Heimaturlauber zu teilweise zweitrangigen Destinationen Osteuropas (siehe Liste am Ende des Beitrags).

Von Steigerungsraten kann auch keine Rede sein. Im Gegenteil. Sowohl die Zahl der Passagiere als auch – besonders drastisch – die Menge der beförderten Luftfracht hat mit den Jahren in Dortmund kontinuierlich abgenommen. Gleichwohl werden weite Teile der Stadt und der östlich angrenzenden Gemeinden mit Fluglärm versorgt. Offenbar noch nicht genug. Stets wird uns vorgegaukelt, dass längere Betriebszeiten (am frühen Morgen und nachts) bzw. eine verlängerte Start- und Landebahn die Verluste mindern würden.

Da sehnt man sich im Kleinen geradezu nach einer „Berliner Lösung“ – einem Flughafen, der nie und nie eröffnet oder wenigstens nicht erweitert wird.

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Dortmunder Destinationen

Alghero, Italien
Belgrad, Serbien
Breslau, Polen
Budapest, Ungarn
Bukarest, Rumänien
Cluj-Napoca, Rumänien
Gdansk (Danzig), Polen
Faro, Portugal
Girona, Spanien
Istanbul, Türkei
Izmir, Türkei
Kattowitz, Polen
Kiew, Ukraine
Lemberg, Ukraine
London, Großbritannien
Málaga, Spanien
München, Deutschland
Neumarkt, Rumänien
Oporto, Portugal
Palma de Mallorca, Spanien
Posen, Polen
Skopje, Mazedonien
Sofia, Bulgarien
Temeschwar, Rumänien
Vilnius, Litauen




Emotionaler Ausnahmezustand: Grigory Sokolov in Köln – und bald in Gelsenkirchen

Grigory Sokolov braucht kein „Einspielstück“. Er ist sofort mittendrin. Die einstimmige Melodie zu Beginn von Schuberts Impromptus c-Moll (op. 90,1) spielt er zurückhaltend, tastend, als müsse sie sich ihrer selbst versichern. Dann, sobald sie ihre akkordische Verdichtung erfährt, formuliert er sie zunehmend selbstsicher. Ein zögernder Einwand, eine harmonisch klare Antwort in selbstbewusstem Forte.

Harmonische Erweiterungen, Schärfungen, Modulationen: Sokolov behandelt Schuberts verwickelte Wanderungen wie die Rhetorik einer nuancenreichen Sprache. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles in einem dichten Geflecht aufeinander bezogen. Intellektuelle Höchstleistung korrespondiert mit sinnlicher Klarheit. Dieser Schubert sucht seinesgleichen.

Sokolov hat in der Kölner Philharmonie mit den vier Impromptus op. 90 (D 899), mit Schuberts drei Klavierstücken (D 946) und mit der „Hammerklaviersonate“ Ludwig van Beethovens ein denkbar schwieriges Programm in gewohnter Souveränität gemeistert. Wie das c-Moll-Impromptus aus seinen simplen Anfängen in bescheidene Zweistimmigkeit zurücksinkt, dazwischen aber ein riesiger Bogen zu schlagen ist, stellt manuell wenig Probleme, geistig aber umso anspruchsvollere Herausforderungen.

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Auch das zweite in Es-Dur will in seinem Gegensatz von rauschender, brillanter Bewegung und dramatischer Zuspitzung bewältigt sein. Sokolov gelingt das eine so überzeugend wie das andere; er formuliert zu Beginn vollgriffig, in silbrigem Strahlen, ändert aber die Beleuchtung bald und führt das Thema in grandiosem Ton zu Ende. Man ist geneigt, an Franz Liszt zu denken – und in der Tat: Über Karl Czerny, der bis heute zu Unrecht als bloß äußerlicher Virtuose gilt – schlägt sich die Brücke von dem früh verstorbenen Wiener Genius zu dem zwischen Paris, Weimar, Rom und Bayreuth vagierenden Schöpfer des späten romantischen Virtuosentums. Sokolov lässt etwas von der Faszination solcher hexerischer Expression aufblitzen und ruft spontanen Beifall hervor.

Mag sein, dass ihm das dritte Impromptu in Ges-Dur am schönsten, innigsten gelingt: ein Gesang in erlesenem Legatissimo, schwärmerische Crescendi, die in leuchtende Piani zurücksinken, ein romantischer Puls im Rhythmus, eine magische Kunst des rubatogestützten Steigerns. Wie Sokolov die „einfache“ Linie in Bewegung hält, wie er – auch im As-Dur-Impromptus – die Melodie dynamisch vielfältig gestaltet fließen lässt, wie er den formenden Gedanken durch kantable Differenzierung gestaltet: Das würde man sich von so manchem Operndirigenten wünschen!

Sokolov sieht die sieben Klavierstücke als Folge – beim Beifall nach den vier Impromptus erhebt er sich nicht vom Flügel, sondern wartet angespannt, bis er mit den rollenden Triolen des „Allegro assai“ in es-Moll weitermachen kann. Sokolov treibt dieses Stück energisch an, schärft die Punktierungen schroff und schneidend, erinnert im rastlosen Tempo und der leuchtenden Akkordik ein weiteres Mal an Franz Liszt. Im zweiten Stück, in Es-Dur, betont er wieder das Sangliche; im dritten arbeitet er den Rhythmus in trockenem Anschlag aus. Drängend und heftig zupackend verwandelt er Schuberts romantische Anmutung in ein expressionistisches Charakterstück, das mit vollem Recht den ersten enthusiastischen Beifall der vollbesetzten Kölner Philharmonie entzündet.

Und noch einmal Franz Liszt: Er hat die „unspielbare“ Große Sonate für das Hammerklavier nach Beethovens Tod erstmals wieder gespielt. Und Sokolov erinnert daran, dass es in op. 106 nicht mit dem herrischen Fanfarenton des Beginns oder den pathetischen Rhythmen der Durchführung, nicht mit den grotesken Fortissimo-Oktaven des Scherzo oder den hämmernden, kontrapunktischen Sechzehntelläufen des Finalsatzes getan ist. Sondern er zeigt mit seinem Sensus für die Poesie des Beginns, für das Zarte und Leise, wie Beethoven in diesem Sonaten-Ungetüm mit Kontrasten, mit musikalischen Schattenwelten ebenso arbeitet wie mit dem virtuosen Gipfelsturm.

Sokolov artikuliert heftig und kraftvoll, aber noch bewundernswerter ist, wie er im Adagio durch klugen Pedaleinsatz den Zusammenhang wahrt, wie er das langsame Tempo ausfüllt durch einen unendlichen Atem, wie er aber auch Figurationen herb anschlagen und damit aus einer Sphäre wohliger Piano-Wattierung lösen kann. Denn dieses Adagio gewinnt seine schmerzliche Intensität nicht durch Klavier-Belcanto, sondern durch eine extreme Innenspannung, die Sokolov in einer geradezu anti-romantischen Klarheit fördert. Der Beifall war riesig und ließ erst nach einer halben Stunde und sechs Zugaben erschöpft nach. Auf Sokolovs Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 9. Juli in Gelsenkirchen – übrigens mit dem gleichen Programm – darf man sich jetzt schon freuen.