Verspielte Chancen, kein Mitleid: Der Roman „Rechnung offen“ von Inger Maria Mahlke

RechnungoffenBerlin, Neukölln. Ein gewachsener Stadtteil, der teils noch als schwierig gilt, sich aber bereits anschickt, das nächste Szeneviertel für junge, erfolgreiche Menschen mit „urbanem Lifestyle“ und „hippen Kinderwagen“ zu werden.  

Ein Mietshaus in Neukölln. Ein Haus mit schönen, aber leicht heruntergekommenen Wohnungen. Begehrtes Sanierungsobjekt in einer Stadt, die offiziell arm und sexy ist, inoffiziell aber längst nicht mehr genug Platz und Raum für ihre Bewohner bietet. Die Mieter dort sind die Protagonisten in „Rechnung offen“, dem neuen Roman der Autorin Inger Maria Mahlke. Oder treffender ausgedrückt: Sie sind ihre Forschungsobjekte, denn wie unter dem Mikroskop beobachtet und seziert Mahlke die verschiedensten Lebensentwürfe. Jeder in sich gescheitert, jede Existenz bedroht. Wahlweise von der Krise, der Entmietung, der Globalisierung, zum allermeisten aber von eigener Unfähigkeit.

Die Menschen scheitern nebeneinander her

Die Menschen in diesem Haus leben und scheitern nebeneinander her, ihre Wege kreuzen sich kaum. Da gibt es die alte, einsame Elsa. Früher hat sie in einer Seidenblumenmanufaktur gearbeitet, daran erinnert sie sich noch genau. Eine Seidenblumenblüte kann sie en détail erklären, aber nicht, wie man mit einer Zitronenpresse umgeht. Beginnende Demenz liegt bereits wie ein dunkler Schatten auf ihr. So weiß sie zwar irgendwie, dass sie keinen Enkel hat, aber dem Hochstapler Nicolai, der sich als solcher ausgibt, öffnet sie gerne die Tür zu einem Stück Kuchen.

Eine andere Wohnung wird bewohnt von Manuela Schrader und ihrem Sohn Lucas. Manuela hat ihre Arbeit in einer Backstube gekündigt. Zur Abwechslung versucht sie sich als Domina, wenn sie nicht gerade ihre Zeit damit verbringt, die Ordnungsversuche ihres Sohnes zu zerstören. Lucas treibt sich gerne in der Spielwarenabteilung von Karstadt herum, zuhause sucht er Trost und Klärung in einer manischen Pedanterie. Zwanghaft ordnet er seine Spielsachen, immer und immer wieder, egal, wie oft die Mutter durch seine Spielzeugautos tobt.

Selbstmitleid und Weltschmerz

Das Haus gehört dem kaufsüchtigen Claas. Nachdem ihn seine Frau Theresa verlassen hat, besetzt er eine leerstehende, besonders vergammelte Wohnung in seinem Haus, welches schon der Zwangsversteigerung harrt. Anders kann er sich nicht mehr behelfen, er hat sich um seine Existenz gekauft und hat längst den Überblick über seine offenen Rechnungen verloren, nicht nur im übertragenen Sinn. Seine äußerst karge Übergangs-Möblierung leiht er sich von Theresas Tochter Ebba, der er eine Wohnung in diesem Haus überlassen hat. Ebba lässt sich gehen, hat ihr Studium geschmissen und verbringt ihre wenige wache Zeit mit Ausreden und Drogen.

So wie diese Menschen nebeneinander her leben, erzählt auch Inger Maria Mahlke von ihnen in ihrem Roman. Fragmentarisch, ungeordnet, nacheinander. Es gibt kaum Berührungspunkte, einen sich schließenden Kreis sucht man vergebens, findet dafür aber erbarmungslos beobachtete Charaktere. Gnadenlos beschreibt Mahlke, wie sich ihre Protagonisten in Selbstmitleid und Weltschmerz suhlen.

„Gib Dir doch ein wenig Mühe“ – immer wieder fleht Theresa ihre Tochter Ebba, die Hohepriesterin des Phlegmatismus, an. „Gib Dir doch ein bisschen Mühe“ – genau das ist es, was der Leser den Figuren zurufen möchte. Das ewige Gejammer, das ewige sich ins Schicksal Ergebende, es macht den Leser ungeduldig. Die Frage nach dem eigenen Verschulden spielt bei allen Mietern eine untergeordnete Rolle. Sie alle hatten ihre Chancen, sie alle haben sie verspielt. Trotzig und kindisch sind ihre Reaktionen, wenn man sie mit nicht beglichenen Rechnungen oder auch nicht eingetriebenen Außenständen konfrontiert. Offene Rechnungen treiben sie alle um – wenn auch auf unterschiedlichen Seiten des buchhalterischen T’s. Nur der kleine Lucas zahlt die Zeche für etwas, was er nicht selbst bestellt hat

Fragmentarisches Erzählen in sperriger Sprache

Inger Maria Mahlke findet eine mitleidlose, sehr eigene Sprache für ihre Erzählung über eine Mittelschicht vor dem schleichenden Untergang. Ihre Sprache ist schwer zu erschließen, sie ist unmelodisch, nicht geschmeidig und nicht gefällig. Oft ist sie abgehackt, dann wieder verstrickt sie sich in endlose Schachtelsätze. Schachtelsätze allerdings ohne jeden Schnörkel. Das alleine ist schon eine Kunst für sich. Ihre Sprache geht weit über gängige Melancholie hinaus, sie transportiert endgültige Hoffnungslosigkeit. Genau, wie die Umwelt gleichgültig bleibt ob der gescheiterten Existenzen, bleibt ihre Sprache gleichgültig. Sie gibt nichts, kein Mitleid, kein Verständnis.

Leider ist es auch dies, was den Zugang zum Roman, zu den Protagonisten schwer macht. Man bleibt eigentümlich außen vor, schon nach wenigen Seiten interessiert das Beschriebene kaum noch. Darin liegt der Zwiespalt des Romans. Denn indem es der Autorin gelingt, die Empfindungen der Leser in ihre Sprache aufzunehmen, stößt sie die Leser gleichermaßen von sich. Zu gut korrespondiert ihre Sprache mit den Empfindungen der Leser. Irgendwann ist genug gejammert, irgendwann weiß man, dass die Welt schlecht ist und immer die anderen schuld sind. Das Buch erzeugt keine Anteilnahme, kein Mitgefühl, der Leser stagniert bei der Kenntnisnahme der offenen Rechnungen. Mahlke zeigt keinen Ausweg, sie belässt es bei ihren gnadenlosen Beobachtungen. Mit dem erzeugten Gefühl von Hoffnungslosigkeit lässt sie ihre Leser alleine, selbst wenn einige Umschuldungen zum Schluß noch gelingen.

Die Autorin lebt in Berlin, ist studierte Rechtswissenschaftlerin und bekam für ihren ersten Roman „Silberfischchen“ mehrere Preise.

Inger Maria Mahlke: „Rechnung offen“. Roman. Berlin Verlag, 284 Seiten, €19,99.




Jauchs Talkshow: Mutmaßungen über Hoeneß

Übers Wochenende ist ein Thema hochgekocht, für das Günther Jauch seine ARD-Talkrunde in Windeseile hat umplanen lassen. Die Rede ist natürlich vom Präsidenten und Patriarchen des FC Bayern München, Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen haben soll.

Fernsehleute (und viele Zuschauer) gieren nach Themen, die sich so kraftvoll personalisieren lassen. Welch eine tragische Fallhöhe! Da steht der FC Bayern gerade kurz vor dem sportlichen und wirtschaftlichen Zenit. Da schickt man sich an, am nächsten Dienstag und in der Folgewoche den FC Barcelona zu besiegen und ins Finale der Champions League vorzudringen.

Tiefer Fall einer moralischen Instanz

Und ausgerechnet jetzt wird – durch Recherchen des „Focus“ – bekannt, dass der Übervater des Vereins, der Mann, der vielen als Vorbild oder gar als moralische Instanz galt, nicht nur unter Verdacht steht. Nein, Uli Hoeneß hat tatsächlich (schon im Januar) Selbstanzeige erstattet und damit bereits nicht geringe Verfehlungen zugegeben. Über die Ausmaße wird ebenso spekuliert wie über die Frage, ob die Selbstanzeige „strafbefreiend“ wirkt. Schlimmstenfalls würde Hoeneß sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Eine Talkshow, die sich zum jetzigen Zeitpunkt auf das Thema stürzt, läuft Gefahr, zum Tribunal oder zum öffentlichen Pranger zu werden. Doch Günther Jauch lenkte das Gespräch nicht nur in recht vernünftige, relativ ruhige Bahnen, er hatte auch Gäste geladen, denen bewusst war, dass es sich um ein schwebendes Verfahren handelt und dass man einstweilen vielfach nur Mutmaßungen anstellen kann.

Enttäuscht und fassungslos

Dennoch war spürbar, dass die Enttäuschung über Hoeneß überwiegt, der sich 2012 – just bei Jauch – gegen eine drohende „Reichensteuer“ empört und noch dazu gesagt hatte, manche gingen dann eben mit ihrem Geld in die Schweiz. Jetzt wissen wir, dass er selbst offenbar Millionen im Nachbarland gebunkert hatte.

Der langjährige ZDF-„Sportstudio“-Moderator Dieter Kürten, zudem mit Hoeneß befreundet, war ersichtlich völlig aus der Fassung. Er möchte nach wie vor an Hoeneß festhalten und am liebsten alles auf schlechte Berater schieben. Bedeutend strenger äußerten sich hingegen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und vor allem der frühere Steuerfahnder Dieter Ondracek, eine nahezu alttestamentarische Erscheinung. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, Fachanwalt für Steuerrecht, konnte sich vorstellen, dass die Selbstanzeige von Hoeneß vielleicht nicht rechtzeitig oder vollständig genug eingegangen sei, um noch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Könnte es Kubicki gar reizen, einen solch interessanten Fall anwaltlich zu übernehmen? Egal.

„Focus“-Chefredakteur Jörg Quoos sonnte sich anfangs im Erfolg seines Blattes, die Nachricht zuerst gehabt zu haben. Mit zunehmender Dauer schien er unwirsch zu werden, weil er feststellen musste, dass inzwischen andere Presseorgane den Vorsprung mindestens aufgeholt haben. So ist das im schnelllebigen Geschäft; erst recht, seit es das Internet gibt.

Gefundenes Fressen für manche Bayern-Gegner

Jungmoderator Oliver Pocher schließlich mimte ein wenig den „Klassenclown“ und wollte unentwegt locker wirken. Doch bei manchen Themen ist eine solche Grundhaltung etwas fehl am Platze. Immerhin bekam Pocher Szenenapplaus aus dem Saalpublikum, als er meinte, die Mannschaft des FC Bayern werde sich von all dem Gerede nicht irritieren lassen. Tatsächlich geht es ja um privates Geld und nicht um die Festgeldkonten des Vereins. Als Dortmunder und BVB-Anhänger weiß ich, wovon ich rede und was ich so höre: Man kann ziemlich sicher gehen, dass manche Bayern-Gegner quer durch die Republik derzeit klammheimliche Freude empfinden, weil das „Mia san mia“ Risse zu bekommen scheint. Kein schöner Zug.

Ein Thema wird „durchgehechelt“

Nebenher wurde in der Sendung noch ein spezielles Fass aufgemacht: Wer hat eigentlich die ersten Informationen an den „Focus“ gegeben? Für die Ermittlungsbehörden hielten alle die Hand ins Feuer. Und „Focus“-Chefredakteur Quoos wehrte entschieden ab, als hierbei der Name seines prominenten Vorgängers Helmut Markwort genannt wurde, der auch im Aufsichtsrat der Bayern sitzt…

Eins aber ist klar. Bevor die Steuerfahnder ihre Arbeit gemacht und bevor Richter über die Sachverhalte befunden haben, ist das Thema beim Fernsehen längst „durchgehechelt“. Schon an diesem Montag geht’s bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ weiter – mit der etwas scheinheilig klingenden Fragestellung: „Ausgerechnet Hoeneß – wem kann man jetzt noch trauen?“

______________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen