„Aller Unfug ist schwer“: Vor 100 Jahren wurde der TV-Unterhalter Peter Frankenfeld geboren

„Schau ich weg von dem Fleck, ist der Übrrrrziehrrrr weg.“ Oder: „Das ist meine Frankenfeld-Jacke!“ (Verstehen nur Menschen, die sich noch übel an Feldjacken der Soldaten im 2. Weltkrieg erinnern). Heute vor 100 Jahren, am 31. Mai 1913, wurde Peter Frankenfeld in Berlin-Kreuzberg geboren.

Er hörte in der Familie Frankenfeldt (mit „t“) zunächst auf die hübschen Vornamen Willi Julius August. Und dieser Mensch hielt wenig später noch weniger von Uniformen, überhaupt nichts von den dahinter steckenden Inhalten und konnte nach Nazi-Herrschaft und deren Terror-Kriegen selbstbewusst sagen, dass er nie Mitglied weder dieser Partei noch irgendeiner ihrer Organisationen gewesen sei: „Das ging!“

Auf DVDs und CDs noch präsent: Peter Frankenfeld

Auf DVDs und CDs noch präsent: Peter Frankenfeld

Was Peter Frankenfeld aber wurde, das war des verkleinerten Deutschlands erster Fernsehentertainer, das war der Quotenmagnet, als es solche Betrachtungen von TV-Attraktivität noch gar nicht gab, das war der Entwickler und darstellende Schöpfer von Sendungen, deren soziale Folgen noch heute nachwirken: Dass es eine Fernsehlotterie gibt, ist dem urkomischen Mann in der großkarierten Jacke (der Frankenfeldjacke) zu verdanken. Zwischen ihr und seiner „Vergissmeinnicht-Sendung“ gibt es eine gerade Linie.

„Aller Unfug ist schwer“ – so lautete ein Wortspiel, das er zu seinem Lebensmotto erkor. Es beschreibt auf seine Weise, dass Clown sein, professionell komisch sein eine harte und kunstvolle Arbeit ist. Und schwer bzw. schwierig war auch sein Weg. Er rückte aus der Schule und dem Elternhaus aus und ging als Zauberer zu einem Wanderzirkus, buckelte dann als Hotelpage vor unbekannten Gästen, tourte als Vertreter, wirkte als Schaufensterdekorateur, war Stepptänzer und auch mal Bildermaler, bevor er seine Bühnenlaufbahn in den 1930er Jahren beim legendären „Kabarett der Komiker“ von Willi Schaeffers in Berlin begann.

Nachdem er Nazi-Herrschaft trotz vorlauten Widerstands und den Krieg als vorlauter Funker überstanden hatte, war er sofort wieder vorlaut – bei den Soldaten der US-Armee, die er königlich unterhielt. Bei der Einstellung zum Truppenbetreuer war er besonders vorlaut. Die Frage, ob er denn des Englischen mächtig sei, quittierte er mit einem knappen „Ja“, obwohl er eigentlich gerade erst wirklich begonnen hatte, dieses zu erlernen.

Aber er lernte schnell und viel und vieles, was seine spätere Unterhaltungskunst bereichern sollte. Und auch die heranwachsende Unterhaltungsindustrielandschaft, bestehend aus zwei Sendeanstalten: ARD und (ab 1963) ZDF. Da lagen ihm die großen Unterhaltungsformate alsbald zu Füßen, obwohl er mit seinen Sketches und unvergleichlichen Mundart-Dialogen (auch mal Monologen) stets zu dem zurückkehrte, wo seine Wurzeln lagen – heute würde mensch „Standup-Comedy“ dazu sagen.

1956 heiratete er Lonny Kellner. Sie war so etwas wie die Helene Fischer ihrer Zeit, nur noch erfolgreicher, denn Lonny hatte sogar Ruhm in den USA mit ihren Hits. Da fanden zwei Unterhaltungskünstler einen 23 Jahre währenden gemeinsamen Lebensweg, die sich eigentlich von Herzen nicht mochten. Er sie nicht, weil sie so ein seichtes Zeug sang und sie ihn nicht, weil er nicht mochte, was sie machte. Und es wurde eine Traumpaarehe, die doch auch für die frühe Zeit der neuen Stars ungemein diskret ablief.

Dann ein urplötzlicher Knick in Peter Frankenfelds Karriere. Sein Kind, die „Vergissmeinnicht“-Sendung (damals noch mit „ß“ geschrieben) kam ihm abhanden, weil neue Macher beim ZDF einzogen und ihn, den Entwickler dieses Formats, für zu verstaubt, zu alt hielten. Ja, Jugendwahn ist keine Erfindung von heute. Frankenfeld zog sich zurück ins Private nach Hamburg, wo er und seine Frau ein üppiges Anwesen bewohnten, bis – ja bis beim ZDF wieder ein paar neue Macher einzogen und die Entscheidung der Vorgänger für dämlich hielten. Sie arbeiteten ein Format aus, das Peter Frankenfeld sich auch selbst hätte auf den Leib schneidern können und wollten es mit niemand anderem als ihm besetzen. „Ich betrete Ihr Haus nicht mehr!“ so schallte es dem Anrufer durchs Telefon entgegen, als er seinen auserwählten Star informieren wollte. Gescheit antwortete der ZDF-Mann: „Macht nichts, ich komme bei Ihnen vorbei!“ Und so wurde 1975 „Musik ist Trumpf“ gestartet, sammelte Quoten ein, von denen man bisher nur geträumt hätte, es geriet zu Peter Frankenfelds Triumph.

Leider nur gut drei Jahre lang, denn überraschend starb der bienenfleißige Peter Frankenfeld am 4. Januar 1979 an den Folgen einer Infektionserkrankung. Die deutschsprachige Fernsehunterhaltung wurde auf einen Schlag um 50 Prozent ihrer Qualität beraubt, denn von den „guten Alten“ blieb nur Hans-Joachim Kulenkampff. Viele Zeitgenossen Peter Frankenfelds hegten warme Erinnerungen an ihren Wegbegleiter und Freund. Ich finde eine besonders erwähnenswert. „Er hat meinem Leben einen Sinn gegeben. Ohne ihn wäre ich heute ein Pensionär wie alle …“ Das sagte Walter Spahrbier, Postbeamter a.D., der nach dem Ende einer jeden „Vergissmeinnicht“-Sendung auf den laut schallenden Ruf: „Herr Spaaaaahrbier“! die Bühne betrat, damit Peter Frankenfeld zur Gewinnerkür schreiten konnte.




Sophie-Mayuko Vetter zelebriert beim Klavier-Festival Ruhr die Klangfarben der Melancholie

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: Mark Wohlrab

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Manchmal gibt es diese Abende. Die uns noch eine Zeit lang beschäftigen. Die nachwirken ob dessen, was es zu hören gab. Die dem Publikum Konzentration und Geduld abverlangen, außerdem die Bereitschaft, mehr zu wollen als pure Unterhaltung. So wie jetzt beim Auftritt der Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, deren Programm sich als überwiegend dunkel tönender musikalischer Kosmos entpuppt. Wo Disparates auf lineare Poesie trifft, Melancholie auf trotziges Aufbegehren.

Vetter widmet sich, als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, einem Werkkanon, der abseits jener üblichen Beethoven-Chopin-Schumann-Linien anzusiedeln ist, die uns allenthalben entgegen tönen. Sie erkundet die  schwärmerische, nachtschwarze, todesnahe Seite der Romantik und wagt, davon ausgehend, einen Blick zur Moderne. Das geschieht ohne nennenswerte körperliche Außendarstellung, nur manchmal schweben der Pianistin Hände über der Tastatur – wie ein kurzes Innehalten, um dem gerade Erklungenen noch mehr Nachdruck zu verleihen. Ohnehin scheint sie mit der Musik verwachsen,  mit dem Wechselspiel von Akkorden, Phrasen und Harmonien fest verwoben.

Der Auftritt der Deutsch-Japanerin in Holzwickede (Haus Opherdicke) ist jedenfalls von bezwingender Intensität. Wenn sie Richard Wagners kaum gespielte As-Dur-Sonate interpretiert, des Komponisten Liebeserklärung an Mathilde Wesendonck, dann entwickelt Vetter aus größter Ruhe heraus eine mehr und mehr ungezügelte Schwärmerei, verbunden mit sublimer Farbgebung. Und bereits dieser Beginn macht deutlich, dass die Solistin aus innerer Notwendigkeit heraus all ihr Können in die Waagschale legt. Um dem Publikum zu sagen, dass Musik hören mehr ist als nur Plaisir.

Es mag auch kein Vergnügen aufkommen, wenn Liszts Trauermusik „Am Grabe Richard Wagners“ aufklingt, stockend und düster, das Grübeln über den Tod inbegriffen. Oder wenn Liszts Spätwerk „Unstern. Sinistre. Disastro“ ertönt – des alten Meisters dumpfes Grollen und stampfendes Klagen über das Wüten der Welt sowie sein sanftes Singen über die Einsamkeit. Natürlich reizt die Pianistin hier die dynamische Bandbreite voll aus, doch nie wirkt ihr Spiel in dem kleinen Saal knallig. Und alles ist zuerst Klang.

Das verwundert kaum, denn Sophie-Mayuko Vetter hat auch ein Studium des Obertongesangs absolviert. Jener Technik also, die aus einem Ton gewissermaßen Ableitungen herausfiltert, sodass der Höreindruck von Mehrstimmigkeit entsteht. Diesen Umgang mit Klang hat sie auf bestechende Weise auf ihr Klavierspiel übertragen. Und in einem Stück wie Peter Ruzickas „Über Unstern. Späte Gedanken für Klavier“ kann sie ihre Sensibilität für die Farben einer Musik voll ausspielen. Hinzu kommt, dass Vetter sich mit Ruzickas Klavierwerk seit jeher intensiv beschäftigt hat.

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

„Über Unstern“ ist eine Reflexion auf die gleichnamige Liszt-Komposition, im Auftrag des Klavier-Festivals geschrieben. Das Stück erfährt an diesem Abend seine Uraufführung. Ruzicka hat im Prinzip originales Material verwendet, um es im nächsten Moment zu verfremden. Liszts düsteres Grollen wird mit harten Diskantschlägen konterkariert. Verdichtungen werden noch enger zusammengepresst, dann entlädt sich die Spannung in wilden Figuren. Wo Liszt Zeitläufte reflektiert, schildert Ruzicka das Weltenwüten selbst, das sich am Ende in quirligen Tonumspielungen auflöst, wie Messiaens farbentrunkenes Vogelgezwitscher. Vetter interpretiert das großartig und wir geben uns dieser rauschhaften Musik vorbehaltlos hin.

Hans Werner Henzes „La mano sinistra“ wirkt dann wie ein melancholischer Nachklang. Das Stück für die linke Hand, Leon Fleisher gewidmet, entwickelt sogar einen Hauch von lichter Transparenz mit harmonischen Farbspielen. Doch Akkorde, die wie ein Fanal wirken, stehen jeder freundlichen Stimmung im Weg. So bleibt am Ende, mit Brahms’ späten Klavierstücken (Opus 117/118), die Suche nach Trost im Melancholischen, die Hoffnung nach Erlösung von Resignation und Einsamkeit. Hier indes stößt Vetters klangbetontes Spiel an seine Grenzen. Um des Nachhalls willen geht die Stringenz bisweilen verloren. Dann schrumpft dunkel tönendes Melos zu einer Ansammlung von Aphorismen. Die Frage, die sich daraus ergibt, kann allerdings nur jeder für sich selbst beantworten: Mindert oder steigert das Verharren die Spannung?

Nun, für uns hat sich Sophie-Mayuko Vetters Klavierabend als einzig spannendes Abenteuer erwiesen. Eines, das noch eine Weile nachwirkt.

 

 

 




Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Benjamin Moser pflegt beim Klavier-Festival in aller Bescheidenheit das musikalisch Ernste

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Benjamin Moser ist der Typ eines Pianisten, der sich selbst am wenigsten in den Vordergrund stellt. Der weder hyperventilierend-virtuos die Tastatur durchpflügt, noch in einer Art Trancezustand die Gesetze der Langsamkeit erforschen will. Der junge Münchner ist vielmehr ein Künstler mit bezwingender Musikalität, ein Diener des Notentextes. Nur manchmal verfällt er seiner Bescheidenheit, spielt dann derart akkurat, dass wir ihm mehr interpretatorische Freiheit wünschen wollen.

Zum zweiten Mal ist Moser nun Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und er beginnt sein Konzert im Bottroper Kulturzentrum August Everding mit einer Hommage an Richard Wagner, dessen 200. Geburtstag derzeit gefeiert wird. In Form des „Tristan“-Vorspiels, in der Bearbeitung des berühmten ungarischen Pianisten Zoltan Kócsis. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn diese Sehnsuchts- und Begehrensmusik entfaltet ihren Reiz eigentlich nur als Orchesterstück. Moser gibt alles, um die Gefühlsseligkeit in Fluss zu halten, gleichzeitig die radikal neue Harmonik zu betonen. Dennoch wirkt die Klavierfassung brüchig. Dem Interpreten indes ist das nicht anzukreiden.

Einmal den romantischen Pfad beschritten, bleibt der Pianist dem Weg treu. Setzt aber auf harsche Kontraste. Denn Schumanns „Kinderszenen“ wirken im Gegensatz zu Wagner nachgerade leicht und locker. Doch im Einfachen, im schnell skizzierten Charakterstück, liegt oft das Schwerste. Mosers Mimik zeigt, was er will: sanften Passagen  eine heitere und keine kitschige Note geben, das Gewichtige nicht erdrücken. Und am schönsten klingen diese „Szenen“ dort, wo der Solist die Farben der Klänge durchschimmern lässt.

Johannes Brahms’ 1. Sonate ist hingegen von ganz anderem Kaliber. Dunkel und schwer, ein viersätziges Sturm-und-Drang-Opus, groß dimensioniert, in seinen Höhepunkten ein Werk symphonischer Wucht. Zu Recht schätzte Schumann die Musik des jungen Kollegen als revolutionär ein. Und Moser hat als Interpret alle Hände voll zu tun, um den Spannungen und Fallhöhen gerecht zu werden. Es braucht seine Zeit, bis der Pianist in den bisweilen herben, dann melancholischen, ernsten Tonfall hereingefunden hat. Manches klingt in der Akzentuierung noch unausgewogen. Er ringt, wie einst Brahms mit der Materie gerungen hat.

Doch welche Ruhe geht von Moser aus, wenn er Schuberts letzte Sonate (B-Dur) in aller Schlichtheit aufblühen lässt, sodass wir reine Schönheit hören. Der Pianist formuliert beinahe andächtig die einfachen, innigen Melodien, lässt sie atmen und nachklingen. Musik für die Seele ist das, und Moser hütet sich, Heiteres ins Überbordende zu treiben. Denn Schubert war es, der feststellte, er kenne keine fröhliche Musik.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ-Ausgabe Bottrop erschienen).




Die harte Gangart der Fotografie – Bilder von Weegee in Oberhausen

Immer `ran, gleich` ran: Wenn Weegee ein starkes Bildmotiv sieht, so hält ihn nichts mehr auf Distanz.

Dann rückt der Pressefotograf den Mördern, Opfern, Cops und Underdogs im New York der 1930er und 1940er Jahre ganz dicht auf den Leib und drückt sofort ab. Menschen, deren Behausung gerade in Feuersbrünsten niederbrennt, hält er die Kamera mitten in die entsetzten Gesichter.

Weegee: "Der Erkennungsdienst bei der Arbeit", 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegee: „Der Erkennungsdienst bei der Arbeit“, 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Seit 1935 als Freelancer tätig, kann sich der Autodidakt keine Sentimentalitäten erlauben. Er muss die besten, unmittelbarsten Bilder haben, sonst würden die sensationsgierigen Zeitungen sie nicht kaufen. „Murder is my business“, sagt Weegee einmal.

Die heute noch hinreißenden Ergebnisse seiner Arbeit sind jetzt in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Dokumente werden längst als Kunstwerke wahrgenommen. Es liegt nicht am bloßen Verstreichen der Zeit und an der generellen musealen Aufwertung der Fotografie, sondern an wahrhaftigen Qualitäten dieser Schwarzweiß-Bilder. Die rund 100 Exponate stammen aus dem Fundus des Instituts für Kulturaustausch in Tübingen, aus dem Christine Vogt und ihr Oberhausener Team eine schlüssige Auswahl zusammengestellt haben. Übrigens gab’s im Ruhrgebiet noch nie eine Weegee-Schau.

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegees Art zu fotografieren (buchstäblich Bilder zu „schießen“) glich einem gewaltsamen Akt. Und so wirken die Aufnahmen denn auch auf den ersten Blick. Vom krassen Blitzlicht hart und grell konturiert, unerbittlich realistisch. Doch man weiß, dass Weegee zuweilen manch ein Detail eigenhändig arrangiert hat (so stellte er etwa nach einem Mord beim Bocciaspiel die Bocciakugeln „dekorativ“ in den Vordergrund), dass er Ausschnitte mit Bedacht wählte. Auch hat er Verbrechensopfer nicht in aller möglichen Drastik gezeigt, sondern ihnen einen Rest von geradezu ästhetischer Aura gelassen. In Wien würde man vielleicht sarkastisch sagen „A schöne Leich’“.

Vor allem aber hatte Weegee – mitten im heißesten Moment – ein untrügliches Gespür für wirksame Komposition und Dynamik. Wer heute versucht, den Augenblick mit schier endlosen Reihen von Digitalbildern zu fangen (Motto: Ein Gutes wird schon darunter sein), macht sich keinen Begriff davon. Damals, in der Zeit der Plattenkameras, mussten gleich die allerersten Bilder „sitzen“. Umso erstaunlicher, dass viele inzwischen den Status von Klassikern haben. So auch jenes umwerfende Bild von der gaffenden Menge, die uns auch auf unseren eigenen Voyeurismus verweist. Wir schauen Zuschauern beim Zuschauen zu, ganz fasziniert.

Oft war Weegee (1899-1968, bürgerlich Arthur Fellig) früher am Tatort als die Polizei selbst. Ab 1938 mit der offiziellen Genehmigung versehen, den Polizeifunk abhören zu dürfen, raste der besessene Nachtarbeiter sofort los, um gleichsam auf frischer Tat zugegen zu sein. Was er dann auf Platte bannte, wäre heute und zumal in Europa so nicht mehr publizierbar. Aber damals herrschten andere Gesetze. Und in den USA geht es ohnehin anders her.

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Schnell wurde der im heute polnischen Złoczew geborene Fotograf, der 1910 als Kind in die USA gekommen war, bekannt und kultivierte ein entsprechendes Image, nannte sich höchst selbstbewusst „Weegee – The Famous“ und zeigte sich gern als zerknautschter harter Kerl, allzeit mit Zigarre im Mundwinkel. Als Zeitgeist-Typus der Hardboiled-Ära hätte er jederzeit in einem Marlowe-Roman von Philip Chandler auftauchen können (wenn die nicht in Los Angeles spielen würden).

Eines seiner Fotos zeigt das unglaublich überfüllte Badeufer von Coney Island. Die vielen, vielen Menschen schauen hinauf zur Kamera, Weegee steht offenbar auf einem Podest inmitten der Massen. Er ist das Gegenteil eines „unsichtbaren“ Fotografen, der heimlich auf Motive lauert. Weegee wirft sich geradezu hinein in die Situation oder stellt sich beherrschend über sie. Dass er auch subtile, ja ätherische optische Sensationen zu erfassen weiß, zeigen seine Bilder von Stadtstrukturen, etwa vom mysteriösen Schattenwurf unter der Hochbahn.

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Manche haben versucht, Teile seines Werks sozialkritisch zu interpretieren. Tatsächlich hat er ja die Schattenseiten der Gesellschaft gezeigt, hat Huren, Stripperinnen, Verbrecher, Säufer, Obdachlose oder auch die diskriminierten Farbigen in Harlem abgelichtet, doch wohl weniger aus edelmütigen politischen Antrieben. Er hat sich just in die harte Wirklichkeit begeben und dort Anzeichen sozialer Tatsachen vorgefunden, sofern man sie überhaupt sichtbar machen kann. Bei einem Fotografen mit dieser formalen Könnerschaft werden eben gültige Szenen daraus. Die Verhältnisse, sie waren so.

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

So auch bei einem seiner berühmtesten Bilder, das zwei schwerstreiche Damen beim Gang in die Oper zeigt und die Aussage noch mit einem Trick steigert: Eine völlig desolat wirkende „Kritikerin“, die als Kontrastfigur auftritt, soll Weegee eigens angeheuert und unter Alkohol gesetzt haben. So obszön wirkte demgegenüber der zur Schau gestellte Reichtum, dass die Nazis das Bild zu perfiden Propagandazwecken nutzen und auf in Italien abgeworfenen Flugblättern die US-Soldaten hinterhältig fragten: „GI’s, is this what you’re fighting for?“ – „Dafür wollt ihr kämpfen?“

"Kritik", 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

„Kritik“, 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Einmal prominent und wohlhabend, ließ es Weegee bequemer angehen. Er unternahm Europa-Reisen, verlegte sich vor allem auf Star-Fotografie und porträtierte etwa Louis Armstrong, Marilyn Monroe, Salvador Dali, Jackie Kennedy oder auch das verzückte weibliche Publikum des Frank Sinatra. Man wähnt sich hier beinahe schon in einem Konzert der Beatles mit hysterischem Kreischen und massenhaften Mädchen-Ohnmachten.

Auch Weegees Selbstinszenierungen weisen ja schon gelegentlich voraus auf Phänomene der 60er Jahre. Nicht ausgeschlossen, dass ein Mann wie Cassius Clay alias Muhammad Ali („I am the greatest“) einige seiner Imponier-Posen von einem wie ihm gelernt hat. Bei beiden, so wissen wir, steckte wirkliche Substanz hinter dem Gehabe. Und wie!

Sollte Weegee gar ein Vorvater der Pop Art gewesen sein? Ein Bild, auf dem er sich mit Andy Warhol zeigt, könnte die Vermutung nahelegen. Doch wie verschieden sind diese beiden Typen! Ein jeder steht für seine Zeit.

Weegee – The Famous. Fotografie. Bis 8. September 2013 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 €, ermäßigt 3,50 €.
Kombiticket mit Gasometer Oberhausen (dort ist bis Ende Dezember die Christo-Installation „Big Air Package“ zu sehen) 13 €.

Statt eines Katalogs erscheint ein Booklet für 4 €.
Wenn’s etwas mehr sein darf, so greife man zu Weegees erstmals 1945 erschienenem Buch „Naked City“.




Familienfreuden auf Reisen

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Jetzt geht es also los. Auf große Reise. Ganz ernsthaft. Was haben wir uns da angetan?

Ok, das war jetzt wieder so ein kurzer Schreckgedanke – aber eigentlich freue ich mich tierisch. Denn: Wir fliegen gleich los, nach San Francisco. Unsern Traum erfüllen. Fünf Wochen wollen wir mit Fi durch die Gegend cruisen, hoch bis nach Seattle, auf dem Weg viele Nationalparks, die nicht so bekannt sind, aber so klingen, als würde man sie nie wieder vergessen. „Schuld“ an diesem Vorhaben ist ein munteres Pärchen, das wir vor Jahren in Australien mit ihrem Baby getroffen haben und das uns vorschwärmte, dass man seine Elternzeit kaum besser verbringen könne als mit so einem Trip. Stimmt eigentlich, dachten wir. Und da war der Floh im Ohr.

Hinter uns liegen jetzt einige Monate der schrägsten Reisevorbereitungen, die ich bisher erlebt habe. Dem Herrn im Reisebüro dürften noch heute die Ohren klingeln von all unseren Fragen. Seinen Vorschlag, ein neun (!) Meter langes Wohnmobil zu nehmen statt des jetzigen, stolzen siebeneinhalb Meter langen – weil günstiger – haben wir trotzdem abgelehnt. Ich sah uns schon kurvenreiche Nationalparks durchfahren, beobachtet von sich Tatzen reibenden Bären, die sich auf den nächsten leckeren Snack in der Dose freuten.

Weitaus weniger einfach war die Frage, ob unser Kindersitz im Flugzeug zugelassen wäre. Der erste Anruf bei der amerikanischen Fluglinie brachte die Bekanntschaft eines jungen Amerikaners, der seine (mäßigen) Deutschkenntnisse strikt an mir ausprobieren wollte und schlussendlich vorschlug, ich könne das sicher googeln. Beim zweiten Versuch, direkt bei der amerikanischen Hotline, wurde mein Mann Normen mit den munteren Worten abgespeist: „If it’s approved by the Germans, it’s ok!“ Na, da scheint der Ruf der Deutschen ja noch gut zu sein…

Letzte Woche habe ich dann eine mir bislang unbekannte Form der „ich muss horten“-Panik erlebt: Mindestens eine halbe Stunde stand ich vor dem Babynahrungs-Regal im Drogeriemarkt meines Vertrauens und überlegte, ob jeweils ein Glas Schinkennudeln und Bio-Kalb mit Karotte reichen würden. Als ich mit einer zum Bersten gefüllten Tasche nach Hause kam, rieb Normen sich die Augen, als wäre er in Alices Wunderland. Behutsam erklärte er mir, dass wir sicher auch in den USA Babynahrung bekämen, was ich ihm nach Vorlage diverser Supermärkte in San Francisco Downtown auf Google Maps auch glaubte (obwohl ich doch im Internet noch einmal recherchiert habe, ob die angebotenen Gläschen auch wirklich ohne Zusatzstoffe auskommen). Tja, als Ma lernt man sich selbst neu kennen…

Jedenfalls sind die Koffer gepackt, der Bauch fliegt jetzt schon – und Fiona erlebt gleich den ersten Flug ihres Lebens!

 




Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

40374_1_kyroe_bb_web1

Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.




Es gibt Tage, da will man nur noch weg !

Das Wetter ist beschissen, auf dem Brocken fällt Schnee                        st_chely

und in Dreis Tiefenbach hagelt es Tennisbälle aus Eis.

Willkommen Ende Mai !

Wollemonat. Tonnenmonat.

Diesen herrlichen Monat, als solches  seit der Wetteraufzeichnung

verehrt, kann man wahrlich in die Tonne kloppen.

Schlittenfahrt durch den Mai!

„Et schickt!“

 

Nein wir sind nicht aus Zucker, auch keine Jammerlappen.

Aber wir leben nun einmal nicht in Grönland und unsere Heimat

heißt auch nicht Spitzbergen.

Und so gibt es dieser Tage reichlich Zwiesprache mit dem Wettergott,

mit Claudia Kleinert, mit Herrn Thiersch und Inge Niedeck.

Sven Plöger überschlägt sich in seinem Wetterstudio,

haut sich auf seinen kahlen Schädel, dem der Morgenfrost das letzte Haar weggefressen hat.

 

Wie nicht anders zu erwarten ist, sind die Leute mies drauf,

was im Siegerland keine Kunst, sondern Alltag ist.

Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die bestätigen eben nicht die Regel.

Man schaut in Gesichter, die an Eisen- und Stahlskulpturen erinnern.

Gemeißeltes Leben mit Schweregarantie.

 

Da kommt es nicht von ungefähr, dass der Autor, der wohl im Siegerland lebt,

aber kein Siegerländer ist, an Frankreich denkt.

Zur linken Seite liegt ein Buch von Robert Louis Stevenson:

„Reise mit dem Esel durch die Cevennen“.

Die Cevennen sind auch ein hartes Pflaster, wird manch einer einwenden.

Das stimmt wohl.

Aber, wenn man sie durchreist hat, landet man am Mittelmeer

und nicht auf dem Westerwald.




Pierre-Laurent Aimard versöhnt beim Klavier-Festival die Romantik mit der Moderne

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Pierre-Laurent Aimard schnauft, scheint zu atmen im Puls vertrackter Rhythmen. Und wenn der französische Pianist aus klavieristischem Gewusel und virtuoser Höchstleistung heraus einen Ruhepunkt findet, scheut er vor einem kleinen Seufzer nicht zurück. Am Ende, wenn er die Symphonischen Etüden Robert Schumanns rauschhaft zelebriert, zugleich strukturell seziert hat, müssen wir erst einmal durchpusten. Auf dass sich die Spannung löse, die Aimard in 45 Minuten aufgebaut, immer wieder angeheizt und gehalten hat.

Schumann ist so sehr Komponist des dunkel Melancholischen, des kindlich-naiv Lyrischen wie des Erhabenen, Stolzen, dass seine Interpreten aufpassen müssen, nicht in eine Kitschfalle zu tappen. Doch Aimard ist davor gefeit. Sein Ringen mit der Materie, um der unmittelbaren Ausdruckskraft willen, sowie  sein analytischer Zugriff vermeiden jede romantische Tümelei. Hier kommt vor allem das Symphonische zu Geltung, oftmals in harscher Klangsprache. Wer will, mag von einer Revolution sprechen, entwickelt aus dem Geist der Moderne.

Der Befund gewinnt an Bedeutung, ist doch von einem Konzert im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal zu berichten. Einst gelangte der Komponist in dieser Stadt zu großem Ruhm, bald aber zeigte man dem zunehmend abwesend wirkenden Künstler die verständnislose, kalte Schulter. Heute weiß Düsseldorf umso mehr, was sie an dem komponierenden und dirigierenden Sonderling hatte. Der Ehrungen waren und sind viele. Aimards Interpretation ist insofern bezwingend, als sie das Denkmal namens Schumann gewissermaßen entstaubt.

Für diese Herangehensweise ist der Franzose seit jeher bekannt. Nicht zuletzt beim Klavier-Festival Ruhr hat er stets seine avantgardistischen Wurzeln offengelegt, sich als maßgeblicher Interpret der Werke Olivier Messiaens, György Ligetis oder Pierre Boulez’ einen Namen gemacht. Dieses Düsseldorfer Konzert ist Aimards nunmehr 18. Auftritt beim Festival. Und natürlich hat er die Moderne im Gepäck. Mit Klavierstücken des amerikanischen Komponisten Elliott Carter, der im letzten Jahr starb. Als Hommage an einen Freund.

Aimard bedient sich dabei eines scheinbar gewagten, bei näherem Hinhören aber höchst sinnträchtigen Kunstgriffs. Nach der symphonischen Opulenz Schumanns streut er einige „Bunte Blätter“ des Komponisten zwischen Carters Klaviermusik. Das mag zunächst disparat klingen, gewinnt aber an Statur durch des Pianisten Kunst, mit Übergängen Entsprechungen zu evozieren – eine Art Versöhnung, zu unserer großen Verblüffung.

Schumanns kleine Formen und Carters Strukturelemente – in Stücken wie „90+“ oder „Tri-Tribute“ – zeigen sich in Aimards Deutung wie verwandt. Wenn auch um die Ecke gedacht, den Blick fest auf den Meister des komprimierten Ausdrucks gerichtet, Anton Webern. Carter arbeitete dabei mit Klangschichtungen, oft permanenten Tempoverschiebungen oder kleinteiligen Figurationen. Diese brechen sich im Werk „Caténaires“ in rasender Geschwindigkeit Bahn. Fulminantes Finale eines Konzertes, das unter Aimards Händen so schön wie aufregend Konstruktion und Expressivität verbindet.




„Du musst auch eine Drecksau sein“: Notizen vom ZDF-Talk zum Spiel Dortmund vs. Bayern

Allmählich drehen die Medien durch. Seit Wochen überschlägt sich die Berichterstattung vor dem Finale der Champions League. Borussia Dortmund gegen Bayern München im Londoner Wembley-Stadion ist das Spiel der Spiele. Jetzt ging es auch in Maybrit Illners ZDF-Talk um dieses Match, das am Samstag (20:45 Uhr) ins Haus steht.

Ich halte es mit dem guten alten Spruch des BVB-Altvorderen Adi Preißler: „Entscheidend is auf’m Platz.“ Alles Gerede vorher und nachher ist herzlich zweitrangig. So auch bei dieser Talkshow, deren Gästeliste nicht gerade Endspiel-Niveau erreichte. Vor allem fragte man sich, was um Himmels Willen Andrea Kiewel („ZDF-Fernsehgarten“) in dieser Runde zu suchen hatte. Sie war schon beim Sendereigen zum 50jährigen ZDF-Jubiläum – ebenfalls von Maybrit Illner moderiert – höchst präsent. Man kennt sich, man mag sich, man lädt sich ein…

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Bloß keinen Aspekt auslassen

Maybrit Illner mühte sich, dem Thema alles, aber auch alles abzupressen. Bloß keinen Aspekt auslassen. Da ging es vor allem um den Mythos „Malocher gegen Millionäre“ und alle anderen Animositäten zwischen Bayern und dem BVB, die weidlich ausgekostet wurden. Bei Licht betrachtet, blieb jedoch von diesem angeblichen „Kulturkampf“ (Illner) substanziell nicht allzu viel übrig.

Man hatte versucht, die Runde möglichst gleichgewichtig zu besetzen. Ex-BVB-Kicker Frank Mill, der derzeit vereinslose Trainer Christoph Daum und Andrea Kiewel halten es eher mit der Borussia, der Journalist Claus Strunz und Moderator Markus Kavka hingegen mit den Bayern. Kleine Spitzen flogen hin und her, doch man tat einander nicht weh. Hörfunk-Fußballreporterin Sabine Töpperwien (WDR) gab sich öffentlich-rechtlich neutral, legte aber stets Wert auf die Formulierung „Ich habe übertragen“; ganz so, als sei sie für ihren Sender immer allein tätig. Nun gut. Ich gestehe freimütig, dass ich ihre Bundesliga-Berichte in ihrem ganzen knödelnden und gepressten Tonfall unsäglich finde.

Deutsche Gipfelgefühle

Apropos unerträglich. Man hält ja all diese Gipfelgefühle kaum noch aus: Deutschland ist doppelt an der Spitze des europäischen Fußballs angekommen, zudem gab ausgerechnet die britische BBC gestern bekannt, dass „wir“ weltweit das beliebteste Land seien. In dieser Talk-Sendung kam man freilich mental wieder etwas herunter, denn es wurde alles, aber auch wirklich alles durchgehechelt, was nur irgend aufs Finale in London bezogen werden konnte – bis hin zu den Chancen bei der nächsten Weltmeisterschaft oder den Scheichs und Oligarchen, die sich vor allem britischer Vereine bemächtigt haben. Wo aber wird solide gewirtschaftet? Richtig. Bei uns. Wo sonst?

Stammtischverdächtig

Wie bitte? Ja, selbstverständlich. Natürlich wurden auch Uli Hoeneß‘ Steueraffäre, der Götze-Transfer und Christoph Daums Kokain-Skandal von anno 2000 nochmals bekakelt. Und der wohltuend zurückhaltende Frank Mill musste zum wohl tausendsten Mal den Filmausschnitt von seinem legendären Pfostenschuss aus einem Meter Entfernung über sich ergehen lassen. Heilig’s Blechle!

An manch einem bayerischen oder westfälischen Stammtisch dürfte ähnlich (un)kundig debattiert werden. Stammtischverdächtig, aber irgendwie herrlich knorrig und kernig war auch der Satz des Abends, der von Christoph Daum eingeworfen wurde: „Du darfst nicht nur schön spielen, du musst auch eine Drecksau sein.“ In diesem Sinne freuen wir uns jetzt aufs Endspiel. Oder auch ganz anders. So mehr von innen heraus.




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

neuezeit

Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Köstliches am Wegesrand (4): „Schuller“ oder „Hahn“? Beide, keine Frage!

Vor fast genau einem Jahr pries ich an dieser Stelle hymnisch und tief überzeugt einen Ort der Gaumenfreude im vulkanischen Teil der Eifel und stellte fest, dass im „Café Schuller“ an der Leopoldstraße in Daun großartig gespeist werden kann. Damals nahm ich mir vor, dorthin ein zweites Mal zu gehen, um festzustellen, ob denn das Niveau gehalten werden konnte. Ich tat’s und das „Café Schuller“ hielt auch 2013, was es mir 2012 versprochen hatte.

Cafe Schuller Daun

Café Schuller in Daun und seine Kaffeemühlensammlung.

Diesmal kostete ich eine Früchtetorte, meine Lieben Andrea und Yannic taten es mir nach. Unser aller Urteil: Umwerfend, wie vor Jahresfrist. Ich mochte noch nachlegen und orderte Bratkartoffeln mit Omas Sülze. Die Bratkartoffeln – als hätte ich sie selbst zubereitet (was stets nach dem Rezept geschieht, wie ich es meiner Mutter abgeschaut habe), die Sülze köstlich, wenn auch nach meinem Geschmack etwas zu fest im Gallert, ich mag es da lieber etwas wackeliger, so dass das Gallert am Berührungsrand mit den heißen Kartoffeln dahin schmilzt.

Meine Lieben einigten sich sodann auf kleine Bratwürste mit Sauerkraut und Bratkartoffeln, was beide genüsslich und kritikarm zu sich nahmen. Kleines Manko, ihrerseits geäußert: Die Würstchen hätten auch dunkler gebraten sein können, aber das ist ja Sache des individuellen Geschmacks.

Im vielfach ausgezeichneten Café Schuller war denn auch der Service untadelig. Und das nicht nur an unserem Tisch. Auch als eine Rotte hungriger Holländer das schmucke Lokal betrat und naturgemäß ein wenig angeranzt ausschaute, weil sie mit dem Rad bei mäßigem Wetter und unmäßigem Regen unterwegs waren, blieb die Servicetruppe gelassen. Jeder Radler erhielt eine Sitzunterlage, dass er den Hosenboden auf diese platzierte und dem Mobiliar kein Wasserschaden (oder Schlimmeres) zugefügt wurde. Anschließend gab’s zur Zufriedenheit der wackeren Pedaltreter alles, was die Konditorei hergab.

Und als wir uns dann mit einem glaubhaften „Bis Bald!“ verabschiedeten, gab’s noch für jeden eine der köstlichen Eifeler Trüffel, welche ich auf der Stelle glücklich grunzend zu mir nahm, meine Lieben sie hingegen für den Abend aufhoben, dass der Tagesgenuss noch nachklingen konnte. Unser Fazit: Das „Café Schuller“ an der Leopoldstraße in Daun wirbt für sich, seine Leckereien und Attraktionen (u.a. zählen dazu auch 450 Kaffeemühlen aus allen alten Zeiten) halten alle Jahre wieder, was sie versprechen.

Für die einen beängstigend (wg. Höhe) für die anderen faszinierend: die Anfahrt zur Feste Ehrenbreitstein.

Für die einen beängstigend (wg. Höhe) für die anderen faszinierend: die Anfahrt zur Feste Ehrenbreitstein.

Um noch einen neuen Tipp zu verbreiten, habe ich da das „Café Hahn“ in der Festung Ehrenbreitstein 180 Höhenmeter über dem Rhein. Schon die Anreise ist für die einen Abenteuer pur und für die anderen Hochgenuss im wahren Wortsinne. Um es genau zu sagen, wir schwebten ein mit einer Kabinenseilbahn, die zur Koblenzer Bundesgartenschau 2011 gebaut worden war und blickten unter allgemeinem „Ah und Oh“ hinab auf den Vater Rhein und das „Deutsche Eck“, um oben angekommen zunächst von den martialischen Wucht der Feste überwältigt zu werden und anschließend vom Hungergefühl, das im „Café Hahn“ innerhalb der meterdicken Festungsmauern trefflich zu stillen sei, wie wegweisende Schilder versprachen.

Café Hahn in der Festung, eine Feste des guten Geschmacks.

Café Hahn in der Festung, eine Feste des guten Geschmacks.

Mehrerlei kam zusammen: vortreffliches Wetter, angenehmer Freisitz, ungeheuer geduldiges Personal, das auch die schlimmsten Gästinnen und Gäste aussaß – und dann Flammkuchen für die Meinen und Saumagen für mich. Wow, die Meinen priesen geschlossen den Flächenkuchen auf dem Brett und sogen ihn in Begleitung eines üppigen Salates ein. Während ich stumm vor mich hin schlang und nur meine Augen verraten ließ, dass diese meine Wahl nicht zu übertreffen war. Es gibt zwar nur eine klitzekleine Karte im Festungscafé, die aber hat wirklich gutbürgerliche Klasse.

Nun genieße ich schon zum zweiten Male die Erinnerung an Eifel und Umgebung und habe längst beschlossen, diesen rauhschönen Fleck Landschaft alsbald wieder zu besuchen – und sei es nur, um weitere Leckereien am Rand meines Weges durch Rheinland-Pfalz zu kosten.




Schreie und heilige Stimmen beim Jazz-Festival in Moers

Was war in diesem Jahr in Moers das Wunderbare? Zunächst die Entdeckung, was mit der menschlichen (wenn auch mitunter nicht-menschlich klingenden) Stimme alles möglich ist. Zweitens, staunend festzustellen, dass sich aus der E-Gitarre noch immer nie gehörte Klänge herausholen lassen. Und drittens, die Beherrschung von Schlagwerk über die Grenzen der bekannten Virtuosität hinaus zu erleben.

Das Festival begann am Freitagabend mit einem Schrei, der auch den letzten erwartungsvoll vor sich hinträumenden Zuhörer sofort aufweckte und in die Gegenwart Mike Pattons holte. Falls das in verschiedenen Metal-Genres längst übliche Screaming von der Jazzwelt noch nicht als Kunstform anerkannt sein sollte – Mike Patton arbeitet verdienstvoll an der Etablierung des stimmtechnisch sauber ausgeführten Schreis. Mit welcher Freude, mit welchem Humor auch er sein Können vorführt, dürfte aus digitalen und analogen Tonträgern nur schwer herauszuhören sein; bei Live-Auftritten aber wie in Moers kann die Sympathie für den gutaussehenden Schreier auch auf Nicht-Metal-Fans überspringen. Im 3. Set des „John-Zorn-Tags“ sollte Patton dann mit der Formation Moonchild / Templars Gelegenheit bekommen, die ganze Vielfalt seiner stimmlichen Performance darzubieten.

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

Freitag war Zorntag

Nach dem kurzen, energisch losrockenden Opening setzte sich das „Song Project“ John Zorns mit einem Kontrastprogramm fort. Marc Ribot, der kurz zuvor noch die älteren Zuhörer an den Ten-Years-After-Gitarristen Alvin Lee erinnert haben mochte, spielte spanische Konzertgitarre, und Sofia Rei sang dazu, manchmal mit flackernden Augenlidern, Melodien, die gut in David Lynchs „Mulholland Drive“ gepasst hätten. Mit Jesse Harris betrat der dritte Sänger, zugleich Songwriter und Dichter, die Bühne. Das „Song Project“ aber baute nicht nur auf Kontraste, es zeigte auch, dass der von der Gruppe Faith No More bekannte Mike Patton und Sofia Rei wunderschön zusammen singen können. Ein sehr bestimmter John Zorn dirigierte seine Gruppe, die größtenteils aus den Musikern bestand, die auch später am Abend im Set von Dreamers und Electric Masada vertreten waren.

Der „Zorntag“ zum 60. Geburtstag des Komponisten, Bandleaders und Saxophonisten versuchte ein Fazit, wenn nicht seines Lebenswerks, so doch immerhin des vergangenen Schaffensjahrzehnts darzustellen. Dazu gehört die von Arthur Rimbaud inspirierte Komposition Neuer Musik, „Illuminations“, mit einem virtuosen Steve Gosling am Piano, einem nicht minder großartigen Kenny Wollesen an den Drums und dem Bassisten Trevor Dunn, der in fast allen Formationen an diesem Abend dabei ist.

Zu dem folgenden „Holy Visions“, einem von fünf Sängerinnen dargebotenen A-cappella-Stück, das immer wieder neu anhebt und Gregorianischen Gesang ebenso einbezieht wie stark rhythmisierte Teile bis hin zu Jazz-Anklängen und Minimal Music, hat John Zorn die lateinischen Texte in Anlehnung an das Leben der Mystikerin Hildegard von Bingen verfasst. Mystisch-esoterisch blieb es auch bei „The Alchemist“, gespielt von dem auf Neue Musik spezialisierten Arditti String Quartet. John Zorns Komposition wählt als Thema den Hofgelehrten von Königin Elisabeth I., John Dee (1527–1608).

Nur die Anzahl der Musiker verbindet das Streichquartett mit den nun folgenden Moonchild / Templars. Mike Pattons Stimme klingt jetzt vielleicht nicht satanisch, aber jedenfalls nach dem, worauf sich Film- und Musikindustrie geeinigt haben, wie eine satanische Stimme zu klingen hat. John Medeskis Korg-CX-3-Keyboard erinnert klanglich an The Nice und die frühen Deep Purple.

Mit Dreamers und Electric Masada spielte John Zorn seine Evergreens, die in den vergangenen Jahren auf mehreren großen Festivals live aufgenommen worden sind (z. B. „Jazz in Marciac“), wobei sich die Dreamers schnell in Electric Masada verwandeln, indem Kenny Wollesen vom Vibraphon ans zweite Schlagzeug wechselt, die Elektronikerin Ikue Mori hinzukommt und John Zorn beim Dirigieren Saxophon spielt. Ein einziger Zorntag ist zu wenig, um auch nur annähernd die Vielseitigkeit des Mannes kennenzulernen, der für sich die Bezeichnung „Jazzmusiker“ ablehnt. Doch die fünf Stunden von 19.00 bis 24.00 Uhr am Freitagabend waren reich an musikalischer Abwechslung.

Die reinen Männergruppen überzeugten nicht

Von „Blixt“ mit Bill Laswell am Bass, Raoul Björkenheim an der Gitarre und Morgan Agren am Schlagzeug versprachen sich viele der anwesenden Insider den ersten Höhepunkt des Samstags. Das Trio aber enttäuschte mit Männerjazz; die Musiker ein bisschen aneinander vorbeiredend, sich nicht zuhörend – drei improvisierte Monologe gleichzeitig, dafür straight und rockig. Wenigstens spielten sie weniger laut als das andere Männertrio um Caspar Brötzmann am Sonntag, vor dessen Auftritt das Orga-Team kostenlos Ohrstöpsel im Festivalzelt verteilte und die Ansagerin bat, besonders die Ohren der anwesenden Kinder durch die vor dem Zelt ausleihbaren Kopfhörer zu schützen. Große Teile des weiblichen Publikums nutzten den Auftritt von „Nohome“, um sich am einzigen sonnigen Tag des diesjährigen Pfingstfestes vor das Zelt auf den Rasen zu setzen, doch auch im letzten Winkel des abgezäunten Bereichs noch musste das Trio als lärmend empfunden werden.

Die vier Männer von „Caravaggio“ verstehen sich eher als Art Rocker denn als Hard Rocker. Ihre gestückelten Kompositionen erinnerten teilweise an die alten King Crimson, teils an instrumentalen Breakcore, und das Beth Gibbons gewidmete Stück klang mehr nach einer Fortführung von Tangerine Dream als nach Portishead.

Wieder nichts Richtiges für Frauen. Diese rückten dafür beim Auftritt des brasilianischen Superstars Lenine näher an die Bühne und wiegten sich in den Hüften. Das Zusammenspiel des aus Recife stammenden Songwriters der Música Popular Brasileira, der gern auch mit Elektronik experimentiert, mit Martin Fondse (Piano) und seinem niederländisch-deutschen Orchester „The Bridge“ darf als einer der harmonischsten Acts des Festivals bezeichnet werden. Rhythmen, denen man ohne weiteres zutraut, die Fruchtbarkeit der Tanzenden zu begünstigen.

Die wirklichen Überraschungen des diesjährigen Moers-Ereignisses aber, die Höhepunkte, die beim Publikum Schauder glücklichen Staunens hervorriefen, kamen in diesem Jahr nicht vom Piano, nicht von den Blechbläsern, Fagotten und Flöten, nicht von den Geigen, Celli und Kontrabässen; die wunderbarsten Momente lagen in den menschlichen Stimmen, in einigen Gitarren und im Schlagwerk. Darin war Moers in diesem Jahr ganz groß.

Stimmenvielfalt bis zur Entgrenzung

In der Spitzenklasse der vocal artists scheint es nicht darum zu gehen, wer am schönsten singt, sondern wer den Gesang revolutioniert. Die Entgrenzung der menschlichen Stimme verdeutlichten gleich mehrere Performer auf sehr unterschiedliche Art.

Noch auf relativ vertrautem Terrain, da ein bisschen an Björk erinnernd, trug Jenny Hval am Samstag ihre Songs vor.

Michael Schiefel, der diesjährige „Improviser in Residence“ in Moers, erzählt am Sonntagnachmittag singend und hüpfend Geschichten, die teils verständlich sind, sich aber auch in Silben und stimmliche Beats auflösen. Begleitet wird er dabei von Paolo Damiani am Cello und Miklos Lukacs am Cymbalom.

Hundertprozentig improvisiert – das sieht und hört man – ist am Samstagabend der Auftritt des stimmlich zwischen Rap, Grime, Soul, R&B changierenden Kokayi. Zu dem beständig wirbelnden Kubaner Dafnis Prieto am Schlagzeug und dem eher abwartenden Jason Lindner an den Keyboards verlagert er mit geschlossenen Augen sein nennenswertes Gewicht von einem Bein aufs andere, als müsse er sich erst ausdenken, was er als nächstes vortragen möchte. Neben dem Mikro sind Wasserflasche und Handtuch seine wichtigsten Werkzeuge.

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Zuvor aber beeindruckten Sidsel Endresen und Stian Westerhus, ein Zwei-Personen-Trio aus Gesang, Gitarre und Traum. Etwas ungläubig nimmt der Zuhörer zur Kenntnis, dass nach Robert Fripp, nach David Torn, nach Eivind Aarset einer Gitarre noch immer neue Klänge entlockt werden können. Der Norweger Stian Westerhus schafft es, und sei es, indem er den Kopf des Gitarrenhalses einmal senkrecht auf den Verstärker stößt, um sich dann wieder seinen vielen Pedalen zuzuwenden. Ebenso unglaublich ist dazu der Gesang Sidsel Endresens, dadaistische Lautmalerei, vokalbetontes Beatboxing (wenn es so etwas gibt), tierisch anmutendes Gemecker und Gurgellaute fügen sich in den rauen Gesang ein, sodass sich zuweilen der Eindruck einstellt, ein Zungenreden, eine Glossolalie heiliger Stimmen ergieße sich über die Köpfe der Zuhörer. Selten wurde das Pfingstwunder in Moers so wörtlich genommen (wobei „wörtlich“ wiederum nicht wörtlich zu nehmen ist).

Fred FrithFoto: Frank Schemmann

Fred Frith
Foto: Frank Schemmann

Fred Frith am Sonntagabend hat seine Gitarre die meiste Zeit auf dem Schoß liegen und bearbeitet sie, als sei das Saiten- ebenfalls ein Schlaginstrument neben den vielen anderen, zwischen denen Evelyn Glennie über die Bühne wandert. Evelyn Glennie ist ein Schlaggenie. Überhaupt ragten die Schlagwerker in Moers wieder heraus, unbestrittene Meister wie Joey Baron, Kenny Wollesen und Cyro Baptista aus dem John-Zorn-Umfeld oder Dafnis Prieto mit seinem Trio. Die Frau aber schlägt anders. Nicht nur, weil Evelyn Glennie, wie die Ansage zuvor informierte, ungefähr 1.800 Schlaginstrumente besitzt. Diese Frau schlägt andere, unbekannte Rhythmen.

Evelyn GlennieFoto: Frank Schemmann

Evelyn Glennie
Foto: Frank Schemmann

Alles Weitere – und an den dreieinhalb Tagen gab es noch sehr viel mehr zu hören – war gut, teils erstklassig und auch Weltklasse, aber irgendwoher bereits bekannt. Und eine düstere Ahnung können wir Männer aus Moers mit nach Hause nehmen: Die Zukunft des Jazz scheint bei Frauen zu liegen, solchen wie Sidsel Endresen und Evelyn Glennie. Glücklich die Männer, deren Gitarren da mithalten können.




Die Liebe, ein sehnsüchtiger Wunsch: Das Hamburg Ballett unter John Neumeier in Essen

Logo: Hamburg Ballett

Logo: Hamburg Ballett

Das Licht verlischt, der Horizont glüht blassblau auf. Christoph Eschenbachs Charakterkopf und der Flügel zeichnen sich scharf konturiert vor dem Hintergrund ab – wie ein Scherenschnitt des 19. Jahrhunderts. Eine Tänzerin tritt an den Flügel, ihr Kostüm ist einfach; reines Weiß.

Eschenbach beginnt zu spielen, leicht und verträumt. Schumanns „Kinderszenen“ eröffnen das Gastspiel des Hamburg Balletts in der Essener Philharmonie. Es sind stille, in sich versunkene Momente; die Tänzer bilden in fließenden Abläufen poetische Bewegungs-Bilder.

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Eschenbachs Schumann-Interpretation, die er auch bei der Premiere des Balletts 1974 spielte, war ein Grund für die Entstehung der Choreografie, bekennt John Neumeier in seinen Lebenserinnerungen. Der Mann ist jetzt schon eine Legende: dienstältester Ballettdirektor der Welt, über 140 eigene Choreografien. Seit 1973 prägt Neumeier das Hamburg Ballett. Im September 2013 feiert die Compagnie die 40-jährige Zusammenarbeit mit dem Amerikaner, der ihr ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Eine Uraufführung für Essen

Pünktlich zum Jubiläum hat es die Philharmonie Essen geschafft, Neumeiers Truppe zu einem Gastspiel an die Ruhr zu bringen. Es gab auch ein Geburtstagsgeschenk: Damit ist nicht die Torte gemeint, die Intendant Johannes Bultmann am Ende der gefeierten Gala aufs Podium bringen ließ. Sondern eine Uraufführung: John Neumeier schuf unter dem Titel „Um Mitternacht“ eine neue Arbeit zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, die er 1976 schon einmal choreografiert hatte. Vom „In Residence“-Künstler Christoph Eschenbach mit feinsten Nuancen begleitet, sang Matthias Goerne die ergreifend resignativen Klagen Mahlers mit seinem dumpfen, gurgelnden Timbre, prekärer Wortverständlichkeit und unklarer Vokalisierung – stets ein neues Rätsel, warum dieser Bariton zu den führenden Liedsängern zählen soll.

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Neumeier deutet tragisches Scheitern von Liebessehnsucht, Beziehungsnot und Einsamkeit eher an, als sie allzu erzählend auszubreiten. Wenn am Ende der grandiose Solist Edvin Revazov sein Gesicht in die Hände einer der Welt enthobenen Frau in grüner Gaze legt, sich die Farbe des Kleides als Licht über die Szene legt, wird die Entrückung greifbar. In der „realen“ Welt triumphiert derweil die Kälte: Anna Laudere sitzt trotzig mit unbeteiligt gelangweiltem Blick da; Revazov legt seinen Kopf auf ihre Knie: „Liebe um Liebe“, wie sie das Lied „Liebst du um Schönheit“ erträumt, bleibt eine Vision.

Eschenbach folgt am Flügel Mahlers Anweisung, die Tempi „äußerst langsam“ zu nehmen. Dass die Spannung hält, ist seiner Kunst zu verdanken, die Töne zusammenzubinden. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts beherrschen die konzentrierte Bewegung so virtuos, dass sie auch in der rubatoverliebten Metrik stets mit Eschenbach zusammen auf einen Punkt kommen.

Souveräne Bewegungs-Kontrolle

Auch in den anderen Choreografien des Abends, frühe Arbeiten Neumeiers aus den siebziger Jahren, weckt die souveräne Kontrolle fließender Abläufe Bewunderung. Neumeier fordert kaum einmal Tempo. Er lässt die Paare sensible, fast schon skulpturenähnliche Figuren bilden: präzise Abstimmung und dosierte Kraft sind bewundernswert. Beispielhaft sei der Solist Alexandre Riabko genannt: In „Vaslaw“ von 1979, einer Hommage an den Tänzer und Künstler Vaslaw Nijinski mit Musik Johann Sebastian Bachs, bildet er mit unglaublicher Körperspannung den ruhenden Gegensatz zu den ausgezirkelten Figuren der Paare und der Solistin Patricia Tichy.

Mitgebracht hatte Neumeier auch das von ihm 2011 gegründete und betreute Bundesjugendballett. Begleitet von dem beherzt zugreifenden jungen Pianisten Christopher Park tanzten drei Paare Strawinskys „Petruschka-Variationen“ (1976) mit Lust an der rhythmischen Mechanik und kraftvoller Geschmeidigkeit.

Der Abend unter dem Titel „Nirgends … wird Welt sein als innen“ ist noch einmal zu sehen: am Samstag, 22. Juni, in Hamburg.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).




Was die Leute so alles auf Facebook mitteilen…

Soziale Netzwerke wie Stayfriends oder Facebook sind inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht mehr nur junge Menschen, auch immer mehr Mittelalte und Rentner wie ich tummeln sich dort. Es soll ja schon Jugendliche geben, die sich deshalb von FB wieder zurückziehen, allerdings schlägt sich das in den Nutzerzahlen noch nicht nieder. Aber was posten meine Mitmenschen dort?

Fotos vom Esstisch sind sehr beliebt.

Fotos vom Esstisch sind sehr beliebt.

Wer etwas mehr der so genannten „Freunde“ hat, der kann interessante Einblicke in deren Gewohnheiten gewinnen. Es gibt ja grundsätzlich zwei Arten von Nutzern: Jene, die wie Zuschauer am Rande stehen und nur amüsiert beobachten, was andere so machen bzw. von sich geben, und jene, die aktiv eingreifen und immer neue Sätze und Bilder in Umlauf bringen. Das Verhalten dieser zweiten Gruppe, zu der ich mich auch zähle, habe ich einmal etwas genauer zu analysieren versucht.

Nach meiner Beobachtung ergibt sich folgende, nicht repräsentative Rangliste der geposteten Bildinhalte:

1. Essen oder Speisen: Viele fotografieren ihren Teller und zeigen ihn herum.

2. Wetter: Jeden Tag kommen neue Fotos von Wetterphänomenen – ob Schnee oder Regen, Sonne oder Pfützen usw.

3. Autos oder Mobilität allgemein: Das eigene Auto oder Fahrrad von außen oder der Blick aus dem Auto nach außen sind sehr beliebt, ebenso Verkehrssituationen allgemein, auch schon mal Unfälle.

4. Fußball: Statements zum eigenen Verein, zum Spielverlauf, gegen andere Vereine usw. Meist eine reine Männersache, im Ruhrgebiet auf Blauweiß oder Schwarz-Gelb beschränkt. Ab und zu mischt ein Kölner mit.

5. Party: Oft von jungen Damen bevorzugt oder von Dritten ins Netz gestellt, mit Identifizierung der Feiernden. Nicht ungefährlich.

6. Konzerte und Links zu Musikgruppen: Meist nach dem Wochenende oder am Samstagabend direkt vom Smartphone.

7. Urlaub: Sehr weit verbreitet, aber nicht immer aktuell, da Urlaubsfotos gern auch noch Monate später gepostet werden.

8. Sprüche: Das Posten fremder Aphorismen oder anderer Sprüche verkündet zwar Meinungen, deutet aber meist auf eingeschränkte Kreativität hin.

9. Shoppen: Fotos vom Shoppen sind wohl reine Mädchensache.

Soweit also ganz persönliche Facebook-Eindrücke. Natürlich weiß der FB-Konzern mit seinen mathematischen Algorithmen viel mehr über uns, aber wollen wir selbst das auch alles wissen? Uns reicht doch der alltägliche Tratsch vollkommen aus.




Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Festspiel-Passagen I: Heilloses Spiel um Macht und Liebe bei den Göttinger Händel-Festspielen

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Irgendwann reicht es: Im dritten Akt klagt Siroe, eingekerkerter Sohn des Königs von Persien, die Götter an. Ungerecht sind sie: Der Redliche wird unterdrückt, der Verräter erhöht. Und Siroe schließt sein verzweifeltes Arioso mit der niederschmetternden Bilanz: Wenn Astraia – die Göttin der Gerechtigkeit – die menschlichen Verdienste auf diese Weise abwägt, dann regiert der Zufall, und Unschuld ist schlecht.

In Georg Friedrich Händels Oper „Siroe, Re di Persia“, bringt der Librettist Metastasio die Titelfigur in eine Lage, die dem Dulder Hiob oder dem Gerechten biblischer Klagelieder entspricht. Alles ist schief gegangen: Sein Vater Cosroe hat den intriganten und speichelleckenden zweiten Sohn Medarse seinem Erstgeborenen vorgezogen. Eine Kette unglücklicher Zufälle hat Siroe ins Licht eines Verräters und Attentäters gerückt. Er wird verfolgt von der heftigen Liebe einer Frau, die ihm gleichgültig ist. Und seine wirkliche Geliebte Emira trachtet seinem Vater nach dem Leben – aus Rache. Denn Cosroe hat einst Emiras Vater nach einem Feldzug grausam abgeschlachtet. Heillose Zustände.

Dass am Ende alles gut ausgeht, ist der Opernkonvention geschuldet, und der Botschaft, die dem Publikum vermittelt werden soll: Die Herrscher werden gewarnt, sich in ihrer machtumflorten Einsamkeit vor Intrigen zu hüten, die Stimme der Natur zu missachten. Die Standhaften und Tugendhaften tragen am Ende den Sieg davon. Mit Beständigkeit erringe man die Liebe, singt Emira am Ende, nachdem das Beispiel des großmütigen Siroe sie bewegt hat, ihren Hass zu begraben.

Doch derlei heroische Worte bemänteln nur, dass es in dieser Welt nur darum geht, die eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen, sei es aus Verblendung (Cosroe), aus unlöschbarer Leidenschaft (Laodice), aus Machtgier (Medarse), Auch die „positiven“ Figuren haben ihre dunklen Flecken: Emira etwa, die sich als Mann tarnt, bei Hof einschleicht, heuchlerisch das Vertrauen des alten Königs gewinnt, um ihn im richtigen Moment zu ermorden. Und selbst Siroe ist keine Lichtgestalt: Auch er benutzt die Frauen im Schachspiel der Macht.

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Bei den Händel-Festspielen in Göttingen hat Immo Karaman die heillosen Konstellationen in ein grandios durchleuchtetes Kammerspiel gefasst. Der Regisseur lässt über dreieinhalb Stunden lang kein Loch in der Spannung entstehen. Er hat weder zu den Mätzchen des Regietheaters gegriffen noch sich auf ein dekoratives Morgenland eingelassen, wie die Geschichte aus der persischen Frühzeit und der „Orient“ als diesjähriges Thema der Festspiele nahelegen könnten.

Bei ihm spielt das Drama in einer ungefähren Jetztzeit, wie die Kostüme von Okarina Peter signalisieren. Timo Dentlers aufgerissene Villa auf der Bühne ist eine Chiffre für den ruinösen und verkommenen Rahmen der Gesellschaft: Die einst noblen Räume, die sich um ein englisch anmutendes Treppenhaus gruppieren, sind alle offen, doch der Bau auf einem drehbaren Podest ist eine geschlossene Welt, aus der es kein Entkommen gibt.

Der 1972 in Gelsenkirchen geborene Karaman ist ein sensibler und aufmerksamer Menschengestalter. Das hat sich in seinen bisherigen Regiearbeiten immer wieder gezeigt: in seinen tiefschichtigen Britten-Opern an der Deutschen Oper am Rhein („Peter Grimes“, „Billy Budd“), im gespenstischen Realismus von „The Turn of the Screw“ in Leipzig und Düsseldorf, in „La Traviata“ in Dortmund, seiner Gelsenkirchener „Carmen“ oder seiner Wiesbadener „Aida“. Händels lange Oper, mit ausgedehnten Rezitativen und 25 Arien dramaturgisch belastet, lässt er nie im Leerlauf kreisen, füllt die Zeit aber auch nicht mit gezwungenem Handlungs-Beiwerk, das bei vielen Regisseuren bedeutungsschwer daherkommt, um dann doch im Dekor zu enden.

Karaman lässt seine Sänger die Räume besetzen, individuelle Bühnenpräsenz entwickeln. Er gibt ihnen Gänge und Gesten, die sparsam, aber bedeutungsvoll sind, stilisiert wie symbolische Choreografien. Und die aus den Charakteren entwickelt statt ihnen aufgesetzt sind. Die – oft allegorischen – Arien sind bei ihm Momente der zeitenthobenen Reflexion, die rasend schnell in den Köpfen der Menschen abläuft, während sich ihre Umgebung in Zeitlupe weiterbewegt. Zwischen den Gegnern und den Liebenden, den Heuchlern und den Freunden spitzt Karaman durch eine minutiöse Personenführung die Situationen so zu, dass der Zuschauer den Atem anhält. Minimal-Regie mit maximalem Ausdruck!

Die Sänger stellen sich auf dieses Konzept hochprofessionell ein, lassen ihre schauspielerischen Qualitäten herauslocken. Dass sie stimmlich ihren Partien, die für die berühmtesten italienischen Sänger der 1720er-Jahre geschrieben sind, bravourös gewachsen sind, ist ein Plus der Aufführung und hebt sie über so manche Göttinger Festspiel-Aufführung der letzten Jahre hinaus. Dabei werden weniger die virtuosen Kapazitäten der Stimmen gefragt. Nur Aleksandra Zamojska als Laodice darf die „geläufige Gurgel“ demonstrieren. Sonst kommt es eher auf emotionale Wahrheit, vielschichtige Expression, dynamische und klangliche Färbung und die vokale Darstellung des inneren Entwicklungsprozesses der Personen an: Fertigkeiten, die wohl schon im 18. Jahrhundert von einem Weltklasse-Sänger erwartet wurden – über perfekte Rouladen, Intervallsprünge und Spitzentöne hinaus.

So gestaltet Lisandro Abadie mit viel Fortune eine der ergreifenden Vätergestalten der opera seria: Sein Cosroe hat Lear’sche Dimensionen, entwickelt sich vom selbstbewusst energischen Vater-Herrscher zum gebrochen schlurfenden Greis, der nur noch mit Tabletten überleben kann. Abadie beglaubigt die Wandlung auch stimmlich mit seinem präsent geführten Bass. Auch Yosemeh Adjei muss eine Entwicklung durchlaufen, die er stimmlich überzeugend darstellt. Der athletisch gebaute Counter drückt mit seiner Körpersprache aus, wie der Titelheld Siroe abstürzt: vom trainierenden Beau am Boxsack zum geschundenen Gefangenen im Verlies unter der Treppe an einen schweren Heizkörper angekettet.

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Sein Widerpart Medarse ist bei Antonio Giovannini ein verschlagener Neurotiker, der ewige Zweite, der seine Chance wittert. Seine schlanke, bewegliche Stimme mit einem angenehmen, zwischen Sopran und Altus schwebenden Timbre, klingt unforciert und ausgeglichen. Mit solchen Vorzügen ist auch Anna Dennis als Emira ausgezeichnet: die glänzende Artikulation und ihr locker fokussierter Sopran mit einer reichen Farbpalette machen sie zur Ersten unter Gleichen im Ensemble.

Arasse, die personifizierte Treue des Mannes in der zweiten Reihe hinter den Herrschenden, wird von Ross Ramgobin mit tragendem Bass gesungen. Dass ihm – im finalen Spiel um die Krone – noch eine andere Rolle als (lachender?) Dritter zwischen den rivalisierenden Söhnen zuwachsen könnte, deutet Karaman an. „Very British“ durchzieht der Regisseur dieses Finale mit feiner Ironie: Karaman lässt ein Hausmädchen Tee und Torte servieren. Bettina Fritsche füllt die stumme Tänzerinnen-Rolle – laut Programmheft „das Volk“ – mit unaufdringlicher Bravour, schon als sie während der Ouvertüre vor dem Spiegel ihr Aussehen prüft. Am Ende sitzt sie mit einer Tasse Tee auf der Treppe, unbeeindruckt von den Konflikten der Mächtigen, die – wie die Schatten hinter einer Glastüre andeuten – mit dem versöhnlichen Schlusschor wohl nicht abgeschlossen sind.

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Dass sich der lange Abend nicht erschöpfte, war nicht zuletzt Verdienst des Festspielorchesters Göttingen. Händel hat sparsam instrumentiert, bis auf Oboen und Fagotte keine Bläser vorgesehen. Umso verdienstvoller ist, wie Laurence Cummings mit seinen sorgfältig artikulierenden und dynamisierenden Musikern die Stimmungslagen der Musik realisiert: vom Pathos zur Zärtlichkeit, von tiefster Depression bis zum hoffärtigen Höhenflug von Zorn, Wut, Triumphgefühl. Die schroffen Akzente und heftigen Pointen mit dem Bogen gelingen den Streichern meist ohne die ruppigen Unarten „historisch informierter“ Wiedergabe. Dass mancher Bogen flach gehalten wurde, Crescendi dünn blieben, gehaltene Akkorde mehr Substanz vertrügen, ist diskussionswürdig.

„Siroe“, ein selten aufgeführtes Werk Händels, hat sich musikalisch wie szenisch in Göttingen als ein packendes Stück Musiktheater erwiesen; trotz der Länge und einer für heutige Zuschauer sperrigen Dramaturgie emotional bewegend und glaubwürdig. Die Festspiele sind ihrem Sinn gerecht geworden: Sie haben uns Händel nahe gebracht.




Ein Künstler- und Lebensroman: Ralph Dutlis Debüt „Soutines letzte Fahrt“

Was haben Ralph Dutli und Theodor Fontane miteinander gemeinsam?
Sie haben beide mit 58 / 59 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht.

Bei Fontane wissen wir, dass auf seinen umfangreichen Erstling „Vor dem Sturm“ noch viele gute, meist kürzere Romane gefolgt sind, bis hin zu seinem späten, wieder etwas umfangreicheren Meisterwerk „Der Stechlin“; bei Dutli wissen wir vorerst nur, dass ihm sein Erstling wirklich gut gelungen ist und dass wir vielleicht noch auf weitere Roman-Überraschungen von ihm gefasst sein dürfen.

9783835312081l

Ralph Dutlis 272 Seiten umfassender Roman „Soutines letzte Fahrt“ scheint sich vom Thema her vorrangig in die gerade auch aus der deutschen Literaturgeschichte her bekannte Gattung „Künstlerroman“ einzureihen.

Denkt man kurz nach, fallen einem auch durchaus einige deutschsprachige Künstlerromane ein, in denen Maler, überhaupt bildende Künstler, mehr oder weniger zu Hauptfiguren bestimmter Romane auserkoren worden sind: „Franz Sternbalds Wanderungen“ (Ludwig Tieck), „Maler Nolten“ (Eduard Mörike), „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ (Lion Feuchtwanger), „Der Judas des Leonardo“ (Leo Perutz), „Deutschstunde“ (Siegfried Lenz) usf.; auch Erzählungen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (Stefan Andres) und „Barlach in Güstrow“ (Franz Fühmann) sollten nicht unerwähnt bleiben.

Dennoch: Romane von Rang, in denen weltberühmte Maler porträtiert werden, sind ziemlich selten, und wenn es auch Romane über Rembrandt, van Gogh, Michelangelo, Grünewald u.s.w. durchaus gibt, wird man solche nur ganz selten unter den Hauptwerken der Literaturgeschichte finden. So mag es weise gewesen sein, dass Albrecht Dürer bei Tieck und Leonardo da Vinci bei Perutz nur am Rande oder im Hintergrund auftauchen oder aber auf bekannte, allzubekannte Namhaftigkeit auch außerhalb des Romans (vgl. „Maler Nolten“) gleich ganz verzichtet wird.

Ralph Dutli wählt sich für seinen biographisch fundierten Roman einen Maler aus wie Chaim Soutine, der im öffentlichen Bewusstsein vom Bekanntheitsgrad her bei weitem nicht so verankert ist wie etwa Pablo Picasso oder auch Marc Chagall, die übrigens in Dutlis Roman durchaus nicht unerwähnt bleiben und von denen Marc Chagall sogar gelegentlich als Kontrastfigur zu Chaim Soutine dient. Dass Ralph Dutli nun anders als im Falle Ossip Mandelstams keine Biographie schreibt, sondern gleich einen Roman, scheint mir im Fall von Chaim Soutine durchaus angebracht und vermag vor allem im Ergebnis voll zu überzeugen.

Wir begleiten Chaim Soutine für die Zeit vom 6. August 1943 bis zu seinem Tod am 9. August 1943 auf seiner letzten Fahrt von einem Krankenhaus in Chinon zu einem in Paris, zu dem er langwierig und vorsichtig auf Schleichwegen in einem Krankentransportgefährt, das sich als Leichenwagen tarnt, schließlich gebracht wird. Ob diese Fahrt nun genauso stattgefunden hat oder auch nicht, ist nicht sicher verbürgt (wodurch Raum für behutsam und einfühlsam Fiktives entsteht), wohl aber, dass dieser umständliche Transport von Chinon nach Paris mit dem baldigen Tod des Malers geendet hat, da die erhoffte Operation in Paris keine Lebensrettung mehr bringen konnte.

Im Roman nun begegnen wir, auf der Folie seiner von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche begleiteten letzten Fahrt, Kapitel für Kapitel (auf so kunstvoll wie plausibel verschlungene Weise) bestimmten früheren Lebenssituationen des ursprünglich aus einem Schtetl bei Minsk herstammenden Malers. Dabei entsteht ein sehr dichtes Bild; ein lebendiges Porträt dieses Malers und seiner Eigenart und seiner Stellung unter den Menschen und ein Bild von der oft recht verworrenen, nicht nur für diesen jüdischen Maler gefährlichen Zeitsituation.

Das rege Interesse an dieser Lektüre ist bei mir nie erlahmt, aber erst mit dem äußerst feinfühligen, ein indirektes, zeitlich versetztes Zwiegespräch zweier einander auch unausgesprochen Liebender montierenden 14. Kapitel („Mademoiselle Garde und das nichtige Glück“, ein Kapitel, das man indes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des Ganzen lesen sollte) habe ich den Roman zu lieben begonnen.

Es steht zu hoffen, dass der Roman Ralph Dutlis den Blick auf die geretteten Bilder Chaim Soutines neu zu beleben vermag bzw. allererst eröffnet.

Ralph Dutli: „Soutines letzte Fahrt“. Roman, Wallstein Verlag Göttingen 2013, 272 Seiten, 19,90 Euro.




Von Müttern, Töchtern und jüdischer Identität: 38. Mülheimer Theatertage eröffnet

Als jüdisch gilt, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde – nur so ist sicher, dass einem nicht ein „Kuckucksei“ ins Nest gelegt wird. Konsequent also, das Augenmerk ganz auf die weibliche Linie zu richten: In dem Stück „Muttersprache Mameloschn“ von Marianna Salzmann kommen drei Generationen jüdischer Frauen zu Wort.

Es sind die Kommunistin und Holocaust-Überlebende Lin (Gabriele Heinz), ihre Tochter Clara (Anita Vulesica), die vom Judentum rein gar nichts mehr wissen will und die Enkeltochter Rahel (Natalia Belitski), die im fernen New York ein neues Leben anfangen möchte – bloß weg von zu Hause. Mit der Uraufführung des Deutschen Theater Berlin wurde jetzt das Stücke-Festival in Mülheim an der Ruhr eröffnet, das noch bis zum 29. Mai eine hochkarätige Auswahl deutscher Gegenwartsdramatik zeigt.

Muttersprache Mameloschn, Foto: Arno Declair/Deutsches Theater

Muttersprache Mameloschn, Foto: Arno Declair/Deutsches Theater

Im Focus der Mülheimer Theatertage steht seit jeher der Text; trotzdem macht der Stücke-Wettbewerb auch deswegen Spaß, weil man die neuen Stoffe in vergleichsweise interessanten Inszenierungen bekannter Häuser zu sehen bekommt – und das nun schon im 38. Jahr.

In „Mameloschn“, so das jiddische Wort für Muttersprache, wohnen die drei Frauen in einer Art Möbellager, das sie gelenkig bis akrobatisch bespielen. Besonders Clara, die Mutter, gibt eine beeindruckende Showeinlage auf einem wackeligen Kleiderschrank, um kurz danach wieder depressiv aufs Sofa zu sinken: Denn ihre einzige Tochter will nach New York ziehen und sie verlassen, ebenso wie ihr Sohn, der schon einige Zeit vorher in einen Kibbutz abgehauen ist. Und das, obwohl sie ihre Kinder keineswegs im Geiste der jüdischen Religion erzogen hat, ganz im Gegenteil. Doch auch mit dem real existierenden Sozialismus der DDR, mit dem sich ihre Mutter als Kommunistin der ersten Stunde so gut arrangiert hat, hat sie endgültig abgeschlossen. Was sollen ihr verlogene Ideologien, im Namen derer ihre Liebsten sie im Stich lassen?

Die Tochter wiederum flieht das Erstickende dieser Umarmung und will einfach frei sein, herausfinden, was für sie selbst das Richtige ist – ob jüdisch oder lesbisch, darauf kommt es gar nicht an. Der Generationenkonflikt ist auch deswegen so explosiv, weil er historisch aufgeladen ist. So erhalten die Familienstreitigkeiten zugleich eine weltanschauliche Komponente. Das Private ist politisch – hier trifft die Parole tatsächlich zu.

Nichtsdestotrotz will das Stück eine Komödie sein und schafft das auch: Wunderbar böse und scharfzüngig gehen diese Frauen an die Grenze. Jede weiß, wo sie die andere verletzen kann und bietet dafür die perfidesten Mittel auf, die auch vor dem Briefgeheimnis keineswegs haltmachen. Rahel erzählt mit Vorliebe jüdische Witze, die Oma trällert Liedchen, die sie einst auf großer Ost-Bühne sang.

Schauspielerisch ist der Schlagabtausch (Inszenierung: Brit Bartkowiak) ungeheuer facettenreich, hat Tempo, Witz und viel Gefühl. Je leidenschaftlicher die Wut, desto größer die Liebe. Fast hat man den Eindruck, der fortwährende Streit dieser drei Frauen wäre in Wirklichkeit ihr Lebenselixier. Dazu passt Rahels Witz: „Warum wollen Juden kein Schmerzmittel nehmen? – Weil die Schmerzen dann weggehen…“

Infos, Termine und Karten:
www.stuecke.de und www.deutschestheater.de




Treffsichere Musikalität: Joseph Moog debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Moers

Als ich Joseph Moog zum ersten Mal hörte – er spielte als 17jähriger Franz Liszts „Totentanz“ – fiel mir die treffsichere Musikalität auf, die sich mit ausgereifter Technik verband. Das war 2005 in Würzburg. Inzwischen ist Moog 25 Jahre alt, konzertiert auf wichtigen Podien, hat einige von der Presse gerühmte CDs aufgenommen – und jetzt sein fälliges Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gegeben. Und zwar mit einem Programm, das dem Verdi-Wagner-Schwerpunkt dieses Jahres Genüge tut, aber auch von der Lust an Ausgrabungen und entlegenem Repertoire zeugt.

Das Martinstift in Moers - ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Das Martinstift in Moers – ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Wobei die Frage zu stellen ist, ob ausgerechnet der intime Saal des Martinstifts in Moers ein geeigneter Ort gewesen ist. Dort steht ein für den Raum sowieso zu groß dimensionierter Steinway D. Bei der gebotenen Klangdramaturgie in den virtuosen Konzertparaphrasen kommt die Akustik schnell an ihre Grenzen. Bei aller Liebe zu der von vielen Pianisten bevorzugten Flügelfabrik: Mir wäre an dieser Stelle für dieses Programm ein Broadwood oder Erard willkommener gewesen.

Joseph Moog tat sein Bestes, um etwa Carl Tausigs hochvirtuose Bearbeitung des Walkürenritts so zu zügeln, dass er im klassizistischen Ambiente vor geschätzt 300 Zuhörern noch erträglich blieb. Das war nur bedingt erfolgreich. Die „Tristan“-Paraphrase von Moritz Moszkowski fordert die fiebrigen Steigerungen des Originals, will die Erlösung des Akkords aus drängendem Vorhalt und harmonischem „Irrweg“ mit großer Geste feiern. Aber statt Wagners Rausch spricht der Raum, bildet den Hall zu direkt ab, lässt nicht zu, dass sich Moog in die Ekstase freispielt, ohne die dieses Stück ziemlich flach gehalten wirkt.

Bei Haydn und Chopin, mit Grenzen auch in Debussys „Images oubliées“ hört man, was in diesem Saal sinnigerweise zu spielen wäre. In Haydns D-Dur-Sonate Nr. 24 lassen sich die Farbwechsel, mit denen der Pianist gliedert, wunderbar verfolgen. Haydns stets geistvolles Spiel mit der musikalischen Idee geht dem Hörer klar ins Ohr. Der flotte, trocken-entschiedene Ton Moogs liegt richtig, meidet papiernes Stochern wie weichen romantischen Anflug. Nur im näher an ein Andante gerücktes Adagio erlaubt er sich, empfindungsvoll zu färben. Warum Moog allerdings Arabesken und Verzierungen beschleunigt, ist nicht nachvollziehbar.

Auch Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 passt in den Architekturrahmen. In den Beleuchtungswechseln, in den Temponuancen spürt man, dass Moog gedankenvoll und konzeptuell bewusst an das Werk herangeht, das so typisch nach „einfachem“ Mozart klingt, aber höchst subtile Anforderungen stellt.

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Es offenbart jedoch ein Problem, das der junge Pianist auch in den Opern-Paraphrasen noch nicht ganz bewältigt hat: Moog „atmet“ nicht mit dem Metrum, gibt dem Puls der Musik zu wenig Richtung. Das führt in der „Rigoletto“-Bearbeitung von Franz Liszt zu einem seltsamen Hang zum Statischen: Moog schlägt die kantigen Bässe mit Bravour an, zeigt in gleißenden Passagen und in Silbervorhängen, gewebt aus schäumender Notengischt, wie brillant er solche Herausforderungen meistert. Aber er phrasiert nicht sanglich-gelassen genug: „Bella figlia dell‘ amore“, dieses unvergleichliche Quartett aus dem letzten Akt des „Rigoletto“, strebt nach dem vokalen Kulminationspunkt, den Moog in der raffinierten, genau auf den Effekt berechneten Liszt-Bearbeitung dynamisch nivelliert. War es der Raum oder die Tagesform? Die „Miserere“-Paraphrase nach dem „Trovatore“ und diejenige zu Verdis Frühwerk „Ernani“ gelingen überzeugender: die eine als Studie über die expressiven Möglichkeiten des Bassregisters, die andere als genialische pianistische Veredelung von Verdis direkter Emotionalität.

Noch einmal zeigen die Zugaben – Chopin, Brahms, Rachmaninow –, was dem Saale besser frommt; vor allem Chopins op. 15/2 nimmt Moog mit eleganter Gelöstheit. Man möchte den jungen Mann in größerem Rahmen wiederhören. Er hat auf CD spannende Entdeckungen vorgelegt – zum Beispiel Rubinsteins Viertes Klavierkonzert –, so dass man gewissen Rundfunk-Sinfonieorchestern gerne empfehlen würde, solche Anregungen mit diesem Pianisten umzusetzen statt Äther und Archiv mit der nächsten Version von Tschaikowskys Erstem vollzustopfen.

Mehr zu Joseph Moog: http://www.josephmoog.de/




Tamara Stefanovich mit neuen und alten Musikminiaturen beim Klavier-Festival Ruhr

Die Pianistin Tamara Stevanovich. Foto: Frank-Alexander Rümmele

Pianistin Tamara Stevanovich, regelmäßiger Gast beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Frank-Alexander Rümmele

25 Klavierminiaturen in einem Konzert, 25 musikalische Petitessen aus vier Jahrhunderten, mit Kompositionen von Domenico Scarlatti bis hin zu Thomas Larcher.

Scheinbar ist alles bunt gemischt, genau besehen aber sinnfällig verquickt, ein munteres, spannendes Exerzitium von 75 Minuten Länge, ohne Pause.

Solcherart Konzeptkunst mag den Verdacht schüren, intellektuell überzuquellen. Doch wenn die jugoslawische Pianistin Tamara Stefanovich sich der Sache annimmt, einerseits mit konzentriert kontrolliertem, analytischem Zugriff, zum anderen nicht ohne Emotion, wird daraus eine runde Sache. Mit Aha-Effekten fürs hochaufmerksame Publikum. Seht her, die Moderne, sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat ihre historischen, ästhetischen Bezugspunkte.

Stefanovich ist nicht zuletzt ein Ziehkind des Klavier-Festivals Ruhr, bei dem sie seit 2004 regelmäßig auftritt, und dem sie eben zum 25jährigen Jubiläum dieses außergewöhnliche Konzert geschenkt hat. Sie kredenzt uns in Wattenscheid sowohl Barockes wie auch Werke der Romantik, der klassischen Moderne wie vier Uraufführungen – diese geschrieben wiederum zum runden Geburtstag der Pianistin.

Ein Abend mit melancholischer, aufbrausender, verspielter, sentimentaler, quicklebendiger wie attackierender Musik. Klangvolle Episoden, die mitunter wie aus eines Komponisten Baukasten wirken. Wild Dramatisches im Wechsel mit zauberhaften Ruhepunkten. Pianistin und Publikum forschend und hörend im Steinbruch der Tonmassen. Ein Genuss für jeden, der neugierig ist.

Neugierig etwa auf den englischen Komponisten John Woolrich, der Stefanovich eine Etüde gewidmet hat. Basierend auf nur einem Ton, der an Gewicht gewinnt, umspielt wird, sich auswächst in wild dissonante Akkorde, sich mit ein bisschen Jazzidiomatik umgibt, um am Ende zart und ruhevoll dahinzugleiten. Und wenn sich daran György Ligetis 7. „Musica ricercata“ anschließt, ganz gemächlich, romantisch gefärbt, diese wiederum in Verbindung gebracht wird mit Chopin und Skrjabin, dann hören wir, wie die Jüngeren von den Altvorderen zehren.

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Seinen Beitrag zur Gattung Etüde hat der Grieche Vassos Nicolaou ebenfalls der Pianistin zugeeignet, gleich drei an der Zahl. Hochvirtuos ist diese Musik, mit überraschenden Wendungen und Beschleunigungen, voller Kniffe und Tücken also.

Der Kontrast zu solcher Attacke kann kaum größer sein, wenn im Anschluss ein Walzer Ligetis gewissermaßen in sich kreiselt, melancholisch (mit Bartók im Rücken) das alte Österreich-Ungarn aufblühen lässt, immer durchzogen vom Dreivierteltaktbrodeln wie in Ravels Endzeitstück „La Valse“.

Dritter im Bunde der Neuschöpfer und Stefanovich-Gratulanten ist der Franzose Franck Amsallem, der eine grüblerische Improvisation schuf („Brooding“). Ein gewichtiges, dunkles musikalisches Schreiten mit zunehmendem Erregungsgrad – bedrohliche Bassfiguren treffen auf klirrende Diskantschläge. Schließlich York Höller, der sein Opus kurzerhand „Für Tamara“ nennt. Getragen von archaischen Akkorden, verdichtet sich die Materie immer mehr zu einem kraftvollen Fließen – damit unmittelbar hinlenkend auf das letzte Stück des Abends, Olivier Messiaens „Insel des Feuers“.

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

All dies interpretiert Stefanovich präzis, ohne einem analytischen Buchstabieren zu verfallen. Dass sie dabei in der Lage ist, stilsicher zwischen den Jahrhunderten zu wandeln, darf getrost als bravourös bezeichnet werden. Virtuose Manier kennt die Künstlerin im übrigen nicht. Nur Empathie, technisches Können und ein Gespür fürs jeweilige Kolorit. Mit einem Programm, das dem Klavier-Festival Ruhr gut zu Gesicht steht – abseits des allgefälligen Repertoires.

Tamara Stevanovich ist am 5. Juni (20 Uhr) erneut Gast des Klavier-Festivals. Mit dem Bariton Matthias Goerne interpretiert sie u.a. Lieder von Brahms, Alban Berg und Schostakowitsch – im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Robert-Schumann-Saal.

Info: www.klavierfestival.de

 

 




Rock als Religion: „We will rock you“ im Colosseum Essen

Die Kultur ist implodiert – und „Globalsoft“ hat seine Chance genutzt. Für einen Moment bekommt die Science-Fiction-Geschichte, in die sich das Musical „We will rock you“ kleidet, unheimliche Aktualität: Da erklärt in einer fernen Zukunft ein Konzern jede „handgemachte“ Musik für „illegal“.

Auf der Bühne stehen Klone des hochgezüchteten Einheitsgeschmacks und „moven“ mit automatenhaften Bewegungen. Blonde Mädels, smarte Jungs, der Quoten-Farbige. Dahinter verpixelte Figürchen aus irgendwelchen Teenie-Computerspielen. Bunte Animation, unteres Ende der Primitivitäts-Skala. Das ist die Welt von „Globalsoft“, wie sie sich im Essener Colosseum präsentiert. Und für einen Moment fürchtet man sich vor dieser Retorten-Welt, die gar nicht so ferne scheint wie in der Story von Ben Elton.

Bunte, neue, heile Welt: So stellen sich die letzten selbständig denkenden Menschen auf Planet iPad ihre Welt nicht vor. Foto: Nilz Böhme

Bunte, neue, heile Welt: So stellen sich die letzten selbständig denkenden Menschen auf Planet iPad ihre Welt nicht vor. Foto: Nilz Böhme

Das Stück hat seit seiner Londoner Premiere im Mai 2002 einen Siegeszug hinter sich, der – glaubt man den Statistiken im Pressematerial – beispiellos ist. Dreizehn Millionen Besucher weltweit, vier Millionen davon in Deutschland.

Vier Jahre lief „We will rock you“ in Köln, war in Berlin, Basel, Wien, Zürich und Stuttgart zu sehen – und kommt nun bis 30. Juni nach Essen, lässt im Colosseum wieder einmal Musical-Atmosphäre entstehen.

Ein derart erfolgreiches Stück hat ein Erfolgsgeheimnis. In diesem Fall heißt es wohl „Queen“. 21 Songs der legendären Band sind der Kern, um den sich die Geschichte rankt – und im Gegensatz zu manch anderem, mühsam zusammengestoppelten Musical funktioniert die Kombination aus Erzählstrang und Musik: Die Dramaturgie ist nicht zurechtgebogen, damit die Lieder passen. Sondern die Nummern fügen sich ein in das Profil der Figuren, geben ihnen emotionale Substanz, teilen dem Zuschauer etwas mit. Nur „Bohemian Rhapsody“, einer der berühmtesten Queen-Titel, wird wie eine Zugabe „nachgeliefert“ und fällt aus der Handlung heraus.

Auch die Story funktioniert trotz mancher dramaturgischer Hastigkeiten. Das bunte Punk- und Rock-Völkchen der „Bohemians“ beschwört das Lebensgefühl der siebziger Jahre herauf. Dagegen steht der krakenhafte Konzern mit seiner Massenkultur aus dem Computer, beherrscht von einer raubtierhaften Domina-Queen und einem schmierig-mafiösen Handlanger.

Individualität gegen Uniformität, Gefühl gegen Geschäft, Kreativität gegen Konformität: Das sind Botschaften, die den gesetzten Herrschaften im Publikum gefallen dürften, die in ihren jungen Jahren mit Gruppen wie Queen erwachsen wurden. Und die das Unbehagen an der globalisierten musikalischen Retorte ansprechen.

Bunte Verschwörung der Kreativen: Die "Bohemians". Foto: Nilz Böhme

Bunte Verschwörung der Kreativen: Die „Bohemians“. Foto: Nilz Böhme

Doch „We will rock you“ geht über solche kulturkritischen Anflüge hinaus: Die Rockmusik wird stilisiert zum universalen, befreienden Element, mit dem der Mensch zu sich selbst und die Welt zum Heile findet. Sie gewinnt die Züge eines diesseitigen Erlösungsmythos.

Da ist der junge Mann (Galileo), der seine wirr im Kopf umherfliegenden Gedanken endlich auf den Begriff bringt. Da ist die junge Frau (Scaramouche) – beide sind sie Außenseiter –, die erkennt, dass Rebellion ohne Liebe ziel- und wirkungslos bleibt. Da sind die magischen Instrumente: Die letzte Gitarre auf Erden findet ihren Herrn am Eingang zum verfallenen Wembley-Stadion – dem Ort zahlreicher legendärer Konzerte – wie das Schwert in Wagners „Walküre“. Und aus dem Genfer See taucht die goldene Statue von Freddy Mercury auf: das ultimative Heilzeichen, das den Sieg der Revolte ankündigt.

Dass Rockbands wie Queen einst selbst zum globalen Musikgeschäft gehörten, spielt keine Rolle: Hier ist der Rock als solcher universales Heilsmittel, Medium einer säkularen Religion. Die Inszenierung, pardon, das „musical staging“ von Ariane Phillips, setzt auch auf vertraute Zeichen: Am bitteren Tiefpunkt der Geschichte, als alles vergebens scheint, zitiert sie die „Pietà“ aus der christlichen Bildwelt.

So wirkt das Musical auf verschiedenen Ebenen, gibt den Queen-Songs einen neuen Sinnzusammenhang, hebt sie über die bloße Abfolge eines Konzerts hinaus. Das Staging lässt in Essen keine Wünsche offen: Die Technik ist top, die sieben Musiker der Band unter dem erfahrenen Jeff Frohner bringen den Queen-Sound auf den Punkt über die Rampe (Sound Operator: Bettina Hennes). Sie achten auch aufmerksam auf die Momente, in denen die Komposition Anregungen aus der Oper, aus opulenter Filmmusik oder leicht schrägen Music-Hall-Schlagern verarbeitet und sich in der Wahl der Tonarten, den Modulationen und harmonischen Entwicklungen weit über die simplen Strickmuster vieler Hits erhebt. Nur die spöttischen Nummern, in denen die banale U-Musik der Globalsoft-Kiddies abgespult und ironisch gebrochen wird („Radio Ga Ga“), hätten ausgeprägter und ruhig etwas übertriebener kommen können.

Der unsichere Held: Christopher Brose als Galileo. Foto: Nilz Böhme

Der unsichere Held: Christopher Brose als Galileo. Foto: Nilz Böhme

Glaubwürdig auch die Darsteller: Christopher Brose hat als Galileo nicht nur die ideale, geradlinige Mikro-Stimme mit klarer Höhe, sondern changiert als Darsteller auch zwischen der schüchternen Scheu des Außenseiters und der hartnäckigen Hingabe eines Menschen, der sein Ziel zwar nicht immer kennt, aber im Inneren erfühlt.

Die Scaramouche des besuchten Abends war die in Duisburg geborene Jessica Kessler, in ihrer Jugend als Eiskunstläuferin bekannt. Sie bringt einen schnoddrigen Charme in die Rolle, der ihr mit flotten Sprüchen über manchen Hänger im jugendlichen Selbstbewusstsein hinweghilft. Zwei sympathische Typen, die aus Menschlichkeit und Wahrheitsgefühl heraus rebellieren, und ihr Zweifel und Ängste nicht vertuschen.

Auf der anderen Seite stehen die perfekten Verkörperungen der Klischees des Bösen, wie es das Märchen braucht: Marjolein Teepen, eine erfahrene Musical-Darstellerin, „rockt“ als Killer Queen mit einer durchsetzungsfähigen Stimme, aber auch mit knallharten Methoden: Ihrem fiesen Sicherheitschef Khashoggi lässt sie einfach das Hirn löschen, als er versagt. Martin Berger spielt und singt ihn souverän – ein Darsteller, der die Rolle aus der Kölner Produktion „drauf“ hat. Ein „Urgestein“ ist auch Léon van Leeuwenberg, der schon damals den Bap gesungen hat.

Das Ensemble gibt der Show, was sie braucht: Tempo, Witz, Präzision. Ben Eltons Musical ist ein Zeitgeiststück, das den Rock zum Religionsersatz verklärt, aber auch eines, das uns mit viel Humor und einer unterhaltsamen Story sagt: Lasst euch nicht von euch selbst entfremden.

Info: http://www.wewillrockyou.de/

Am Mittwoch, 29. Mai, gibt es nach der Vorstellung (Beginn: 18.30 Uhr) im Foyer des Colosseum Theaters ein After-Show Gratiskonzert. Für alle Fans ist die Band Night ab 22 Uhr kostenlos zugänglich. Die Sänger und Musiker wollen mit Hits aus Rock, Funk und Soul mit dem Publikum zusammen in den Feiertag hineinfeiern.




Querdenker in einem komischen Land – Harald Marteinsteins gesammelte Kolumnen

Martenstein.CoverWas bitte ist am „Bauhaus“ schön und warum wohnten die Architekten nicht selbst darin? Worin besteht der Unterschied zwischen Berliner, Hamburger und Münchner Star-Friseuren?

Und weiter: Ist der „Kleine Prinz“ nicht doch nur der kleinste gemeinsame Nenner für Diktatoren und Kirchen-Austrittswillige und kann man romantische Nächte wirklich nur noch im Zoo verbringen? Gemeinsam ist diesen Fragen die Antwort: Deutschland ist ein komisches Land. Zwischen Gerstengrund und Osnabrück wohnt nicht nur das Glück, sondern auch die Real-Satire.

Harald Martenstein, bekannter Journalist, Autor und Kolumnist, nimmt sich unbeirrt dieser Fragen an. 34 Betrachtungen und Geschichten aus den Jahren 1999-2012 hat er ausgewählt, überarbeitet und zu einer erstaunlich zeitlos aktuellen Betrachtung unseres Landes zusammengefasst. Alle Artikel aus seiner Sammlung „Romantische Nächte im Zoo“ waren bereits publiziert, einige davon (allen voran der über die Entzauberung des Suhrkamp Verlags) preisgekrönt.

Seine Themen sind breit gefächert und haben auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun. Da geht es um Milch und die Kuh als Leistungsträger, da werden Kirchentage genau wie die in den Städten um sich greifende Gentrifizierung seziert, Bildungspolitik als letztes Reservat für Ideologen entlarvt und die echten Freuden oder wirklichen Schrecken des deutschen Kleingärtners aufgedröselt.

Auf den zweiten Blick aber erkennt man die Gemeinsamkeit: Martensteins unverdrossenes Plädoyer für Meinungsfreiheit als grundlegendes Recht und für Toleranz – auch für diejenigen, die man nicht sympathisch findet.

Martenstein trifft den Nerv der Zeit und traut sich dafür auf ein sehr dünnes Drahtseil. Er scheut den Populismus nicht, ohne wirklich populistisch zu sein. In Summe und Buchform gelesen wird klar, warum er auf der einen Seite als einer der populärsten, anregendsten Kolumnisten des Landes gilt, auf der anderen Seite aber auch, warum er gleichzeitig auch einer der polarisierendsten Kolumnisten unserer Zeit ist. Kaum ein Kollege, der sich nicht an ihm abarbeitet. Die Lektüre der Beiträge anderer Blogger und Kolumnisten, die sich mit ihm beschäftigen, ist derzeit mindestens so unterhaltsam wie die der Martenstein-Kolumnen selber.

Mich wundert das nicht. Es hat ja auch etwas Frustrierendes, wenn man seine Kolumnen liest. Viele wirken zunächst wie charmant geplauderte Essays, doch in jeder kommt irgendwann der Punkt, an dem Martenstein zielsicher den Finger in die Wunde legt und ihn oft genug auch noch genüsslich umdreht. Was er nicht tut – er zeigt nicht auch noch mit dem Zeigefinder auf die, die er als Verursacher ausmacht. Da nimmt er sich zurück.

Ansonsten ist er unbestritten ein selbsternannter Besserwisser. Natürlich sind da Bescheidwisser aller Couleur genervt. Vor allem, weil man nach jeder Kolumne – gelegentlich zähneknirschend – zugeben muss, dass er recht hat. Und wenn auch manchmal nur mit dem Denkanstoss, den er gibt.

Lustvoll stellt Harald Martenstein gängige Verhaltensweisen und Meinungen auf den Prüfstand und in Frage. Auch wenn er dazu eine Position einnehmen muss, die eigentlich gar nicht die Seine ist – nur um zu sehen, wohin sie ihn führt. Das ist schon ein sehr spezieller Mut zum Vor- und Querdenken, der so manchem, der sich nicht einmal das Nachdenken traut, bitter aufstößt. Es erfüllt aber seinen Zweck. Der Denkanstoß, die Diskussionsgrundlage ist gegeben.

Martensteins erkennbare Allergie gegen Selbstzufriedenheit, Betroffenheitsgeseiere, sowie gegen ausufernden Kontroll-und Vorschriftswahn führt ihn immer wieder zum ganz normalen Surrealismus des Alltags. Man kann ihm natürlich ankreiden, dass es alles Luxusprobleme sind, die er behandelt, noch dazu aus der Sicht eines Menschen, der im weitestgehend katastrophenlosen Deutschland lebt. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob nicht auch der sich schleichend vollziehende bedenkliche gesellschaftliche Wandel unserer Zeit eine Katastrophe ist.

Die Texte der Sammlung sind nicht chronologisch und zeigen gerade dadurch, wie sehr Martenstein seinem Stil über die Jahre treu geblieben ist. Seine Schreibe hat sich nicht geändert, sie war schon vor zwölf Jahren so gezielt pointiert, manchmal provokant, manchmal zurückgenommen lakonisch. Auffällig ist, dass seine Sprache umso schnörkelloser wird, je mehr er sich aufregt.

So ist eine lesenswerte, gleichermaßen unterhaltsame wie kritische Biographie unseres Landes entstanden. „Ein Land, das sich schleichend radikal gewandelt hat.“ Die Quintessenz der Kolumnen findet sich in meiner Lieblingskolumne über die „Tugendrepublik Deutschland“. Eine Kolumne, in der Martenstein ersichtlich immer wütender gegen diese unsere Gesellschaft wettert. Eine Gesellschaft, die wie keine vor und neben ihr so sehr unter Kontrolle steht und trotzdem keine Diktatur ist. Eins weiß man nach der Lektüre auf jeden Fall: Nämlich, wo in Deutschland man auf gar keinen Fall tot überm Zaun hängen möchte.

Harald Martenstein: „Romantische Nächte im Zoo – Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land“. Aufbau Verlag, Berlin, 285 Seiten, € 18,99.




Nicht ohne meine Pistolen: Hedda Gabler bei den Ruhrfestspielen

Welch seltsame Bühnenfigur ist doch diese Hedda Gabler: Von Henrik Ibsen 1891 als gelangweilte Gattin konzipiert, die zu ihrer Unterhaltung Intrigen spinnt, in denen sie sich am Ende selber verfängt, reizt sie immer wieder zeitgenössische Regisseure. Zuletzt Stefan Pucher vom Deutschen Theater, dessen Hedda jetzt als Koproduktion bei den Ruhrfestspielen zu sehen war.

Hedda ist ja auch einfach so eine geniale Hauptrolle: Birgit Minichmayr (am Residenztheater in München) oder Nina Hoss haben das Biest im Repertoire; die Tochter des Gewerkschafters Willi Hoss spielte es jetzt in Recklinghausen.

Hedda Gabler. Foto: Arno Declair/Ruhrfestspiele/Deutsches Theater

Hedda Gabler. Foto: Arno Declair/Ruhrfestspiele/Deutsches Theater

Eigentlich ist diese Hedda doch ganz nett, fast ein wenig zu konventionell und einfältig, wie sie blond frisiert und adrett im hautengen Spitzenkleid von der Hochzeitsreise zurückkehrt. Sicher, gleich in der ersten Szene beleidigt sie die gutherzige Tante Jule (Margit Bendokat), weil die einen altmodischen Hut trägt –aber schiebt pflichtgemäß eine Entschuldigung nach.

Seltsam, so artig hatte man sich Nina Hoss in dieser Rolle gar nicht vorgestellt. Wo bleibt da das Böse in Hedda? Doch je weiter die Inszenierung voranschreitet, desto mehr entpuppt sich Hedda als Psychopathin: Unfähig, etwas für ihre Mitmenschen zu empfinden, bleibt sie doch immer neidisch auf deren Gefühlswelt und ihre Leidenschaften. Weil sie selbst keine Passion kennt, nutzt sie jede Gelegenheit, den anderen die ihre zu verleiden, zu zerstören und sie in den Abgrund zu stürzen. Die Verzweiflung ihrer Mitmenschen zieht sie sich dann zur Unterhaltung rein, nach dem Motto „endlich ist hier etwas los.“

Doch diese Rechnung geht nicht auf: Wie ein Vampir will sie ihren Teil vom Leben der anderen aussaugen, doch es befriedigt sie nicht. Denn selbst die gestohlenen Gefühle lösen bei ihr keine Emotionen aus, zurück bleibt nur Leere. Das Problem löst sie dann mit den Pistolen ihres Vaters.

Nina Hoss zeigt Heddas Fassade und gibt die Abgründe erst nach und nach frei. Das ist ein genialer Schachzug, denn so rückt die Figur nicht von vorneherein in die diabolische Ecke. Die ersten Gemeinheiten, kleine fiese Tricks aus Neid, heben menschliche Züge, das kennt jeder. Wie sie Frau Elvsted (Anita Vulesica) geschickt über den Zustand ihrer Ehe aushorcht, wie sie dem ehemaligen Liebhaber Punsch aufnötigt, obwohl sie weiß, dass er nicht trinken darf.

Doch langsam beginnt die Sache zu kippen: Immer verbissener steigert sie sich in ihre gemeinen Taten hinein, die im Verbrennen des Roman-Manuskriptes des Ex-Geliebten gipfeln.

Tatsächlich spielt Nina Hoss das Motiv für ihr Abgleiten in die Gewissenlosigkeit gleich mit: Eigentlich ist Hedda Gabler nämlich feige. Sie würde nie etwas tun, was sie wirklich will, denn sie hat Angst vor der Meinung der Leute. „So etwas tut man doch nicht“, sagt sie dann und versteckt sich hinter hohlen Konventionen. Sie verachtet ihren Stubenhocker von Ehemann (Felix Goeser), aber gehen würde sie nie. Wovon sollte sie auch leben?

Stefan Pucher hat für seine Inszenierung eine Ästhetik der 70er Jahre gewählt: Von der Einrichtung in rot-pink-lila bekommt man regelrecht Kopfschmerzen, von den schwarz-weißen Teppichmustern und Leopardenfellen Sehstörungen. Der geniale Außenseiter und Schriftsteller Eilert Lövborg (Alexander Khuon) ist ausstaffiert wie Rainer Werner Fassbinder in seinen wildesten Zeiten.

Im Hintergrund flimmern Italo-Western auf Videoleinwand, die das Geschehen um Hedda als Cowboy-Duell inszenieren. Auf diese Weise ist Hedda nur der Anlass für ein chauvinistisches Kräftemessen, keineswegs die Ursache für das Desaster. Die 70er Jahre als kommerzialisierte und verkitsche Form des Revoluzzertums in psychodelisch bunt zu deuten, ist ein schlüssiger Regie-Einfall.

Hedda nützt das nichts: Hingebungsvoll widmen sich ihr Mann und ihre Freundin der Nachlassverwaltung des genialen Werks des von Hedda in den Selbstmord getrieben Genies. Und für die Intrigantin interessiert sich niemand mehr. Die weiß, dass sie jetzt verloren hat und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, mit General Gablers Pistolen…Peng, das wars.

www.deutschestheater.de




Selbstbewusstes Konzept: Khatia Buniatishvili beim Klavier-Festival Ruhr in Duisburg

Die Unruhe ist von Anfang an da, zieht in ihren Bann. Sie ist präsent in den hart angeschlagenen Akkorden des Beginns von Chopins b-Moll-Sonate, sie wacht über dem aufgewühlten Agitato-Brausen, sie durchwebt auch die Beruhigung des Tempos, die sanfte Dolce-Versenkung. Bei Khatia Buniatishvili liegt diese Unruhe wie ein existenzielles Verhängnis über allen vier Sätzen der Sonate, die durch ihren „Trauermarsch“ eine manchmal traurig-banale Berühmtheit erlangt hat.

"Versinken ... ertrinken...": Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

„Versinken … ertrinken…“: Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

Bei der 25-jährigen georgischen Pianistin sitzt man das Stück nicht mit dem bestätigenden Eindruck des viele Male Gehörten ab. Wie Blitze eine bekannte und lieb gewonnene Landschaft unheimlich neu beleuchten können, durchfetzen ihre Einfälle das vertraute Gebilde. Etwa wenn sie die Dynamik, nicht aber die Toncharakteristik ändert und damit etwas Unerbittliches in die Noten legt. Oder wenn sie durch Bassakzente den ach so lieb gewordenen weit phrasierten melodischen Motiven etwas Irritierendes mitgibt, ein Gift gegen jede Heimeligkeit.

Sicher: Chopin spielen viele, und viele spielen ihn beeindruckend, beredt, ja beschwörend. Umso faszinierender ist es zu erleben, wie eine junge, selbstbewusst ihrem Konzept folgende Pianistin ein Stück neu gestaltet, ohne es zu zerlegen. Buniatishvilis Chopin ist beides: authentisch und subjektiv, textgetreu und wunderbar frei.

Die Pianistin, die 2009 beim Klavier-Festival als Einspringerin für Hélène Grimaud Aufsehen erregte, ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Zum Beispiel erhielt sie 2012 den Echo-Klassik-Preis als Nachwuchskünstlerin Klavier. Ihre drei Schubert-Piècen, von Franz Liszt bearbeitet, zeigen auch, warum: Das „Ständchen“ nimmt sie introvertiert, mit leichten Rubato-Akzenten, meidet aber die Einfärbung des Anschlags zum sentimentalen Dolce, hält den Klang gerade und ernst. Keinerlei Attitüde, kein Anflug von virtuosem Narzissmus. „Gretchen am Spinnrad“ ist ein Beispiel dafür, wie Monotonie ausgedrückt werden kann, ohne monoton zu werden. Buniatishvili leistet sich keine theatralische Aufladung: Das Drama ist leise, aber bitter. Den „Erlkönig“ hämmert sie rasend übersteigert in die Tasten; ein entfesselter Weltenbrand mit fahl verlöschendem Ende.

Die Transkription „Schafe können sicher weiden“ des einst berühmten Pianisten Egon Petri (1881-1962) ist eine jener romantischen Reflexionen auf Johann Sebastian Bach, wie sie durch Ferruccio Busoni oder Leopold Stokowski beliebt geworden sind. Buniatishvili steht zur Romantisierung, verwendet viel Pedal, gestaltet den Klang substanzvoll.

Den zweiten Teil ihres Konzertes in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks Nord sieht Buniatishvili offenbar wie eine Meditation am Klavier: Chopins cis-Moll Etüde aus Opus 25, die a-Moll-Mazurka aus Opus 17, der „Oktober“ aus den „Jahreszeiten“ Tschaikowskys, Skrjabins cis-Moll-Etüde, schließlich Debussys „Clair de lune“ und Ravels „Pavane pur une infante défunte“.

Ohne Pause fließen die Stücke ineinander, verlangen Konzentration, Stille, fast schon Entrückung. Buniatishvili formt die Linien weltverloren aus: weit, behutsam im Anschlag, spannungsvoll in der Dramaturgie, in bewusstem Verzicht auf Kontraste. Wenn „Magie“ überhaupt eine taugliche Beschreibung für die Qualität von Klavierspiel ist, dann passt sie hier.

Als dann „La Valse“, Maurice Ravels raffiniertes Schaustück, das offizielle Programm abschließt, kehren wir wieder in die Welt zurück, begleitet von weniger grell verzerrten als pikant ironischen Rhythmen – eine Welt, die von der ersten der beiden Zugaben, dem letzten Satz aus Prokofjews wahnwitziger Siebter Sonate, in furioser Raserei übersteigert wird.




Mozarts Leichtigkeit, Bruckners Wucht – die New Yorker Philharmoniker im Ruhrgebiet

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Respektvoll werden sie „The Big Five“ genannt, jene fünf amerikanischen Spitzenorchester, denen ein ganz spezieller Sound nachgesagt wird, im Gegensatz zu den europäischen Klangkörpern von Weltruhm. Wenn eines dieser „Fünf“ in unseren Breiten die musikalische Visitenkarte abgibt, ist der Ansturm auf die Plätze groß. Wie jetzt in der Philharmonie Essen und dem Konzerthaus Dortmund: volle Säle an zwei Abenden mit dem New York Philharmonic.

Mit dem Klang ist das so eine Sache. Die amerikanischen Orchester seien heller timbriert als etwa die Wiener Philharmoniker, zudem werde jenseits des Atlantiks das großsymphonische Repertoire oft blankpoliert, musikalische Ecken und Kanten würden unziemlich geglättet, heißt es. Nun, wer die New Yorker in Essen mit Bruckners 3. Symphonie hört, kann zwar einerseits wundersame Präzision bestaunen, erlebt zum anderen aber eine spannende, kernige, bisweilen schroffe Wiedergabe. Alan Gilbert am Pult sorgt dafür, dass die erratischen Blöcke der Komposition nicht im luftleeren Raum hängenbleiben, vielmehr wird die Musik ständig im Fluss gehalten.

Ein weiteres kommt hinzu: Dieses Spitzenorchester kann sich höchst professionell auf die akustischen Verhältnisse des Saales einstellen. Deshalb klingen Holzbläserlinien silbrig klar und nie überzeichnet. Die Artikulationskunst der Hörner ist von ganz eigener Faszination. Trompeten und Posaunen wiederum scheuen die heftigen Ausbrüche nicht, vermeiden indes bloße dynamische Kraft, formen vielmehr einen ergreifenden klanglichen Überbau. Andererseits pflegt der fast 70 Köpfe starke Streicherkorpus schimmernde, unheimliche Tremoli wie auch eine samtig-satte Lyrik. Einzig die augenzwinkernd derben Ländler-Anlehnungen lassen bei den New Yorkern Esprit vermissen. Da sind die „Wiener“ wohl die authentischeren Interpreten.

Bruckners Wucht und Religiosität, seine Wagner-Anklänge oder die Reduktion der Instrumentalstimmen zum Ätherischen formen sich zu einem großen, hymnischen, spannenden Ganzen. Ohne Verzögerungen, bar jeder Hetzerei. Dirigent Alan Gilbert lässt die Musik atmen, die Farbenpracht der Holzbläser sucht dabei ihresgleichen. Monumental wirkt diese Symphonie und doch fehlt alles Protzen.

Stets stellt sich die Frage, was ein Abendprogramm noch verträgt an der Seite dieser erzromantischen Symphonik. Zumeist wird die Genialität der Tonsprache Mozarts aufgeboten, wegen ihrer Macht über die Seele des Publikums. In der Philharmonie ist es das C-Dur-Klavierkonzert des Meisters (Nr. 25), der Solist heißt Emanuel Ax. Fast ein bisschen hemdsärmelig tritt der Amerikaner polnisch-jüdischer Abstammung an, findet aber schnell zu einem ausdrucksstarken Tonfall. Die Leichtigkeit und Innigkeit seiner Deutung spricht dafür, dass er mit dieser Musik gewissermaßen auf Du und Du steht. Statt virtuoser Akrobatik liefert Ax ein ruhiges, brillantes Figurenspiel. Selbst die Kadenzen (in der Fassung von Alfred Brendel) haben nichts von Tastenlöwentum oder Säuselei.

Manchmal indes gerät die dynamische Balance aus dem Gleichgewicht. Historisch informierte Aufführungspraxis – in dünner Besetzung, mit Originalinstrumenten – pflegt das New York Philharmonic nicht. Etwa 40 Köpfe zählt das Mozartensemble, sein Klang schimmert und glänzt, ein wenig auf Kosten markiger Akzente. Dennoch berührt uns die Musik, besonders die sublimen Dialoge zwischen Klavier und Bläsern im 2. Satz. Da ist Ax ganz in seinem poetischen Element.– Allüberall Applaus.

 

Der Pianist Emanuel Ax ist bereits am 16. Mai (20 Uhr) erneut in NRW zu Gast. Beim Klavier-Festival Ruhr spielt er in der Wuppertaler Stadthalle mit dem Geiger Frank Peter Zimmermann Werke von Johannes Brahms.

www.klavierfestival.de

 

 




Lebensweise Poesie: Maria João Pires beim Klavier-Festival Ruhr in Essen

Das passiert nun schon zum zweiten Mal beim erst ein paar Tage alten Klavier-Festival Ruhe 2013: Man hört ein Konzert für Klavier und Orchester, das nicht so ganz zu einem Entwurf zusammenwachsen will, und dann gibt der Solist eine Zugabe – und die Töne leuchten am Firmament der Musik wie die schönsten Sterne!

Igor Levit zeigte im Eröffnungskonzert sein ganzes Können – mehr noch, seine tiefste Musikalität – in seiner Zugabe, der „Hommage à Rameau“ von Claude Debussy. Und Maria João Pires, eine der „grandes dames“ der Klavierwelt, durchmaß in einem sanften Nocturne Chopins – jener Nummer Drei aus Opus Neun – alle Seelenräume des Polen, dessen f-Moll-Klavierkonzert sie sich vorher mit einem eher neben- als mit-musizierenden Kammerorchester Basel gewidmet hatte.

Seit 1995 war Maria João Pires nicht mehr beim Klavier-Festival zu Gast gewesen, hatte sich auf den Podien der Welt rar gemacht. Sie ist keine Karriere-Frau, bekannte in einem Interview, dass ihr der Sprung in die Welt-Elite der Klaviermusik eher zugefallen sei. Sie hatte kein Glück mit ihrem Projekt einer Schule für unbemittelte Kinder in Portugal. Und 2006 musste sie sich einer schwierigen Herzoperation unterziehen. Kein Leben, das sich zwischen dem Dolce einer umsorgten Künstler-Existenz oder dem Furioso einer Virtuosen-Laufbahn bewegt. Eher ein Leben, das einem beibringt, Grenzen anzuerkennen. Ein Leben, das weise macht.

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Mag sein, dass es nur eine Projektion von Gedachtem auf Gehörtes ist: In Maria João Pires‘ Klavierspiel meint man, etwas von diesem Lebens-Wissen zu spüren. Hätte sie doch ein Solo-Recital gegeben! Aber die Auftritte allein mit dem Flügel, die mag sie nicht. An Chopin schätzt sie nicht den Virtuosen, sondern den Poeten: Die entschiedenen Eröffnungs-Akzente schon gibt sie nicht mit der Geste des narzisstischen Auftritts, sondern fast zu zurückhaltend, als wolle sie dem Orchester generös den Vortritt lassen. Im Bass setzt sie freilich deutliche Ausrufezeichen: Die parfümierte Verschleierung ist ihre Sache nicht; so will sie „Poesie“ nicht verstanden wissen.

Warum ihr dann aber die quasi improvisierten silbrigen Verzierungsketten nicht blühend, nicht atmend gelingen, sondern eher wie eingeschoben wirken, bleibt rätselhaft. War das Orchester unter Trevor Pinnock zu wenig bereit, auf ein feines Rubato einzugehen? Der aus der historisch informierten Aufführungspraxis bekannte Dirigent, der faszinierende Mozart- und Händel-Aufnahmen vorgelegt hat, liebt Konturen und deutlich zugespitzte Akzente. Doch zu einem glückenden Einvernehmen mit der Pianistin kam es hörbar nicht: Das Orchester verdeckte ihr feinsinniges Passagenspiel, die schwermütigen Farben etwa der Dialoge mit dem Fagott verbanden sich zu keinem Bild. Hinreißend zeichnete Maria João Pires im Larghetto mit einem delikat differenzierter Anschlagspalette die sanften, zarten Linien der Landschaft, die der Poet Chopin für sich entworfen hat.

Am Beginn des Konzerts in der Philharmonie Essen stand eine Hommage an Wagner, den das Klavier-Festival noch auf seine Weise würdigen wird: Das „Siegfried-Idyll“, in den Violinen anfangs etwas brockig, glättete sich zu einem sehr sanften, sehr milden Sonnenaufgang über Tribschen. Die Phrasierung hatte in ihren weiten, ruhigen Linien einen Hang zum Schläfrigen.

Mozarts letzte, seine C-Dur-Sinfonie, schloss das Konzert ab. Der Eindruck mangelnder Durcharbeitung drängte sich schon in den Eröffnungstakten auf: Die Akkordschläge sitzen so pointiert, wie wir es von Pinnock kennen. Doch der gebundene Piano-Nachsatz wirkt wie ein Nachklappern statt wie ein lebendig gesetzter Kontrast. Den vielfältig angelegten Gegenstimmen, rhythmischen Schärfungen und auf Holzbläser und Streicher verteilten thematischen Varianten stellt sich das Basler Kammerorchester nicht mit brillanter Formulierung, sondern in einem matten Nebeneinander, gewinnt auch den Modulationen keine Spannung ab.

Im „Andante cantabile“ betont Pinnock die metrischen Überraschungen und Forzato-Akzente, achtet aber zu wenig auf die – als Kontrast gedachte – sanglich atmende Phrasierung. Der dritte Satz gelingt am schönsten, weil das Orchester locker und frei artikuliert; im vierten geht in der komplexen Struktur so einiges daneben, so, als hätten sich Dirigent und Musiker nicht ausreichend verständigt.




Gefangen in der Furcht vor Beethoven – Pianist Yundi als Gast des Klavier-Festivals Ruhr

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Wo Yundi, Pianist aus der chinesischen Flinkfingerschule, sich die Ehre des Auftritts gibt, sind die Fans aus fernöstlichen Landen nicht weit. Sie pilgern in Gruppenstärke zu seinen Konzerten, stehen Schlange für ein Autogramm, kaufen die CD’s des Künstlers auf. Wie jetzt in der Mülheimer Stadthalle.

Yundi als Popstar, als erster und einziger Chinese, der den Warschauer Chopin-Preis gewinnen konnte, als Deuter dreier so berühmter wie beliebter Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Eines Komponisten, dessen Name und Musik bei vielen Asiaten eine Mischung aus Begeisterung, Bewunderung, ja großer Ehrfurcht auslöst. Mehr Anreiz geht kaum.

Volles Haus also bei diesem Konzert des Klavier-Festivals Ruhr. Mit einem Pianisten, dessen Respekt vor dem Feuerkopf Beethoven, vor der so wütenden wie empfindsamen Musik, übermächtig sein muss. Warum sonst sollte der Chinese seinem virtuosen Können nicht recht trauen, sich in mancher Figuration unsicher verheddern, Sangliches allzu brav aufklingen lassen. Es scheint, als schlage des Pianisten Ehrfurcht bisweilen in Furcht um. Er spielt nicht frei, will dann mit Gewalt den Knoten zum Platzen bringen. Ja, Yundi hat es schwer mit Beethoven.

Nehmen wir nur die „Appassionata“: Da werden drohende Bassakkorde teils mit übertriebener Vehemenz ins Instrument gestanzt, werden Legato-Linien plötzlich porös, und virtuoses Losstürmen hat nahezu sportiven Charakter. Kein Wunder, dass Yundi gelegentlich aus der Kurve fliegt. Wie im schnellen Satz der „Mondscheinsonate“: Es erklingt ein Bravourstück, wirkmächtig zwar, aber kaum im Dienste von Beethovens heiligem Furor. Hier erlaubt sich der Solist zudem die große Geste, eine Art körperliches Triumphieren.

Yundi kann anders. Wenn er zur souveränen Kontrolle der Materie findet. Wenn er im „Grave“ der „Pathétique“-Sonate plötzlich durch weit atmende Generalpausen wunderbar Spannung erzeugt, oder ihm im berühmten Mondscheinsonatenthema ruhevolles Gleiten gelingt. So wie er in zwei Chopin-Nocturnes Melancholie zumindest durchschimmern lässt. Doch die Akkuratesse des Pianisten, auch hier Ausdruck von Unfreiheit, zerrt diese Nachtstücke allzu sehr aus ihrer Traumverlorenheit ans Licht.

Yundi, so scheint’s, steht sich selbst im Wege. Er ringt mit der Musik, verkrampft sich im Virtuosen. Ihn ehrt, dass er es vermeidet, mit  Manierismen und Marotten manches zu überspielen. Und doch ist sein Können von Tragik umrankt.

(Der Beitrag ist zuerst in der WAZ Mülheim erschienen.)




Auftakt zum Klavier-Festival Ruhr in Bochum: 25 Jahre Individualität und Schönklang

Desgleichen ist weltweit nicht zu finden. Solche Superlative gehen in der Werbung und der Politik leicht über die Lippen. Bundestagspräsident Norbert Lammert war in diesem Fall aber einschränkungslos Recht zu geben: Das Klavier-Festival Ruhr ist in der Tat eine einmalige Plattform für die Pianistenkunst – und das seit 25 Jahren. Auch wenn der erst 25-jährige Igor Levit und das WDR Sinfonieorchester nicht zu den allerersten Namen in der Klassik-Szene gehören: Das Eröffnungskonzert in der Jahrhunderthalle Bochum umwehte eine Aura des Besonderen.

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Gottseidank sah der warme Frühsommerabend kein weihevolles Fest, sondern eine fröhliche Begegnung von Menschen, die Musik lieben, die sie unterstützen, die sich gerne unter Künstler und Liebhaber mischen. Die gepflegte Bräune der Schönen und Reichen war zu sehen, die edlen Roben und eleganten Maßanzüge auch, der teure Schmuck und einige in ihrer Kunstfertigkeit mit der Kunst konkurrierende Frisuren. Aber dazwischen tummelten sich junge Menschen in lässiger Kleidung, auch der eine oder andere Enthusiast mit einem leichten Zug zum Verschrobenen. Das Schöne an diesem Klavier-Marathon: Es ist ein Fest der Musik, das alle Menschen verbindet, kein Festival selbst ernannter Eliten oder Kennerzirkel, die gerne unter sich bleiben.

Dass es, wie Schirmherrin Traudl Herrhausen ausdrückte, „glänzend dasteht“, ist nicht zuletzt Verdienst eines einmaligen Kenners und Netzwerkers: Franz Xaver Ohnesorg hat es mit Klugheit, Diplomatie und Durchsetzungsvermögen geschafft, den Ruf des Festivals stets so zu mehren, dass kaum mehr vorstellbar ist, dieses Ruhrmetropolen-Alleinstellungsmerkmal zu schmälern oder gar zu beschädigen. Klar: Es gibt immer Stimmen, die einen seelenlosen Ökonomismus oder Pragmatismus predigen, der beim geringsten kühlen Konjunkturwind am liebsten an Kunst und Kultur abzwacken würde. Aber dass solche Misstöne gar nicht erst zum Klingen kommen, ist nicht zuletzt dem geschickten Intendanten geschuldet.

Muss hemmungsloser Populismus sein?

Mit Misstönen war an diesem Abend eh kein Staat zu machen: Igor Levit ließ seine paar flüchtigen Vergreifer in Tschaikowskys b-Moll-Konzert schnell vergessen, und der 29-jährige dirigentische Senkrechtstarter Krzysztof Urbánski zeigte mit einem vorzüglich disponierten WDR Sinfonieorchester, dass er zu den Apologeten des kompromisslosen Schönklangs gehört – und damit an seiner Chefstelle beim amerikanischen Indianapolis Symphony Orchestra sicherlich einen empfindsamen Nerv des Publikums berührt.

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Tschaikowskys Klavierkonzert schlossen sich Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an; eine Folge, die erwägen lässt, ob es wirklich Aufgabe eines Rundfunkorchesters ist, so hemmungslos populistische Programme anzubieten. Und auch ein Festival wird sich fragen lassen müssen, ob unter den selbst gewählten Akzenten (Wagner, Verdi, Britten Poulenc) nicht auch Eröffnungswürdiges und weniger Gängiges zu finden gewesen wäre. Oder ob man den polnischen Dirigenten nicht hätte überzeugen können, zum Beispiel den 100. Geburtstag von Witold Lutosławski unter die allseits gewürdigten Groß-Jubilare von 2013 zu mischen.

Igor Levit sorgte mit den allzu bekannten Eröffnungsakkorden des b-Moll-Konzerts sogleich für die erste Überraschung: Mit seinem Partner Urbánski am Pult leugnet er das „Maestoso“, schlägt einen poetischen, beinah schon innerlichen Ton an, lässt das Klavier über der Bewegung des Orchesters gleiten wie einen Ölfilm auf Wasser. Da war nichts Triumphales oder Trotziges zu hören. Levit rückt das Konzert näher an „Eugen Onegin“ als an „1812“.

Die lyrische Welt des „Onegin“ durchmessen

Dieser Linie bleiben die Beiden treu: Die breit strömenden Violinen des WDR-Orchesters leuchten im Tonfall süßen Schmerzes, das Blech nimmt sich bis ins Mezzoforte zurück. Levit zügelt sich in verhaltenen Passagen, als wolle er den virtuosen Aspekt des Konzerts bewusst verleugnen – was er nicht tut: In den dahinfliegenden gestochenen Akkordketten des Finalsatzes, in der emphatischen Konkurrenz mit dem Rollen der Pauken zeigt er, dass ihm Energie und zupackende Attacke nicht fremd sind. Technik muss er aber nicht demonstrieren – er hat sie einfach.

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Was Levits Liszt-Spiel auszeichnet – es ist auf einer CD-Edition des Klavier-Festivals von 2011 nachzuhören –, überträgt er auch auf Tschaikowsky: differenzierte Dynamik, Sinn fürs Charakteristische, Lust an gleisnerischer, sogar grotesker Extroversion. Im ersten Satz liefert Levit dafür in einem rhythmisch angespitzten, koboldig purzelnden Intermezzo ein bezeichnendes Beispiel. Plötzlich scheint Mussorgsky Regie zu führen. Im zweiten Satz steht eher die Delikatesse im Vordergrund: weich und introvertiert der Anschlag, manchmal zu verliebt der Pedaleinsatz. Und im dritten Satz kontrastieren atemberauende Staccato-Ketten mit der fröhlich zelebrierten Simplizität russischer Tanzrhythmen und den dazwischen aufwehenden Schleiern von „Onegin“-Melancholie.

Hätte sich diese Kunst des Charakterisierens in zweiten Teil fortgesetzt, der Abend wäre bemerkenswert geblieben. Doch Urbánskis Interesse scheint vor allem auf einen perfekten Orchestersound gerichtet zu sein. Selten war das WDR-Sinfonieorchester so homogen, so samtig, so süffig zu hören wie an diesem Abend – auch wenn es, wohl durch die Akustik bedingt, zu einigen Klang-Ausreißern bei den Bläsern kam.

Ein Tänzer vor dem Orchester

Urbánski ist vor allem ein begnadeter Tänzer: Er wirbelt Phrasierungen durch die Luft, auf die man erst einmal kommen muss. Und er zeigt den Musikern mit gekrümmten Fingern, angezogenen Armen und hackenden Bewegungen, worauf es ihm etwa beim „Gnomus“ oder der „Hütte der Baba Yaga“ ankommt. Pech nur, dass es für das „Ballett der Küchlein in den Eierschalen“ offenbar noch keine dirigentischen Chiffren gibt – weshalb Urbánski die bizarre klangliche Umsetzung des Bildeindrucks durch Mussorgskys auf eine, sagen wir einmal, Kinderzeichnungs-Groteske verniedlichte.

Urbánski, so scheint mir, gehört in seinem Hang zum abgerundeten, glatten, füllig schimmernden Klang zu denjenigen jungen Künstlern, die in ihrem zweifellos durch großes Können abgesicherten Hang zur makellosen Politur vergessen, dass es allemal interessanter ist, das Originelle, das Charakteristische, das Sperrig-Individuelle zu entdecken. Und das zumal bei Mussorgsky, der alles andere im Sinn hatte als die glatt-verbindliche Musik zu schreiben, die ihm manche seiner gutmeinenden Bearbeiter später untergejubelt haben. So passte diese Mussorgsky-Wiedergabe eher zu den Roben und Maßanzügen als zu den leise versponnenen Freaks – was nicht heißen soll, dass unter der Haute Couture nicht auch ein Herz für Mussorgskys störrische, manchmal gespenstische musikalische Radikalität schlagen könne. Urbánski freilich hat das für sich noch zu entdecken.

Das Klavier-Festival Ruhr 2013 bringt bis 19. Juli 65 Konzerte in 21 Städten auf 26 Podien an Rhein und Ruhr. WDR, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur werden zahlreiche Konzerte im Hörfunk übertragen; der WDR erstellt zudem eine TV-Dokumentation „25 Jahre Klavier-Festival Ruhr“. Der diesjährige Preis des Klavier-Festivals Ruhr geht an den frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin, der am 29. Juni in der Philharmonie Essen konzertiert. Information: www.klavierfestival.de

Das nächste Konzert mit Igor Levit in der Region findet am 16. Juni in der Kölner Philharmonie statt: Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg spielt er Johannes Brahms‘ Zweites Klavierkonzert. Levits Debüt auf einer CD seiner Plattenfirma Sony mit Werken Ludwig van Beethovens wird für Herbst 2013 erwartet.




Allein für Vostells Arbeiten lohnt sich ein Besuch im Dortmunder „U“

In seiner Heimatstadt Leverkusen haben sie nicht nur ein Bronzeschild zu seinem Gedächtnis angebracht, nein, sogar eine Straße wurde im Jahre 2001 nach ihm benannt: Wolf Vostell, weltbekannter Künstler und auch Professor, 1931 in Leverkusen geboren und 1998 in Berlin gestorben, ist im Dortmundern Museum mit einigen hervorragenden Werken vertreten, und allein das scheint mir ein ausreichender Grund zu sein, mal wieder ins „U“ zu pilgern.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Ein Hauptthema im „Museum Ostwall im Dortmunder U“ sind Fluxus und Happening – Kunstbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die unter anderem von Wolf Vostell vorangetrieben worden sind. Nach einer Verbindung von Kunst und Leben suchte man, „fördert die Nicht-Kunst-Realität“ hieß es sogar in einem Manifest von George Maciunas. Es entstanden also nicht nur Kunstobjekte, sondern vor allem Aktionskunst war gefragt.

Vostell wollte vor allem durch „aggressive Bildsprache“, wie es im Katalog heißt, Missstände benennen und Sozialkritik üben. Am beeindruckendsten scheint mir aber sein Rückgriff auf die Zeitgeschichte zu sein – nämlich in der Dortmunder Rauminstallation „Thermoelektrischer Kaugummi“. Die Installation mit dem seltsamen Titel assoziiert im Kopf sofort die Verbindung zu Bildern von Auschwitz, und wenn man über die am Boden verstreuten Esslöffel knirschend den Raum durchschreitet, kann es einem schon eiskalt über den Rücken laufen.

„So stellt Vostell die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für Tod und Leid“, schreiben die Museumsleute. Gerade in der Stadt Dortmund mit seinen aktuellen Naziaufmärschen sollte die Beschäftigung mit dieser Frage besonders wichtig sein.




Bleibende Verheerungen – Carsten Kluths Roman-Debüt „Wenn das Land still ist“

„Auch dieser Tag geht irgendwann zu Ende – doch die Verheerungen werden bleiben.“ An einem heißen Tag im August setzt ein Mann seine Ehe und das Leben seiner Kinder aufs Spiel.

Der Berliner Richter Harald Kronauer leidet unter dem Desinteresse seiner Frau Johanna, deshalb sucht er Ablenkung und Bestätigung bei seiner Geliebten Martina. Zudem will Kronauer unbedingt politische Karriere machen und lässt sich in riskante Machenschaften verwickeln, bei denen es – unter anderem – um Aufsehen erregende Klima-Manipulationen geht.

c62bb3a5cb

Sehr spät begreift Kronauer, der schon mit seinem chaotischen Familien-Alltag und seinem anstrengenden Richteramt überfordert ist, dass er von seinen vermeintlichen politischen Freunden nicht zufällig für seine Rolle auf dem politischen Schlachtfeld ausgesucht wurde: Es ist eine unheilvolle, spannende, überraschende Melange aus Emotion und Intellekt, Politthriller, Familienporträt und Gesellschaftsroman, die Carsten Kluth in seinem zupackenden Roman-Debüt anbietet.

Der 1972 geborene, mit seiner Familie in Berlin lebende Carsten Kluth hat politische Wissenschaften studiert und arbeitet – unter anderem für die Europäische Kommission in Brüssel – als Berater für Politik und Wirtschaft. Mit „Wenn das Land still ist“ ist dem eleganten und vielseitigen Erzähler jetzt ein fintenreiches Spiel über Einfluss und Macht gelungen, die großartige Geschichte eines emotional überforderten Jedermann in unsicheren und unübersichtlichen Zeiten.

Wie immer beginnt der Tag für Harald Kronauer um vier Uhr früh. Es ist ein wolkenloser Tag, der unerträglich heiß zu werden verspricht. Dass der Tag auch unendlich lang und gefährlich werden wird, ahnt der sich noch verschlafen im Bett wälzende, von erotischen Träumen und intellektuellen Verwirrungen gepeinigte Richter da noch nicht. Das wird sich sehr bald ändern. Und so wie die Minuten immer schneller zu verrinnen scheinen, werden auch die Verheerungen immer weiter zunehmen.

Kronauer hetzt von einem Termin zum nächsten, wird im Gericht von einem Kollegen erpresst und wird von seiner konservativen Partei als Nachfolger des soeben zurückgetretenen Staatssekretärs um Umweltministerium gehandelt. Dass hinter dem Rücktritt eine gezielte Intrige steht, ahnt Kronauer nicht.

Es dauert sehr lange, bis der Richter, der wegen eines Urteils zur Ausweisung von Klimaflüchtlingen nicht unumstritten ist, die wahren Ausmaße der politischen Kampagne kapiert und sich darauf besinnt, dass ihm die Familie das Wichtigste im Leben ist. Kronauer schafft es gerade noch rechtzeitig, seine Frau und seine Kinder aus der Schusslinie zu bringen. Doch wer glaubt, damit sei alles wieder gut, könnte sich gründlich irren…

Carsten Kluth: „Wenn das Land still ist“. Roman. Piper Verlag, München. 383 Seiten, 19,99 Euro.




Den Gaga-Style tanzen: Ballett-Premiere „Deca Dance“ im Aalto

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Im Aalto tanzt man den „Gaga-Style“: Der von dem israelischen Choreographen Ohad Naharin entwickelte Tanzstil eröffnet den Tänzern des Aalto Balletts ganz neuartige körperliche Erfahrungswelten und kommt gleichzeitig mit einer Leichtigkeit und Energie daher, die sogar Nachahmer im Publikum findet.

Der übliche Reflex im Zuschauerraum besteht ja meist aus einem verschämten Wegducken, wenn Tänzer Zuschauer auf die Bühne bitten. Mit den Profis möchte man sich doch nicht unbedingt messen, zumal, wenn alle zusehen. Doch die überaus charmante Szene bei der Premiere von „Deca Dance“ zeigt, dass sich zwischen Tänzern und Laien Grenzen überwinden und eine ungeheure Lust an der Bewegung erwecken lassen: Gesetzte Damen, elegante Herren, Schulmädchen oder sportliche Frauen im Abendjäckchen– sie alle tanzen raumgreifend den Cha-Cha-Cha auf der großen Bühne, behutsam geführt von Tänzern im schwarzen Anzug und Hut. Unaufgeregt und lebensfroh, so dass der eine oder andere sich in die eigene Tanzstunde zurückversetzt fühlt, eine Dame gar nicht mehr aufhören mag und sich zu einem bezaubernden Pas de deux aufschwingt: Applaus für die unerschrockene Begabung. So braucht es weder Youtube noch koreanische Rapper mit „Gangnam-Style“, um Menschen zum Tanzen zu animieren. Das Aalto Ballett reicht völlig aus und adelt den Spaß gleichzeitig zur hochkarätigen Bewegungskunst.

Genau eine Stunde dauert diese Frühlingspremiere, die Ohad Naharin mit einem klaren Bild zu wuchtiger Hava Nagila-Musik beginnen lässt: Im Halbkreis sitzen die Tänzer in Anzug und Hut und hier spürt man die ästhetischen Einflüsse der Kibbuz-Bewegung. Doch schon die nächste Szene führt in eine Art Proben-Atmosphäre, die Tänzerinnen tragen bunte Gymnastikkleidung und bewegen sich ebenso frei und dynamisch wie exakt in der Gruppe.

Ein ungewöhnlicher Effekt entsteht, als die Tänzerinnen synchron mit den Zähnen klappern – ein durchaus durchdringender Sound im großen Opernhaus. Die Männergruppe dagegen zeigt Rivalen-Verhalten und misst ihre Muskeln und Kräfte. Mit von der Arbeit geschwärzten Gesichtern vergießen sie im Konkurrenzkampf Schweiß. Doch beim Liebespaar nimmt der männliche Part eher die bittende Rolle ein: Will sie ihn nicht erhören oder lässt sie den Armen nur ein wenig zappeln?

Apropos zappeln: „Sei wie eine Spaghetti-Nudel in kochendem Wasser“, lautet eine Anweisung der Bewegungssprache „Gaga“. Ohad Naharin hat sie nach einer Rückenverletzung für sich selbst entwickelt. Statt hoher Sprünge und perfekter Haltung bei den verschiedenen Positionen sollen dynamische, multidimensionale Bewegungen im Vordergrund stehen, die Spaß machen und die bewusste und unbewusste Wahrnehmung des Körpers schärfen.

Das Ziel ist es „gaga“, also frei und aufgelockert zu werden. Das hat das Aalto-Ballett geschafft, denn der Körper weiß manchmal mehr als der Verstand. „Die Illusion von Schönheit und eine dünne Linie, die Wahnsinn und Vernunft trennt, die Panik hinter dem Lachen und die Koexistenz von Müdigkeit und Eleganz.“ Der Satz wird dem Abend als Motto vorangestellt, doch am Ende klingt er noch nach – mit Leben gefüllt.

Weitere Informationen: www.aalto-ballett-theater.de




Benvenuto, Claudio Abbado – die neue Konzerthaus-Saison in Dortmund

Der Dirigent Claudio Abbado kommt nach Dortmund. Foto: Harald Hoffmann/DG

Elf Jahre gibt es nun das Konzerthaus Dortmund, die Philharmonie in Essen feiert 2014 ihr Zehnjähriges. Berühmte Namen und vielversprechende Nachwuchskünstler aus Klassik, Pop, Jazz und Weltmusik haben sich in den beiden großen Musikhäusern des Ruhrgebiets bereits die Klinke in die Hand gegeben. Doch nun ist dem Dortmunder Intendanten Benedikt Stampa für die Saison 2013/14 ein beachtenswerter Coup gelungen: die Verpflichtung des italienischen Dirigenten Claudio Abbado.

Erstmals gastiert der einstige Chef der Berliner Philharmoniker im Revier. Abbado, der nur noch wenige Konzerte gibt, kommt mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO), dessen Gründer er ist. Der Abend soll der Höhepunkt der NRW-weiten MCO-Residenz sein, die 2009 begann. Auf dem Programm am 8. November steht neben anderen Werken Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“. Pikantes Detail: Essen, ebenfalls Residenzstätte des MCO, geht in Sachen Abbado-Auftritt leer aus.

Einmal die großen Namen im Blick, verweist Stampa auf die Dortmunder Debüts der Tenöre Rolando Villazón und Klaus Florian Vogt. Neuer Konzerthaus-Exklusivkünstler für die nächsten drei Jahre ist der junge Dirigent Yannick Nézet-Séguin, erstmals tritt die Geigerin Hilary Hahn auf. Neuer Gast im Klassikkarussell à la Westfalen ist das San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas.

Intendant Benedikt Stampa stapelt, all diese Berühmtheiten im Blick, nicht tief. Es sei vielleicht das beste Programm in der Geschichte des Konzerthauses. Darüber ließe sich trefflich streiten. Eine Zeitinsel, die sich mit überwiegend bekannten Werken Antonin Dvoráks beschäftigt, kann mit den vorherigen „Inseln“ der (klassischen) Moderne, mit Kompositionen von Bartók, Messiaen oder Berg, nur bedingt mithalten. Stampa sagt, bei Dvorák käme es auf neue interpretatorische Sichtweisen an. Doch da Deutung sich bei jedem Werk als spannend erweisen sollte, geht das Argument eher fehl.

Indirekt mag Stampa das ähnlich sehen: Schließlich hat das Konzerthaus ein neues Format ins Leben gerufen, das den Titel „Kopfhörer“ trägt. An Hand von Tonbeispielen präsentiert der Musikwissenschaftler Frank Schneider eine kleine Interpretationskunde. Dvoráks berühmteste Sinfonie, die Nr. 9 („Aus der Neuen Welt“), hat er natürlich auch im Gepäck.

Zu der Reihe gesellt sich im übrigen ein gewichtiges Geschwister in Form einer zehnteiligen Vortragsreihe des Musikprofessors Michael Stegemann. „Von Waterloo bis Sarajewo – ein europäisches Jahrhundert im Spiegel der Musik“ wird dann einmal pro Monat aufgeblättert. Solcherart kernige Geisteskost – Ähnliches serviert, wie berichtet, das Essener Aalto-Theater seinem Publikum – ist Teil einer Vermittlungsoffensive, die Benedikt Stampa offenbar besonders am Herzen liegt.

Für ihn bedeutet der kernige Leitsatz „Musik für alle“ nämlich nicht weniger, als das Publikum generationenübergreifend ans Haus zu binden. Besondere Zielgruppe der neuen Education-Reihen seien dabei die Menschen zwischen 35 und 50 Jahren. Stampa ist offenbar überzeugt davon, dass ein alter Werbespruch, hier leicht abgewandelt, noch immer Gültigkeit besitzt: „Man hört nur, was man weiß“.

Nun, das Anliegen ist hehr, und es wird sich zeigen, wieviel Nachfrage besteht in Sachen musikalischer Weiterbildung. Guten Zulauf hat das Konzerthaus indes schon jetzt. Für diese, noch nicht ganz beendete Saison, rechnet Stampa mit einer Auslastung nahe 72 Prozent – eine Quote, die andere Kulturanbieter in Dortmund gerne hätten.

Alle Informationen zum neuen Programm unter www.konzerthaus-dortmund.de

 

 




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro