Gleißende Raserei in Mülheim: Daniil Trifonov kehrt zum Klavier-Festival zurück

 

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2012 hat die Rhein-Ruhr-Presse von Daniil Trifonov noch kaum Notiz genommen: Einer jener Newcomer eben, die einmal hochgespült werden, kaum Luft holen können auf den Schaumkronen jungen Ruhms, und schon wieder in den Wogen des Betriebs untergehen, die im selben Moment das nächste Wundertalent aus dem Wellental heben.

Bei Trifonovs Rückkehr in die Stadthalle Mülheim 2013 sieht das Echo anders aus. Jetzt hat der 22jährige einen Namen, eine Fama. Trifonov, so scheint es, hat es geschafft, spielt im Kreis der Pianisten mit, die „man“ einfach kennen muss, will man sich für die Kunst auf Elfenbein und Ebenholz ernstlich interessieren.

Was der russische Nachwuchskünstler im letzten Jahr in Düsseldorf gezeigt hat, führt er in Mülheim extrem geschärft weiter: Wucht und Kraft des Zugriffs, eine gewaltige Pranke im Bass, gleißende Raserei über alle Oktaven hinweg, schwer atmende Grenzerkundung der physischen Leistungsfähigkeit. Er hat sich die passenden Stücke dazu ausgesucht: Franz Liszt zuallererst, mit vier ins Dämonisch-Gewaltige übersteigerten Transkriptionen von Schubert-Liedern und der h-Moll-Sonate, und nach der Pause Sergej Rachmaninows Variationen nach Chopins Opus 22, ergänzt durch „Rachmaniana“, eine selbst komponierte Suite als Hommage an den großen Komponisten und Pianisten.

Ein veritables Virtuosenprogramm also, eines, das alle Kräfte fordert, intellektuell wie physisch. Bei einem vor Energie berstenden jungen Mann wie Trifonov muss das zu standing ovations führen. Sie brachen erwartungsgemäß los. Aber der Jubel über so viel Kraft, pianistische Bravour und musikalische Chuzpe ließ nicht vergessen, dass der Abend nach einer Seite krängt: Es bestätigt zu eilfertig das Klischee des Tastenlöwen und fegt die Aspekte der Kunst Trifonovs zur Seite, die 2012 in Düsseldorf zeigten, dass hier mehr als ein extrem zupackender Hochleistungssportler á la russe am Flügel sitzt.

Dabei war vor der Pause alles im Lot: In Schubert/Liszts „Frühlingsglaube“ sinnt Trifonov dem lyrisch-kantablen Aufschwingen nach, gibt der Melodie die weiche Farbe der Entrückung mit. Die „Forelle“ gestaltet er mit rhythmisch sinnigen Pointen nicht nur als fließend-sangliches Legato, sondern als ein sich bedrohlich verdichtendes, tödliches Drama. Und den „Erlkönig“ treibt er schnaufend in Extremkontraste: wildes Entsetzen in den Gewittern der Oktavtriolen, fahles, trügerisches Dämmerlicht in der matten Beruhigung. Die letzten Akkorde sind großes Liszt-Kino: So schlagen die Tore des Lebens zu, wenn ein Leinwanddrama in Vielfach-Surround-Sound zu Ende geht.

Derart vorbereitet, knüpft die h-Moll-Sonate bedeutungsschwer an den stickig-dunklen Klängen an. Trifonov macht schnell klar, dass er dieses Paradestück auch als solches darstellen will. Fülle und Überwältigung, krasse Extreme, eruptive Ausbrüche – aber kein Lärm: Trifonovs Exaltationen sind reflektiert, keine instinktiven Brutalitäten einer entfesselten Kraftprotzerei. Er versteht es, auch im Fortissimo noch so abzutönen, dass die harmonische Kühnheit nicht im schäumenden Gebräu der Klänge unhörbar wird. Er versteht es, zurückzunehmen, die dynamische Wucht des drängenden Verlaufs abzufedern. Und er lässt nicht vergessen, wie suggestiv Liszts lyrische Selbstversenkung am Klavier wirken kann.

Wäre mit dieser brillant reflektierten Deutung der h-Moll-Sonate der Abend zu Ende gewesen, er wäre mit Recht groß zu nennen gewesen. Doch Trifonov wollte noch eins draufsetzen und drosch die Rachmaninow-Variationen in den hörbar erschöpften Flügel der Mülheimer Stadthalle. Noch einmal ein Gewitter, noch einmal Anspannung bis zum Äußersten – doch selbst der stärkste Reiz stumpft ab. Und so bestätigten die silbrig hochfahrenden Arabesken, die dröhnenden Glockenschläge des Basses und das Fingerfeuerwerk nur noch, was man in der Liszt-Sonate bereits musikalisch eindrücklicher erfahren hatte.

Daniil Trifonov kehrt in die Region zurück mit einem Klavierabend in der Philharmonie Köln am Mittwoch, 2. Oktober 2013. Auf dem Programm stehen Werke von Strawinsky, Ravel, Schönberg und Schumann. Info: http://www.koelner-philharmonie.de

 




Gestochene Klarheit: Nikolai Tokarev beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim

Um mal gleich die Kleiderfrage zu beantworten: Beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim trat Nikolai Tokarev im schwarzen Hemd über nur wenig hellerer Hose an den Flügel. Keine Nadelstreifen, keine Chucks, und beim gut gelaunten Signieren nach dem Konzert ein eng anliegendes, helles Shirt.

Soweit die Nebensächlichkeiten, nun kann folgen, worum es jenseits der Styling-Masche eigentlich gehen soll: Der Pianist, mittlerweile dreißig Jahre alt, setzte nicht (nur) auf Glamour und die sichere Wirkung seines bravourösen Spiels. Sondern nahm sich mit Beethovens Opus 111 eine der heikelsten Sonaten der Klavierliteratur vor. Problematisch nicht so sehr durch technische Schwierigkeiten, sondern durch eine lange Interpretations- und eine philosophisch überhöhte Rezeptionsgeschichte: Was wurde nicht alles in Beethovens letzten Beitrag zur Gattung der Klaviersonate hineingedeutet!

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Tokarev spielt – und das zeigt der prüfende Blick in die Noten – so nah wie möglich an Beethovens Text. In der „Maestoso“-Einleitung fordern die ersten Takte sogleich einen Wechsel zwischen forte und piano, dazwischen einen heftig betonten Triller („sforzando“) und eine rhythmisch pointierte Pianissimo-Kette. Tokarev überspielt nicht mit dem „großen“ Ton diese differenzierten Details, sondern versucht sie einzuholen, pflegt dafür einen unvernebelten Anschlag, der klar macht, warum er an den Konzertanfang Bachs e-Moll-Toccata BWV 914 gesetzt hat: Die strukturelle Transparenz im Werk des einzigartigen Kontrapunktikers ist auch der Maßstab für den Zugang zu Beethoven.

Man mag sagen, diese Lesart rücke das „brio“ und das „appassionato“ des Allegros in den Hintergrund. Doch die gestochene Klarheit, ein volltönender, farbrauchfreier Ton, die bestechend dynamische Differenzierung und die sinnstiftende Beachtung des „ritenente“, einem leichten Nachgeben des Tempos in Übergängen lässt – im Gegenteil – die dramatische Beredsamkeit dieses Satzes noch schlüssiger, noch unmittelbarer hervortreten.

Die Arietta beginnt Tokarev mit dem erhabenen Leuchten einer tragischen Gluck-Arie; man ist geneigt, die Winkelmann’sche Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu zitieren, von der Beethovens Ästhetik wohl nicht unberührt geblieben ist. Tokarev betont weniger das Legato als das rhythmische Glasperlenspiel, das er – mit Igor Strawinsky im Kopf und Friedrich Gulda vor dem inneren Ohr? – bis zum Ragtime-Rhythmus der dritten Variation radikalisiert: Befremdlich, aber genau gelesen.

Am Ende, in fast unerträglich langen, brillant artikulierten Trillern, stellt er Beethovens insistierende Energie noch einmal ungeschützt aus, bis er das Stück pianissimo mit mattem Sforzando-Aufbäumen verklingen lässt. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit, die Tokarev vor fünf Jahren im Eröffnungskonzert des Klavier-Festivals mit Schubert und Liszt demonstriert hat, die auch seine CD-Aufnahmen mit wechselndem Erfolg belegen, die führt er nun mit Beethoven auf einem faszinierenden individuellem Weg fort.

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Manuelles hält ihn dabei nicht auf, auch wenn zwei, drei Mini-Blackouts die menschlichen Grenzen von Tokarevs viel gepriesenem, überlegenem Klavierspiel markieren. Wenn der Virtuose in ihm erwacht, gibt es für die glühende Rasanz seiner Hände, für den voluminösen Klang seines Anschlags kein Halten mehr. Das geeignete Material stammt, zum Leitmotiv des Klavier-Festivals passend, von Jahres-Genius Richard Wagner.

Die „Wagneriana“ von Tokarevs Freund Alexander Rosenblatt sind, glaubt man den Schott-Internetseiten, sogar eine Uraufführung gewesen. Das gut viertelstündige, vor Klangopulenz schier berstende Stück verarbeitet Themen von Tannhäuser über Tristan bis zum Fliegenden Holländer. Der russische Komponist des Jahrgangs 1956 ruft manuelle Reminiszenzen an die alte Virtuosenliteratur auf, bezieht sich augenzwinkernd auf Liszts raffinierte Schaustücke. Von der schwärmerischen Arabeske bis zur unendlich zelebrierten Chromatik sind Bezüge zur Salonmusik unüberhörbar. Das gibt dem Stück den ironischen Touch, der es vor der Banalität rettet. Wer vor Venusrausch und Geisterquinten im Salon keine Scheu hat, wird mit Vergnügen folgen, wer darüber nicht froh werden kann, entwickelt rasch Überdruss.

Tokarev widmet sich dem Werk mit der Passion, mit der er 2006 schon Goldenblatts Paganini-Variationen beim Klavier-Festival gespielt hat – nachzuhören auf der CD des Jahrgangs. Die symphonischen Episoden aus Wagners „Ring“ von Sergej Pavtschinski (1909 bis 1976) hatte Tokarev bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2005 in Düsseldorf schon einmal vorgestellt. Sie beweisen ein weiteres Mal, wie aussichtslos es ist, den Zauber von Wagners Orchesterklang auf den Flügel reduzieren zu müssen. Es webt und klingt nichts; das dürre Gerüst von Wagners Motiven, Melodien und Materialbruchstücken verbreitet keinen Bann.




Frauenfußball – ganz gemächlich: Wie die EM im Fernsehen präsentiert wird

In der elend langen Bundesliga-Sommerpause darf jetzt mal wieder der Frauenfußball die Lücken füllen, immerhin mit einer Europameisterschaft in Schweden. Doch es ist im Fernsehen immer noch kein Vergleich zu den Partien der Männer-Nationalelf. Da hätten sich die Medien seit Wochen hochgeschaukelt. Sind die Damen am Ball, geht es im TV ungleich gemächlicher zu.

Für die Bier-Werbeblöcke beim Frauen-Match Deutschland – Niederlande sorgten, wenn ich richtig mitgezählt habe, gleich viermal Jogi Löw und seine Jungs. Offenbar hat noch niemand die Damen aus dem Team von Bundestrainerin Silvia Neid für Reklame auf der Rechnung; noch nicht einmal im Umfeld der Frauen-EM.

Auf Distanz zum Geschehen

Ich gebe zu: Für Frauenfußball begeistere ich mich bislang noch nicht übermäßig. Als nicht mehr ganz junger Mensch ist man da seit Sepp Herbergers und Helmut Schöns Tagen biographisch geprägt. Mir war – ehrlich gesagt – auch noch nicht bewusst, in welchen Maße Spielerinnen-Transfers mittlerweile über die europäischen Grenzen vonstatten gehen. Aber derlei (zuweilen sympathisierende) Distanz oder meinetwegen auch Ignoranz habe ich wohl mit den meisten Leuten aus den Fernseh-Sportredaktionen gemeinsam. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass der Einsatz für Damenfußball einen dort in der Hierarchie wesentlich voran bringt – eher im Gegenteil. Und so scheint denn der Frauenfußball immer noch ein wenig das unbekannte Wesen zu sein. Pikant übrigens, wenn man bedenkt, dass ARD und ZDF soeben eine wichtige Bastion beim Männerkicken an den Privatkanal RTL verloren haben, nämlich die Qualifikationsspiele zur EM 2016 und zur WM 2018. Bleibt den öffentlich-rechtlichen Sendern eines Tages etwa nur das Frauenteam?

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

In den Fall müssten sie deutlich nachlegen. Der männliche Kommentator Norbert Galeske bemühte sich in Växjö (Schweden) hie und da halbwegs um Emotionen, doch wenn’s zum Schwur kam, wirkte er seltsam unengagiert. Ein verweigerter Elfmeter regte ihn letztlich ebenso wenig auf wie etwa gelbe Karten, erstaunliche Hackentricks oder ein Handspiel. Man vergleiche das mit der Aufregung, die jede halbwegs markante Szene in einem mittelprächtigen Herren-Länderspiel hervorruft.

Die Männer als Maß der Dinge

Unscheinbare Reporter-Bemerkungen à la „fast wie bei den Männern“ oder „Ihre Spielweise erinnert an Philipp Lahm“ zeigen, dass die kickenden Herren nach wie vor das Maß aller Dinge sind. Auch würde man sich bei einem Länderspiel der Männer nie und nimmer mit einer bloßen Viertelstunde Vorlaufzeit bis zum Anstoß begnügen. Dann könnte man ja nicht alles und jeden durchhecheln oder hochtrabende „Analysen“ von sich geben. Allein der Umstand, dass sechs deutsche Stammkräfte fehlen, hätte bei den Herren wahrscheinlich eine Stunde Sendezeit gefüllt. In manchen Punkten haben die Spielerinnen leider tatsächlich bei den männlichen Kollegen gelernt: Einige von ihnen spucken nun ebenfalls auf den grünen Rasen, tragen Tätowierungen (oder Zungen-Piercings, wie genüsslich gezeigt wurde) und reden bei Interviews ähnlich gestanzt daher.

Immerhin durfte im ZDF eine Frau als Expertin mitmachen, nämlich die Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg, die freilich in ihren Aussagen ziemlich trocken blieb. Recht ordentlich zog sich hingegen der Moderator Sven Voss aus der Affäre, der ohne jederlei Herablassung die sachlich richtigen Fragen stellte.

Übrigens: Die Begegnung war ziemlich spannend und endete 0:0, was für die Deutschen, die fünfmal hintereinander (!) die EM gewonnen haben, allemal eine Enttäuschung bedeuten musste. Hätten die Männer in den letzten 20 Jahren derart viele Titel gesammelt, so hätten die Medien sie längst zu „Helden“ hochgejubelt.

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen