Das pralle Leben der Pröllmanns: Ein Sozialarbeiter gibt hintersinnige Einblicke

Nabelschau (und das durchaus im eigentlichen Sinn des Wortes) können Leser betreiben, die sich an der Seite eines Sozialarbeiters aus dem Ruhrgebiet Zugang zu einer speziellen gesellschaftlichen Spezies verschaffen. Die Wege werden ihnen in dem Buch „Schantall, tu ma die Oma winken“ geebnet.

Der Titel lässt erahnen, welche Zeitgenossen hier observiert werden. Der Band hätte auch genauso gut die Überschrift „Mach dem Mä mal Ei“ vertragen. Schantall Pröllmann, die vor allem in knalligen Farben auftritt, würde an solch einem Satz nichts Falsches oder Verstörendes finden, ihr kleiner Schastin, also Justin, wüsste auf Anhieb, was gemeint ist.

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Willkommen also in einer Familie, die zu betreuen dem Jochen wohl nie in den Sinn gekommen wäre, hätte es da nicht im Rathaus des Städtchens Bochtrop-Rauxel diesen Frauentausch, pardon Rollentausch gegeben. Jochen ist eigentlich für die Kulturbehörde tätig, soll aber – wie übrigens auch andere aus der Verwaltung – mal Tapetenwechsel betreiben und andere Ämter kennenlernen. So kommt er schnurstracks in den Bereich Soziales und von dort – ohne über Los zu gehen – als Betreuer zu den Pröllmanns samt Anhang.

Jochen findet sich wieder in einem Land, das die Kevinisten regieren, das seinen Bewohnern unendlich viele Freiheiten gewährt, beispielsweise sprachlich schon längst alle grammatikalischen Einfriedungen beseitigt hat, Jobsuche und finanzielle Grenzen als unerbetene Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. Da werden dann halt an der Kirmesbude 197 Euro gelassen, Hauptsache man kann eine Grünpflanze sein Eigen nennen. Wenn’s Geld nicht reicht, zeigt Vater Pröllmann eben, was seine Fäuste noch können. Dumm nur, dass die 200 Euro Gewinn ausbleiben, weil der Gegner ein routinierter Kirmesboxer ist und der „Vadder“ der Familie sich eine blutige Nase holt. Mit seinem Gewinn, einer Küchenrolle, zum Abtupfen gedacht, lässt sich das Grünzeug vielleicht noch nett einwickeln.

Apropos einwickeln: Männer umgarnen ist wohl so etwas wie der Breitensport der Weibchen in diesen Kreisen. Ob im Fitness-Studio, zu Karneval oder in Lloret de Mar, Austragungsort der Urlaubssommerspiele mit Sohn und Freundin Cheyenne, wie auch immer dieser Name ausgesprochen werden will: Der Jagdtrieb bestimmt Sein und Bewusstsein. Natürlich funktioniert das Prinzip auch in gegensätzlicher Richtung. Die Männer sind auf der Suche nach paarungswilligen Geschöpfen für den Augenblick. So ist auch Schastin das Ergebnis einer Liaison, deren andere Hälfte längst wieder in Ostdeutschland untergetaucht ist.

Aber das ist nun mal das Schöne an dieser Klientel. Es gibt ja noch Familie, die gefallene Engel auffängt, und angesichts des Verhältnisses von „Quotientenkurve des Intellekts“ und „Anzahl der in die Welt gesetzten Kinder“ nimmt sich die Keimzelle der Gesellschaft nicht gerade klein aus. Entsprechend sind auch die Wohnungen gestaltet, den Begriff Dekoration würde hier – nach Jochens Erfahrungen – wohl niemand verstehen. Gelsenkirchener Barock hat dagegen glatt noch Stil, wobei die Verantwortung für wahllos vollgepfropfte Wohnzimmer eindeutig bei der Industrie liegt, wie der Sozialarbeiter erkennen muss. Ihren Verheißungen, sei es in Prospekten oder Werbespots, kann sich kaum einer und schon keiner vom Schlage Pröllmann entziehen.

Kaufen gehört ohnehin zu den Lieblingsbeschäftigungen von Schantall und ihrer Cheyenne, bei der die Bezeichnung Busenfreundin eine gesonderte Berechtigung hat. Shoppen, wie man auch sagen könnte, rangiert mit wenig Abstand hinter dem Begehren, einen Mann zu kaschen. Die Freude an den Konsumtempeln wird auch durch Anglizismen wie Sale nicht getrübt, sondern eher noch angeheizt, selbst schrille Musik wirkt antörnend. Wenn es mal zu geschmälertem Amüsement kommt, dann schon eher aufgrund der Komplexität von Sonderangeboten wie „Drei für zwei“. Wie soll man sich nur entscheiden, wenn es nicht drei, sondern vier T-Shirts sein sollen?

Bei den Kerlen wiederum belässt es Schantall (vorübergehend) bei einem Exemplar, Cedrik sein Name. Wie man es aus Film und Fernsehen kennt, darf ein Happyend nicht fehlen. Da das Traumpaar schon drei Monate zusammen ist, wird es höchste Zeit, den Bund fürs Leben zu schließen. Getreu dem Motto, „Wenn man schon kein Geld hat, lässt sich doch das am besten ausgeben“, ehelichen die beiden in einem Etablissement, in dem an diesem Tag mal der übliche Betrieb ruht, das Personal aber fröhlich mitfeiert.

Mögen manche Szenen am Ende auch ein wenig überzeichnet wirken, der Autor, der sich in die Rolle des Sozialarbeiters versetzt, beschreibt gesellschaftliche Wirklichkeiten, mal bissig, mal ironisch, oftmals aber auch mit ganz ernsthaftem Ton. Ihm ergeht es so wie vielen Lesern: Erstaunen und Sprachlosigkeit machen sich breit. Letzteres würde man sich auch bei den beschriebenen Kreisen vorstellen können. Hat da jemand von wünschen gesprochen?

Kai Twilfer: „Schantall, tu ma die Oma winken“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 219 Seiten, 9,95 Euro




„Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“ – Gerhard Amanshausers Tagebücher

Was bleibt mir von einem solchen, 400 Seiten starken Buch im Gedächtnis, das ich vor etwa 5 Monaten aufmerksam, mit großem Interesse und – entgegen dem sicher wohlmeinenden Rat des Vorwortschreibers Daniel Kehlmann – kontinuierlich von Anfang bis zum Ende gelesen habe? Vor allem das Gefühl, dass sich diese Lektüre Seite für Seite gelohnt hat.

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Das Ende 2012 im Residenz Verlag posthum herausgegebene Buch der diarischen Aufzeichnungen des inzwischen schon 7 Jahre toten, aber noch immer als „Geheimtipp“ gehandelten österreichischen Schriftstellers Gerhard Amanshauser bietet neben bestechender Wahrnehmungstreue die facettenreiche Innenansicht eines intellektuell redlichen Autors, bei dessen Ausführungen man nie das Gefühl hat, der Autor habe bei diesen Tagebuchaufzeichnungen in erster Linie auf ihre spätere Veröffentlichung hin geschielt.

Sind seine Werke noch greifbar?

Man prüfe doch bitte einmal nach, ob auch nur eines der Bücher des von 1928 bis 2006 vorwiegend in Salzburg lebenden Schriftstellers G. Amanshauser auch nur in einer der Buchhandlungen Essens, Oberhausens, Bottrops, Duisburgs, Dortmunds oder Bochums (vielleicht dort?) griffbereit vorrätig ist. Man prüfe ebenso nach, ob in den Stadtbüchereien des Ruhrgebiets irgendwelche von seinen Büchern sofort ausleihbar und somit noch zugänglich sind. Meine Stichproben in Essen und Bottrop jedenfalls verliefen ergebnislos. Auch das hier vorgestellte Buch wird und wurde in den einschlägigen deutschen Buchhandlungen nicht beworben, nicht hervorgehoben, von gelegentlichen Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung oder jüngst im Deutschlandfunk mal abgesehen.

Verlockender Titel?

Zugegeben, der Titel des Buches ist – wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen – ein wörtliches Zitat von Amanshauser selber. Man findet den Satz irgendwo unter den Aufzeichnungen dieses Bandes. Ich glaube, es war noch vor der erreichten Hälfte des Buches. Wenn man Amanshauser als Schriftsteller schon etwas kennt oder sich vielleicht dabei an Nietzsches Selbstaussage „Nur Narr, nur Dichter!“ erinnert, ist der Titel in Ordnung. Vermag er aber auch jene, die Amanshauser überhaupt noch nicht kennen, dazu anzuregen, irgendeines seiner lesenswerten Bücher – wie z. B. „Als Barbar im Prater / Autobiographie einer Jugend“, „Mansardenbuch“, „Terrassenbuch“ oder „Sondierungen und Resonanzen“ endlich einmal aufzuspüren und zu lesen? Ich fürchte: Nein.

Der eine oder andere könnte sich bei diesem gewählten Titel doch vielleicht fragen: Warum sollte ich etwas von einem Schriftsteller lesen, dessen ausdrücklicher Herzenswunsch es offenbar gewesen ist, „kein Schriftsteller zu sein“? Oder sollten wir uns wie von ungefähr an das seltsame Phänomen erinnern, dass es wohl auch Propheten gegeben hat (vgl. das AT), die sich vehement der Zumutung zu entziehen suchten, Propheten zu sein, und ihr dennoch auf Dauer nicht zu entgehen vermochten.

Undogmatisch und diagnostisch

Mit undogmatisch diagnostischem Blick auf die Gegenwart hat Amanshauser nun tatsächlich und ziemlich illusionlos Zukünftiges mit im Visier. Auch wenn er von sich selber her ein „Schriftsteller wider Willen“ genannt sein mag, ein beachtlicher, ernst zu nehmender Schriftsteller ist er trotz kritischer Selbsteinschätzung zweifellos. Es fällt allerdings auf, dass in all seinen Tagebuchaufzeichnungen, insbesondere wenn sie sich auf das Schriftstellermilieu oder auf ihn selber beziehen, es nicht einen einzigen zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller von Rang für Amanshauser gibt, den er für literarisch herausragend und wirklich über alle Maßen hervorhebenswert halten würde.

Einigermaßen gut kommen immerhin Ilse Aichinger, Walter Kappacher, Franz Fühmann, Nicolas Born, H. C. Artmann, Arno Schmidt, Sarah Kirsch und Gerhard Meier weg. Über Thomas Bernhard weiß er allerdings recht Bedenkliches, das haften bleibt, zu vermerken (vgl. insbesondere S. 271). Indessen: Mich hat, auf bildende Künstler bezogen (und den Tagebüchern ebenfalls zu entnehmen), z. B. sehr gefreut, dass Gerhard Amanshauser offenbar mit dem schätzenswerten Rudolf Hradil sehr gut bekannt, gar befreundet, gewesen ist und ihn und seine Bilder ebenfalls recht hoch geschätzt hat.

Botschaft des Umschlags

Im Übrigen: Ich gebe es ja gerne zu: Die Umschlagsbildbotschaft des Buches im Verein mit dem gelb herausgehobenen Autorennamen und dem vollen schwarz und weiß gefassten Titel ist bei näherem Hinsehen eine andere, eine erkennbar ironisch gebrochene. Die nur etwas erhöht aufgestellte Dichterkopfskulptur seines scheinbar schon bei Lebzeiten verbürgten Nachruhms begegnet dem noch lebenden Menschen Amanshauser, dem fragenden Aufblick seiner geschlossenen Augen wie dem stummen Halblächeln seiner geschlossenen Lippen. Blickt hier das Konterfei als Artefakt herab auf das Leben oder das Leben ironisch hinauf auf die Kunst?

Auf Buchseite 10 heißt es innerhalb eines längeren, den eigentlichen Tagebuchaufzeichnungen vorangestellten Amanshauser-Zitats: „Wichtig war, dass ich als Dichter völlig unbekannt war und kaum jemals etwas dem Druck übergab; denn später als der Ruf des Schriftstellers sich verbreitete, nahm meine Lebensfreude wieder ab, so dass ich zu der Überzeugung kam, das Ansehen als Dichter könne in unseren Tagen nur widrige und fatale Folgen haben.“

Nicht systematisierbar

Kosmischer Maßstab, Astronomie, Himmelsbeobachtungen, Wetterwahrnehmungen, jahreszeitliche Natureindrücke, Leben mit dem Garten, Sehnsucht nach dem Süden (insbes. Italien), periodischer Italienaufenthalt und seltene, andere Kurzreisen, das pauschal-symbolische Nördliche (das politisch und auch atmosphärisch und vom Lebensstil her Bedenkliche nördlich der Alpen), konsequente Religions- und Ideologiefixierungsverweigerung, entschiedene Distanz zu jeglicher geschichtsphilosophischen Spielart, die grundlegend antinazistische Haltung, das anziehend-abstoßende alljährliche Ritual verlagsgebundener Autorentreffen unter scharfer Beobachtung, Symptome unaufhaltsam scheinenden Kulturzerfalls und fortgesetzt andauernder Naturzerstörung, schonungslos klare Beobachtungen, treffende Formulierungen, Pessimismus gepaart mit Ironie und Humor, bis zuletzt: völliges Fehlen jeglicher Weinerlichkeit in Anbetracht der eigenen schweren Parkinson-Erkrankung; im Gegenteil, nahezu Aussparung des Reden davon…

(Zwischengedanke: Hatten Kierkegaard und Thomas Mann recht, wenn sie meinten, dass mit Bewusstsein Kranke bessere Voraussetzungen für Erkenntnis(se) böten als naiv Gesunde?)

Ein gewichtiges Thema ist auch der unselige Nazismus des eigenen biologischen Vaters und das Gegengewicht des einerseits geistigen Vaters und Mentors und andererseits als Lyriker (nicht als Essayist und Aphoristiker) von Amanshauser keineswegs unkritisch gesehenen Hermann Hakel.

Übrigens: Zahllose, en passant bei seinem freien diarischen Schreiben entstandene eigene Aphorismen Amanshausers, die er selber nicht nachträglich aus ihrem Zusammenhang gelöst und so als Aphorismen gekennzeichnet hat, ließen sich den für diesen Band chronologisch ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen Amanshausers aus den Jahren 1964-1999 entnehmen und neu zusammenstellen.

Gerhard Amanshauser: „Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“. Tagebücher. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien, 2012, 400 Seiten. 26,90 €




„Killing Season“: DeNiro und Travolta sind kein Kino-Traumpaar

John Travolta, der aussieht wie Schwarzenegger als Waldmensch, trinkt Jägermeister, hat sich den Schädel rasiert, einen wuscheligen Bart wachsen lassen und spricht grammatisch korrektes Englisch mit etwas, von dem er zu denken scheint, es sei ein serbischer Akzent. Hin und wieder vergisst er das aber. Jedenfalls in der Originalfassung, die ich gesehen habe.

Früher waren Filme, in denen Robert DeNiro mitspielte, ein Garant zumindest für Spannung und meistens auch für Qualitätskino. Der Funke dieser Kombination DeNiro / Travolta ist schon verglimmt, bevor auch nur das kleinste Flämmchen glühen konnte.

Am besten die schlechte Nachricht zuerst, die ist ohnehin länger als die gute. „Killing Season“ (noch ohne deutschen Starttermin) ist ein schlimmer Film, den DeNiro, Travolta und das malerisch rauhe Gebirge zu 95% bestreiten; ein Film, der die beiden lange Zeit in den Appalachian Mountains einander jagen und aufeinander schießen lässt mit Gewehr und Pfeil und Bogen. Warum, das weiß man nicht genau, außer dass es anfangs einen wochenschauartigen Einspieler gibt von Kriegshandlungen und Erschießungen während des Bosnien-Kriegs.

Außerdem bekommt der düstere Emil Kovac (Travolta) ganz am Anfang des Films in einer Wirtschaft (vermutlich in Serbien) von einem finsteren Typen einen Umschlag mit Geld rübergeschoben, und der finstere Typ seinerseits einen Umschlag mit alten Akten. In einer Akte ist kurz ein Foto von DeNiro zu sehen. Das muss als Begründung für die folgenden 90 Minuten reichen. Danach ist Travolta dann in Amerika und trifft – von Travolta geplant zufällig – auf Colonel a.D. Benjamin Ford (DeNiro), und erst einmal freunden die Beiden sich an. Nach und nach entwickelt sich ein Katz- und Mausspiel, Schachspiel, ein Zwei-Personen Krieg.

Es war ja schon von Anfang an klar, dass Travolta einen Rochus auf DeNiro hat, weil der im Bosnien-Krieg was gemacht haben soll, wofür Travolta sich rächen möchte. Darum also jagen sie sich nun quer durch das unwirtliche, aber, wie gesagt, szenisch wunderbare Gebirge. Da durchbohrt ein Pfeil mal DeNiros Wade, und der muss den auf Anweisung Travoltas einfach so rausziehen. Ich finde ja, er hätte den mit den Zähnen rausbeißen sollen. Aber so tough ist er nun doch nicht. Geht aber auch so gut, blutet kaum, und DeNiro hoppelt weiter. Dann trifft ein Pfeil auch Travolta ins buschige Antlitz: linke Wange rein, rechte raus, das sieht aus wie Grillhähnchen auf dem Spieß (sorry, Mr. Travolta), hilft auch nicht beim Sprechen, egal ob mit oder ohne Akzent.

Travolta ist natürlich genauso hart wie DeNiro und nach dem Rausfriemeln sieht man alsbald keine Spur mehr von den Durchschüssen. Zwischendurch hängt Travolta den DeNiro mal koppheister an einem Ast auf, oder man sieht eine Variante des water boarding. Hier und da ist Verschnaufpause, die zu Gesprächen genutzt wird. Ganz am Anfang und ganz am Ende hat DeNiros Sohn mit Frau und Baby einen kurzen Auftritt, und zum Schluss siegt die Gerechtigkeit. Oder die Wahrheit. Oder was man dafür hält.

Es ist wirklich kein guter Film. Mich wundert, dass DeNiro diese Rolle angenommen hat. Bei Travolta wundert mich nix.

Für den Regisseur Mark Steven Johnson ist es der fünfte Film. Von den anderen vier hab ich nie gehört.

Keinen Stern für dieses Werk.

Jetzt die gute Nachricht: Ich gebe einen Gnadenstern für die dreimalige Einspielung von Johnny Cashs „Don’t take your guns to town“, beim zweiten Mal singt DeNiro mit.
Das war schön.

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TV-Nostalgie (2): „Monaco Franze“ bleibt unvergesslich

Auf der Suche nach Figuren, die wir im Fernsehen schmerzlich vermissen, gibt’s manchmal kein Vertun: Helmut Fischer als „Monaco Franze – Der ewige Stenz“ gehört unbedingt dazu. Und alle anderen, die an Helmut Dietls grandioser Serie von 1983 mitgewirkt haben, denn die war bis in die kleinste Nebenrolle passgenau besetzt.

Auf Bayern III werden derzeit, den ganzen Sommer hindurch (jeweils montags und donnerstags, immer um 20.15 Uhr), die Folgen des ARD-Zehnteilers abermals gezeigt. Da kann man wirklich sagen: Wiederholung macht Freude!

Wehmütiger Blick zurück

Selig in wehmütiger Nostalgie schwelgend, habe ich mir die Auftaktfolge mit dem schönen Titel „A bissel was geht immer“ noch einmal angeschaut, die am 2. März 1983 erstmals ausgestrahlt worden ist. Du meine Güte, über 30 Jahre ist das schon her…

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein "Spatzl" (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein „Spatzl“ (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Und so fängt’s an: Der vermeintliche „kulturlose“ und doch auf seine Art so elegante Abenteurer Monaco Franze scharwenzelt mal wieder außerehelich einer Dame (Gisela Schneeberger) hinterher, die sich ein völlig falsches Bild von ihm macht und ihn für einen leidvoll einsamen Wolf halten möchte. Wenn sie wüsste! Monaco Franze, gleichsam nur nebenberuflich Kripobeamter, versucht, mit einer Art Rasterfahndung auf ihre Spur zu kommen. In welchem Münchner Stadteil wohnt sie nur, in welchem Tanztempel kann man sie antreffen?

Ehemann an der langen Leine

Viel besser kennt natürlich die hochkultivierte Gattin Annette von Soettingen (Ruth-Maria Kubitschek) ihren Charmeur Monaco Franze (bürgerlich Franz Münchinger), den sie klugerweise an der langen Leine laufen lässt. Hauptsache, der Schwerenöter übertreibt seine Eskapaden nicht. Dessen herzig-lausbübische Aussage „Geh, Spatzl, seelisch bin i dir treu“ ist längst so legendär wie die ganze Reihe, die nebenher so manchen Eheratgeber ersetzt.

Besser als in dieser ersten Folge kann man einen Serieneinstieg wohl nicht hinbekommen. Wie kunstvoll die Handlungsstränge da verwoben werden! Wie wunderbar stimmig die Episode von den Wagner-Opern erzählt wird, in die Annette ihren Mann unbedingt zerren will. Dabei hasst der ihre hochnäsigen Freunde ebenso wie die Klänge und das Wagalaweia-Getue auf der Bühne. Doch dann bedient er sich einer herrlichen List und weiß plötzlich so gut Bescheid wie der beste aller Opernkritiker. Welch ein Triumph…

Gipfel der Komik

Da werden einige Gipfel der Hochkomik erklommen, und zwar scheinbar völlig unangestrengt. Auf diese Weise funktioniert das nur mit einem famosen Ensemble, zu dem u. a. auch Christine Kaufmann und Erni Singerl zählten. Wie da der herrschende Zeitgeist nachgezeichnet und gleichzeitig funkelnd parodiert wurde, das erreichte geradezu literarische Höhen. Das hat Bestand.

Als Regisseur Helmut Dietl, der sich den „Monaco Franze“ gemeinsam mit dem Schriftsteller Patrick Süskind und mit Franz Geiger ausgedacht hat, 1986 auch noch den gleichfalls unvergesslichen Sechsteiler „Kir Royal“ nachlegte, zählte er endgültig zu den wichtigsten TV-Schaffenden überhaupt. Und München war in jenen 80er Jahren bei weitem die glanzvollste Stadt im deutschen Fernsehen. Auch da gibt es kein Vertun.

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Springer, die WAZ und der ganz große Deal

Ich bin so stolz, ein Ruhri zu sein. Jetzt noch ein bisschen stolzer als bisher schon. Denn wir haben jetzt bald das „führende nationale Medienhaus“, falls das Kartellamt nicht doch noch etwas gegen den gigantischen Deal zwischen Springer und WAZ/Funke-Mediengruppe einzuwenden hat.

Woher die WAZ-Leute auf einmal blanke 920 Millionen Euro hernehmen, wo sie doch angeblich so sehr unter den Verlusten geächzt haben, die beispielsweise die Westfälische Rundschau verursacht haben soll? Diesen Batzen kann man doch nicht mit der Einsparung von ein paar Hundert Journalisten und sonstigen Mitarbeitern verdient haben, oder? Und wurde da nicht gemunkelt, dass die Banken angeblich Druck auf Petra Grotkamp ausüben, die Mehrheitseignerin der WAZ-Gruppe, die für ihre zusätzlich erworbenen Anteile einen namhaften Kredit aufgenommen hat?

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Hört sich irgendwie verzweifelt und doch schlau an, was Springer macht: Printmarken an die offenbar auf schiere Größe versessene WAZ-Gruppe verkaufen, so lange es überhaupt noch ordentlich Geld bringt. Das riecht nach Schlussverkauf und so gar nicht nach Zukunft.

Kaum auszudenken, dass etwa „Hör Zu“, „Hamburger Abendblatt“, „Berliner Morgenpost“ und ein ganzes Paket von Programm- und Frauenzeitschriften künftig von Essen aus gemanagt werden. Ob Axel „Cäsar“ Springer sich nun im Grabe umdreht? Eine kuriose Pointe, Jahrzehnte nach den heftigen Anti-Springer-Demonstrationen um 1968. „Enteignet Springer“, riefen sie damals bei der Apo. Wahrlich, es waren andere Zeiten.

Welch eine Vorstellung zudem, dass die Essener bald weite Teile der Republik mit ihrer speziellen Vorstellung von Qualitätsjournalismus beglücken werden. Welch eine Aussicht für die Redaktionen der betroffenen Blätter, die künftig wohl erfahren, wie Personalpolitik nach Essener Art betrieben wird. Sparsam. Ganz sparsam. Höchst sparsam.

Soll man jetzt noch gespannt sein, wie das alles weiter geht?

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Ausführliche Berichte und Analysen: http://www.sueddeutsche.de/medien/zeitungen-und-zeitschriften-an-funke-gruppe-springer-verkauft-sein-erbe-1.1731053

http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/axel-springer-verlag-verkauft-printprodukte-analyse-der-strategie-a-913107.html




Magie der monumentalen Baukörper: Bilder von Walter Eisler im Hagener Osthaus-Museum

Der Maler Walter Eisler stellt ins Zentrum seiner Bilder meist riesenhafte Gebäude, die er aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst hat – von der Brauerei bis zum biblischen „Turm zu Babel“. Sind die Bauten von Landschaft umgeben, so bleibt die Natur bloße Kulisse, lediglich ein Kontrast zu den gefügten Steinen.

Doch nichts und niemand trumpft hier auf. Diese Bilder sind gleichsam defensiv, sie wirken wie nach innen gerichtet, in sich selbst versunken. Gerade deshalb üben sie allerdings eine stille, durchaus rätselhafte Anziehungskraft aus.

Walter Eislers Fabrikbild "Krasnaja Snamija", 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Walter Eislers Fabrikbild „Krasnaja Snamija“, 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

„Krasnaja Snamija“ heißt die kleine Schau, die das Hagener Osthaus-Museum Eisler jetzt in der oberen Galerie ausrichtet. Die russischen Worte bedeuten „Rotes Banner“ und beziehen sich auf eine Textilfabrik in St. Petersburg (seinerzeit Leningrad), die 1926 vom berühmten Architekten Erich Mendelsohn geplant wurde und die Eisler 2009 ins Bild gesetzt hat. Die am Bug charakteristisch gerundete, schräg zum Betrachter gestellte Elektrozentrale dieser Fabrik sieht aus wie ein gigantisches Dampfschiff. Auf einem anderen Bild schwimmt „Die Brauerei“ sogar vollends auf dem Wasser. Fremde, in Bewegung geratene Dingwelt.

In einer ähnlich diagonalen Ausrichtung stellt Eisler auch das – ebenfalls von Mendelsohn entworfene – Stuttgarter Kaufhaus Schocken (das 1960 in einem barbarischen Akt abgerissen wurde) keilförmig vor uns hin. Auch hier schiebt sich der grandios gerundete Gebäudeteil in den Vordergrund und eröffnet, als wär’s eine Entscheidung, die man vor dem Bild zu treffen hätte, zwei Wege – links und rechts am Baukörper vorbei. Rechts vor dem Scheideweg findet sich eine unscheinbare Absperrung mit Bausteinen, die freilich den ganzen Bildaufbau durchbricht. Ein seltsam irritierendes und somit bannendes Detail.

Gebäude in Potsdam: "Einsteinturm", 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Gebäude in Potsdam: „Einsteinturm“, 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Ein weiteres Gemälde, das sinnbildlich aufgeladen ist, greift eine Entscheidung, vor die der Betrachter gestellt sein könnte, auch noch im Titel auf: „Die Schaltwarte“ (2002) lässt eine verwirrende, nahezu labyrinthische Raumfolge ahnen, in der man sich schwerlich zurechtfinden kann.

Den monumentalen, im realistischen Duktus eines späten Nachfahren der Neuen Sachlichkeit gemalten Bauten wohnt also eine sonderbare Magie inne. Sie weisen offenkundig weit über ihre Architektur hinaus – aber wohin? Zwar liegt auf den ersten Blick die Gestaltung recht offen zutage, sie scheint sich aber bei näherem Hinsehen vor dem Betrachter zu verschließen, sich jeder raschen Deutung zu verweigern und hermetisch abzuriegeln. Es ist zuweilen, als habe der maskierte „Zauberer“ (2008) seine Hände in solch einem Spiel der Verwandlung.

Hat es mit der Herkunft des Malers zu tun? Walter Eisler wurde 1954 in Leipzig geboren. Er ein einer von zwei Söhnen des DDR-Malergranden Bernhard Heisig (1925-2011) und hat den Nachnamen der Mutter angenommen – wohl auch, um nicht namentlich im Schatten seines Vaters zu stehen, von dessen Stil er sich mittlerweile auch deutlich emanzipiert hat. Schon zu DDR-Zeiten dürfte freilich auch Eisler (und sein Bruder Johannes, gleichfalls Künstler) gelernt haben, Kunstwerke vieldeutig anzulegen und zu verrätseln. Diese Strategie, zu der es im SED-Staat kaum gangbare Alternativen gab, scheint bis heute Walter Eislers Bildsprache mitzuprägen.

Geheimnisvoller Hintergrund: "Infantin", 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Geheimnisvoller Hintergrund: „Infantin“, 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Die rund 35 Bilder umfassende Werkgruppe, die jetzt in Hagen zu sehen ist, stammt jedoch aus den letzten zehn Jahren und ist noch von keinem Museum gezeigt worden. Insofern kann man von Entdeckungen sprechen. Einzig ein noch ganz anders geartetes Selbstporträt von 1986 markiert einen früheren Punkt auf der Strecke, die Eisler seither durchmessen hat.

Angesichts weniger menschlicher Figuren, die das neuere Oeuvre denn auch nur spärlich bevölkern, meint man die Präferenz für gemalte Architektur nachvollziehen zu können. Ein wenig unsicher, manchmal geradezu etwas ungelenk stellt Eisler leibliche Formen dar, vor allem Hände („Die Infantin“, 2010) wirken – sofern ausgeführt – bisweilen wie starre Fremdkörper oder werden gleich nur schemenhaft dargestellt.

Doch kleine Schwachstellen tun den subtilen Stimmungswerten, die in diesen Bildern aufgehoben sind, keinen Abbruch. Gewiss: Mal mag man sich an Giorgo de Chirico, mal an Edward Hopper erinnert fühlen – oder just an die Neue Sachlichkeit. Aber es ist denn doch etwas sehr Eigenes um Eislers Schaffen. In manch einem Bild kann man sich lang verlieren, um die Fährtensuche zu beginnen.

Walter Eisler: „Krasnaja Snamija“. Osthaus-Museum, Hagen (Museumsplatz 1 – Navigation: Hochstraße 73). 26. Juli bis 1. September. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17 Uhr, Do 13-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 2 Euro. Kein Katalog.




Ansichten eines Hörbuchjunkies (6): Willst du boxen, Känguru?

Eines Tages steht ein Känguru vor der Wohnungstür. Artig fistelt es eine Begrüßung und stellt sich vor als neuer Nachbar. Und los geht’s.

Marc-Uwe Kling, der Pickel bekommt, wenn ihn jemand Kai-Uwe (nach: von Hassel, Minister im Kabinett Adenauer) ruft, abenteuert mit dem neuen Gefährten durch eine Umwelt, die wenig bis nichts mit den beiden Anarchisten anfangen kann, die weder Herrn Klings Weltsicht („Mein Vater hatte immer die helle Freude daran, ,Kling Glöckchen, klingelingeling …‘ Weihnachten zu spielen!“) versteht, geschweige denn teilt, die aber ebenso wenig an den schnodderig vorgetragenen Einsichten des namenlosen Kängurus erkennen kann, dass es als Alter Ego von Marc-Uwe selbst aus seinen angeblichen Vietcong-Erfahrungen noch Lehren für die Gegenwart zieht. Marc-Uwe skeptisch: „Kängurus werden doch höchsten 15 Jahre alt.“

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Die „Känguru-Chroniken“ des Kreuzberger Kiez-Kenners sind ein Fest, für die Zuhörer, die live mitmachten (es handelt sich um eine mitgeschnittene Lesung) wie für Buchhörer. „Das Känguru-Manifest“ ist ebenfalls ein Fest. Und auch bei dessen Mitschnitt gab es hörbar faszinierte Menschen im Publikum, die den Raum mit Tränen des schallenden Lachens fluteten und teilweise auch schon mehrfach Marc-Uwe Klings skurrilen Begebenheiten zuhörten, denn manche brüllen lachend los, obwohl der Gag erst im letzten Satz der Szene aufgeblättert wird. Kurz: Känguru und Kling rocken jeden Raum.

Der Autor, dessen Beute an überflüssigem Wissen bisher schon enorm ist, studierte Philosophie, gewann nachhaltige Erkenntnisse dadurch, dass er das Studium mehrfach abbrach und wieder aufnahm, legte noch Theaterwissenschaften dazu und sorgte dafür, dass die Freie Universität Berlin sich selbst nicht zu ernst nahm. Die Stories um seine Bekanntschaft mit dem Känguru entstammen einem Podcast, der wöchentlich über „Radio Fritz“ läuft. Man staunt, was dem Mann so alles einfällt, das man lieber dem Beuteltier in den Mund legt, damit es Klartext spricht, während Marc-Uwe selbst noch versucht, gesellschaftfähig zu bleiben.

Je absurder, desto besser; je unwahrscheinlicher, desto lautstärker; je irrealer, desto eindringlicher – Känguru kann sich eben alles leisten, weil es wie „Harvey“ (der weiße Hase in Mary Chase’s Bühnenstück) nur ganz auserlesenen Zeitgenossen leibhaftig werden kann – genauer gesagt: ausschließlich Marc-Uwe Kling. Oder so völlig abgedrehten Zuhörern wie mir, die mitleidig belächelt werden, weil sie mal wieder auf dem Bahnsteig warten und glucksend in sich hinein lachen, ohne dass den Nebenstehenden einsichtig wäre, warum diese Person sich vor Lachen gerade wegwirft.

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Kängurus boxen gern, so der Volksglaube. Marc-Uwe Klings Känguru auch. Die roten Boxhandschuhe findet es blitzschnell, wenn es darum geht, pöbelnden Nazis, gröhlenden Fußballfans in bierseliger Patriotenlaune oder nervigen Vertretern uniformierter Staatsmacht auf die Nasen zu hauen. Wenn es aber gezielt nach einem speziellen Beutelinhalt sucht, dann gärt die Vermutung, dass es sich bei Känguru um ein Weibchen handeln könnte, mindestens aber um ein Tier mit einseitigem Hormon-Überschuss. Dann findet es eine komplette Lkw-Umzugsladung, bis es zum begehrten Kern gelangt. Gerne auch mal Gegenstände, die ihm von Marc-Uwe, mit dem es längst eine Wohnung teilt, geliehen worden waren.

Eigentlich wollte das Känguru ja nur Eierkuchen machen, als es da so überraschend vor der Türe stand und sich als neuer Nachbar vorstellte, doch ihm fehlten die Eier. Wenig später stellte es fest, dass Mangel an Mehl herrsche, klar, gerade erst umgezogen. Dann sollten es noch ein paar Tropfen Milch sein und später etwas Butter oder so. Schließlich öffnet Marc-Uwe die Türe und deutet wortlos in die Küche zum Gasherd. Känguru hat nur ein knappes „Danke“ übrig und beginnt zu braten. Kurze Zeit darauf balgen die beiden schon energisch darum, wer die Lufthoheit über die TV-Fernbedienung hat. Es ist der Beginn einer festen Beziehung, einer andauernden Freundschaft.

Ach ja, hoffentlich geht das noch weiter, denn der dritte Teil, „Die Känguru-Offenbarung“, steht noch an. Sollte dann etwa Schluss sein?

Marc-Uwe Kling (Autor und Vorleser): “Die Känguru-Chroniken” (4 CDs), „Das Känguru-Manifest“ (4 CDs). Hörbucher (erschienen bei Hörbuch Hamburg/Downtwon), je 14,99 €.




Tanz mit der Waldfee: artscenico-Projekt im Dortmunder Wald

Foto: dman

Foto: dman

Natürlich ist darstellende Kunst immer flüchtig. Wer an verschiedenen Tagen das gleiche Theaterstück sieht, wird niemals exakt das gleiche sehen. Die Inszenierungen von artscenico allerdings sind besonders flüchtig. Denn die Dortmunder Künstlergruppe um Rolf Dennemann setzt nicht nur Menschen, sondern vor allem Orte in Szene.

Sie macht die Besucherinnen und Besucher zum Teil der Performance. Sie produziert Bilder, die man anhalten möchte, weswegen man hilflos zur Smartphone-Kamera greift. Und sie sorgt für eine fast exklusive Einmaligkeit des Kunst-Erlebnisses: Selten sind artscenico-Produktionen häufiger als vier, fünf Mal zu sehen. Wer dabei war, kann noch lange davon erzählen.

Industrierelikte und Hotelzimmer, Bauernhöfe und Schrebergärten hat artscenico bereits inszeniert. Am vergangenen Wochenende ging es in den Evinger Süggelwald, der, wie die Ankündigung verrät, seinen Namen den Schweinen verdankt, die die Bauern früher in den Wald trieben. „4rest“ ist ein Tanzprojekt in der rauen Natur, ein Spaziergang, der den Besuchern im weichen Licht der Dämmerung eine Ahnung von den Geheimnissen des Waldes vermittelt. Konzept und Choreografie stammen von der Kölner Choreografin und Tänzerin Photini Meletiadis.

Eine Frau im leuchtend Grünen Kapuzenpullover mit einem aus Korb geflochtenen Spiel-Ball lockt die Besucher in den Wald, wirft ihren Ball – und scheucht damit eine Gruppe Waldwesen auf, die blitzschnell davonschwirren. Wer sind sie? Und wohin? Die Spurensuche beginnt, angeleitet von der elfenhaften, milde lächelnden Frau in Grün – eine Vermittlerin zwischen den Welten, die die Aufmerksamkeit bald auf eine Lichtung, bald auf einen besonderen Baumstamm lenkt. Immer wieder hält sie an, horcht in den Wald – und der Zuschauer hört erst den Kuckuck rufen und sieht dann eines dieser scheuen Wesen in sicherer Entfernung im Dickicht hocken. Die eine scheint ihr Baby zu schaukeln. Eine andere ist offenbar auf Nahrungssuche. Eine dritte verfängt sich in einem Netz – oder webt sie es? Die Zuschauer flüstern, das Laub raschelt, die grüne Fee lächelt, der Wald kühlt und tut gut.

Foto: dman

Foto: dman

Mehr und mehr verlieren die Waldwesen ihre Scheu, kommen näher, scheinen neugierig auf die vielen Besucher, die nun zum Teil der Inszenierung werden: Einige bekommen aus Wald-Fundstücken liebevoll gefertigte Puppen geschenkt. Andere werden zu Bäumen geführt, um sie zu berühren und zu umarmen. Dann nehmen sich alle an die Hand, werden von den Wesen weitergeführt und stehen plötzlich vor einem gedeckten Tisch: Es gibt Weintrauben, Kirschen, Kokosnuss und Wasser aus Paprika-Bechern.

Offenbar sind die menschlichen Besucher nun im Wald akzeptierte Gäste, sie werden bewirtet und dürfen die harmonisch fließenden, fast symbiotischen Tänze der vier Frauen (Photini Meletiadis, Susanne Grau, Geraldine Rosteius, Kathrin Wankelmuth) auf offener Wiese anschauen. Es geht noch tiefer ins Gehölz, zu riesigen Pilzen an Baumstämmen oder versteckten, überraschend sonnendurchflutete Lichtungen, in denen plötzlich die gelb gewandtete Waldfee wie ein Engel erscheint und die Zuschauer fast blendet.

Kein Wort wird gesprochen, kein Konflikt aufgebaut und gelöst, keine Geschichte erzählt. Oder doch: Die von der Schönheit und Harmonie des Waldes, der in dieser Inszenierung nicht die Bühne bildet, sondern quasi das Drehbuch, zumindest die Regieanweisungen liefert. Der Spaziergang endet in einem Gehege, aus dem Steeldrum-Klänge kommen. Die Besucher dürfen eintreten und sind dem Tanz der Naturwesen nun ganz nah. Die Choreografin hat eine Tanz-Sprache des Waldes entwickelt, die sie sich bei Feen abgeschaut haben muss: Behutsam, aber auf der Hut, eingebunden in die Gruppe, aber jeder für sich.

Ein traum-hafter, phantastischer und Phantasie anregender Abend – der leider niemals wiederholt werden wird…




Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




TV-Nostalgie (1): Was für ein Kerl! – Ein Wiedersehen mit Schimanskis erstem Fall

Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr). Doch dazu kommen wir noch in einem anderen Beitrag.

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Schlapphüte und andere Trends: BVB-Spielerfrau Jana Kirch als neue Kolumnistin der Ruhrnachrichten

Der Dortmunder Lokalteil der Ruhrnachrichten (RN) hat jetzt eine neue Mitarbeiterin. Sie heißt Jana Kirch.

Ja, und?

Nun, Jana Kirch veröffentlicht seit gestern eine regelmäßige Kolumne mit dem herzigen Titel „Janas schöne Aussichten“. Darin – so die Ankündigung – werde sie ab sofort „von Mode, gemütlichen Cafés, ihren Lieblings-Hotels und von ihren persönlichen Erlebnissen rund um Borussia Dortmund“ berichten.

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Jana Kirch geb. Flötotto ist nicht irgendwer. Die Ehefrau des BVB-Ergänzungsspielers Oliver Kirch trägt vor allem als weit gereistes Model (New York, Paris etc.) und Boutique-Inhaberin (Bielefeld & Sylt) zum wahrscheinlich nicht allzu schmalen Familieneinkommen bei.

Nebenher betreibt „der schönste Neuzugang beim BVB“ („Bild“) auch noch ein Blog namens ohlalalovelylife, das so geschniegelt aussieht, als werde es von einer Agentur gezimmert. Der Titel dürfte jedenfalls auch für die RN-Kolumne richtungweisend sein. Zum Auftakt wird Jana Kirch vom lokalen Monopolisten auch folgerichtig so zitiert: „Ich möchte mich allen schönen Dingen widmen, die uns in der Alltagshektik manchmal unbemerkt zu entgleiten drohen.“

Genau. Bloß keine garstigen Sachen. Bei den Ruhrnachrichten ist somit künftig noch ein bisschen mehr Harmonie und Harmlosigkeit angesagt als ohnehin schon. „Trends ins Dortmund und der ganzen Welt“ will die neue Mitarbeiterin vorstellen. Zu Beginn empfiehlt sie schicke Outfits für die Sommerfestival-Saison: „Besonders große Schlapphüte à la Saint Laurent erleben dieses Jahr ein Revival.“ Gut, dass man das jetzt im Lokalteil erfährt. Sonst hätte man doch glatt wieder den stocksteifen Mini-Hut aus dem Vorjahr aufgesetzt.

Wir fragen jetzt nicht, durch welche Verquickungen, auf welchen Wegen und Umwegen ein solches Arrangement zustande kommt, warum also die Gattin eines BVB-Kickers partout eine Spalte des Lokalblatts füllen muss. Wir fragen auch nicht nach der Honorierung und danach, welchen Anteil womöglich die RN-Redaktion an den Texten hat. Erst recht wollen wir nicht wissen, was das liebliche Geplänkel im Lokalteil einer Tageszeitung zu suchen hat. Auch interessiert es uns nicht mal ansatzweise, ob die eine oder andere modische Empfehlung vielleicht auch in den Boutiquen von Frau Kirch käuflich zu erwerben ist. Oder etwa doch?




Dortmund damals: Beim Betrachten alter Bilder aus der Heimatstadt

Manchmal entdecke ich im Internet Vorlieben wieder, die zwischendurch geschlummert haben. Da gibt es z. B. intelligente Schwärme, die schöne, noch schönere oder gezielt hässliche Worte aufspüren, was sich mitunter als Hauptspaß, seltener auch als Tiefsinn erweist. Doch hier und jetzt geht es um alte, zuweilen nostalgische Fotos aus meiner Heimatstadt Dortmund.

Bei Facebook und wohl auch in anderen Netzwerken tummelt sich dazu die eine oder andere Interessengruppe, die mit Fleiß und Akribie bei der Sache ist. Eine hat sogar rund viertausend Mitglieder: Man kann dort quasi keinen Pflasterstein oder Grashalm aus der Stadt posten, den nicht irgend jemand wiedererkennen, exakt benennen und mit historischen Hintergrundinfos anreichern könnte.

Da gibt es Leute, die sich mit lokalen Details offenbar mindestens ebenso gut auskennen wie Stadtarchivare, Regionalhistoriker oder Fachleute vom Katasteramt – und das nicht aus Pflicht, sondern aus Leidenschaft, die bekanntlich bei jeder Anstrengung Flügel verleiht. Amateure, so kann man hier mal wieder sehen, sind keineswegs Dilettanten. Sie heben denn auch ungeahnte Bilderschätze.

Ich selbst habe als Kind kaum fotografiert – und erst recht nicht als Jugendlicher. Das galt damals als „uncool“. Schade drum, sonst hielte man heute die eine oder andere Erinnerung mit städtischem Kolorit in den Händen. Von digitaler Dauerknipserei ahnte man noch nichts.

Nicht nur, aber auch wegen dieses Defizits habe ich heute ein Faible für historische Fotos aus der Stadt – ungefähr zwischen 1860 und 1980 ist so manches An- und Aufregende zu finden. Den jeweiligen Zeitgeist kann man geradezu einatmen oder aus den Bildern trinken.

Wie sich die Straßen und ganze Stadtteile gewandelt haben! Welche (hie und da noch dörfliche) Beschaulichkeit oder Pracht in der oder jener Ecke früher geherrscht hat! Wie glanzvoll war ehedem die Kaiser-Wilhelm-Allee, die heute als Hainallee vergleichsweise kümmerlich wirkt. Wie schmuck war die Hohenzollernstraße in der östlichen Innenstadt. Auch da zeugen nur noch Restbestände von damals. Wie weh wird einem zumute, wenn man all die tiefen Wunden sieht, die dann die Bomben des elenden Weltkrieges gerissen haben. Von den Menschenleben natürlich ganz zu schweigen.

Danach war Dortmund – ehedem freie Reichsstadt und Hansestadt – zwar keine geschichtslose, doch in weiten Teilen eine gesichtlose(re) Stadt: Die sozialdemokratische Abrisswut zur Schaffung von Verkehrsschneisen tat nach 1945 ein übriges. Und heute wanken manche denkmalgeschützten Bauten, wenn ein Großinvestor winkt.

Über lange Zeiträume betrachtet, blieben im Stadtplan lediglich Grundstrukturen wie etwa der Wallring, der Hellweg oder (bedeutend kleinteiliger) das Rund des Borsigplatzes erhalten. Auch die Westfalenhalle und die großen Sportstätten haben immerhin über einige Jahrzehnte nicht ihre Gestalt, wohl aber ihren Platz behauptet.

Ein besonders eigentümliches Gefühl beschleicht einen dann, wenn man alte Fotos aus dem Viertel sieht, in dem man aufgewachsen ist; womöglich gar noch aus der passenden Zeit. Häuser, die man damals gar nicht richtig beachtet hat (als Kind hat man ja auf „Jugendstil“ und dergleichen gepfiffen), wirken da auf einmal wie Persönlichkeiten oder gar wie Freunde, die über all die Jahre hinweg immer da gewesen sind. Es ist, als könnte das Spiel von neuem beginnen.

Man kann den historischen Bildern schon beim flüchtigen Hinsehen einige generelle Erkenntnisse entnehmen, die so ähnlich für viele Städte gelten dürften. Man vergleiche: Nicht nur die Autos haben die ehedem unverstellten Straßen schrecklich überwuchert, auch das Fernsehen hat zwischenzeitlich verheerend gewirkt, weil seither abends weniger Menschen die Stadt bevölkert haben.

Staunenswert war allein schon die Vielzahl der Dortmunder Caféhäuser und Amüsierbetriebe, etwa in den 20er Jahren. In den 50ern hatte dann nahezu jeder Vorort sein eigenes Kino – und nun schaue man sich die heutige Situation an. Bis in die 1960er Jahre hinein gibt es Bilder, die von einer vollen Innenstadt zeugen, in der ganz offensichtlich mehr Betrieb war als heute.

Speziell in Dortmund und dem Ruhrgebiet zeigen sich selbstverständlich die Monumente der alten Industrie – Zechen, Stahlwerke, Brauereien. Doch nicht nur das. Welch ein imposantes Theater hat es einst in dieser Stadt gegeben, welch einen prächtigen Amüsierpalast am Fredenbaum, welch einen repräsentativen Hauptbahnhof! Und welch eine großartige Synagoge, die 1938 von braunen Horden ruchlos zerstört wurde!




Eine Ära geprägt: Der Dirigent Stefan Soltesz nimmt Abschied von Essen

Der Mann wirft einen prüfenden Blick ins Parkett des Aalto-Theaters, dreht sich um, schaut scharf in die Runde. Ruhe. Jeder Atemzug scheint kontrolliert. Spannung. Erwartung. Dann ein kurzes Anspannen der Schultern, ein Schlag – und die ersten dunklen Akkorde von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ fluten den Raum: transparent, untergründig, mit dräuendem Nachdruck.

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz beim Dirigieren: Das war stets eine Studie wert. Zu beobachten, wie er über den Rand seiner Brille eisblaue Blicke wirft. Zu verfolgen, wie der Finger hochschnellt, einem Sänger „Achtung“ signalisiert, im Abtauchen den Einsatz markiert. Mitzufiebern, wie er bald hundert Frauen und Männer im Orchestergraben antreibt, mitreißt, befeuert. Oder wie er mit unendlicher Geduld eine Innenspannung in der Musik aufbaut, einen schwerelosen Bogen trägt, eine Entladung vorbereitet.

Wucht und Macht: Nur sehr dosiert setzt Soltesz diese Mittel ein. Er weiß, dass sich die Riesengebärde, der massierte Klang schnell abnutzen. Gerade bei Richard Strauss, der so viele Dirigenten zu knalliger Koloristik verführt, setzt Soltesz auf Transparenz, auf Präzision, auf luftiges Acryl statt auf fettes Öl. Er hat damit einen Trend gesetzt, den andere inzwischen auch entdeckt haben. Ähnlich arbeitet er mit Partituren Puccinis: „Tosca“ oder „La Bohème“ sind bei ihm Chefstücke. Da gibt es keine hingeschmierte Kapellmeister-Routine, keine zuckersüße Opulenz. „Madama Butterfly“ gewinnt bei ihm emotionale Intensität aus einem – fast möchte man es so nennen – emotionsgedrosselten Zugang: Sehr nah am Notentext, mit allergrößter Sorgfalt gelesen.

Auch der üppige Orchesterzauber liegt ihm

Auf diese Weise setzte Stefan Soltesz am Aalto-Theater auch Vincenzo Bellinis „I Puritani“ mit einer suggestiven Qualität um, die das schnell vergebene Prädikat „einzigartig“ wirklich einmal verdient hat. Wer weiß, wie hilf- und lieblos Bellini-Opern abgewedelt werden, musste bei Soltesz ins Schwärmen geraten: So präzis, nuanciert, gleichzeitig auf die kantable Entwicklung geachtet und mitgeatmet sind die scheinbar einfachen, in Wahrheit unendlich sensiblen Notenbilder des sizilianischen Meisters selten in klingender Musik vollendet worden. Soltesz kennt nicht nur die Noten – er kennt auch die Tradition, wie sie zu lesen sind. So hat er die weiten, schwermütigen Seelenlandschaften Bellinis erschlossen,

Na gut: Auch Soltesz will sich dem Glanzvollen, dem Üppigen, der saftigen Entfaltung orchestralen Zaubers nicht entziehen. Sonst würde er Strauss nicht so lieben – obwohl er nicht als „Strauss-Dirigent“ gelten will. In der „Frau ohne Schatten“ ist er mit solchem Streben in seinem Element: Da klingen das Leuchtende und das Fahle, die schwelgerischen Aufschwünge und die harten Attacken, die sorgsam ausbalancierten Mischungen und die aggressiven Tutti. In der Wiederaufnahme im Aalto-Theater gibt es schon nach dem ersten Aufzug Bravi, nach dem zweiten Begeisterung, nach dem dritten eine herzliche, enthusiastische Ovation.

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss' "Die Frau ohne Schatten" am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Das Publikum in Essen liebt den Dirigenten, jubelt ihm zu, bereitet ihm in diesen Tagen bei seinen Abschiedsvorstellungen einen herzlichen, von Zuneigung und Hochachtung geprägten Empfang. Ein Flug der Herzen. Aber auch eine Ovation, die in der Stadt merkwürdig wenig Widerhall findet: Die Frage nach der Form von Soltesz‘ Abschied nach sechzehn Jahren Intendanz in Essen, die Kabale um den Titel des „Ehrendirigenten“: seltsame, hinter vorgehaltenen Händen geführte Debatten. Es scheint zur Unkultur unserer Zeit zu gehören, dass man Menschen wie Soltesz nicht mehr mit großzügiger, freier Anerkennung verabschieden kann.

Vielleicht hat er es seinen Partner auch nicht einfach gemacht: „Mal will er, mal will er nicht“, seufzte Hans Schippmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie, in der WAZ. Soltesz selbst hat seinen Abschied aus der machtvollen und in Deutschland seltenen Kombination des Intendanten und Generalmusikdirektors gern mit feinem Humor leichter dargestellt, als er ihm vielleicht fällt. Es ist nicht einfach, nach sechzehn Jahren äußerst erfolgreicher Arbeit in der letzten Saison den komplexen Betrieb zusammenzuhalten und bis zum letzten Tag zu motivieren.

Kämpferischer Theatermensch mit eindeutigen Positionen

Sicher: Soltesz war kein einfacher Chef, kein unkomplizierter Partner. Seine Wutausbrüche sind legendär. Dass seine Musiker auf der Stuhlkante spielen, wenn er dirigiert, ist ein offenes Geheimnis. Es gab heftige Worte, aber im Endeffekt war allen klar: Ohne Soltesz` unerbittliches und manchmal auch mit harten Bandagen durchgesetztes Regiment wäre die Qualität nicht möglich gewesen, die Essen über Häuser vergleichbarer Größe hinaushebt. Das hat dem Aalto-Theater beispielsweise 2008 das ehrenvolle Doppel des „Opernhauses des Jahres“ und des „Orchesters des Jahres“ eingebracht.

Und wer den Betrieb kennt – und der „Theatermensch“ Soltesz kennt ihn wie kaum ein zweiter – weiß, dass Koordination, Minimierung von Reibungsverlusten, aber auch der Kampf an den Fronten von Verstiegenheit oder Schlendrian aufreibend sind: Ein „netter Kerl“ erreicht da wenig. Dass er vor der Politik nicht kniff, muss man ihm hoch anrechnen. In der Debatte um die katastrophale Finanzlage der Städte und die notwendige Haushaltskonsolidierung bezog er eindeutig Position. Was er in einem offenen Brief vom 7. Januar 2010 in die Diskussion warf, ist ein ebenso schlüssiges wie notorisch nichtbeachtetes Argument:

„Die Kultur wird … zu einem Hauptverantwortlichen für die finanzielle Malaise der Kommunen gestempelt. Dass die Kultur dies nicht ist, wissen Sie genau. Selbst bei völliger Streichung der Kulturförderung wäre eine Haushaltskonsolidierung auch nicht ansatzweise erreicht. Die Staatsausgaben für Kultur in Deutschland betragen über alle öffentlichen Haushalte hinweg 0,8 Prozent der Etats. Ich appelliere daher dringend an Sie, das Thema Kultur weit hintanzustellen, wenn Sie über Haushaltssanierung diskutieren.

Als Stefan Soltesz mit der Spielzeit 1997/98 seinen Posten antrat, war noch nicht klar, mit welchem hingebungsvollen Einsatz er sich künftig seinem Stammhaus widmen würde. War er doch bereits ein Dirigent mit weitreichendem Aktionsfeld und hoher Reputation: von Hamburg bis Berlin, von München bis Amsterdam. Er brachte Leitungserfahrung mit, war in Braunschweig Generalmusikdirektor und in Antwerpen Chefdirigent. In Wien steht er seit seinem Debüt mit Rossinis „Barbiere di Siviglia“ 1983 regelmäßig am Pult, leitet in der kommenden Saison erneut den „Barbiere“ und Puccinis „Tosca“.

Entrée und Abschied mit Richard Strauss

Für Essen wählte er sich als Entrée ein Strauss-Werk, das nicht häufig gespielt und gerne gering geschätzt wird: „Arabella“. Das Publikum ging mit, erinnert sich der Dirigent, und so kam 1998 die „Frau ohne Schatten“ in der heute noch tragfähigen Regie von Fred Berndt heraus. Soltesz setzte auf Strauss: 1998, im 50. Todesjahr des Komponisten, folgte noch die Rarität „Daphne“ in einer Inszenierung Peter Konwitschnys, später „Elektra“, „Ariadne“, dann eine ehrgeizige „Ägyptische Helena“ und „Der Rosenkavalier“. Mehr Strauss gab es nicht einmal in München oder Dresden – und irgendwie ist es schade, dass ausgerechnet im Strauss-Jahr 2014 diese spezielle Essener Tradition abbricht: das sensible Alterswerk „Capriccio“ oder die Petitesse „Intermezzo“, von Soltesz dirigiert, wären das Schlagobers auf dieser feinen, reichen Tafel gewesen.

Der "Parsifal" Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Der „Parsifal“ Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Soltesz ist ein Pragmatiker: Die großen Stücke des gängigen Repertoires gehören für ihn zu jedem publikumsfreundlichen Spielplan: Mozart, Verdi, Puccini, Wagner. In Essen machte sich Soltesz 2008 an seinen allerersten „Ring“. Seine letzte eigene Premiere war Wagners „Parsifal“: musikalisch krönender, szenisch verunglückter Schlussstein der Reihe der zehn Opern des Bayreuther Kanon, die er im Lauf der Jahre in Essen dirigiert hat. Ausgrabungen waren seine Sache nicht – auch wenn er sich einen Meyerbeer durchaus auf der Aalto-Bühne hätte vorstellen können.

Gelegentlich ließ er sich auf Ausflüge ein: Verdis „Luisa Miller“, Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, Alexander Borodins „Fürst Igor“ oder Händels „Hercules“ kamen unter seiner Intendanz heraus – und vor kurzem zum Verdi-Jahr „I Masnadieri“ nach Schillers „Die Räuber“. Soltesz machte sich auch für Aribert Reimanns „Lear“ stark und erinnerte an Hans Werner Henzes kluge Reflexion über das Künstlerdasein: „Elegie für junge Liebende“. Dass er sich 2008 mit Christian Josts „Die arabische Nacht“ abplagte, zeigte, wie undankbar der Einsatz für Zeitgenössisches sein kann.

Alles was ist, endet, sagt Erda im „Rheingold“. Das ist für sterbliche Menschen auch gut so. Mit dem Weggang von Stefan Soltesz geht eine lange, stabile und künstlerisch fruchtbare Ära am Aalto-Theater zu Ende. Seine Nachfolger werden die Akzente anders setzen. Die Zeiten, in denen eine starke Persönlichkeit Orchester und Ensemble prägte, sind wohl auf absehbare Zeit vorbei. Gastdirigenten kommen, neue Regisseure, andere Schwerpunkte im Spielplan. Soltesz‘ Erbe ist eine Herausforderung: Das hohe Niveau will gehalten sein. Die Zuversicht ist groß, dass es gelingt.

Als Dirigent wird Soltesz dem Essener Publikum erhalten bleiben: Am 10. November leitet er die Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“; weitere Vorstellungen der „Zauberflöte“, des „Fliegenden Holländer“, von „La Traviata“, „Ariadne auf Naxos“ und „Madama Butterfly“ sind geplant. Seine „riesige Musizierlust“ kann er wieder außerhalb Essens ausleben – bei Gastspielen, die er zugunsten seines Stammhauses stets zurückgestellt hat. In der kommenden Saison steht er u.a. in Wien, Budapest („Der Rosenkavalier“ und „Elektra“), Warschau („Lohengrin“) und Hamburg („Arabella“) am Pult.

Die letzten Vorstellungen: Strauss, Die Frau ohne Schatten, am 21. Juli (ausverkauft); Puccini, Tosca, am 14. Juli (Restkarten); Mahler, Sinfonie Nr. 2, am 18. und 19. Juli in der Philharmonie (ausverkauft).




„Polizeiruf 110“ aus München: Stärker als die allermeisten „Tatort“-Folgen

Eine Transsexuelle stirbt in der Haftzelle. Ist sie etwa ein Opfer der eingeschworenen Truppe von der Polizeiinspektion 25 geworden? Dass man aus dieser Vorgabe einen ungemein spannenden, immens dicht gewobenen Krimi machen kann, das hat der „Polizeiruf 110“ mit dem fast poetischen Titel „Der Tod macht Engel aus uns allen“ bewiesen.

Nach diesem Film (Regie: Jan Bonny) fragt man sich abermals, ob der „Polizeiruf“ im Schnitt nicht sogar besser als die ARD-interne „Tatort“-Konkurrenz ist, bei der man sich zuletzt auf gar zu vielen Schauplätzen verausgabt hat.

München als hässliche Stadt

Gewiss: Die Tonspur war ärgerlich, man verstand zuweilen halbe Sätze nicht so recht. Vor allem aber mutete uns die neue Folge eine Menge zu – und das zum Ausklang des Wochenendes. Es begann schon damit, dass München durchweg als hässliche, ja desolate Metropole gezeigt wurde. Hiernach müsste man sich fragen, warum dort so überaus hohe Mieten fällig werden, die sich gerade normale Streifenpolizisten kaum noch leisten können.

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in "Polizeiruf 110". (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in „Polizeiruf 110“. (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Damit hatten wir allerdings schon ein erstes soziales Motiv für die ausgesprochen ruppige Gangart auf dem besagten Polizeirevier. Ein deprimierender, allseits von Gewalt bestimmter Berufsalltag kam hinzu, der mit beklemmenden Szenen glaubhaft dargestellt wurde. Man konnte sich also – bei allem Abscheu – in den rüden Corpsgeist hineinversetzen, der da herrschte und mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Überhaupt war die ganze Geschichte derart durchmotiviert, dass man alle Beteiligten „irgendwie“ verstehen konnte.

Transsexuelle ohne jede Peinlichkeit dargestellt

Auf der anderen Seite stand, nein wankte die Transsexuelle Amandine, die zutiefst um die Tote trauerte und zunächst auf Bestrafung der offensichtlich schuldigen Polizisten aus war. Wie der Schauspieler Lars Eidinger diese verzweifelt sehnsüchtige, glücksverlorene, trostbedürftige Figur ohne jede Anzüglichkeit oder Peinlichkeit spielte, das war phänomenal.

Zwischen den Fronten rieb sich Kommissar Meuffels (ebenfalls großartig: Matthias Brandt) auf, der den tödlichen Vorfall zu klären hatte und sich dabei geradezu tragisch verhedderte. Am Ende stand ein wahrhaft unkonventioneller Deal, der eigentlich jedes Gerechtigkeitsgefühl verletzte und doch etwas für sich hatte…

Reif für den Grimmepreis

Die Kamera war gleich in den ersten Szenen außerordentlich dicht am Geschehen. Gelegentlich konnte man glauben, Zeuge des wirklichen, gleichsam rohen und unbehauenen, völlig desillusionierten Polizeidaseins zwischen Drogen, Rotlicht und tödlichen Bedrohungen zu sein.

Es gab Szenen, die an knallharte US-Krimis der ersten Güteklasse erinnerten. Andere Sequenzen hätten so oder ähnlich von einem Nachfolger Rainer Werner Fassbinders stammen können. Kurzum: Wenn ein solcher Krimi mit echten Kino-Qualitäten nicht für den Grimmepreis nominiert wird, dann weiß ich auch nicht…

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Fußballkrimi vor brisantem Hintergrund: „Nach Abpfiff Mord“ von Heinrich Peuckmann

Peuckmann_nach_Abpfiff_MordNicht für jeden ist Fußball nur die zweitschönste Nebensache der Welt. Für manche, leider für immer mehr ist der Fußballplatz auch der Ort, an dem sie ihre Aggressionen ausleben können.

Fußball ist für sie ein Ventil. Rassismus, Beschimpfungen, Polemik bis hin zu Schlägereien, immer mehr Vereine aller Ligen können ein leidvolles Lied davon singen. Diese brisante Thematik bildet den Hintergrund für den Plot des neuesten Krimis von Heinrich Peuckmann: Nach Abpfiff Mord.

In seinem dritten Fall ermittelt Peuckmanns Kommissar Völkel in Leipzig. Dort kämpft ein Verein mit dem Problem andauernder Randale. Eine Zeitlang wurde das Problem totgeschwiegen, stillschweigend geduldet. Denn mehr Zuschauer bedeuten auch mehr Sponsorengelder, so einfach ist die Rechnung, die auch dieser Verein aufmacht. Ben Rossmann, ein junges Nachwuchstalent aus Dortmund, spielt dort – und rein karrieretechnisch sieht es gut für ihn aus. Von der Randele aber hat er schnell genug, energisch spricht er sich dagegen aus. Doch „es sind nur wenige wirklich mutig“ und er steht alleine auf verlorenem Posten mit dieser Haltung. Die meisten Fans zeigen ihm die rote Karte, er wird anonym bedroht und schließlich erschlagen in einem Park neben dem Stadion aufgefunden.

Von Dortmund nach Leipzig

Völkels Sohn Rolf war mit Ben Rossmann befreundet, als beide noch in der Jugend des BVB in Dortmund trainierten. Er bittet seinen Vater, nach Leipzig zu fahren, um dort auf eigene Faust zu ermitteln. Eigentlich hatte Völkel solchen Abenteuern abgeschworen, doch das Verhältnis zu Rolf ist nicht das Beste und er sieht eine Chance, dieses zu verbessern. Völkel macht sich auf nach Leipzig, auf eine abenteuerliche und nicht ungefährliche Suche nach dem Mörder.

Nach Abpfiff Mord ist ein Krimi, der sich bei aller Spannung seinem brisanten Thema behutsam nähert. Weder der Krimi noch das Thema Rassismus und Randale als mittlerweile allgegenwärtige Begleiterscheinungen des Fußballs sind dabei Mittel zum Zweck. Die Gesellschaftskritik ist gut dosiert, sie kommt nicht von oben herab. Bei aller Zeitkritik und der Sorge um Fairness im Sport ist Peuckmanns Liebe zum Fußball, zu seinen Schauplätzen Dortmund und Leipzig sowie nicht zuletzt zu seinen eigenen Protagonisten gut zu spüren.

Peuckmann nimmt kein Blatt vor den Mund, tut dies aber sachkundig und sorgfältig. Die Unterschiede zwischen Ultras, Hooligans und Neonazis arbeitet er sorgsam heraus. Kann ja auch nicht schaden, das wird ja gerne mal alles in einen Pott geworfen. Ein echter Zugewinn an Wissen für diejenigen unter den Lesern, die sich bisher nicht so eingehend mit der Thematik beschäftigt haben.

Der Kommissar als Optimist

Peuckmann schreibt flüssig, aber nicht glatt. Bei aller Brisanz und Bedrückung ist immer noch Platz für eine humorvolle Bemerkung am Rande und eine Rahmenhandlung um den Kommissar. Dieser kommt nach einem bewährten Muster daher: Kommissar im Ruhestand, schwierige Familienverhältnisse zu seinen Kindern, kann sich noch nicht so ganz mit seinem Ruhestand abfinden – aber das ist es auch an Gemeinsamkeiten mit den einsamen Wölfen aus bekannten, beliebten skandinavischen Krimis. Peuckmanns Völkel ist ein Optimist, er rafft sich immer wieder auf, hat Spaß am Genuss und einen offenen Blick für seine Umwelt.

Der Krimi als solcher ist handwerklich sorgfältig gemacht. Dankenswerterweise spart der Autor sich epische Charakterstudien, die handelnden Personen sind dennoch gut vorstellbar und bleiben dem Leser nicht fremd. So ist der Krimi auch für nicht so fußballaffine Leser gut lesbar und spannend. Im Erzählfluss bleibt Peuckmann nahe an seinem Kommissar, so dass sich der Leser immer auf gleichem Stand wie der Kommissar befindet und wohl auch eher geneigt ist, sich auch mit dem brisanten Hintergrundthema auseinanderzusetzen. In Summe ist Nach Abpfiff Mord eine solide, aufrichtige Erzählung, die mit Zeitkritik nicht hinter dem Berg hält, aber gut zeigt, dass die ehrlichen Fans sich die Liebe zum Fußball auch nicht so schnell nehmen lassen.

Heinrich Peuckmann war lange Jahre als Lehrer am städtischen Gymnaisum in Bergkamen tätig. Als Schriftsteller hat er Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Reportagen, Theaterstücke, Hörspiele, Kinderbücher und Krimis veröffentlicht. Unter anderem ist er auch Mitglied des Pen-Zentrums-Deutschland und in der Krimiautorenvereinigung „Das Syndikat“. Mehr über den Autor erfahren kann man auf seiner Internetseite heinrich-peuckmann.de

Heinrich Peuckmann: „Nach Abpfiff Mord“. Lychatz Verlag, Leipzig. 241 Seiten, €9,95




Gleißende Raserei in Mülheim: Daniil Trifonov kehrt zum Klavier-Festival zurück

 

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2012 hat die Rhein-Ruhr-Presse von Daniil Trifonov noch kaum Notiz genommen: Einer jener Newcomer eben, die einmal hochgespült werden, kaum Luft holen können auf den Schaumkronen jungen Ruhms, und schon wieder in den Wogen des Betriebs untergehen, die im selben Moment das nächste Wundertalent aus dem Wellental heben.

Bei Trifonovs Rückkehr in die Stadthalle Mülheim 2013 sieht das Echo anders aus. Jetzt hat der 22jährige einen Namen, eine Fama. Trifonov, so scheint es, hat es geschafft, spielt im Kreis der Pianisten mit, die „man“ einfach kennen muss, will man sich für die Kunst auf Elfenbein und Ebenholz ernstlich interessieren.

Was der russische Nachwuchskünstler im letzten Jahr in Düsseldorf gezeigt hat, führt er in Mülheim extrem geschärft weiter: Wucht und Kraft des Zugriffs, eine gewaltige Pranke im Bass, gleißende Raserei über alle Oktaven hinweg, schwer atmende Grenzerkundung der physischen Leistungsfähigkeit. Er hat sich die passenden Stücke dazu ausgesucht: Franz Liszt zuallererst, mit vier ins Dämonisch-Gewaltige übersteigerten Transkriptionen von Schubert-Liedern und der h-Moll-Sonate, und nach der Pause Sergej Rachmaninows Variationen nach Chopins Opus 22, ergänzt durch „Rachmaniana“, eine selbst komponierte Suite als Hommage an den großen Komponisten und Pianisten.

Ein veritables Virtuosenprogramm also, eines, das alle Kräfte fordert, intellektuell wie physisch. Bei einem vor Energie berstenden jungen Mann wie Trifonov muss das zu standing ovations führen. Sie brachen erwartungsgemäß los. Aber der Jubel über so viel Kraft, pianistische Bravour und musikalische Chuzpe ließ nicht vergessen, dass der Abend nach einer Seite krängt: Es bestätigt zu eilfertig das Klischee des Tastenlöwen und fegt die Aspekte der Kunst Trifonovs zur Seite, die 2012 in Düsseldorf zeigten, dass hier mehr als ein extrem zupackender Hochleistungssportler á la russe am Flügel sitzt.

Dabei war vor der Pause alles im Lot: In Schubert/Liszts „Frühlingsglaube“ sinnt Trifonov dem lyrisch-kantablen Aufschwingen nach, gibt der Melodie die weiche Farbe der Entrückung mit. Die „Forelle“ gestaltet er mit rhythmisch sinnigen Pointen nicht nur als fließend-sangliches Legato, sondern als ein sich bedrohlich verdichtendes, tödliches Drama. Und den „Erlkönig“ treibt er schnaufend in Extremkontraste: wildes Entsetzen in den Gewittern der Oktavtriolen, fahles, trügerisches Dämmerlicht in der matten Beruhigung. Die letzten Akkorde sind großes Liszt-Kino: So schlagen die Tore des Lebens zu, wenn ein Leinwanddrama in Vielfach-Surround-Sound zu Ende geht.

Derart vorbereitet, knüpft die h-Moll-Sonate bedeutungsschwer an den stickig-dunklen Klängen an. Trifonov macht schnell klar, dass er dieses Paradestück auch als solches darstellen will. Fülle und Überwältigung, krasse Extreme, eruptive Ausbrüche – aber kein Lärm: Trifonovs Exaltationen sind reflektiert, keine instinktiven Brutalitäten einer entfesselten Kraftprotzerei. Er versteht es, auch im Fortissimo noch so abzutönen, dass die harmonische Kühnheit nicht im schäumenden Gebräu der Klänge unhörbar wird. Er versteht es, zurückzunehmen, die dynamische Wucht des drängenden Verlaufs abzufedern. Und er lässt nicht vergessen, wie suggestiv Liszts lyrische Selbstversenkung am Klavier wirken kann.

Wäre mit dieser brillant reflektierten Deutung der h-Moll-Sonate der Abend zu Ende gewesen, er wäre mit Recht groß zu nennen gewesen. Doch Trifonov wollte noch eins draufsetzen und drosch die Rachmaninow-Variationen in den hörbar erschöpften Flügel der Mülheimer Stadthalle. Noch einmal ein Gewitter, noch einmal Anspannung bis zum Äußersten – doch selbst der stärkste Reiz stumpft ab. Und so bestätigten die silbrig hochfahrenden Arabesken, die dröhnenden Glockenschläge des Basses und das Fingerfeuerwerk nur noch, was man in der Liszt-Sonate bereits musikalisch eindrücklicher erfahren hatte.

Daniil Trifonov kehrt in die Region zurück mit einem Klavierabend in der Philharmonie Köln am Mittwoch, 2. Oktober 2013. Auf dem Programm stehen Werke von Strawinsky, Ravel, Schönberg und Schumann. Info: http://www.koelner-philharmonie.de

 




Gestochene Klarheit: Nikolai Tokarev beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim

Um mal gleich die Kleiderfrage zu beantworten: Beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim trat Nikolai Tokarev im schwarzen Hemd über nur wenig hellerer Hose an den Flügel. Keine Nadelstreifen, keine Chucks, und beim gut gelaunten Signieren nach dem Konzert ein eng anliegendes, helles Shirt.

Soweit die Nebensächlichkeiten, nun kann folgen, worum es jenseits der Styling-Masche eigentlich gehen soll: Der Pianist, mittlerweile dreißig Jahre alt, setzte nicht (nur) auf Glamour und die sichere Wirkung seines bravourösen Spiels. Sondern nahm sich mit Beethovens Opus 111 eine der heikelsten Sonaten der Klavierliteratur vor. Problematisch nicht so sehr durch technische Schwierigkeiten, sondern durch eine lange Interpretations- und eine philosophisch überhöhte Rezeptionsgeschichte: Was wurde nicht alles in Beethovens letzten Beitrag zur Gattung der Klaviersonate hineingedeutet!

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Tokarev spielt – und das zeigt der prüfende Blick in die Noten – so nah wie möglich an Beethovens Text. In der „Maestoso“-Einleitung fordern die ersten Takte sogleich einen Wechsel zwischen forte und piano, dazwischen einen heftig betonten Triller („sforzando“) und eine rhythmisch pointierte Pianissimo-Kette. Tokarev überspielt nicht mit dem „großen“ Ton diese differenzierten Details, sondern versucht sie einzuholen, pflegt dafür einen unvernebelten Anschlag, der klar macht, warum er an den Konzertanfang Bachs e-Moll-Toccata BWV 914 gesetzt hat: Die strukturelle Transparenz im Werk des einzigartigen Kontrapunktikers ist auch der Maßstab für den Zugang zu Beethoven.

Man mag sagen, diese Lesart rücke das „brio“ und das „appassionato“ des Allegros in den Hintergrund. Doch die gestochene Klarheit, ein volltönender, farbrauchfreier Ton, die bestechend dynamische Differenzierung und die sinnstiftende Beachtung des „ritenente“, einem leichten Nachgeben des Tempos in Übergängen lässt – im Gegenteil – die dramatische Beredsamkeit dieses Satzes noch schlüssiger, noch unmittelbarer hervortreten.

Die Arietta beginnt Tokarev mit dem erhabenen Leuchten einer tragischen Gluck-Arie; man ist geneigt, die Winkelmann’sche Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu zitieren, von der Beethovens Ästhetik wohl nicht unberührt geblieben ist. Tokarev betont weniger das Legato als das rhythmische Glasperlenspiel, das er – mit Igor Strawinsky im Kopf und Friedrich Gulda vor dem inneren Ohr? – bis zum Ragtime-Rhythmus der dritten Variation radikalisiert: Befremdlich, aber genau gelesen.

Am Ende, in fast unerträglich langen, brillant artikulierten Trillern, stellt er Beethovens insistierende Energie noch einmal ungeschützt aus, bis er das Stück pianissimo mit mattem Sforzando-Aufbäumen verklingen lässt. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit, die Tokarev vor fünf Jahren im Eröffnungskonzert des Klavier-Festivals mit Schubert und Liszt demonstriert hat, die auch seine CD-Aufnahmen mit wechselndem Erfolg belegen, die führt er nun mit Beethoven auf einem faszinierenden individuellem Weg fort.

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Manuelles hält ihn dabei nicht auf, auch wenn zwei, drei Mini-Blackouts die menschlichen Grenzen von Tokarevs viel gepriesenem, überlegenem Klavierspiel markieren. Wenn der Virtuose in ihm erwacht, gibt es für die glühende Rasanz seiner Hände, für den voluminösen Klang seines Anschlags kein Halten mehr. Das geeignete Material stammt, zum Leitmotiv des Klavier-Festivals passend, von Jahres-Genius Richard Wagner.

Die „Wagneriana“ von Tokarevs Freund Alexander Rosenblatt sind, glaubt man den Schott-Internetseiten, sogar eine Uraufführung gewesen. Das gut viertelstündige, vor Klangopulenz schier berstende Stück verarbeitet Themen von Tannhäuser über Tristan bis zum Fliegenden Holländer. Der russische Komponist des Jahrgangs 1956 ruft manuelle Reminiszenzen an die alte Virtuosenliteratur auf, bezieht sich augenzwinkernd auf Liszts raffinierte Schaustücke. Von der schwärmerischen Arabeske bis zur unendlich zelebrierten Chromatik sind Bezüge zur Salonmusik unüberhörbar. Das gibt dem Stück den ironischen Touch, der es vor der Banalität rettet. Wer vor Venusrausch und Geisterquinten im Salon keine Scheu hat, wird mit Vergnügen folgen, wer darüber nicht froh werden kann, entwickelt rasch Überdruss.

Tokarev widmet sich dem Werk mit der Passion, mit der er 2006 schon Goldenblatts Paganini-Variationen beim Klavier-Festival gespielt hat – nachzuhören auf der CD des Jahrgangs. Die symphonischen Episoden aus Wagners „Ring“ von Sergej Pavtschinski (1909 bis 1976) hatte Tokarev bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2005 in Düsseldorf schon einmal vorgestellt. Sie beweisen ein weiteres Mal, wie aussichtslos es ist, den Zauber von Wagners Orchesterklang auf den Flügel reduzieren zu müssen. Es webt und klingt nichts; das dürre Gerüst von Wagners Motiven, Melodien und Materialbruchstücken verbreitet keinen Bann.




Frauenfußball – ganz gemächlich: Wie die EM im Fernsehen präsentiert wird

In der elend langen Bundesliga-Sommerpause darf jetzt mal wieder der Frauenfußball die Lücken füllen, immerhin mit einer Europameisterschaft in Schweden. Doch es ist im Fernsehen immer noch kein Vergleich zu den Partien der Männer-Nationalelf. Da hätten sich die Medien seit Wochen hochgeschaukelt. Sind die Damen am Ball, geht es im TV ungleich gemächlicher zu.

Für die Bier-Werbeblöcke beim Frauen-Match Deutschland – Niederlande sorgten, wenn ich richtig mitgezählt habe, gleich viermal Jogi Löw und seine Jungs. Offenbar hat noch niemand die Damen aus dem Team von Bundestrainerin Silvia Neid für Reklame auf der Rechnung; noch nicht einmal im Umfeld der Frauen-EM.

Auf Distanz zum Geschehen

Ich gebe zu: Für Frauenfußball begeistere ich mich bislang noch nicht übermäßig. Als nicht mehr ganz junger Mensch ist man da seit Sepp Herbergers und Helmut Schöns Tagen biographisch geprägt. Mir war – ehrlich gesagt – auch noch nicht bewusst, in welchen Maße Spielerinnen-Transfers mittlerweile über die europäischen Grenzen vonstatten gehen. Aber derlei (zuweilen sympathisierende) Distanz oder meinetwegen auch Ignoranz habe ich wohl mit den meisten Leuten aus den Fernseh-Sportredaktionen gemeinsam. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass der Einsatz für Damenfußball einen dort in der Hierarchie wesentlich voran bringt – eher im Gegenteil. Und so scheint denn der Frauenfußball immer noch ein wenig das unbekannte Wesen zu sein. Pikant übrigens, wenn man bedenkt, dass ARD und ZDF soeben eine wichtige Bastion beim Männerkicken an den Privatkanal RTL verloren haben, nämlich die Qualifikationsspiele zur EM 2016 und zur WM 2018. Bleibt den öffentlich-rechtlichen Sendern eines Tages etwa nur das Frauenteam?

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

In den Fall müssten sie deutlich nachlegen. Der männliche Kommentator Norbert Galeske bemühte sich in Växjö (Schweden) hie und da halbwegs um Emotionen, doch wenn’s zum Schwur kam, wirkte er seltsam unengagiert. Ein verweigerter Elfmeter regte ihn letztlich ebenso wenig auf wie etwa gelbe Karten, erstaunliche Hackentricks oder ein Handspiel. Man vergleiche das mit der Aufregung, die jede halbwegs markante Szene in einem mittelprächtigen Herren-Länderspiel hervorruft.

Die Männer als Maß der Dinge

Unscheinbare Reporter-Bemerkungen à la „fast wie bei den Männern“ oder „Ihre Spielweise erinnert an Philipp Lahm“ zeigen, dass die kickenden Herren nach wie vor das Maß aller Dinge sind. Auch würde man sich bei einem Länderspiel der Männer nie und nimmer mit einer bloßen Viertelstunde Vorlaufzeit bis zum Anstoß begnügen. Dann könnte man ja nicht alles und jeden durchhecheln oder hochtrabende „Analysen“ von sich geben. Allein der Umstand, dass sechs deutsche Stammkräfte fehlen, hätte bei den Herren wahrscheinlich eine Stunde Sendezeit gefüllt. In manchen Punkten haben die Spielerinnen leider tatsächlich bei den männlichen Kollegen gelernt: Einige von ihnen spucken nun ebenfalls auf den grünen Rasen, tragen Tätowierungen (oder Zungen-Piercings, wie genüsslich gezeigt wurde) und reden bei Interviews ähnlich gestanzt daher.

Immerhin durfte im ZDF eine Frau als Expertin mitmachen, nämlich die Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg, die freilich in ihren Aussagen ziemlich trocken blieb. Recht ordentlich zog sich hingegen der Moderator Sven Voss aus der Affäre, der ohne jederlei Herablassung die sachlich richtigen Fragen stellte.

Übrigens: Die Begegnung war ziemlich spannend und endete 0:0, was für die Deutschen, die fünfmal hintereinander (!) die EM gewonnen haben, allemal eine Enttäuschung bedeuten musste. Hätten die Männer in den letzten 20 Jahren derart viele Titel gesammelt, so hätten die Medien sie längst zu „Helden“ hochgejubelt.

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Kulturdenkmal besonderen Ranges: 100 Jahre Pferderennbahn in Dortmund-Wambel

Durch schieren Zufall bin ich darauf gestoßen, dass die Galopprennbahn in Dortmund-Wambel vor ziemlich genau 100 Jahren eröffnet worden ist. Am 3. Juli 1913 wurde dort das erste Rennen ausgetragen.

Wenn ich es recht sehe, so ist dieses doch recht gewichtige Jubiläum von den Print-Medien und vom Hörfunk fast durchweg ignoriert oder vollends vergessen worden. Offenbar ist der Dortmunder Rennverein, der die Bahn betreibt, auf Berichterstattung auch nicht allzu versessen gewesen, sonst hätte man doch wohl schon im Vorfeld die werbliche Trommel geschlagen. So aber sieht es fast nach Desinteresse oder gar Resignation aus.

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Wirtschaftliche Probleme

Um Pferderennen ist es in Deutschland generell nicht gut bestellt. Seit etlichen Jahren gehen Zuschauerzahlen und Wettumsätze zurück. Auch die Dortmunder Rennbahn ist zwischenzeitlich wirtschaftlich ins Schlingern geraten. Es war sogar einmal vom Verkauf des weitläufigen Geländes an Investoren die Rede. Man kann nur hoffen, dass sich gegen derlei monströse Vorhaben (falls sie denn jemand wieder aufgreifen sollte) starker Bürgerprotest regen würde.

Neuerdings streiten sich die Parteien in der Bezirksvertretung um die Nutzung nach einem bereits erfolgten Teilgrundstücksverkauf an der Rennbahn. Hier sollen nach den jetzigen Plänen Seniorenwohnungen entstehen – offenbar ohnehin eine der hauptsächlichen Bauaufgaben im gesamten Stadtgebiet.

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Die Bauten auf dem Areal und rings um die Rennbahn ergeben ein großartiges Ensemble aus den 1910er und 1920er Jahren, wie es in der Stadt sonst nicht vorzufinden ist. Manches steht unter Denkmalschutz. Und in der Tat haben wir es hier mit einem Kulturdenkmal zu tun. Bis 2012 gab es hier auch einen schönen schattigen Biergarten, für den sich leider noch kein neuer Pächter gefunden hat. Zusatzeinnahmen bringt immerhin der Golfplatz im Innenfeld der Rennbahn.

Ein paar Stichworte zur Vorgeschichte: Bereits 1886 war der Dortmunder Rennverein gegründet worden, den allerersten Renntag gab’s am 18. September 1887, damals noch im Freizeit- und Vergnügungspark Fredenbaum, 1893 zog man zur Buschmühle (heute Bestandteil des Westfalenparks) um und 1913 just zum heutigen Standort in Dortmund-Wambel, wo traditionell u.a. das Deutsche St. Leger ausgetragen wird. 1981 enstand zusätzlich eine Sandstrecke mit Flutlicht, wodurch Wambel zur ersten Allwetterbahn Europas wurde.

Gut gemischtes Publikum

Ruft man im Internet ein Luftbild von Dortmund auf, so ist das Riesenrund der Pferderennbahn – außer dem Gebiet des Phoenixsees – eine der ersten Stätten, deren Gestalt sich schon aus großer Höhe abzeichnet; übrigens lange vor dem vergleichsweise kleinen Westfalenstadion, das im Sponsorendeutsch bekanntlich Signal Iduna Park heißt.

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Nach der Schule habe ich ein paar Monate lang in einem Pferdewettbüro der Dortmunder Innenstadt gearbeitet. Es war damals eine Gelegenheit, Teile der hiesigen Halbwelt zumindest von Angesicht kennen zu lernen. Einige Herren trugen die Hunderter bündelweise in den Jackentaschen bei sich und führten schon mal ziemlich grobschlächtige Reden, um es vornehm auszudrücken.

Andererseits weiß man, dass sich zu den Renntagen auch durchschnittliche, gediegene und sogar halbwegs erlauchte Kreise der Gesellschaft einfinden. In der reichhaltigen Mischung sind „Turffreunde“ allemal ein interessantes Publikum. Überhaupt kann man die ganze Atmosphäre eines Renntags (der nächste steht am 9. September an) durchaus inspirierend nennen – vom Wettfieber einmal ganz abgesehen.




Die Vorteile des „Einspringens“: Rafal Blechacz statt Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr

Der Pianist Rafal Blechacz hat den erkrankten Evgeny Kissin würdig vertreten. Foto: Wieler/KFR

Der Pianist Rafal Blechacz hat den erkrankten Evgeny Kissin beim Klavier-Festival  würdig vertreten. Foto: Wieler/KFR

Das Wort Einspringer mag nach zweiter Wahl klingen, das Phänomen aber ist seit jeher Bestandteil des Opern- und Konzertbetriebs. Heisere Tenöre, abrupt vergrippte Sopranistinnen oder am Arm verletzte Pianisten: Alles schon dagewesen, und ein Hoch auf den Veranstalter, der binnen kurzer Zeit eben einen Einspringer präsentieren kann.

Wie jetzt das Klavier-Festival Ruhr in Essen. Endlich war es erneut gelungen, den jungenhaften Feuerkopf unter den Tastenzauberern, den Russen Evgeny Kissin für einen Auftritt zu gewinnen, da muss er wegen eines lädierten Fingers zwei Tage vor dem Konzert absagen. Glück im Unglück: Der Pole Rafal Blechacz, 2005 herausragender Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs, erweist sich als Retter in der Not. Und sein Spiel wird mit üppigem Applaus honoriert.

Solcherart Ritterlichkeit dem Publikum gegenüber kann bisweilen den großen Karriereschritt bedeuten. So war der französische Pianist Jonathan Gilad gerade 15 Jahre alt, als er 1996 in Chicago für den erkrankten Maurizio Pollini einsprang und damit den internationalen Durchbruch schaffte. Beim Klavier-Festival 2007 wiederum vertrat die Deutsch-Japanerin Alice Sara Ott, 19 Jahre jung, die Russin Elena Bashkirova. Mit derartigem Erfolg, dass alsbald ein exklusiver Plattenvertrag winkte. Zwei Jahre später gab die damals kaum bekannte Georgierin Khatia Buniatishvili ihr Deutschlanddebüt beim Festival. Der Auftritt, an Stelle der erkrankten Hélène Grimaud, war gewiss einer ihrer Karrierestartpunkte.

Khatia Buniatishvili sprang beim Festival für Hélène Grimaud ein. Foto: Wohlrab/KFR

Khatia Buniatishvili sprang beim Festival 2009 für Hélène Grimaud ein. Foto: Wohlrab/KFR

Bei Blechacz liegen die Dinge etwas anders. Der Chopin-Preis hat ihm zu frühem Ruhm verholfen, er ist längst kein Unbekannter mehr, und beim Klavier-Festival nun zum vierten Mal dabei. Wer den 28Jährigen öfter gehört hat, wird erkennen, dass sein Spiel zunehmend an Reife gewinnt. Dafür steht etwa Beethovens 7. Sonate. Blechacz deutet sie in Essens Philharmonie mit furiosem Gestus, zum anderen als subtiler Klanggestalter.

Gänzlich frei aber bewegt sich der Pole nicht. Davon zeugt eine gewisse Nervosität, die ihn zur Hast verleitet. Durch markantes rhythmisches Spiel versucht der Pianist sich selbst zu zügeln. Beethovens Sonate gewinnt so markig Kontur. Bachs dritte Partita indes leidet eher unter der Schnelligkeit des Spiels.

Tief verwurzelt scheint Blechacz hingegen in der Klangwelt Chopins. Der Pianist meidet alles Salonhafte, versagt sich jegliche Spielerei mit verzögernden Tempi. Vielmehr hören wir das große Drama. Des Komponisten musikalische Spiegelung polnischen Leidens. Ein Nocturne wirkt unter Blechacz Händen wie ein böser Traum. Die „Polonaise militaire“ scheint zackige Kampfansage, die drei Mazurken op. 63 schwanken zwischen dunklem Raunen und heroischem Gestus. Und aus der funkelnden Virtuosität des dritten Scherzos schimmert gehörige Wehmut.

 

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„Terra X“ zur Ernährung der Deutschen: Zahlensalat bis weit über die Sättigungsgrenze

Was für eine flackernde Welt: Da springen einen überall Zahlenkolonnen an, da gleicht fast jede menschliche Geste der Wischbewegung auf dem i-Pad-Bildschirm oder dem Fingerspreizen auf dem Handy neuerer Bauart. „Terra X“ (ZDF) bombardiert die Zuschauer bis zum Abwinken mit statistischem Material. Und das Fernsehen tut mal wieder so, als wäre es ein Computer.

Da die dreiteilige Terra X-Reihe „Deutschland – Wie wir leben“ jetzt mit unserer Ernährung endete, darf man durchaus auch von akuter Übersättigung sprechen. Mehr Zahlensalat kann man wirklich nicht in 45 Minuten Sendezeit packen, als es hier geschehen ist. Und zahlenhöriger kann man Statistiken nicht herbeten.

Auswahl zwischen 1500 Wurstsorten

Zunächst begleitete man die deutsche Durchschnittsfamilie (ein gewisser „Thomas Müller“ mit Frau Sabine und Sohn Jan) durch den recht traditionellen Einkaufs- und Ernährungsalltag, in dem die beruflich nur halbtags tätige Frau noch das Sagen hatte, während der Mann fürs Haupteinkommen sorgte und sich nebenher um Technik und Auto kümmerte. Das hatten wir doch schon mal?

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven... (© ZDF/Holm Holmsohn)

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven… (© ZDF/Holm Holmsohn)

Ansonsten wurde quasi jedes Gramm Fleisch, Kartoffeln oder Tomate atemlos aufgerechnet. Wir haben 1500 Wurstsorten, 9 Prozent von uns sind Vegetarier, ein bäuerlicher Betrieb ernährt 140 Menschen. Und und und. Die Ziffern prasselten im Halbsekundentakt, doch rein gar nichts wurde vertieft.

Bilanz mit der Brechstange

Statt gelegentlich mal bei einem Themenstrang zu bleiben, wurden unentwegt neue Fässer aufgemacht. Schließlich ging’s längst nicht mehr nur um Ernährung, sondern auch um Energie- und Wasserverbrauch, Ökologie und Glücksempfinden der Deutschen. Mit der Brechstange wurde Bilanz gezogen, dass es nur so knirschte. Die nahezu euphorisch berauschten Schlussminuten glichen dann beinahe einem Weichzeichner-Werbefilmchen der großen Parteien zur Wahl. Wir Deutschen sind demnach schon ziemlich große Klasse, wenn nicht gar Weltklasse.

Gern hätte man zuvor bei der einen oder anderen Information innegehalten. Denn es gab ja stellenweise durchaus Interessantes zu berichten. Auch sah man – neben den hilflosen Resultaten unsinnigen Bebilderungs-Wahns – etliche atemberaubende Aufnahmen (vor allem die Luftbilder, die freilich vielfach aus Freddie Röckenhaus‘ ZDF-Film „Deutschland von oben“ stammten) oder sinnfällige Verdichtungen.

Bloß nicht unter die Oberfläche dringen!

Eindrucksvoll war’s beispielsweise, alle Tiere auf einer Weide versammelt zu sehen, die der Durschnittsdeutsche im Laufe seines Lebens verzehrt: 945 Hühner, 46 Schweine, 4 Kühe, 12 Gänse… Auch der Einfall, dass fast die gesamte Einrichtung in Thomas Müllers Wohnung zu Öl zerfloss (weil es bei der Herstellung aller Plastik-Produkte literweise verwendet wurde), konnte sich buchstäblich sehen lassen.

Doch kaum drohte es mal wirklich interessant zu werden, da hechelte man schon wieder weiter. Die Devise schien zu lauten: Bloß nicht unter die Oberfläche dringen, bloß keine heißeren Eisen anpacken! Auf diese Weise ließ man so manchen Themenansatz sträflich links liegen.

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Vorfälle (4): Die Zechpreller vom Nebentisch

Saßen wir doch dieser Tage abends auf zwei Gläser Wein vor einem Dortmunder Lokal. Am Nebentisch eine Frau mittleren Alters, die las und las und las. Und gar nicht aufblickte. Und immer mal ein wenig an ihrem Getränk nippte. Irgendwann ist sie dann aufgestanden und gegangen.

Warum ich das so breit erzähle? Gemach!

Kurz darauf erschien der Wirt: „Ist die Dame etwa gegangen?“ Tja. Sie hatte zwar „generös“ zwei Euro hingelegt, aber ihr Getränk kostete ein bisschen mehr. Wie soll man das nennen: negatives Trinkgeld?

Egal.

Egal?

Am selben Tisch, den besagte Dame verlassen hatte, nahmen nun zwei geschniegelte Typen Platz und legten ihre Smartphones vor sich hin. Wie man das so macht, wenn man zeigen will, welche man hat. Die selbstgefälligen Herren tranken ein Pils und hatten es offenbar eilig.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Sie ließen sogar, als hätten sie das eichstrichgenau abgesprochen, jeweils ein Drittel im Glas zurück. Mit anderen Worten: Sie waren ebenfalls einfach gegangen, ohne einen Cent zu bezahlen. Doch auf so etwas achtet man nicht im Moment des Geschehens. Man merkt es erst, wenn die Kellnerin nachfragt, ob die Leute vom benachbarten Tisch etwa schon…

Bin ich denn der Hüter des verhexten Nebentischs? Nein.

Aber ein paar Fragen drängen sich wohl auf: Zeigen solche kleinen Szenen einen Zustand in der Gesellschaft an – oder muss man so etwas niedriger hängen und sich nur ein bisschen wundern?

Man könnte ausgiebig über das schäbige Verhalten dieser Zechpreller spekulieren. Es waren jedenfalls ersichtlich keine bedürftigen Leute. Und auch keine herkömmlichen Kleinkriminellen.

Schwappt hier etwa die im Internet täglich antrainierte Gratis-Mentalität auf andere Bereiche über? Reichen denen die üblichen Schnäppchen und Flatrates nicht mehr aus? Muss es jetzt auch noch „umsonst und draußen“ sein? Empfinden sie so etwas wie kleptomanische Angstlust, wenn sie sich aus dem Staub machen?

Noch eine Mutmaßung: Seit 1. Mai darf in NRW bekanntlich nur noch draußen vor der Tür geraucht werden; dort also, wo man sich – sitzend, stehend, sich bereits halbwegs entfernend – schon mal viel leichter den Blicken des Personals entziehen kann. Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass Raucher… Nein, nein! Wo denkt ihr hin? In ihrem Windschatten drucksen ja auch Nichtraucher herum – und schwupp…

Eins aber steht fest. Wenn der Wirt ein gutes Personengedächtnis hat, so können sich diese Zechpreller bei ihm nie wieder blicken lassen. Ihre Kneipenauswahl schrumpft und schrumpft. Ein schwacher Trost für die Gastronomie.




Der Kinder- und Drehbuchautor Justus Pfaue wurde 70 – ein arg verspäteter Glückwunsch

Ich bin ja hier so einer, der sich gern mal bei Todestagen wirklich wichtiger Menschen in dieser Republik zu Wort meldet, der aber noch viel lieber aufzeigt, wenn solche Menschen Jahrestage haben, Geburtstage zum Beispiel. Da ist mir im vergangenen Jahr doch einer durchgegangen. 2012 wurde Justus Pfaue 70 Jahre alt.

Wie? Etwa vergessen? Das ist der kluge Mensch, aus dessen Feder so vieles stammt: „Timm Thaler“, „Patrik Pacard – Entscheidung im Fjord“, „Oliver Maass – Das Spiel mit der Zaubergeige“, „Bas-Boris Bode – Der Junge, den es zweimal gibt“, „Teufels Großmutter oder der Himmel auf Erden“, „Anna“ und noch vieles andere. Justus Pfaue hat viele Kinderbücher, sehr viele Drehbücher und aus diesem Fachbereich seiner rastlosen Arbeit das eine oder andere auch für sehr, sehr bekannte Filme geschrieben, er ist einer der bedeutendsten seiner Zunft in Europa, lebt wahlweise in München und Positano (Campagna, Italien), ein Ort, von dem John Steinbeck mal schrieb, dass er der einzig senkrechte auf der Welt sei. Und – Justus Pfaue kommt aus Unna.

Vor Jahrzehnten hatte ich mal das Glück und das Vergnügen, mit dem Mann, in dessen Geschichten bis heute gern die besten deutschen Schauspieler auftreten, zu telefonieren, obwohl der eine grundständige Abneigung gegen alles hegt, was mit Journalismus zu tun hat. Beinahe eine halbe Stunde dauerte das Gespräch, was gemessen daran, dass er ansonsten eher zweisilbig bis einsilbig daher kommt, geradezu inflationär anmutet. Ich gestehe, ich habe jede Sekunde genossen, weil ich um seine verschlossen-freundliche Art wusste.

Daher bewahre ich an dieser Stelle auch mein Herrschaftswissen über Justus Pfaues Geburtsnamen, den anscheinend nicht einmal das allwissende Wikipedia kennt. Nur ein paar Handverlesene in Unna wissen von ihm … und das ist auch gut so.

Er ist Jurist, forensischer Psychologe und gestochen scharf Beobachtender des menschlichen Alltags, woraus er sich bereits in Studienzeiten Material für seine späteren Produkte holte und für die „ZEIT“ und den Hörfunk Berichte oder glossierende Geschichten schrieb.

Brigitte Horney, Peter Pasetti, Gerd Baltus, Loni von Friedl, Eberhard Feik, Elfriede Kuzmany, in neuerer Zeit Jürgen Vogel – alles Namen, die in den Rängen der Großen deutscher Schauspielerei zu siedeln sind. Sie alle rissen sich darum, in einer Serie oder einem Fernsehfilm mitzuspielen, dessen Grundidee von Justus Pfaue entwickelt worden war.

Bevor er so begehrt und offensichtlich auch von Fachleuten zu Recht bewundert wurde, zog es ihn durch viele Bereiche Unnas und immer mal wieder mit seinen Freunden ins Café Jokisch (ungefähr da, wo heute ein überflüssiger Balkon die Unnaer Marktatmosphäre stört). Da half die „Kleine Jokisch“ gern mal dem Vater und bediente die Kundschaft. Der junge Justus und seine Freunde hatten es besonders gern, wenn gerade sie ihnen den Kaffee servierte, weil die „Kleine Jokisch“ ein sehr apartes Wesen war (und sie ist das auch heute noch).

Dann aber zog es ihn in Richtung des deutschen Südens und er wählte München zu seiner Hauptresidenz. Zu den Unnaer Freunden hat er nur vereinzelte Kontakt, und da er auf seine Privatsphäre damals wie heute empfindlich achtete, behalte ich auch in dieser Hinsicht mein Wissen für mich.

Nun kann ich ja auch nur noch nachträglich zum 80. gratulieren, worauf der Landsmann vom Hellweg, der richtig gebürtig eigentlich aus Ballenstedt (Sachsen-Anhalt) stammt, wohl aber keine nennenswerten Reaktionen zeigen wird. Ich tu’s trotzdem.




Festspiel-Passagen II: Bachfest Leipzig lässt das Leben Jesu in Musik erfahren

Festivals schmücken sich gerne mit einem Motto. Es soll inhaltliche Reflexion signalisieren, aber die Programme lösen den Anspruch oft nicht ein. Solchen Etikettenschwindel hatte das Bachfest Leipzig nicht im Sinn: „Vita Christi“ zog sich als inhaltliches Leitmotiv durch die 115 Veranstaltungen, prägte explizit die großen Oratorienkonzerte, gab einem Zyklus von sechzehn Kantaten inhaltlich ein Gerüst. Die Fülle der Konzerte litt nicht an einem übergestülpten dramaturgischen Konzept, driftete aber auch nicht in reine Beliebigkeit ab.

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Schon die Eröffnung mit dem Thomanerchor unter Thomaskantor Georg Christoph Biller setzte mit dem ersten Teil von Händels „Messias“ in der Bearbeitung Wolfgang Amadeus Mozarts ein Zeichen: Es geht um biblische Lebensstationen Jesu – und mehr noch um die theologisch-musikalische Reflexion, wie sie Händel in seinem Oratorium beispielhaft durchführt. Strikt dem protestantischen „sola scriptura“-Prinzip verpflichtet, zeigt uns der „Messias“ in der Auswahl der vertonten Bibelstellen, wie die Evangelien den Erlöser in einer Mischung von Selbstzeugnissen, Zeugenberichten aus den Gemeinden und Bezügen zu älteren Schriftstellen interpretierend erfahren und erkennen.

Friedrich Schleiermacher verstand den „Messias“ als „compendiöse Verkündung des gesamten Christentums“. Einen ähnlichen Stellenwert genießt er auch im Programm des Bachfestes: Der „Messias“ ist gleichsam das zusammenfassende Präludium, das Prinzip, unter dem die Aufführungen der zehn Tage gesehen werden sollen. Dass Thomasorganist Ulrich Böhme das Konzert mit „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 140) adventlich einleitet, macht ebenfalls Sinn: Zur Begegnung mit dem in unsere Welt kommenden Jesus bereit zu sein, ist eine Haltung, die für den Christen zu den Grundkonstanten seines Lebens gehört.

So ist es – auch wenn sich Festbesucher und sogar Pressekommentare mokierten – nicht unpassend, das Weihnachtsoratorium in den Programmverlauf einzubauen: Was Trevor Pinnock, der Tenebrae Choir und das Gewandhausorchester auf gerühmtem Niveau präsentierten, ist ja keine weihnachtliche Erbauungsmusik, zu der sie erst im bürgerlichen Konzertbetrieb des 19. Jahrhunderts degenerierte. Sondern es ist die musikalische Verkündigung eines Ereignisses, dessen existenzielle Bedeutung mit einer jahreszeitlichen Verortung nichts zu tun hat.

Dass das Minguet-Quartett kurz vorher in der Michaeliskirche Joseph Haydns bewegende „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze“ spielte, hat seinen tiefen Sinn: Auch Bach hat in seinen sechs Kantaten zur Weihnachtszeit nicht nur formal auf die Passionen Bezug genommen, sondern den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Geburt und Sterben Jesu in textlichen und musikalischen Verweisen deutlich gemacht.

Sorgfältige Abstimmung der Programme

Wie sorgfältig beim Bachfest die Programme mit dem Kontext der „Vita Christi“ abgestimmt waren, mag ein Beispiel verdeutlichen: Eine Motette in der Thomaskirche war unter das Thema „Lobgesang des greisen Simeon auf Christi Geburt“ gestellt. Eröffnet hat sie eine Bearbeitung von Franz Liszt, der „Chor der jüngeren Pilger“ aus Wagners „Tannhäuser“ für Orgel: Keine obligatorische Reverenz an den Sohn der Stadt Leipzig, dessen 200. Geburtstag heuer gefeiert wird, sondern ein inhaltlich motiviertes Präludium: Besingen die Pilger doch „der Gnade Wunder Heil“ und das Wunder, durch das sich der Herr „in nächtlich heil’ger Stund‘“ kundgetan habe.

Das Wunder der Menschwerdung des Messias, das der gottesfürchtige Simeon erkannt hat, ist dann Thema der bekannten Motette Felix Mendelssohn-Bartholdys: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren“ (op. 69,1). Auch Johann Sebastian Bach macht das „Nunc dimittis“ zum Thema in seiner Kantate zum Fest der Darstellung des Herrn von 1724, „Erfreute Zeit im Neuen Bunde“ (BWV 83): Der Bass zitiert den Lobpreis Simeons wörtlich im Psalmton.

Das Gebet der Elisabeth aus dem „Tannhäuser“ schlägt wieder den Bogen zu Richard Wagner, während drei Sätze des estnischen Komponisten Cyrillus Kreek auf Worte aus den Psalmen 84 und 104 und die Vertonung von „Freu‘ Dich sehr, o meine Seele“, die geistliche Intention aufgreifen und vertiefen: die Sehnsucht nach einem Leben in der Gegenwart Gottes, die auch Elisabeth anspricht, wenn sie bittet, von dieser Erde in „dein selig Reich“ genommen zu werden.

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs "Johannes-Passion" in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs „Johannes-Passion“ in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Dass sich der Lauf der „Vita Christi“ musikalisch mit Auferstehung und Himmelfahrt schließt, liegt auf der Hand. In zwei Chor- und Orchesterkonzerten in der Nikolaikirche erklangen „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ von Carl Philipp Emanuel Bach und Oster- und Himmelfahrtsoratorium Johann Sebastian Bachs. Das Werk des Bach-Sohns war einst hoch geschätzt; Carl Philipp Emanuel selbst hielt seine drei Hamburger Oratorien für seine „am stärksten gearbeiteten Stücke“ und hoffte, sie würden ihm auch nach seinem Ableben noch Ehre bringen – eine Erwartung, die sich nicht erfüllt hat.

Warum dem so ist, lässt sich heute nur noch historisch nachvollziehen, denn musikalisch hat der Hamburger Bach nicht wenig zu bieten: ein festlich besetztes Orchester, drei strahlende Triumph-Chöre, dankbare Arien, eine „moderne“ Harmonik im Geiste der Empfindsamkeit und eine gesteigerte melodische Expressivität.

Mag sein, dass der Text Karl Wilhelm Ramlers der Nachwelt zu beschreibend und zu wenig biblisch verortet erschien; mag sein, dass den orthodoxen Bachianern der Stil des Sohnes zu wenig streng vorkam: Dass die Hamburger Oratorien ein Nischendasein im Repertoire der großen Chöre führen, ist kaum mehr zu rechtfertigen. Vielleicht ändert der 300. Geburtstags Carl Philipp Emanuel Bachs 2014 etwas; der Bach-Sohn wird auch im Zentrum des Bachfestes des nächsten Jahres stehen.

Facetten historisch informierter Aufführungspraxis

In Leipzig wird der Besucher mit der Vielfalt der aktuell gültigen musikalischen Konzepte konfrontiert. Die letzten drei großen Chorkonzerte – das Fest schließt mit der h-Moll-Messe – zeigten in drei Facetten, wie heute „historisch informierte“ Aufführungspraxis verstanden wird. Bei Hermann Max, dem unglaublich rührigen Entdecker vieler unbekannter Oratorien-Schätze, klingt Carl Philipp Emanuel Bachs Musik farbenreich, kräftig akzentuiert und expressiv befeuert.

Aber sein Orchester „Das kleine Konzert“ spielt in den Streichern höhenbetont bis schrill und verzichtet allzu demonstrativ auf Vibrato: ein Klangbild, das die meisten Ensembles inzwischen wieder hinter sich gelassen haben – und das nicht nur aus ästhetischen Gründen. Ein natürlich anschwellender, in sich gerundeter Ton klingt eben reicher und differenzierter als die gezogen-gläsernen, eng schwingenden Töne, wie sie vor einigen Jahren als definitive Konsequenz aus der Quellenlage zur Interpretation im 18. Jahrhundert in Mode waren. Auch die Artikulation und die Sauberkeit schneller Tonketten ließen zu wünschen übrig. Glanzvoll bewältigten die Hörner und Trompeten ihre Aufgaben; auch die Holzbläser erweiterten den Reichtum der Orchesterfarben mit frischem und elegantem Spiel.

Hermann Max scheint auch Stimmen vorzuziehen, die sich in der feintönigen, aber blässlich-weißen Welt des historisch imaginierten 18. Jahrhunderts wohl fühlen. Im flexiblen, präzisen Chor der „Rheinischen Kantorei“ führt dieser Ansatz zu unschön gedrückten Sopran-Höhen, deren schneidende Intonation längst nicht mehr als aufregender neuer Akzent einer frischen Interpretation wahrgenommen werden, sondern als das, was sie eigentlich sind: technisch unvollkommen.

Georg Poplutz formuliert schon in seiner Arie in Johann Sebastian Bachs einleitender Kantate „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ (BWV 67) die Sehnsucht nach dem Erscheinen des Heils in den Stürmen der Gegenwart mit einem quäkigen, nicht durchsetzungsfähigen Tenor, wie sie exemplarisch für diese Form der Aufführungstradition steht. Matthias Viewegs Bass könnte bei freierer Emission seine abwägend geformten Töne mit reicherem Klang gestalten. Kopfig eingesperrt wirkt Veronika Winters Sopran; die enge Höhe hat keinen Glanz und vermittelt im schnellen Teil ihrer Arie („Heil mir! Du steigst vom Grab herauf“) nichts von der beabsichtigten glühenden Ergriffenheit.

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Von dieser Praxis verabschiedet hat sich John Eliot Gardiner, der mit Monteverdi Choir und English Baroque Soloists ein bejubeltes Konzert in der Nikolaikirche gab: Oster- und Himmelfahrts-Oratorium Johann Sebastian Bachs sind längst nicht so bekannt wie seine Passionen. Das mag an ihrer Form liegen, an der Verwendung älterer, zu weltlichen Anlässen komponierter Musik oder an der undramatischen Anlage, die eher Glaubensgeheimissen nachsinnt als eine Geschichte reflektierend erzählt.

Gardiners Ensembles artikulieren rhythmisch bewusst, pointiert und schwungvoll, meiden aber flach-glasige Adagio-Töne ebenso wie ruppig-überspitzte Attacken. Auch der Chor klingt lebendig und frisch, betont die festlich-triumphierende Haltung dieser von Freude und Heilsoptimismus durchzogenen Musik, in die sich nur ein Hauch von Sehnsucht nach dem baldigen Wiederkommen des in den Himmel aufgefahrenen Herrn mischt. Für diese süßen Schmerzen bringt Meg Bragle einen angenehm timbrierten, beweglichen Mezzo mit; Hannah Morrisons strahlende Sopranhöhen werden allerdings immer wieder zu spitz. Nicholas Mulroy (Tenor) und Peter Harvey (Bass) formulieren ohne Schwere, geben dem Wort den Vorzug vor dem Klang.

Mit dem Freiburger Barockorchester und seinem Thomanerchor gelingt Georg Christoph Biller am Ende des Bachfestes eine eindrucksvolle h-Moll-Messe als „Essenz der Vita Christi“. Ein sinnvoller Schlusspunkt, will doch die Messliturgie den gläubigen Mitfeiernden – unter anderem – in den Nachvollzug des Lebens Jesu rituell einbinden und ihm ihre existenzielle Bedeutung erschließen. Rhythmisch sicher, in den Details präzis, im Klang frisch und abgerundet singen die Thomaner, Christoph Biller hält anfangs das Metrum ein wenig zu streng fest, lässt dann im „Credo“ mehr Freiheit, modelliert dramatische Momente heraus – etwa die Melancholie des „Crucifixus“ gegen den eruptiven Glanz der Auferstehungsbotschaft. Der Thomaskantor findet einen passenden Mittelweg zwischen den Extremen eines historischen Rigorismus und einer geschichtsvergessenen Selbstgenügsamkeit und bestätigt damit eindrucksvoll, dass die Jahrhunderte alte Leipziger Tradition bis heute künstlerisch fruchtbar geblieben ist.




Entdecker ohne Allüren: Marc-André Hamelin erhielt den Preis des Klavier-Festivals Ruhr

Was ist an Klavier-Legenden eigentlich legendär? Sind es die Anekdoten über Marotten und Grillen? Die genialische Aura oder eine an Hexerei grenzende Virtuosität? Ihre geheimnisvoll-dämonische Ausstrahlung? Marc-André Hamelin, der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2013, ist so besehen alles andere als eine Klavier-Legende. Ein Super-Virtuose ohne Frack und Faxen, so beschreibt ihn Wolfram Goertz in seiner Laudatio im Programmheft; einer, der am Flügel aussieht wie ein Briefmarkensammler.

Marc-André Hamelin. Foto: Fran Kaufman

Marc-André Hamelin. Foto: Fran Kaufman

Das ist durchaus positiv gemeint: Der kanadische Pianist, der seit 1997 regelmäßig beim Klavier-Festival zu Gast ist, braucht weder Allüren noch Aura. Inszenierung ist ihm fremd. Er gibt weder den glamourösen Sunnyboy wie Lang Lang noch das schnaufende Emotionsbündel wie gerade eben erst Daniil Trifonov. Marc-André Hamelin ist sympathisch unauffällig – außer, er spielt gerade Klavier. Dann bleibt dem Zuhörer bisweilen der Atem weg.

So ganz ohne Legende scheint es freilich nicht zu gehen. Auf eine davon spielt auch Goertz an: Wenn Hamelin die schwersten Hürden der Klavierliteratur scheinbar spielerisch leicht überfliegt, als müsse er seinen Fuß nie auf die Erde setzen, klingt es so, als habe dieser Mann nie arbeiten müssen. Als übertrage ein geniales Hirn Kaskaden von Noten wie selbstverständlich an die Hände. Wenn Hamelin in der Essener Philharmonie die komplexesten Verläufe in Nikolaj Medtners e-Moll-Sonate op. 25,2 mit zwei unabhängig agierenden Händen in Überschalltempo nicht nur mit klarer Kontur nachzeichnet, sondern auch noch strukturell sinnvoll gliedernd darstellt, tauchen die alten Begriffe der Hexenmeister-Legenden unwillkürlich wieder an die Oberfläche des Denkens.

Dort, an der Oberfläche, sollten sie auch bleiben. Marc-André Hamelin stellt im Interview unmissverständlich klar: „Ich übe und arbeite genau so schwer wie andere.“ Vielleicht, so schränkt er ein, sei er fähig, Probleme schneller und effizienter zu lösen. Aber Geschichten wie die von Clara Haskil, die im Zug die Noten gelesen und am Abend das Stück gespielt haben soll, die träfen für ihn nicht zu.

Hamelin könnte es sich leicht machen, mit Rachmaninow, Skrjabin, Prokofjew oder anderen virtuos-pianistischen Schwergewichten das Publikum zum Rasen bringen. Warum tut er es mit Nikolaj Medtner, den niemand kennt? Und riskiert damit, dass der Saal eben nicht ganz so voll ist wie sonst, der Beifall nicht ganz so enthusiasmiert losprasselt? Die Antwort kommt ohne Zögern und eindeutig: Weil er an Medtner glaubt, und weil diese „Nachtwind-Sonate“ ein unentdecktes Meisterwerk der Klavierliteratur ist.

Das Chaos unter dem Sturm

So einsichtsvoll wie Hamelin diese Sonate in Essen spielt, glaubt man ihm aufs Wort: eine weiträumig konzipierte, schwer durchschaubare Musik mit einem poetischen Programm, das von „rasenden Klängen“ spricht, von der Sehnsucht nach dem Grenzenlosen und von der Angst von den Stürmen, unter denen das Chaos wallt. Wenn sich die Musik im Presto des zweiten Satzes in Bruchstücke auflöst, ahnt man, wie poetische Idee und formales Konzept der Musik korrespondieren könnten.

Marc-André Hamelin ist der 16. Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr. Intendant Franz Xaver Ohnesorg überreicht das Symbol des Preises, die Stahlplastik „Diapason“ des Düsseldorfer Bildhauers Friederich Werthmann. Foto: KFR/Wieler

Marc-André Hamelin ist der 16. Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr. Intendant Franz Xaver Ohnesorg überreicht das Symbol des Preises, die Stahlplastik „Diapason“ des Düsseldorfer Bildhauers Friederich Werthmann. Foto: KFR/Wieler

Marc-André Hamelin unterscheidet sich von anderen Pianisten, weil er die Literatur erschließt, von der andere vielleicht noch nicht einmal gehört haben. Für ihn ist das kein Selbstzweck. Er ist kein Klavier-Archivar, der Noten aus dem Schlummer stiller Regale hebt, damit sie, einmal gehört, wieder zur Ruhe gebettet werden. Wenn Hamelin ein Werk spielt oder aufnimmt – seine Diskografie ist die wohl vielgestaltigste aller Pianisten –, dann nicht, weil die Musik rar ist, sondern weil er sie für wertvoll hält.

In seiner Sammlung – er schätzt sie auf ein Volumen von 100 Umzugskartons – hortet er zahllose Noten: „Ich glaube, ich habe alles von Komponisten wie Karl Czerny oder Sigismund Thalberg zu Hause.“ Dennoch habe er stets „die Fühler ausgefahren“ auf der Suche nach Unentdecktem. Und heute, so ergänzt Hamelin, sei es einfach, Unbekanntes zu finden: „Wir haben einen riesigen Fundus von Quellen.“ Und zum Glück auch CD-Labels wie Hyperion, für das Hamelin viele seiner wiederentdeckten Schätze aufnehmen konnte: „Mit der CD können wir dunkle Ecken des Repertoires erkunden.“

Auf das Explorer-Image will sich Hamelin jedoch nicht festlegen lassen: Im Essener Konzert spielte er die f-Moll-Sonate op.5 von Johannes Brahms – ein nicht ganz so bekanntes, aber frühreifes Werk des 20-jährigen, das Robert Schumann zum Schwärmen brachte. Klar ausgeformt stellt Hamelin das thematische Material vor, hymnisch steigert er die formgebende Figur aus dem Beginn des ersten Satzes, unendlich zärtlich entwickelt die Poesie des zweiten Satzes, gebrochen durch das untergründig drohende Piano der Bässe. Das Erinnerungs- und Verarbeitungs-Gewebe des Finalsatzes zeichnet er mit entschiedenen Färbungen nach. Hamelins Sicht auf Brahms ist über die Jahre gereift: Die Sonate habe ihn schon als Teenager fasziniert, erzählt er.

Hamelins Pläne: Von Feldman bis Busoni

Nicht erst in letzter Zeit richtet der in Montreal aufgewachsene Franko-Kanadier seinen Blick auch auf das gängige Repertoire. Seine Liszt- und Schumann-Aufnahmen haben viel Lob erfahren; auch an Haydns Sonaten und Mozart geht er nicht vorbei. Vor kurzem erst hat er eine CD mit Haydn-Klavierkonzerten publiziert – und mit demselben Orchester (Les Violons du Roy) und Dirigenten (Bernard Labadie) eine Woche vor dem Essener Konzert Beethoven-Klavierkonzerte aufgenommen.

„Haydn ist ein wahres Kraftwerk“, schwärmt Hamelin, „er drückt sich einfach aus, seine Form wirkt unschuldig, aber er führt an ungeahnte Orte und auf dem Weg geschehen oft unerwartete Dinge.“ Auch Mozart hat er sich vorgenommen: Auf einer Doppel-CD will er demnächst eine Reihe seiner Sonaten aufnehmen: „Jedes Mal, wenn ich die Sonaten durchgehe, entdecke ich etwas Neues.“ Die „Sonata facile“, als Zugabe im Essener Konzert gewählt, lässt ahnen, wohin die Mozart-Reise mit Hamelin gehen mag: leuchtender Ton, noble, kühle Formung, prätentionslose Klarheit.

Hamelin wäre nicht er selbst, hätte er nicht auch wieder Unbekanntes auf seiner Agenda: Glücklich sei er, dass Hyperion zugestimmt habe, eine CD mit Morton Feldmans „For Bunita Marcus“ von 1985 mit ihm zu produzieren. Dann plant er das Klavierquintett von Leo Ornstein und dasjenige von Schostakowitsch gemeinsam mit dem Takacs-Quartett einzuspielen. Aufgenommen sind bereits ein Debussy-Programm und Schumanns Kinder- und Waldszenen, zusammen mit Klavierstücken von Leoš Janáček. Und voraussichtlich im November erscheint ein Album mit drei Discs mit Spätwerken von Ferruccio Busoni, darunter einige Ersteinspielungen.

Zu hoffen ist, dass auch das Werk einmal auf CD erscheinen wird, das Hamelin im Auftrag des Klavier-Festivals Ruhr komponiert hat: Die „Barcarolle“ im Zentrum des Essener Konzertprogramms wollte Hamelin ausdrücklich weder am Telefon noch im Programmheft beschreiben. Frisch und unbeeinflusst sollten die Zuhörer die Musik aufnehmen. Das atmosphärisch reizvolle Stück lebt aus dem weiten klanglichen Ambitus von anfangs fernen, dunklen Bass-Glockenschlägen und scheinbar absichtslos aufquellenden silbrigen Arabesken und Kaskaden.

Das Ende wirkt wie eine Frage, vorbereitet durch einen klanglichen Rückzug in den Bass und einen langsamer werdenden metrischen Puls. Die „Barcarolle“ bemüht sich nicht um Avantgarde-Originalität. Und Hamelin hat sich technisch mit seinem eigenen Werk sicher nicht unterfordert. Aber es wäre zu kurz gegriffen, das Stück in die Reihe selbstverliebter Entäußerungen komponierender Virtuosen einzureihen. Dafür hört man schon im ersten Eindruck zu viel, was neugierig auf eine Wiederbegegnung macht.




Der große, gültige Augenblick – Fotoporträts von Anton Corbijn in Bochum

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung - zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung – zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Fotos der weltweiten Prominenz sehen oft genug wie Klischees oder gar wie leblose Charaktermasken aus, sie bestätigen vielfach das eh schon verfestigte Image. Nicht so bei Anton Corbijn.

Der mittlerweile 58jährige Niederländer, stets rastlos unterwegs, weil seine phänomenalen Fähigkeiten auf allen Kontinenten gefragt sind, bringt es zuwege, dass wir Gesichter von Popstars, berühmten Künstlern und sonstiger Prominenz (Spektrum von Mandela bis Kate Moss) auf einmal ganz anders und wie neu sehen. Ganz so, als kämen sie jetzt, in diesem Moment der Aufnahme und des Betrachtens, wahrhaft zu sich. Davon kann man sich bis zum 27. Juli in der Corbijn-Ausstellung des Kunstmuseums Bochum überzeugen, die mit über 40 großformatigen Bildern aufwartet.

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 - © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 – © Anton Corbijn)

All das (sozusagen selbstverständlich) in Schwarzweiß, festgehalten mit einer analogen Hasselblad-Kamera, nur mit vorhandenem Licht, ohne Stativ; also möglichst unverfälscht, so weit dies irgend möglich ist.

Dieser seriöse ältere Herr mit dem Schnauzbart, das ist also Paul McCartney, wie wir ihn wohl noch nie erblickt haben. Und der 1996 abgelichtete Mann in Frauenkleidern, der keineswegs lächerlich wirkt, heißt Mick Jagger. Melancholische Gesichtslandschaften erzählen vom wechselhaften Leben eines Johnny Cash, Tom Waits oder einer Patti Smith. Und schwingt nicht auch eine vitale Essenz ihrer Musik in diesen Bildern mit?

In einem Film über Corbijns Arbeit, der ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist, sagt Herbert Grönemeyer, so mancher Rockstar versuche hernach so zu werden, wie er auf Corbijns Bildern wirkt. Wenn es sich so verhält, dann kann man wohl von außerordentlicher Prägekraft reden. Vielleicht haben solche Fotos sogar indirekt Einfluss auf die Geschichte der populären Musik genommen.

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey ("PJ Harvey - New Forest" / © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey („PJ Harvey – New Forest“ / © Anton Corbijn)

Dabei trumpft Corbijn, dessen Laufbahn einst mit eindrücklichen Bildern der düster umwölkten Gruppe „Joy Division“ begonnen hat, keineswegs willkürlich auf. Selbst heftigere Gestik wirkt auf seinen Bildern nicht exaltiert, sondern als notwendiger Ausdruck. Die bloße Pose lässt er schon gar nicht durchgehen, allenfalls greift er etwaige Versteckwünsche just spielerisch auf, so etwas bei Jeff Koons, der sich hinter einer etwas albernen Maske verbergen darf und daher umso kenntlicher zu werden scheint. Ähnliches gilt für den mindestens ebenso millionenschwer gehandelten Künstler Damien Hirst, der seinen weiß gepuderten Kopf gleichsam als Totenschädel herzeigt – ungefähr nach dem vielsagenden Motto „Nicht ohne mein Markenzeichen“. Gerhard Richters markanter Kopf ist derweil nur von hinten zu sehen – dies gemahnt an allerletzte Bilder in filmischen Nachrufen, wenn jemand buchstäblich von hinnen geht. Da hebt gewiss schon der Nachruhm an, den auch der (2011 verstorbene) Maler Lucian Freud in seinen nahezu jenseitigen Blick gefasst zu haben schien, als Corbijn ihn im Profil porträtierte.

Sehr diesseitig, frontal und kolossal schaut einen hingegen der chinesische Künstler und unbeugsame Dissident Ai Wei Wei an. Er scheint vor Physis und Widerstandskraft zu strotzen.

Gänzlich anders gelagerter Fall: Den inzwischen des Dopings überführten und aller großen Titel ledigen US-Radprofi Lance Armstrong zeigt Corbijn bereits anno 2004 im bis zum Halse stehenden Wasser, als würde der Sportler gleich ertrinken. Darf man hier von Vision sprechen? Hat Corbijn etwa vage Anzeichen eines Niedergangs vorausgesehen? Wer weiß.

Ganz offenkundig gelingt es Anton Corbijn jedenfalls immer wieder, während der Porträt-Treffen Atmosphären und Situationen zu schaffen, in denen vordergründige Zufälligkeiten abgestreift werden und etwas Wesentliches, Charakteristisches hervortritt, das eben auch in den Fotografien aufscheint. Auf diese Weise wirken nicht wenige Rock- und Kunststars wie Wahrzeichen ihrer selbst, gesehen im bezeichnenden, gültigen Augenblick. Fühlbar wird so etwas wie der essentielle „Stoff des Lebens“, der sich auf je ganz eigene Weise in Gesichter und Gesten eingezeichnet hat.

Nicht nur die Abgebildeten sehen aus, als wären sie nun ganz bei sich, auch der Fotograf bleibt in seiner speziellen Sehweise immerzu präsent. Es ist, als wäre alles auf einmal da, alles zugleich. So sehen große und haltbare Momente aus.

Anton Corbijn – Inwards and Onwards. Fotoportäts. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel.: 0234/910-42 30). Noch bis 28. Juli. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalogheft 12,50 Euro.

(Ebenfalls jetzt im Bochumer Museum: die Ausstellung des aus Israel stammenden Micha Laury).




„Der Nivea-Check“ (ARD): Kleine Kratzer am perfekten Image

Das „Erste“ will ganz nah ‚ran an die Verbraucher. Seit einiger Zeit werden dort prominente Marken getestet – allerdings nicht immer gründlich auf Herz und Nieren, sondern eher so auf die flotte Tour. Interessant und aufschlussreich ist es meistens trotzdem. Jetzt war „Der Nivea-Check“ an der Reihe.

Die Serie gibt sich locker, doch die Angst vor Quoten-Verlust durch Wegzappen ist ständig präsent. Daher wohl die spürbare Hast. Nie verweilt man länger als ein paar Sekunden bei einem einzigen Sachverhalt. Ständig wird alles mit Musikschnipseln unterlegt – und die Kameraarbeit muss „dynamisch“ wirken. Immer Tempo, Tempo! Am Ende ist man auch schon vom bloßen Zuschauen ein wenig atemlos. Nun gut, ich übertreibe ein bisschen.

Die Marke, der fast alle vertrauen

Nivea also. Die Marke, der praktisch die ganze Nation vertraut. Und das seit vielen Jahrzehnten. Der Marketing-Fachmann schwärmte vom nahezu perfekten Image. Einige Singles und Familien zeigten, was bei ihnen daheim das Nivea-Zeichen trägt. In einem Haushalt waren es nicht weniger als 103 (!) Behälter mit Nivea-Inhalten.

Die Turniertänzerin Viktoria Heldt half beim Haarspray-Test. (Foto: © WDR/Thomas Ernst)

Die Turniertänzerin Viktoria Heldt half beim Haarspray-Test. (Foto: © WDR/Thomas Ernst)

Wenn man dem ARD-Check (Autoren: Edith Dietrich und Benjamin Best) glauben darf, so werden die Produkte mit dem blauweißen Logo gelegentlich etwas überschätzt. Beim Shampoo versprechen sie den Damen gar „Diamond Gloss“, also Diamant-Glanz, was immer das heißen soll. Die befragten Diamantschleifer von Idar-Oberstein schüttelten nur den Kopf über den gewagten Vergleich.

Ganz schön viel Luft in der Packung

Aus derlei Werbebotschaften kann man ziemlich schnell die heiße Luft herauslassen. Der Blindvergleich mit der DM-Hausmarke Balea und ein hochwissenschaftlich angelegter Drei-Strähnen-Test zeigten, dass Nivea nicht gar so glanzvoll dasteht, aber immerhin – für mehr Geld – einen leichten Vorteil bietet.

Ärgerlicher ist schon der „Mogelfaktor“, der ironisch als „beachtlich“ bezeichnet wurde, allerdings auch von der Gesetzeslage begünstigt wird. Bis zu 30 Prozent Luft darf sich in einer Umverpackung befinden, bis zu 75 Prozent sogar, wenn die Schachtel ein Sichtfenster hat. Nivea und andere bringen es schlauerweise seitlich an, so dass es im Regal nicht gleich so auffällt.

Jogi Löw als Werbebotschafter

Ständig entwickeln sie bei Nivea neue Produktlinien, so neuerdings auch ein Deo, das angeblich die Folgen von Stress mildern soll und insgeheim suggeriert, es mindere den Stress überhaupt. Sprüh- und Riechtests an Männern, die für die Konzernforschung in den 40 Grad heißen Schwitzraum gehen müssen, wirkten nicht gerade appetitlich. Doch wenn es der Wahrheitsfindung dient…

Sodann wurde Sonnenmilch beim Beachvolleyball ebenso überprüft wie Haarspray und Gel, die bei Turniertänzern ziemlich glatt „durchfielen“. Durchweg hatte man den Eindruck, dass Nivea in keiner Disziplin so recht triumphieren konnte, sondern allenfalls mit den saloppen Prädikaten „ordentlich“ oder „so lala“ abschnitt. Dass Fußball-Bundestrainer Jogi Löw für die Nivea-Herrenlinien wirbt, wurde süffisant vermerkt. Sollte er sich da etwa mit einer zwar achtbaren Firma eingelassen haben, die jedoch keinen Weltmeistertitel holt?

Dienstreise nach Indien

Schließlich wurde noch die sicherlich nicht billige ARD-Dienstreise nach Indien angetreten, zu den Ärmsten der Armen. Da gibt es offenbar Leiharbeiter, die beim Verpacken von Nivea-Produkten für umgerechnet 60 Euro im Monat knochenharte 72-Stunden-Wochen abreißen müssen, was eklatant gegen den offiziellen Nivea-Kodex verstößt. In Zeiten der Globalisierung dürften ähnliche Befunde leider für die Mehrzahl aller großen Weltmarken gelten. Doch es ist gut und richtig, wenn in jedem Einzelfall hartnäckig daran erinnert wird.

Auch hier muss man, der Gerechtigkeit halber, ein „Immerhin“ anfügen: Der Nivea-Konzern Beiersdorf mit Hauptsitz in Hamburg lässt tatsächlich noch vieles in Deutschland herstellen und bezahlt seine hiesigen Mitarbeiter anständig nach Tarif, bisweilen auch darüber.

Fazit: Auch die blauweiß getönte Nivea-Welt ist weder heil noch heillos, sondern hie und da widersprüchlich. Wir haben es ja geahnt.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen)




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

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Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)