Festspiel-Passagen III: Salzburg – Jeanne d’Arc oder der Sieg im Scheitern

Alexander Pereira - noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Alexander Pereira – noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Wäre das in diesem Jahr überpräsente Verdi-Wagner-Thema die einzige inhaltliche Leitlinie der Salzburger Festspiele 2013, man könnte gelangweilt zur Tagesordnung übergehen.

Aber Alexander Pereira hat die sommerlichen Festtage wieder einmal mit einem fein gesponnenen Netz von Beziehungslinien überzogen: Die beiden zum Heiteren neigenden Meisterwerke der Jubilare – „Falstaff“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ sind freilich programmatisch eher unspektakulär, auch wenn Pereira mit Stefan Herheim einen der profiliertesten Opernregisseure der Gegenwart für Wagner gewonnen hat.

Spannender ist da schon die Konzentration auf verschiedene Aspekte der Geschichte der Jeanne d’Arc, einer Heiligen, die wie selten zwischen großer Politik und scheinbar naiver Frömmigkeit, pragmatischem Realismus und kühner Vision steht. Ein Fanal für unerschütterlichen Glauben an Gott, an das Wunder in der Geschichte und an die eigene Berufung; ein Beispiel, wie eine einfach Frau des späten Mittelalters gegen ihre Umwelt ihre Persönlichkeit behauptet.

Jeanne d’Arc bietet Stoff für viele Interpretationen. Pereira hat drei ausgewählt: Den Anfang machten Walter Braunfels‘ „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ und Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“. Folgen wird noch Giuseppe Verdis selten gespielte „Giovanna d’Arco“, eines der geschmähten Werke der „Galeerenjahre“ des Komponisten, das heute wieder stärker in den Fokus rückt.

Wagners Schatten wird überwunden

Walter Braunfels, 1882 im Jahr der Uraufführung des „Parsifal“ geboren, gehört zu einer Generation, die darum ringen musste, aus Wagners übermächtigem Schatten herauszutreten. In seiner Musik blitzen die Spuren seines Lehrers Ludwig Thuille auf – etwa in den farbigen Bläsersoli und der subtilen Orchesterbehandlung. Aber sie trägt auch Züge des von ihm verehrten Hans Pfitzner, so in der rezitativischen Prosa des ersten Teils. Die Rückgriffe auf Musik der Renaissance, die archaisch anmutenden Anklänge an Gregorianik und italienische Monodie entsprechen teils dem Zeitgeist – man mag an Igor Strawinsky oder Ottorino Respighi erinnert sein –, sind aber eigenständig entwickelt und wollen das Werk atmosphärisch verorten.

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels' "Jeanne d'Arc". Foto: Silvia Lelli

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“. Foto: Silvia Lelli

Mit der Salzburger Aufführung – leider nur konzertant – wird Walter Braunfels auch an diesem Ort die gerechte Beachtung gezollt, die er längst verdient hat. Denn der von den Nationalsozialisten zum Schweigen gebrachte Komponist gehörte zu den erfolgreichsten Protagonisten des musikalischen Lebens in den zwanziger Jahren.

Mit seiner Oper „Die Vögel“ hatte er 1920 den Grundstein seiner Popularität gelegt, war als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule auch in der Ausbildung junger Leute eine maßgebliche Größe. Die Nazis enthoben den „Halbjuden“ 1933 seiner Ämter, belegten ihn mit Berufsverbot. Konrad Adenauer setzte den Verfemten schon im Oktober 1945 wieder auf der früheren Kölner Stelle ein, holte ihn vom Bodensee zurück, wo er im inneren Exil Werke für die Schublade schuf – unter anderem seine „Jeanne d’Arc“.

Bis zu seinem Tod 1954 schrieb Braunfels unermüdlich weiter, zuletzt ein „Spiel von der Auferstehung des Herrn“. Danach hat sich dichtes Vergessen zwischen ihn und das Jetzt gesenkt, das erst seit etwa fünfzehn Jahren aufreißt. Braunfels’ Weg war in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte fatal folgerichtig: Wie anderen Nazi-Opfern ist es ihm nicht gelungen, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Das Musikleben bestimmten Leute wie Carl Orff oder Werner Egk, die nach den alten Machthabern nun die junge Demokratie bedienten.

Nach 1950 – die braune Vergangenheit war mittlerweile auch für den öffentlichen Dienst kein Hindernis mehr – hatten Musiker wie Braunfels in den sich dogmatisch verhärtenden Richtungen der zeitgenössischen Musik ihren Ruf als gestrig und überholt weg. Und man vermied es allzu gerne, sich den Aufbruch ins Neue durch die Erinnerung an Geschehenes vermiesen zu lassen. Zudem dürften Braunfels‘ Konservatismus und seine Ablehnung der musikalischen Avantgarde seine Isolation noch verstärkt haben. Auch sein künstlerisches Ethos – er wollte die „christliche Oper“ vollenden – war wohl nicht geeignet, ihm das Interesse der Nachwelt zu erhalten. Das ändert sich nun, und es ist zu wünschen, dass der erneuerte Blick auf Menschen wie Walter Braunfels nachhaltig bliebe.

Manfred Honeck als kundiger Sachwalter von Braunfels‘ Musik

„Jeanne d’Arc“ war schon als „Wiederentdeckung des Jahres 2008“ bei ihrer szenischen Uraufführung an der Deutschen Oper ein grandioser künstlerischer Erfolg, nicht zuletzt, weil Christoph Schlingensief ein Mysterienspiel in wuchernden Bildern entwickelte. In Salzburg dirigierte Manfred Honeck – wie bei der auf CD dokumentierten konzertanten Uraufführung 2001.

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Nicht immer gelang es, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien die Impulse für einen konturenreichen Klang zu vermitteln: Im ersten Teil standen die Klangkomplexe wie Blöcke da; auch die von einem ariosen Rezitativstil á la Pfitzner geprägten Szenen waren atmosphärisch eher beiläufig gestützt. Das änderte sich immer, wenn die vorzüglich einstudierten Chöre (Bachchor Salzburg, Chor und Kinderchor der Festspiele und des Theaters) zum Einsatz kamen. Alois Glassner und Wolfgang Götz haben, was Chorklang und Prägnanz der Artikulation betrifft, ganze Arbeit geleistet!

Mit der gesteigerten hymnischen Emphase des Finales des ersten Teils war das Orchester dann bei Braunfels angekommen: Die Musik zwischen vergeistigtem Oratorium und farbenfroher Oper fordert illustrative Details, theatralische Kommentierungsfreude, den Ton des Erhabenen wie des Burlesken – so etwa im „Zwischenspiel“, einer Solo-Szene des Herzogs von La Trémouille, in der Ruben Drole eine komödiantische Charakterisierungskunst zeigen konnte, wie wir sie etwa in Liedern von Hugo Wolf oder Ludwig Thuille wiederfinden.

An Juliane Banse, Protagonistin der Aufnahme von 2009, einem Mitschnitt der Uraufführung 2001, sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Das als engelsgleich gerühmte Timbre klingt vor allem in der Höhe hohl, die Stütze bemüht. Aber Banse wirft dafür ihre Erfahrung in die Waagschale: So gelingen ihr die Szenen im Gefängnis, ihr selbstbewusster Auftritt vor dem Gericht, ihre gereifte Ergebung in den Willen Gottes eindrücklicher als der Aufbruch des optimistischen jungen Mädchens.

Fedora Wesseler bezeichnet im Programmheft den „Schrei nach Gewissheit“ als ein zentrales Thema der Oper, das sich in der Figur des Gilles de Rais manifestiert. Johan Reuter bringt für diese zweifelnde, zuletzt resignierende Figur eine markante Stimme mit: Der Münchner Wotan – 2014 wieder zu erleben – trägt reflektierende Momente („Heißt das, dass Nacht nun sein soll…“) durch ein erlesenes Mezzoforte, gestaltet die Entwicklung zum auf ein Wunder hoffenden Pessimisten, der im Scheiterhaufen Johannas den Sieg Satans sieht.

Das diabolische Element des rechtsbeugenden Richters führt Michael Laurenz als Cauchon mit einem glänzend fokussierten Charaktertenor ein: Gellend preist er sein „System“, mit dem er die Seelen in die Richtung hetzt, die er für sein Urteil braucht. Vor dem Hintergrund der Entstehungszeit der Oper mag es nicht abwegig sein, an die giftigen Tiraden eines Roland Freisler zu denken.

Eine großartige Szene hat auch Pavol Breslik als von Selbstzweifeln geschüttelter Karl von Valois. Doch der gefeierte Tenor vergibt die Chance, über strahlende Töne und glanzvollen „Squillo“ hinaus subtilere Nuancen der Charakterisierung zu zeigen. „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ wirkt wie ein Vortrag aus den Noten, nicht wie die tief empfundene seelische Verunsicherung eines Königs, die mit der großen Szene des Philipp in Verdis „Don Carlo“ konkurrieren könnte.

Licht und Schatten gibt es in der Besetzung der kürzeren Partien: Norbert Ernst gibt Colin, dem Jugendgefährten Jeannes, rhetorischen Pfiff, Tobias Kehrer kleidet die mahnenden und die trauernden väterlichen Worte des Jacobus von Arc in einen schlanken, substanzvollen Bass. Martin Gantner erweist sich als Ritter Baudricourt wieder einmal als zuverlässiger, stets sinnig gestaltender Sänger; an seiner Seite Wiebke Lehmkuhl mit feinem Ton als Lison.

Mit Siobhan Stagg und Sofiya Almazova gaben zwei Damen aus dem „Young Singers Projekt“ eine sympathische Kostprobe schöner Stimme; für Johannes Dunz (Herzog von Alençon) heißt es noch, an der Stütze zu arbeiten. Auch Thomas E. Bauer kann sich als Erzbischof von Reims nicht freisingen. Und Brian Hymel stellt mit ziemlich festgefahrenem Tenor und unfrei-knödeligem Timbre die Frage des Heiligen Michael: „Wer ist wie Gott?“ – eine Frage, die 1943, als Braunfels seine Oper vollendete, auf unheimliche Weise aktuell gewesen ist. Dass sie heute, unter ganz anderen Vorzeichen, nichts an Brisanz verloren hat, wird der Beobachter der Zeitläufte unschwer bestätigen können.

Informationen zu den Salzburger Festspielen: http://www.salzburgerfestspiele.at




Vom Verlust der Heimat – Annika Scheffels Roman „Bevor alles verschwindet“

A.Scheffel, bevor alles verschwindet In letzter Zeit befassen sich offenbar auffällig viele Werke mit der Frage nach Heimat. Zufall oder deutliches Zeichen unserer rastlosen Zeit, in der Mobilität oft genug als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird? „Heimat ist auch keine Lösung“ lautete unlängst der Titel eines großartigen Theaterstücks im Bochumer Schauspielhaus. Unweigerlich musste ich diesen Satz denken, als ich den neuen Roman von Annika Scheffel „Bevor alles verschwindet“ gelesen habe.

Annika Scheffel erzählt vom letzten halben Jahr eines Dorfes, welches auf die Flutung wartet. Einem Staudammprojekt muss das Dorf weichen, ein Naherholungsgebiet soll entstehen. Die meisten Dorfbewohner sind schon weg, im neuen Ort, der bald einen großartigen Blick auf einen See zu bieten hat. Den See, der dann ihre einstige Heimat verschluckt haben wird. Im alten Dorf selbst harren Jahre nach der Ankündigung nur noch wenige Bewohner aus, die „Realitätsverweigerer“, wie die Verantwortlichen sie nennen. Die Verantwortlichen, das sind die fahlen Herren der Staudamm-Gesellschaft, die den bevorstehenden Untergang mit roter Sprühfarbe auf den abzureißenden Häusern markieren.

Die verbliebenen Bewohner haben „Angst bis zum Himmel und darüber hinaus“. Sie wissen, dass sie sich in der neuen Heimat fremd fühlen werden, sie sich ein neues Leben in der Heimatlosigkeit aufbauen müssen. Für einige von ihnen ist Heimat da, wo sie Freunde und Angehörige begraben haben, wo sie selbst dereinst begraben sein wollten. Nicht von ungefähr spielt im Roman der Friedhof, der auf seine Einbetonierung wartet, eine bedeutende Rolle.

Sie schmieden unbestimmte Pläne für finale Protestaktionen, doch über mehr als Halbherzigkeit kommen sie nicht hinaus. Dafür sind sie selbst zu sehr mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt. Was sie eint, ist auch das Schweigen über vergangene Sünden, das Wissen übereinander, aber keiner von ihnen hat die Kraft, diese Gemeinsamkeiten in einen echten Protest zu lenken. So muss das ein Tier übernehmen, der blaue Fuchs, den nicht alle sehen können, der dafür aber die Verantwortlichen beißt. Die Rolle des stoisch Ertragenden spielt Milo, den auch nicht alle sehen können, der aber immer da auftaucht, wo ein Mensch alleine seine Last nicht mehr tragen kann.

Das Jahrhundertfest lässt man die Verbliebenen noch feiern. Außer den letzten Bewohnern kommen nur Gaffer und Dokumentarfilmer. Von denen, die schon am neuen Ort leben, lässt sich keiner blicken. „Wer einmal geht, so sagen sie, kehrt nicht mehr zurück“. Die halbherzig geplanten Protestaktionen sind ein letzter vergeblicher Aufschrei, der wirkungslos verpufft, die – auch tödlichen – Opfer, die gebracht wurden, sie waren umsonst. Die Flut kommt, das Wasser stürzt, der Ort ist Vergangenheit.

Im Roman wie auch so oft im Leben sind diejenigen die Verlierer, die an einer Heimat im Sinne eines unveränderlichen Wohnorts festhalten. Vordergründige Gewinner sind die fahlen Herren, die Verantwortlichen. Unwillkürlich denkt man bei diesen Herren an die grauen Herren aus Michael Endes „Momo“. Damals stahlen sie die Zeit, heute direkt die Welt. Dennoch ist „Bevor alles verschwindet“ weder Märchen, noch Gleichnis, noch politisches Statement. Was Annika Scheffel liefert, ist trotz des Auftretens eigener Fabelwesen, trotz des zwischenzeitlichen Versuches eines magischen Realismus eher eine Zustandsbeschreibung des äußeren Geschehens und eine Erkundung des Inneren der letzten verbliebenen Bewohner. Weil diese nicht wissen, was sie bekommen werden, halten sie an dem fest, was sie haben. Auch wenn dies lange nicht mehr das ist, was es mal war.

Die Autorin nähert sich ihrem Thema mit großem Respekt. Ihre Sprache ist flüssig, angenehm zu lesen, aber nicht einfach. Sie erzählt ganz ruhig, lässt Entwicklungen zu und überfrachtet ihren Roman nicht mit den mystischen Anspielungen, das dosiert sie sehr genau. „Bevor alles verschwindet“ weckt viele Emotionen. Stimmungen erzeugen – das ist etwas, was die Autorin sehr gut kann.

Dennoch leidet der Roman immer wieder an Längen. Ab und an denkt man schon, dass man es so genau jetzt auch wieder nicht wissen wollte. Gerade, wenn es um David geht, den Sohn des Bürgermeisters, der von seinem verzweifelten Vater in den Wahnsinn getrieben wird, führen diese Längen zu Desinteresse. Manchmal erzählt Annika Scheffel allzu ruhig und rutscht dadurch ins Unbeteiligte ab. Es gibt einige Stellen im Buch, die von Eltern erzählen, die ihren Kindern zuviel zumuten und ihnen die Zukunft verbauen. Hier wird soviel Fatalismus impliziert, dass man auf die Idee kommen könnte, diese Haltung wäre eben einfach so und nicht zu ändern.

Der Roman lässt seinen Leser traurig zurück, aber nicht ratlos. Und genau das ist es, was das Buch lesenswert macht. Was bleibt, ist zwar die Erkenntnis, dass manches unwiederbringlich verloren geht und man einfach nichts dagegen machen kann. Doch es bleibt noch eine zweite Erkenntnis: Die, die vorwärts schauen, die bereit sind, den Begriff Heimat für sich neu zu definieren, sie haben eine Zukunft, eine Chance. Prolog und Epilog des Buches gehören Jula. Jula zählt zu den Jüngeren der letzten Bewohner, sie hatte nicht nur den Verlust ihrer Heimat, sondern auch den ihres Zwillingsbruders zu beklagen. Jula zumindest scheint Jahre später ihren Platz, ihre Heimat gefunden zu haben. In sich selbst und an der Seite eines Mannes, den sie liebt. Und das ist doch gar keine so schlechte Lösung.

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“. Roman. Suhrkamp Verlag, 411 Seiten, € 19,95