Politik und Seelenpein statt Formspielereien – starker Saisonbeginn in der Philharmonie Essen

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Die neue Konzert- und Theatersaison nimmt Fahrt auf. Den Blick nach Essen gerichtet, hat sie geradezu mit einem Kickstart begonnen. Denn dort hat Hein Mulders, als Doppelintendant verantwortlich für den Opern- und Konzertbetrieb, ein aufregendes Ausrufezeichen gesetzt. Mit der Verpflichtung des Bayerischen Rundfunk-Symphonieorchesters und ihres Chefs, des lettischen Dirigenten Mariss Jansons, die in der Philharmonie ein Programm jenseits des routinierten Repertoires präsentieren. Das „Konzert für Orchester“ des Ungarn Béla Bartók und das gleichnamige Werk des Polen Witold Lutoslawski.

Es ist Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, doch klingt sie alles andere als avantgardistisch. Beide Komponisten beziehen sich auf traditionelle Formen wie Concerto grosso, Fuge, Toccata oder Passacaglia. Beide haben zudem die folkloristischen Wurzeln ihrer Heimat im Blick. Gleichwohl wirkt manches fremd, weil dissonant zugespitzt, großorchestral wuchtig oder raffiniert perkussiv akzentuiert. Hinzu kommt, und das macht Jansons‘ Lesart deutlich, dass hier Bekenntnismusik verhandelt wird – als Reflexion auf das politische Umfeld der Komponisten. Bei Bartók kommt hinzu: Das aufregende Ausloten seelischer Befindlichkeit.

Denn der Ungar schrieb sein fünfsätziges Werk im ungeliebten New Yorker Exil, krank an Leib und Seele. Weil sein Vaterland im faschistischen Strudel zu versinken drohte. Weil sein Werk in Amerika wenig Aufmerksamkeit fand. Zudem war Bartók von der Leukämie gezeichnet. Das „Konzert für Orchester“, das er 1943 schrieb, war beinahe sein Schwanengesang, vor allem aber das Resumee eines Komponistenlebens.

So wundert es nicht, dass diese Musik die dunkle Schwermut und die gespenstische Unruhe seiner Oper „Herzog Blaubarts Burg“ spiegelt. Jansons und das BR-Orchester zelebrieren diese Düsternis geradezu, in scharfem Kontrast etwa zum Streicherglühen des ersten Satzes. Und es wird alsbald deutlich: Diese Interpretation setzt nicht auf das Mit- und Gegeneinander von Orchestergruppen oder Soli, sondern auf das große Ganze. Dem dunklen Beginn folgt der dramatische Aufschrei, das Scherzo klingt spukhaft und schroff, der langsame Mittelsatz ist ein einziges Weinen und Klagen. Detailversessen und äußerst transparent wird musiziert, und doch verliert sich Jansons nicht in schönen oder aufregenden Stellen. Nur der vierte Satz erklingt als etwas pauschal gehaltenes Intermezzo, abgesehen von der bizarren „Heut geh’ ich ins Maxim“-Parodie. Da hat Bartók der antifaschistische Teufel geritten.

Ein strahlender Dirigent dankt für jubelnden Beifall. Foto: Sven Lorenz

Ein strahlender Dirigent dankt für den jubelnden Beifall des Publikums. Foto: Sven Lorenz

Das Finale schließlich deuten manche als die große optimistische Conclusio, das ganze Werk mithin als ein „Durch Nacht zum Licht“-Geschehen. Wir indes hören mit Jansons eher die musikalische Schilderung eines Molochs namens New York, der Stadt, die niemals schläft (wie von Frank Sinatra besungen). Da klingt Hektik, Aufregung, Turbulenz sowie ein leicht protziges Heldentum und kaum Befriedung durch. So mag es Bartók gefühlt haben.

Der Pole Witold Lutoslawski wiederum, der ganz im Stalinschen Sinne als Formalist gebrandmarkt wurde, war nach dem Krieg zunächst kaum produktiv. Kompositionsaufträge des kommunistischen Regimes lehnte er ab. Das „Konzert für Orchester“, Anfang der 50er Jahre geschrieben, geht auf Initiative des Dirigenten Witold Rowicki zurück. Und es war, in strukturellen Verläufen, Orchestrierung und der Einbeziehung von Volksmelodien, eine Verneigung vor Béla Bartók. In ihm sah Lutoslawski den vielleicht einzigen Komponisten, „der die Beethovensche Höhe des menschlichen Denkens und Fühlens erklommen hat“.

Jansons und das BR-Orchester gehen auch hier weit über die Nachzeichnung barocker Strukturen hinaus. Vielmehr durchzieht das Werk glühende Leidenschaft und im Mittelsatz ein spukhaftes Sommernachtstraumflirren, das indes schnell einer bedrohlichen Eskalation weichen muss. Um sich am Ende mit einem schrägen Dies-irae-Anklang zu vermischen. Folgt ein düsterer, explosiver, auch bedrohlich  schwirrender Finalsatz. Alles mit Verve und großer Vitalität dirigiert. Allenthalben Jubel.




Ruhrtriennale konzertant: Musikalische Endlosschleife zum Untergang der Titanic

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen dieTitanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen die Titanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Nach fortwährender Erkundung neuer Formen des Theatralischen, begibt sich das Experimentallabor namens Ruhrtriennale tatsächlich einmal in die „Niederungen“ des traditionellen Konzertbetriebs. Um aber gleich wieder eine Art Avantgarde zu präsentieren. Mit zwei Frühwerken des 1943 geborenen englischen Komponisten Gavin Bryars, die Luciano Berios „Requies“ umrahmen. Das Fazit des Abends ist schnell umschrieben – spektakulärer Titel, überwiegend langatmige Musik.

Denn wenn Bryars nichts weniger als den „Untergang der Titanic“ klanglich verarbeiten will, dürfte mancher in Duisburgs Gebläsehalle wohl ein großorchestrales Spektakel erwarten. Um sich damit die Katastrophenbilder im Kopf zurechtzimmern zu können. Und wenn die präzise musizierenden Bochumer Symphoniker unter Leitung der estnischen Dirigentin Anu Tali am Beginn ein differenziertes Schlagwerkinferno entfachen, dass es klingt, als schramme im Sturm der Dampfer am Eisberg entlang, scheint die Tragödie greifbar.

Doch Bryars steht nicht der Sinn nach Effekt. Das Heftige weicht einem sanften Streicherhymnus, ungemein harmonisch, als wär´s ein Stück von Haydn. Ständige Wiederholung inbegriffen, mit minimalen Abweichungen, getragen vom tiefen Register der Bläser, die Schwärze des Meeres illustrierend. Inmitten Einspielungen von Interviewfetzen zum Unglück. So will uns Brayrs hinabziehen, lullt uns aber bloß ein.

Seine Nähe zum Minimalisten Michael Nyman ist offenkundig. Dafür steht noch mehr „Jesus’ Blood Never Failed Me Yet“. Der simple Gesang eines Stadtstreichers, aus dem Nichts kommend, lauter werdend, schließlich ersterbend, ist die (vom Tonband zugespielte), laufend wiederholte Grundlage des Stücks. Die Endlosschleife wird harmonisch aufs Angenehmste unterfüttert, mehr und mehr Orchesterstimmen verstärken die Grundierung, bis auch hier alles verblasst. Bryars’ große Meditation will uns einfangen, ist aber bloß Klang gewordene Vorhersehbarkeit.

Da bedarf es schon eines Luciano Berio, der orchestrale Bewegung in Statik gekonnt einflechten kann und dabei ein Füllhorn von Klangfarben über uns ausschüttet. Diese Musik kreist nicht verloren um sich selbst, sie schwebt um ein imaginäres Zentrum. Ein kleiner Glücksfall.

(Der Text ist zuerst in der WAZ erschienen.)




Fieberträume im Opiumrausch: Auftakt zur neuen Saison im Konzerthaus Dortmund

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Copyright: Pascal Rest)

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Foto: Pascal Rest)

Jetzt fährt sie die Krallen aus. Fetzt dissonante Akkorde in die Saiten, zum scharfen Klappern der Kastagnetten. Wirft sich mit ruppigem Schwung in den derben Bauerntanz, in den Prokofjews 2. Violinkonzert mündet. Verflogen ist die grüblerische Stimmung des Beginns, vorüber sind die traumverlorenen Melodiebögen des Andante assai, in dem die Geigerin Janine Jansen ihren eleganten Violinton bis in himmlische Höhen schimmern und blühen lässt.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, musiziert die groß gewachsene Niederländerin jetzt mit aller Vehemenz. Ihr beinahe sportives Spiel, das ihre aus dem Gesicht gebundenen Haare immer wieder nach vorne fliegen lässt, verliert selbst bei äußerstem Bogendruck auf der G-Saite nicht seine durchscheinende Qualität.

Und doch sollte auf Hut sein, wer sich von ihrem ruhig und frei schwingenden Vibrato einlullen lässt, wer den Momenten schier Mendelssohn’scher Schönheit in ihrer Interpretation glaubt. Denn die Geigerin weiß um die Dämonen, die in der Partitur lauern. Da huschen Pianissimo-Läufe vorbei wie Schatten, kalt und schauerlich rieselnd. Wenn Prokofjew seine Themen in virtuose Exzesse treibt, sie durch die tiefsten und höchsten Höhen des Instrumentes jagt, schaut der Wahnsinn um die Ecke. Janine Jansen lässt ihn aufblitzen wie eine gefährliche Klinge. An einem kammermusikalischen Zusammenspiel mit dem Orchester ist der Geigerin sichtlich gelegen: Eine Tatsache, die ihre Klasse als Solistin nur noch mehr unterstreicht.

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Copyright: Pascal Rest)

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Foto: Pascal Rest)

Dem Dortmund von 2010 bis 2013 eng verbundenen Dirigenten Esa-Pekka Salonen und dem in London beheimateten Philharmonia Orchestra war das Eröffnungskonzert der neuen Saison anvertraut. Sie begannen mit einer Komposition des Australiers Brett Dean. Sein Orchesterstück „Testament“, inspiriert von der Musik Ludwig van Beethovens und auf dessen „Heiligenstätter Testament“ anspielend, modelliert große symphonische Klangflächen immer wieder neu. Was zu Beginn surrt und brummt wie ein Hornissenschwarm, beruhigt sich mal zu fahlem Gemurmel, baut sich dann wieder zum tumultösen Fortissimo auf. Salonen und das Orchester formen Deans Werk, als sei es Ton auf einer Drehscheibe. Zitate aus Beethovens „Rasumowsky“-Streichquartette arbeiten sie heraus, ohne den hypnotischen Sog des Werks zu verlieren.

Von hier den Bogen zum Opiumrausch des Helden aus der „Symphonie Fantastique“ zu schlagen, scheint folgerichtig. Die rasende Liebe eines Künstlers zu einer schönen Frau, die uns der Komponist Hector Berlioz in fünf Sätzen mit größter Instrumentationskunst vor Ohren führt, rauscht unter Salonens Leitung vorbei wie ein mehrteiliger Fiebertraum. Von Beginn an gehen Dirigent und Orchester aufs Ganze: Schon der erste Auftritt der „Idee fixe“ ist von solch übersteigerter Nervosität begleitet, dass ein Happy End undenkbar erscheint. Diesen Ansatz hält Salonen gnadenlos durch, unterstützt von Musikern, die jede Tempo-Eskapade und jedes dynamische Extrem mitmachen.

Niemals kehrt Ruhe ein in dieser aufregenden Interpretation, nicht einmal im pastoralen Idyll der „Szene auf dem Land“. Das Mittagslicht gleißt zu hell, um Frieden zu finden. Das ferne Rollen des Donners geht nahtlos in die düsteren Trommeln über, die den „Gang zum Richtplatz“ begleiten. Jede gespenstischer als die vorherige, so fliegen die „Szenen aus dem Leben eines Künstlers“ an uns vorüber. Der wüste „Traum einer Sabbatnacht“ kulminiert im ordinären Röhren der Tuben und Posaunen. Das mittelalterliche „Dies irae“-Thema schwillt an zu infernalischem Lärm. Das Philharmonia Orchestra schrillt und tobt, gibt seine Klangkultur trotz in Szene gesetzter Monstrositäten aber unter keinen Umständen auf. Frenetischer Beifall.

(Am Do., 19. September, gibt der Dirigent Yannick Nézet-Séguin mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra seinen Einstand als neuer Exklusivkünstler. Ticket- Hotline: 0231 – 22 696 200, Informationen unter www.konzerthaus-dortmund.de)