Seltenes zum Verdi-Jahr: Fesselnder „Stiffelio“ in Krefeld-Mönchengladbach

Für einen Augenblick sieht es so aus, als würde er es schaffen, der Papierflieger. Aber dann schmiert er jämmerlich ab. Ein schüchternes Zeichen von Hoffnung stürzt. In der Gesellschaft, in der Lina und Raffaele versuchen, zueinander zu kommen, haben ihre Träume keine Chance. Helen Malkowsky exponiert ihre Version der Verdi-Oper „Stiffelio“ mit diesem Verweis auf eine unlebbare Vision. Sie endet im grellen Licht der Hoffnungslosigkeit.

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Zum Verdi-Jahr 2013 entschied sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach gegen den üblichen Reigen aus Rigoletto – Traviata – Troubadour und setzte Verdis bedeutende, aber kaum bekannte Oper „Stiffelio“ auf den Spielplan. Eine Maßnahme, die dem Theater am Niederrhein ähnlich viel Aufmerksamkeit garantiert wie im Frühjahr ein neuer szenischer „Rienzi“ zum Wagner-Jubiläum. Mit Recht, denn unter den deutschen Musiktheatern hält sich die Spielplan-Kreativität in Sachen Verdi sehr in Grenzen.

Das 1850 entstandene Werk ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Schon die Uraufführung in Triest war von massiven Problemen überschattet. Eine protestantische Sekte, ein verheirateter Pastor, eine Predigt und eine Beichte auf offener Szene waren für die Zensur inakzeptabel. Von den wenigen Inszenierungen ging nur eine – 1852 im liberalen Venedig – in der ursprünglich vorgesehenen Form über die Bühne. Verdi zog das Werk zurück und verarbeitete die Musik in seiner heute ebenfalls unbekannten Kreuzfahrer-Oper „Aroldo“. Die Mittelalter-Camouflage diente dazu, die Zensur kaltzustellen.

Eine Rarität trotz unverkennbarer Qualitäten

„Stiffelio“ war verschollen und wurde erst 1968 Jahren wieder entdeckt. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich der Oper zu nähern. Doch erst als 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Autographteile vorlag, waren gültige Inszenierungen von „Stiffelio“ möglich. Auf die deutsche Opern-Szene hatte das keinen Einfluss. Trotz seiner unverkennbaren Qualitäten bliebt „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab.

Beide Werke haben in der Tat einiges gemeinsam: Verdi rückt einen unkonventionellen Helden ins Zentrum; die Liebesgeschichte tritt in ihrer dramatischen Brisanz zurück. Verdi sah, das hat er später noch deutlich angemerkt, im „Stiffelio“ einen der neuen, leidenschaftlichen Stoffe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Das Libretto Francesco Maria Piaves – Grundlage ist ein allerdings kaum mehr erkennbares französisches Boulevardstück – inspirierte ihn zu frei angelegten Szenen, zu einer subtilen musikalischen Charakterisierung zu diffizilen instrumentalen Details, aber auch zum Vermeiden gassenhauerischer Melodiebildung – aus Sicht der Rezeptionsgeschichte zweifellos ein Hindernis.

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

„Stiffelio“ ist zweifellos Verdis „theologischste“ Oper – und ein Unikum unter den zeitgenössischen Werken. Die Titelfigur, ein protestantischer Pastor mit einer Frau an seiner Seite, war für das italienische Publikum ebenso exotisch wie ein Libretto, das die Fragen nach Schuld und Versöhnung, nach authentischer Liebe und ehelicher Treue im Kontext des Evangeliums stellt. Doch was damals befremdlich wirkte, könnte heute eine Chance sein. Denn „Stiffelio“ gibt uns nicht nur einen tiefen Einblick in die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern lässt auch gewisse Schlüsse auf Verdis eigene Religiosität und seine Stellung zum Christentum zu. Und trotz der philosophischen Fragen agieren auf der Bühne, wie immer bei Verdi, lebendige, leidenschaftliche Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Vaterfigur spielt eine entscheidende Rolle

Es mag sein, dass die Story von der evangelischen Pfarrersfrau Lina, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten dem Werben eines jungen Mannes nachgibt, Verdi besonders berührt hat: Er lebte jahrelang mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren. In Verdis Oper werden aber auch zentrale ethische Themen verhandelt: Es geht um „Reinheit“, um „Ehre“, um Rache.

Wie in vielen Verdi-Opern, auch im „Rigoletto“, spielt eine Vaterfigur eine entscheidende Rolle: Der alte Stankar, Linas Vater, ist ein Offizier (man denke an den Vater Luisa Millers), dem die Ehre über alles geht. Mit allen Mitteln versucht er, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren. Der Patriarch wütet im Namen der Ehre gegen jede barmherzige Lösung, kennt nur eine Konsequenz: die Rache, die er schließlich mörderisch an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil. Lina dagegen tritt uns als starke Frau entgegen, die nicht bereit ist, sich vom Druck der Gesellschaft und der Männer um sie herum entwürdigen zu lassen. Sie ist sich ihrer Schuld bewusst und verleugnet sie nicht, steht aber dazu, eine „Sünderin“ zu sein.

Zahn um Zahn – oder Barmherzigkeit und Vergebung

Der zerrissene Held, Stiffelio: ein von seiner Mission durchdrungener Prediger und Seelsorger, aber auch ein eifersüchtiger Ehemann. Herausgefordert von der versöhnlichen Botschaft des Evangeliums und der barmherzigen Gestalt Jesu, aber auch erfüllt von rasender Rachgier. Das Programmheft hat den Konflikt auf den Punkt gebracht: Alttestamentliche Vorstellungen von Vergeltung („Zahn um Zahn“), die Verdi in der Institution und der unerbittlichen Morallehre der Kirche seiner Zeit erkannt haben mag – stehen der neutestamentlichen Botschaft des Verzeihens und der Barmherzigkeit gegenüber. In Stiffelios Bekehrung im Finale der Oper mag sich Verdis eigene Glaubenssehnsucht wiedergefunden haben: Heilung statt Rigorismus. Stiffelio schlägt das Johannes-Evangelium auf und liest die Stelle, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

Helen Malkowksy zeigt in ihrer Inszenierung eine Gesellschaft, die in ihren Tugendbegriffen gefangen ist wie in den bühnenhohen Mauern von Hartmut Schörghofer. Die Rituale – als Chiffren dienen Tücher – wirken entleert. Immer wieder geht die Gemeinde – der Chor ist von Ursula Stigloher bestens präpariert – wie in einer Front auf Konfrontation; sie distanziert sich, sie grenzt aus. Lina im spießig adretten blauen Kleidchen ist verdammt zur Existenz eines „Blaustrumpfs“: demütig sollen solche Frauen sein, sich unterordnen, keine eigenen Wünsche verfolgen. Izabela Matula gibt der von Schuldkomplexen schwer beladenen Frau, die es sich nicht nehmen lässt, zu sich selbst zu stehen, ein gesanglich bewegendes Profil, dem auch die bisweilen schrillen und engen Töne nichts nehmen.

Der äußere Schein zählt

Eine fesselnde Studie eines zwischen seinen patriarchalistischen Blockaden und seiner inneren Traumatisierung zerriebenen Charakters bietet Johannes Schwärsky als Oberst Stankar. Schwärsky setzt einen machtvollen, aber nicht immer gut fokussierten Bass ein. Mit bewegender Intensität bewältigt er sein Solo zu Beginn des dritten Akts, das man zu den großen psychologisch durchdrungenen und musikalisch avancierten Szenen Verdis zählen darf.

Stankars verkrüppelte linke Hand steht als Zeichen für seinen deformierten Charakter: Er ist der Repräsentant einer Gesellschaft, für die der äußere Schein alles zählt, in der die dunklen Seiten unter den Tisch gekehrt werden: Die Leiche des im rächenden Rausch erstochenen Raffaele wird hastig unter dem Altartisch versteckt; Stankar zieht noch das Tuch ordentlich gerade. An dem Alten lässt sich vielleicht auch ablesen, auf welche Weise Verdi Exponenten des katholischen Glaubens erfahren hat: Unter der Kruste einer nur selektiv akzeptierten christlichen Ethik brodeln atavistische Leidenschaften.

Auch Stiffelio ist von diesen Impulsen geschüttelt: Eben noch von Güte und Nachsicht durchdrungen, packt ihn das Begehren nach Rache, als er erfährt, wer der Verführer seiner Frau ist. Erst der Gesang der Gemeinde aus der Ferne – wie eine innere Eingebung wirkend – bringt ihn zur Besinnung. Michael Wade Lee kann in diesem Moment klar machen, wie schwer es Stiffelio fällt, dem Vorbild des vom Kreuz herab noch verzeihenden Jesus zu folgen. Die Figur macht klar, dass Verdi der Anspruch ehrlich gelebten Christentums bewusst ist, wie er ihn selbst als Maßstab in seinem Urteil anlegt. Nicht durchgehend hat Michael Wade Lee so eindrucksvolle Momente als Sänger und Darsteller: Gerne neigt er dazu, seine kraftvolle Stimme auszustellen, statt sich der Palette der von Verdi vorgegebenen psychologischen Grundierungen zu stellen. Michael Siemon als Raffaele bewegt sich klug im Bereich des Lyrischen; Hayk Dèinyan als Gemeindevorsteher Jorg scheint am Premierenabend nicht gesund gewesen zu sein: Er überzeugt als Darsteller, aber seine wenigen Sätze klingen heiser.

Wie stets klug konzipierend, gelingt es der Regisseurin Helen Malkowksy, die philosophisch-theologischen Fragen mit psychologisch glaubwürdigen, auch im Detail überzeugend gestalteten Personen zu verbinden. Sie will sich der verzeihenden Predigt Stiffelios nicht als Happy End nähern: Ob die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, bleibt offen. Stiffelio will nicht nur Verzeihen, sondern auch Wahrheit: Während des Gottesdienstes wird das Licht entlarvend hell; schließlich reißt Stiffelio selbst das Altartuch vom Tisch und lässt der schockierten Menge die Leiche Raffaeles sehen. Und im Hintergrund leuchtet kalt und weiß ein Gitter aus Leuchtröhren auf: Werden sich die Menschen aus ihren inneren Gefängnissen befreien?

Mit Mihkel Kütson hat Verdi einen Anwalt am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker, der auf differenzierende Detailarbeit Wert legt. Verdi hat den Bläsern viele dankbare charakterisierende Aufgaben gestellt, denen sich die Solisten im Theater in Rheydt gewachsen zeigen. Aber er fordert auch von den Streichern ein Höchstmaß an aufmerksamer Arbeit am expressiven Moment. Dem stellen sich die Sinfoniker anfangs noch etwas wackelig, später mit beträchtlichem Erfolg. Wieder einmal hat das Theater Krefeld-Mönchengladbach unter seinem Generalintendanten Michael Grosse gezeigt, wie anspruchsvolle Theaterarbeit abseits der Aufmerksamkeit heischenden Zentren aussieht. Gut, dass es solche Häuser gibt!




„Polizeiruf“ rund um einen Kindergarten: Die Hölle der ehrgeizigen Eltern

Wenn ein „Polizeiruf“-Krimi schon „Kinderparadies“ heißt, dann kann man ziemlich sicher sein, dass er gleichsam mitten in die Hölle führt. Und so war es dann auch.

Man lernte einen Kreis pädagogisch versierter Eltern aus der gehobenen Mittelschicht kennen, die ihren eigenen, höchst ambitionierten Kindergarten betrieben. Ganz klar: Sie alle wollten nur das Allerbeste für ihre Kinder, die hier im zarten Alter von zwei, drei oder vier Jahren schon mit chinesischer Sprache, klassischer Musik und Theater wie Shakespeares „Sommernachtstraum“ vertraut werden sollten.

Die kleine Lara (laut Besetzungsliste Doris Marianne Müller - in Wahrheit Edwina Kuhl, Tochter von Annika Kuhl und Leander Haußmann) wurde fast zur Hauptdarstellerin. Hier bekommt sie vom Kommissar einen Teddy. (© BR/EIKON Süd GmbH/Barbara Bauriedl)

Die kleine Lara (laut Besetzungsliste Doris Marianne Müller – in Wahrheit Edwina Kuhl, Tochter von Annika Kuhl und Leander Haußmann) wurde fast zur Hauptdarstellerin. Hier bekommt sie vom Kommissar einen Teddy. (© BR/EIKON Süd GmbH/Barbara Bauriedl)

Lauter psychische Wracks

Das war ziemlich dick aufgetragen, wenngleich es gewisse Vorbilder in der Wirklichkeit gibt. Mit entsprechender Zerstörungslust wurden solche idyllischen Lebenslügen in diesem Film (Regie: der theatererfahrene Leander Haußmann) ebenso genüsslich wie gründlich demontiert. Statt liebevoller Eltern lernte man einige psychische Wracks kennen, die einander in Hass und Eifersucht verfolgten.

Das mag sich recht schematisch anhören, doch die Frage ist, wie so etwas gespielt wird. Und da muss man sagen: Es war – bis in die Nebenrollen hinein – darstellerisch überwiegend exzellent. Angefangen vom Münchner Kommissar Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) bis hin zu den Elternrollen (u. a. Annika Kuhl, Johannes Zeiler, Markus Brandl). Filmisch erging man sich vielfach in bloßen Andeutungen und Impressionen, so dass sich mancher Sachverhalt nur nach und nach zusammensetzte – wie ein Mosaik. Es war schon ein besonderes Stück Fernsehen, keineswegs alltäglich.

Momente der Hoffnung

Letzten Endes konnten einem alle Figuren zutiefst leid tun, allen voran natürlich die Kinder, die unter den furchtbar deformierten Erwachsenen zu leiden hatten. Doch selbst die Täterin, die unglaublich brutal zu Werke gegangen war, war ein solch erbarmungswürdiges Häufchen Elend…

Die insgesamt ziemlich niederziehende Milieustudie beschränkte sich gottlob nicht nur auf bitteren Ernst, sondern nahm sich auch Zeit für einige parodistische Momente und ein paar Lichtblicke. So beispielsweise, als die versammelten Kripo-Spurensicherer im Gefolge des Kommissars „Heile heile Gänschen“ brummelten, um die kleine Lara zu beruhigen. Die wurde so etwas wie die heimliche Hauptperson des ganzen düsteren Dramas, indem sie auf sehr anrührende Weise ein Stück Hoffnung verkörperte. Als Vater einer gerade vierjährigen Tochter weiß ich erst recht, was ich da sage.

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Familienfreuden auf Reisen: Die Visitenkarte des Weihnachtsmannes

Ach ja, die Sonne scheint, ich sitze im T-Shirt vor dem Laptop, die Blumen blühen – da kann man schon mal in Weihnachtsstimmung geraten. Zumindest suggeriert mir das mal wieder unser Supermarkt um die Ecke, bei dem es schon Lebkuchen und Spekulatius gibt. Das zumindest passt hervorragend zu unserem Reiseabschluss – denn Fi ist dem Weihnachtsmann begegnet.

Der Weihnachtsmann - der Spannung halber hier anonymisiert.

Der Weihnachtsmann – der Spannung halber hier anonymisiert.

Wenn ich an den Weihnachtsmann denke, ist neben dem üblichen Bart und der roten Kleidung eigentlich immer auch irgendwo Schnee im Bild, auch Tannengrün und ein paar leuchtende Weihnachtsbaumkugeln gehören dazu.

Die Realität sah anders aus, ganz anders. Wir stießen die Tür unseres Campingwagens auf und da stand er: Santa Claus – und bändigte unser Grillfeuer! Mit einem Pusterohr, ganz entspannt. Auch sonst stimmte einiges nicht an dem Bild: Santa trug ein gemütliches Karohemd und Jeans. Und er war mit Freunden da, die allesamt nicht wie Kobolde aussahen. Das, was allerdings am meisten von meiner Vorstellung abwich, war die Tatsache, dass der Weihnachtsmann Harley Davidson fuhr.  Die stand da, blitzblank leuchtend, und war nicht einmal rot.

Trotzdem gab es keinen Zweifel, dass es sich bei dem Mann an unserem Grill um den echten Weihnachtsmann handelte. Fi muss das sofort gespürt haben, denn sie war mucksmäuschenstill und schaute den bärtigen Herrn nur mit großen Augen an und ließ sich sogar von ihm den Kopf streicheln. „Ich habe etwas für Eure Tochter“, sagte der Mann verschwörerisch, „und Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr es so lange aufbewahrt, bis sie groß genug ist, um es selbst zu lesen.“ Wir nickten gespannt.

Er kramte in seiner Hemdtasche. Und zog etwas Kleines hervor.

Eine Visitenkarte! Vom Weihnachtsmann!

Damit war auch bei uns Erwachsenen jegliches Misstrauen weggepustet. Zumal auf der Karte auch eine Liste mit seinen Lieblingssachen stand, die ich Euch hier nicht vorenthalten will. Also:

Lieblingsgetränk: Milch
Lieblingsjahreszeit: Winter
Lieblingstier: Rentier
Lieblingshobby: Kunst und Handwerk
Lieblingsfarben: Rot und Braun

Informationen, die Gold wert sind!

Santa lächelte uns freundlich an. „Ich sage den Kindern immer: So lange Ihr an mich glaubt, komme ich auch zu Euch.“ Wir nickten und prägten uns jedes Wort für Fi ein. Trotzdem schaute er uns prüfend an und meinte seufzend: „Wisst Ihr, manchmal ist es so, dass man nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt. Dann dauert es sehr lange, bis der Glaube zurückkehrt – meistens dann, wenn so ein Wunder geschieht, wie die Geburt eines Kindes.“

Wir schluckten und nickten erneut. Als er weg war, sahen wir noch lange in die glimmenden Kohlen.

Wir hatten den Weihnachtsmann wiedergefunden. Und Fi können wir eines Tages sogar seine Visitenkarte geben.




„White House Down“ – Explodierende Monumentalbauten

Roland Emmerich, der Katastrophenfilm-Spezi, hat wieder einen Film gemacht, ganz nach dem Muster der anderen, zum Teil recht erfolgreichen: „Independence Day“, „Godzilla“ und „The Day After Tomorrow“. Er lässt gerne was explodieren oder auf alienöse Weise aus dem All zerdeppern. Er schafft draufgängerische Helden, die sich für nix zu schade sind, und die seit Jahren ihren Ruf als Haudraufs und Kill-’em-deads gefestigt haben.

Die Geschichte von „White House Down“ kann man schon erahnen: Böse Menschen wollen das Weiße Haus samt Präsident abfackeln oder niederreißen, in die Luft jagen oder ins All entführen. Das werden natürlich nicht nur der amtierende Präsident James Sawyer (Jamey Foxx) sondern auch die Guten Menschen zu verhindern wissen. Nicht ohne gewisse Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Das kennt man und erwartet man auch.

Prägnante Szene aus "White House Down" (© Sony Pictures)

Prägnante Szene aus „White House Down“ (© Sony Pictures)

In letzter Zeit ist der Obergute oft mal ein alleinerziehender oder dysfunktionaler Vater, der versucht, seinem wunderschönen, klugen und höchstens 14jährigen Nachwuchs zu beweisen, dass er ein oberprima Vater ist. Der Nachwuchs ist entweder vatergläubig oder vateragnostisch. Egal, bisschen Abwechslung muss sein.

In „White House Down“ ist der leitende Gute natürlich der POTUS (President of the United States), und sein Gefolge von ziemlich gut über mittelgut bis ungut wuselt um ihn herum, immer darauf bedacht, ihn zu beschützen.

Dauerjogging um die Präsidentenkarosse

Das möchte auch der Polizist John Cale (Channing Tatum) ganz dringend, und bewirbt sich als Personenschützer beim Secret Service. Den Personenschützer sieht man gerne im Dauerjogging um die Präsidentenkarosse rumtänzeln; jederzeit bereit, seinen Körper todesmutig vor den des POTUS zu werfen. Cale will seiner entzückend altklugen, politisch hochinteressierten 14jährigen Tochter Emily (Joey King) beweisen, dass er das Zeug für diesen Posten hat.

Das sieht aber leider die Chefin des Secret Service, Carol Finnerty (Maggie Gyllenhaal) anders. Sie meint, ihm mangele es an dem nötigen „R.E.S.P.E.C.T.“ – und nix is mit dem Macho-Job. Aber erst mal traut sich der um good vibes bemühte Vater John Cale nicht, das seinem entzückenden (sagte ich bereits?) Töchterchen zu beichten, und er macht eine Führung durch das Weiße Haus mit ihr. Wir erinnern uns, das Kind ist politisch nicht nur interessiert sondern auch extrem kundig. Wie die 14jährigen halt so sind.

Inzwischen plant der POTUS einen etwas umstrittenen Vertrag mit seinen Allierten zu schließen, der beinhaltet, dass im Mittleren Osten alle Truppen abgezogen werden sollen. Sowas kann natürlich nicht allen gefallen, das liegt in der Natur der Kriegsführung, die schließlich einen enorm wichtigen Wirtschaftszweig, Waffenherstellung und –handel unterstützt. Es sind aber nicht nur schwere Geschütze, Bomben und Granaten im Spiel, wenn’s ums Umbringen geht, sondern auch ganz normale aber schwere Dekorationsgegenstände. Und Fäuste natürlich.

Jetzt: Auftritt der Bösewichter. Denen sieht man das auch nicht immer an. Und man weiß nicht, ob sie wirklich Böse sind oder nur Undercover-Böse. Das ist der spannende Teil. Sobald sie aber eine Bombe geschickt platziert und zur Explosion gebracht haben, geht der Stress los. Zuerst fliegt mal das Dach über der Rotunda in die Luft und mit ihm leider viele unschuldige Menschen. Nun treten mehrere Pro-Präsident und Anti-Präsident-Truppen gegeneinander an, mit wechselndem Erfolg und Waffen, um an ihre jeweiligen Ziele zu gelangen.

Schließlich weiß man dann auch irgendwann, wer der Oberböse ist, und ja, er ist ein Interner. Mehr sag ich dazu jetzt nicht.

Entzückend schlaue Tochter des Personenschützers

Jedenfalls bleibt man lang genug im Unklaren über die Personenaufstellung, und Cale bekommt mehr als genug Chancen, seine Qualifikation für den Personenschützerjob unter Beweis zu stellen. Und natürlich auch, um seiner entzückend schlauen Tochter zu imponieren. Die ist auch furchtlos mitten in dem Chaos unterwegs, und alles nimmt ein gutes Ende. Anders wär ja auch blöd.

Für Herrn Emmerich war es sicher auch blöd, dass „Olympus Has Fallen“, ein gehobenes Katastrophenstück von Antoine Fuqua, vor seinem in die Kinos kam. Gleiches Thema, andere Feinde, und der Vater hat einen Sohn.

„White House Down“ ist kurzweilig unterhaltsam. Aber auch laut, brutal und marktschreierisch. Einige Überraschungen hat er trotz der Vorhersehbarkeit. Es ist nicht mein bevorzugtes Genre, aber das ist allein mein Problem.

Es ist auf jeden Fall ein Film für Fans von:

Katastrophenspektakeln

Verschwörungstheorien

Blow’em up and shoot’em down

Special Effects

Maggie Gyllenhaal (und da gehör ich auch dazu).

Alle zusammen sitzen wir in unseren puscheligen Kinosesselchen, rascheln mit übelriechendem Popcorn, klappern mit Alcopops im Rhytmus zu dem Hully Gully und seufzen: „Ach warum passiert so was denn hier nicht?“ Besonders VOR den Wahlen.

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Trailer zum Film (© Verleih Sony Pictures): http://www.trailerseite.de/film/13/white-house-down-kino-trailer-26708.html




Die Magie des Doppellebens – Jo Lendles Roman „Was wir Liebe nennen“

Was wir Liebe nennen von Jo LendleLambert kommt aus Osnabrück und ist ein Zauberkünstler. Die Kunst der Magie hat ihn schon als Kind fasziniert und er ist dabei geblieben, schon weil er nie dazu gekommen ist, etwas Anderes zu lernen. Er meint zu wissen, was er Liebe nennt, aber er gehört auch zu denen, die „immer genau wissen, was ihnen fehlt“. Aufbruch und Mut zur Veränderung sind seine Dinge nicht.

Erstmals begibt es sich, dass das alljährliche Magier-Treffen auf einem anderen Kontinent stattfindet und so besteigt der bekennende Provinzler ebenfalls erstmals ein Flugzeug. Bisher hat das Schicksal ihn immer wohlwollend behandelt, viel ist ihm in seinem Leben nicht geschehen. „Wäre er eine Adventskerze, er wäre die Vierte„. Der Flug, ein neuer Kontinent ist ihm schon Aufregung genug. Doch bevor er überhaupt an seinen Zielort Montreal gelangt, muss sein Flugzeug notlanden und beschert ihm eine eigenartige Nacht mit zufälligen Leidensgenossen. Nach Irrungen endlich in Kanada angekommen, sich völlig aus der Zeit geworfen fühlend, lernt er die junge Biologin Fe (Felicitas) kennen, die gerade dabei ist, fast ausgestorbenen Wildpferden die Freiheit wiederzugeben. Die ungestüme junge Frau fasziniert ihn ungemein.

Mit Fe traut er sich, Träume von Freiheit, Weite und Wildheit zu träumen. Doch so einfach ist das nicht: „Sein bisheriges Dasein hatte ihn auf so etwas nicht vorbereitet: Die Frau seines Lebens zu treffen, obwohl man die Frau seines Lebens bereits getroffen hatte.“ Die Liebe, die daheim auf ihn wartet, begann ebenfalls romantisch. Und es ist auch nicht so, dass er diese Frau nicht liebt. Allerdings stehen in dieser Liebe Entscheidungen an, wie man den Alltag künftig zu leben gedenkt. In Kanada erlebt er mit Fe magische, verzauberte Momente, ganz ohne Trickkiste. Doch auch hier fühlt er sich außerstande, eine wie auch immer geartete Entscheidung zu treffen.

Das Schicksal in Form eines überbuchten Fluges gibt ihm eine Chance. Die gemeinsame Zeit mit Fe ist verlängert, der Augenblick der Entscheidung verzögert. Vor die Wahl zwischen zwei Realitäten gestellt, flüchtet er sich in die Magie. Dieses Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Spiel beherrscht er gut. Passt ihm ein Glückskeks-Spruch nicht, knackt er solange Kekse, bis der rechte Spruch kommt. Es ist Zeit für den Zauberer, Zeit für den Autor in seine Trickkiste zu greifen und Lambert ein zweites Leben im Ersten zu geben. Lambert eins trifft auf Lambert zwei. Der eine bemüht die Vernunft, der andere die Sehnsucht. Die bis dahin recht ruhige Geschichte entwickelt sich zu einem rasanten surrealen Roadmovie durch die Wildnis Kanadas, an dessen Ende die Entscheidung steht, welcher der beiden Lamberts die Oberhand behält.

Mit dieser Geschichte einer Liebe und eines Aufbruchs hat Jo Lendle ein nicht alltägliches Buch vorgelegt. Zunächst mutet „Was wir Liebe nennen“ wie eine ganz einfache Geschichte an, doch so einfach ist es mit der Liebe und dem Leben nicht. Liegt eine mögliche Lösung in einem Doppelleben? Es drängt sich der Gedanke auf, dass Jo Lendle in diesem Buch Lösungsmöglichkeiten mit sich selber diskutiert. Schließlich führt auch Lendle so etwas wie ein Doppelleben. Nach langen Jahren verlegerischer Geschäftsführertätigkeit beim DuMont-Verlag wird er nach einem Sabbatical ab Januar den traditionsreichen Hanser Verlag führen. Daneben reüssiert er aber auch schon seit Jahren erfolgreich als Autor. „Was wir Liebe nennen“ ist sein vierter Roman. Sicher kein Zufall, dass er vor der großen Veränderung in seinem Leben einen Roman schreibt, in dem er als Autor leichten Herzens den Job des Zauberers übernehmen kann. In der Verlagswelt hilft kein Zauber und kein Trick, Lendle weiß das. Er ist bekannt dafür, sich den Veränderungen und Herausforderungen der Verlagswelt sehr bewusst zu sein.

Ob er auch beim Hanser Verlag für magische Momente sorgen kann, wird sich weisen. Doch mit seinem vierten Roman tut Lendle genau das. Er schenkt dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und anrührender Poesie. Mal beschwört er eine leichtfüßige Stimmung, mal eine ungestüme, gelenkt von der Sehnsucht nach ungezähmter Wildheit. Gut zeigt sich seine enorme Stilsicherheit in der kleinen Nebengeschichte um Viola und Sascha, seine Gefährten beim Flugzeugabsturz. Auf nur wenigen Seiten transportiert er da wuchtige Emotionen. Das Buch liest sich, als wäre es dem Autor von seiner Eingebung diktiert worden, doch sicher ist es sorgfältig konstruiert und formuliert. Schließlich ist nichts schwerer, als etwas leicht erscheinen zu lassen. Das weiß der Zauberer, das weiß auch der Autor. Schaut man einem Zauberer zu, weiß man nie, wann genau der Moment der Magie stattfand. So ist es auch im Buch, die magischen Momente sind versteckt. Oft erkennt man sie erst im Nachhinein.

Mitten im Buch wechselt das Buch in eine Art surrealen Realismus und spielt auf mehreren Ebenen. Spielt mit der Zeit und den Protagonisten, welche Lendle durchgehend mit warmer Zuneigung beschreibt. Die zwei Seelen-in-meiner-Brust-Thematik ist nicht neu, neu ist der abrupte Wechsel, der nicht eines gewissen Reizes entbehrt, zumal die Handlung etwa in der Mitte dahinzuplätschern beginnt. Mit dem Stilwechsel nimmt sie aber schnell Fahrt auf. Den Kreis schließt er gekonnt, indem er Bilder aus dem ersten Teil wieder aufgreift und ihnen im Nachhinein Symbolik verleiht. Lambert bleibt der zaudernde Zauberer, letztlich entscheidet sein Unglaube an „die Folklore der Freiheit“. Eine ganz und gar nicht faustische Entscheidung, sondern eher eine, die zwischen Ironie und Resignation mäandert.

Ich finde es mutig, sich als bekannte Persönlichkeit des Literaturbetriebes an eine Liebesgeschichte, an Gefühlswelten zu wagen. In dieser bisweilen überintellektuellen Welt ist das ein schmaler Grat. Aber Lendle hält die Balance sehr gut, bis zur Grenze des Kitsches ist bequem viel Platz. Für den Leser ist es schön, sich auch einmal in eine märchenhafte Geschichte fallen lassen zu dürfen.

Damit ist Lendle und seinem Lambert ein Trick gut gelungen. Der Leser ist bezaubert und entführt in eine Welt voller Möglichkeiten, die an die Macht der Liebe, aber auch an die der Zufälle glauben lässt. Jeder wird die Frage nach dem, was wir Liebe nennen, auf seine eigene Weise beantworten. Auch wenn Lambert manchmal mit einem Augenzwinkern auf die Möglichkeit hinweist, die Antwort wäre ganz leicht auf chemische Reaktionen zu reduzieren, Lendle beantwortet sie mit diesem Buch für sich. Was er Liebe nennt, ist ganz sicher auch Liebe zu Geschichten, zur Phantasie, zur Sprache, zum Wort.

Jo Lendle: „Was wir Liebe nennen“. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, 248 Seiten, €19,99




Gala zu 25 Jahren Aalto-Theater: Norbert Lammerts Plädoyer für die Oper

Wird 25 Jahre: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Wird 25 Jahre alt: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

„Wacht auf“! Der Chor aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ hätte durchaus an den Schluss der Rede von Norbert Lammert gepasst. Nicht, weil dieser Appell an die Zuhörer bei der Gala zum 25-jährigen Bestehen des Essener Aalto-Theaters nötig gewesen wäre: Der Bundestagspräsident hielt sein Publikum gekonnt bei der Stange. Sondern weil sein leidenschaftliches, argumentativ brillantes Plädoyer für die Oper endlich einmal zum Aufwachen führen sollte.

Zum Aufwachen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Kulturpolitik, die dem Musiktheater seit Jahren eine Krise nach der anderen einbrocken. Davon war bei der festlichen Gala im Aalto-Theater nichts zu hören. Verständlich: Man feiert zu Recht das Bestehende, freut sich am Gegebenen. Es muss nicht Krisen-Geraune über jedem Anlass zur Freude liegen.

Essen: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Einer der schönsten Theaterbauten Europas: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Und ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum in der Tat: Essen besitzt mit dem Bau des finnischen Architekten einen der schönsten Theaterbauten Europas, wenn nicht sogar weltweit. Das betonte Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Recht. Wohl kaum ein Essener Bürger wird vergessen, neben der Zeche Zollverein „das Aalto“ als kulturellen Leuchtpunkt der Stadt zu nennen. Die Festschrift zum Jubiläum, nach der Veranstaltung kostenlos verteilt, lässt zwischen blau-silbernen Buchdeckeln 25 Jahre Erfolgsgeschichte Revue passieren: Von der Eröffnungspremiere – natürlich „Die Meistersinger von Nürnberg“ – über die damals provokante erste von 18 Regiearbeiten Dietrich Hilsdorfs („Don Carlos“) bis hin zum Abschied von Stefan Soltesz mit Joachim Schlömers verstiegenem „Parsifal“.

Das Aalto hatte in diesen 25 Jahren drei Intendanten, drei Generalmusikdirektoren, drei Chordirektoren, drei Ballettchefs und drei Geschäftsführer: ein Zeichen von Solidität und kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau in diesen Jahren ist unbestritten; die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ 2008 ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das Aalto-Theater als eine der führenden deutschen Bühnen geschätzt wird.

Auch Nordrhein-Westfalen ist Theater-Krisenland

Aber: Man muss nicht nach Sachsen-Anhalt blicken, wo gerade eine von allen guten Geistern verlassene Landesregierung die Theaterlandschaft irreparabel zu schädigen plant und die Zukunftsinvestitionen Bildung und Kultur zusammenstreichen will. Auch Nordrhein-Westfalen ist ein Theater-Krisenland; da mögen sich die Kulturhauptstadt-Nachklänge noch so sirenenhaft entfalten: Die Kölner Opernkrise ist nach dem peinlichen Spiel um die Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs mühevoll auf einem Niveau abgewendet, auf dem künstlerische Wagnisse kaum mehr finanzierbar sind. Die Oper Bonn muss unter ihrem neuen Intendanten Bernhard Helmich mit drei Millionen Euro weniger auskommen.

An der Deutschen Oper am Rhein herrscht Ruhe, so lange, bis die nächste Krisenrunde in Duisburg ansteht. In Gelsenkirchen wird in dem wunderbaren Bau von Werner Ruhnau dank des ungebrochenen Willens zur Kultur noch produktives Musiktheater gespielt – allerdings im Vergleich zu früher mit einem Rumpfprogramm, das zu unterschreiten seriös nicht mehr möglich ist. Hagen kämpft verzweifelt ums Überleben – und das schon seit Jahren.

Und in Wuppertal ist die – von politischer Seite sogar als mutig bezeichnete – Schließung des Schauspielhauses bittere Realität: Die Schauspieltruppe ist auf einen Zehn-Personen-Rest geschrumpft und auch die Oper wird unter ihrem neuen Intendanten Toshiyuki Kamioka, dem bisherigen Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker, auf ein Niveau gekürzt, auf dem vielleicht noch ein Betrieb, aber kaum mehr künstlerische Herausforderungen bewältigt werden können.

Wuppertal steht exemplarisch für ein weithin beobachtbares Phänomen, das innere Aushöhlen kultureller Einrichtungen. Das liegt ja auch in Essen nicht fern: Auch das Aalto-Theater litt unter Kürzungsrunden. Ein Haus dieser Größe müsste sich eigentlich mehr als fünf Opernpremieren pro Spielzeit leisten können, von der fast verschwundenen Operette ganz zu schweigen. Aber das wagt kaum jemand mehr zu sagen – es könnte ja als undankbar gelten: Seien wir froh, dass wir noch so gut dastehen. Und wer weiß, wann die Theater und Philharmonie Essen (TuP) angesichts des Wetterleuchtens für den Essener Haushalt 2014 erneut mit dem falschen, aber dennoch wirksamen Totschlagargument konfrontiert wird, dass in Krisenzeiten „alle“ sparen müssten.

Harte Argumente für die Oper

Aufwachen also! Aber wie? Für die von Nothaushalten gebeutelten Städte, denen vor allem der Bund viele Kosten aufgebürdet, aber keine Entlastungen gewährt hat, ist diese Frage kaum zu lösen. Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident weit weg von der kommunalen Kleinarbeit, aber nahe dran an denen, die große Linien vorgeben. Die Situation drängt nach der Frage: Wann kommt der Rettungsschirm für die Kultur? Die Kommunen alleine sind längst überfordert.

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Norbert Lammert hat sein Eintreten für die Oper mit harten Argumenten untermauert: Die Kunst- und Kulturlandschaft gehört zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet wuchern kann. „Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen mit bemerkenswerter Präzision in die heimische Wirtschaft zurück“, fasste er das Ergebnis vieler Studien der letzten Jahrzehnte zusammen. Es sind also nicht allein schöngeistige Argumente, die für die Oper sprechen. Die werden zwar höchstens von Kämpfern gegen die „elitäre“ Kultur angezweifelt – wie jüngst in Bonn u.a. von den „Piraten“ –, aber angesichts von Haushaltszwängen und Verteilungskämpfen dennoch gerne in die zweite Reihe abgeschoben.

Lammert wusste auch solchen Einwänden überzeugend zu kontern: Wer die angeblich elitäre Hochkultur nicht ausreichend öffentlich fördert, „verschärft den sozialen Ausschluss hochinteressierter, in der Regel aber nicht hochverdienender Kunstfreunde“. Und weiter: „Wer Kulturausgaben kürzt, gefährdet nicht Salzburg, sondern Hagen und Gelsenkirchen.“ Dafür war ihm der Beifall des Auditoriums sicher.

Kein Haushalt wird durch Kultur-Kürzungen solider

Auch was Lammert zu den finanziellen Belastungen durch Kulturausgaben erwähnte, ist längst bekannt, wird aber in den Debatten regelmäßig verdrängt: Zehn Milliarden jährlich geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kunst und Kulturförderung aus. Eine Menge Geld, aber gänzlich ungeeignet, um Haushalte zu konsolidieren. Der Anteil an den Gesamtausgaben liegt nämlich bei lediglich 1,7 Prozent – zu gering, um selbst bei drastischem Kürzen messbare Ergebnisse für öffentliche Haushalte zu erbringen. Für die Kultur dagegen ist die Bedeutung dieser Ausgaben immens – und man muss dazu ergänzen: lebensnotwendig. Lammert räumte auch mit der Sage auf, die staatliche Finanzierung könnte durch privates Sponsoring ersetzt werden: Gerade einmal ein Prozent der Theaterfinanzierung kommt aus privaten Mitteln – und die fließen meist in prestigeträchtige Projekte.

Für die Theater und Orchester in Deutschland mit ihrer beeindruckenden Bilanz – 35 Millionen Besucher jährlich, 105.000 Theateraufführungen, 84 Musiktheater mit mehr als 9.300 künstlerische Beschäftigten und 6.000 Opernaufführungen jährlich – werden gerade einmal 0,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben aufgewendet. „Das müssen wir uns leisten, wenigstens dann, wenn wir eine Kulturnation bleiben wollen.“ Es wäre zu wünschen, dass – um bei Wagners „Meistersingern“ zu bleiben – Lammerts „Stimm‘ durchdringet Berg und Tal“, auf dass in der Welt der Kultur „die rotbrünstige Morgenröt‘ her durch die trüben Wolken geht“. Schade, würden diese Worte bei den Tausenden wohlmeinender, aber folgenloser Sonntagsreden zur Kultur abgeheftet.

Großbürgerlich erhaben: Jubel mit Wagner

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Dass der Rückblick auch mit Aufbruch verbunden ist, machte die Begrüßung durch den neuen Intendanten Hein Mulders deutlich: Spannendes Musiktheater und mitreißende Ballettabende versprach er für die Zukunft. Im künstlerischen Programm der Gala war davon noch nichts zu spüren. Früher hätte man für einen solchen Anlass unter Umständen eine neue Komposition in Auftrag gegeben; heute greift man auf Wagner zurück: Erhaben muss es sein, wenn großbürgerliche Weihe- und Jubelveranstaltungen zu untermalen sind. Dass der „Einzug der Gäste“ aus dem „Tannhäuser“ eine ziemlich verkniffene Gesellschaft schildert, wen kümmert’s? Es schmettert und marschiert so schön! Tomáš Netopil, der „Neue“ am Pult der Essener Philharmoniker, hat den Überblick und das Händchen fürs Rhythmische, kam mit Schwung und Präzision auf den Punkt, auch dank der kernigen Stimmen in Alexander Eberles Chor.

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

In „Wachet auf“ aus den „Meistersingern“ überzeugte der Aufbau der Dynamik. Doch an die „Walküre“ wird sich Netopil noch gewöhnen müssen: Fließend-transparenter Orchesterklang, aber ohne dramatische Gestaltung. Jeffrey Dowd, bewährtes „Urgestein“ im Aalto-Ensemble, sang einen lyrischen Siegmund; Anja Kampe holte sich als fein artikulierende Sieglinde herzlichen Beifall. Zum bunten Abschluss gab das Orchester Ben van Cauwenberghs „Bolèro“-Choreographie das strikte Gerüst. Auch das ein Zeichen: Im Ballett regiert die Kulinarik des Anstoßfreien, die smarte Verführung durch das Gängige. In diesem Sinne bewegten sich auch die Tänzer im fantastischen Bühnenbild Dmitrij Simkins. So wird es wohl bleiben, so lange Cauwenbergh alle die bedient, die nach der Aufführung vor allem „schön“ zu stöhnen belieben.

 

Die Festschrift. Foto: TuP

Die Festschrift. Foto: TuP

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums hat das Aalto-Theater eine Festschrift und einen Dokumentarfilm veröffentlicht. Buch und DVD sind ab sofort im TicketCenter der TUP sowie an den Kassen des Aalto-Theaters und der Philharmonie Essen erhältlich. Der Preis beträgt jeweils fünf Euro.

Die 224-seitige Festschrift lädt ein zu einer Reise in die Vergangenheit des Opernhauses. Sie bietet eine umfangreiche Rückschau auf alle im Aalto-Theater gezeigten Inszenierungen, dazu enthält das Buch unter anderem viele Szenenfotos, Kurzporträts der Intendanten und Geschäftsführer, die am Haus gewirkt haben. Die 35-minütige Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Sam Shirakawa auf der DVD widmet sich – unter anderem anhand von Archivmaterial und Interviews – der Geschichte und der Architektur des Hauses, aber auch dem Alltag im Theater.




„Das ist Spitze!“: Wie Kai Pflaume die Rosenthal-Show „Dalli Dalli“ neu beleben will

Hurra! Wir haben mal wieder einen Showmaster, der kräftig überziehen darf: Kai Pflaume machte „Das ist Spitze!“ (ARD) nicht nur bis 21.45 Uhr, sondern fast eine halbe Stunde länger als geplant. Aber das gehört wohl dazu, wenn man unbedingt eine Legende wiederbeleben will.

Wir reden natürlich von Hans Rosenthals „Dalli Dalli“ (1971 bis 1986). Da soll Pflaume anknüpfen. Um diesen (doch etwas überzogenen) Anspruch zu unterstreichen, hatte man zur Premiere im „Ersten“ Rosenthals Witwe Traudl, seinen Sohn, seine Tochter und sogar seine jüngste Enkelin Debora eingeladen, die nun gemeinsam mit Jan Hofer in der Spiel-Jury sitzt.

Kai Pflaume vor Rosenthal-Dekoration (Bild: © NDR/Thorsten Jander)

Kai Pflaume vor Rosenthal-Dekoration (Bild: © NDR/Thorsten Jander)

Jede Menge Vorschusslorbeeren

Die Rosenthals verteilten schon zu Beginn der Sendung jede Menge Vorschusslorbeeren und versicherten pflichtschuldigst, Kai Pflaume sei genau der richtige Mann, um diese Show zu leiten.

Und wie war’s nun wirklich?

Nun ja. Man versuchte, hie und da den speziellen Charme der 1970er Jahre neu aufleben zu lassen. Doch das klappt natürlich nur sehr bedingt. Zumindest die vier Prominenten-Duos (darunter Kati Witt, Henry Maske, Florian Silbereisen, Matthias Opdenhövel, Jutta Speidel), die da beim Schnellraten und neckischen Wettspielchen gegeneinander antraten, hatten ersichtlich ihren Spaß. Auch das Saalpublikum fühlte sich wohl recht gut unterhalten. Immerhin. Man ist ja schon froh, wenn einem in solchen Sendungen gröbere Peinlichkeiten erspart bleiben.

Hektik als Prinzip

In dieser Show (die es beim NDR seit 2011 gibt) regiert – wie eh und je – die Hektik als Prinzip. Hauptsache schnell sein, alles andere ist Nebensache. Diese Vorgabe sorgt für einige Turbulenzen und manchmal gar für sanften Irrsinn. Es ist wie bei einem bunten Kindergeburtstag – eben zuweilen etwas infantil und albern, aber doch manchmal ziemlich lustig.

Kai Pflaume ist ein hinreichend lockerer Spielleiter, der im Zweifelsfalle aber auch mal zur Ordnung rufen kann. Ob er tatsächlich den legendären Status eines Hans Rosenthal erreichen kann, ist hingegen eine ganz andere Frage.

Die alten Einfälle nachahmen

Da reicht es eben nicht, den optisch „eingefrorenen“ Freudensprung („Das war Spitze!“) nachzuahmen, der damals in den 70ern eine TV-technische Meisterleistung war und heute eine leichtere Übung ist. Auch genügt es nicht, so manche Spielidee variierend nachzuempfinden. Mal ganz nebenbei gefragt: Gibt’s beim Fernsehen eigentlich keine neuen Einfälle mehr, so dass man immer wieder die alten hervorholen muss?

In der Eile passiert der eine oder andere Lapsus: Michelangelos „David“ sei in Rom zu bestaunen, Europa sei der weltweit größte Kontinent, Mosel und Rhein flössen in München zusammen – so lauteten ein paar grundfalsche Antworten in den Raterunden. Gerade das macht teilweise den Reiz einer solchen Show aus. Ein bisschen Schadenfreude ist dabei. Doch wer weiß, ob man’s selbst vor einem Millionenpublikum viel besser machen würde.

Kontrolliertes Ausarten

Wenn dann noch eine Riesenkaffeemühle und ein Wahlplakatschredder eilends bedient werden oder Cocktailgläser mit dem Mund angesaugt und transportiert werden müssen, dann überschlägt sich die Gaudi zum Steinerweichen. Dann erreichen die zur Alarmsirene rotierenden tausend Lampen höchste Lichtverschmutzungswerte – und es kommen jene offenbar unvermeidlichen, leicht frivolen Scherzchen zum Vorschein: So wurde Henry Maske streng ermahnt, die Banane an seinem „Baströckchen“ doch bitte nach hinten zu drehen. Nennen wird es mal „kontrolliertes Ausarten“, was da vor sich geht.

Am Ende wurden dann die erzielten (und multiplizierten) Spielpunkte in Euro umgerechnet. Die fließen an die Rosenthal-Stiftung zugunsten von Familien, die unverschuldet in Not geraten sind. Fast 21000 Euro kamen diesmal zusammen. Dagegen kann man nun wirklich nichts sagen.

Der Text ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Globus am Abgrund, Rettung naht – Matthias Polityckis Roman „Samarkand Samarkand“

9783455404432Tim Bendzkos Song, wonach er nur noch die Welt retten muss, der könnte auch von Alexander Kaufner stammen.

Im fernen Usbekistan, genauer genommen in der sagenumwobenen Stadt Samarkand soll und will er eine Mission erfüllen, die da lautet: den dritten Weltkrieg zu beenden. Fürwahr, es ist kein angenehmes Leben mehr auf diesem Globus, seitdem sich die Machtverhältnisse einmal mehr verschoben haben. Nach Deutschland, der Heimat des Romanhelden, sind die Russen zurückgekehrt, radikale Muslime kämpfen mit Waffengewalt, aber es gibt noch eine Bundesregierung, wenn auch nicht mehr unter Kanzlerin Merkel. Gemäß dem Satz, dass der Islam zu Deutschland gehört, führt jetzt der Türke Mehmet Yalcin die Regierungsgeschäfte.

Die Art und Weise, wie Kaufner von all den Ereignissen erfährt, versinnbildlicht den Wandel der Welt: Gazprom-TV heißt der Sender, der alle anderen Medien verdrängt hat. Wie nun der Deutsche den blauen Planeten von dem Fluch des Krieges befreien soll, ist schon aberwitzig. Er soll das Grab von Timur, Nachfahre des Mongolenherrschers Dschingis Khan, ausfindig machen. Diesem Ort wird eine magische Kraft zugeschrieben, und zwar eine solche, die in diesen dunklen Zeiten Wunder wirken kann.

Autor Matthias Politycki lässt den Leser teilhaben an einer Expedition durch ein Land, das für Kaufner bei optimistischer Betrachtung eine Menge an Abenteuern bereithält. Schon allein der Name „Samarkand“, wo die Grabesstätte vermutet wird, versprüht einen Zauber, dem sich der ehemalige Gebirgsjäger nicht entziehen kann. Selbst als er feststellen muss, dass es neben dem illustren Samarkand, das seinen festen Platz an der Seidenstraße hatte, noch ein zweites Samarkand existiert, dem eher die Aschenputtelrolle zugedacht ist, lässt er von seinem Plan nicht abhalten. Er will das wahre Grab von Timur finden und das befindet sich nun mal in diesem wenig einladenden Ort.

Die Idee zu dem Buch kam Politycki schon 1987 in den Sinn, als er erstmals in Samarkand zu Gast war. Seinerzeit schien der Mauerfall noch in weiter Ferne zu sein, dafür hatte ihn die Faszination an Ort und Stelle ergriffen. Es sollte rund ein Vierteljahrhundert dauern, bis der Autor sich daran setzte und Kaufner auf Reisen schickte. Zwischenzeitlich kehrte er nach Samarkand zurück, verwarf erste Konzepte für das Buch, um nun eine spannende, mitunter auch sperrige Lektüre vorzulegen.

Befremdlich wird das Buch schon mal an solchen Stellen, in denen Gewaltexzesse beschrieben werden. Das Massaker von Köln, das nahezu alle Karnevalisten dahinrafft, ist wahrlich nichts für schwache Nerven. Wem solche Passagen zu brutal daherkommen, der wird durch die Fantasie des Autors entschädigt. Politycki zeichnet zwar eine düstere Zukunft, die jedoch noch längst nicht das Ende aller Tage sein muss. Wenn eine Zeitangabe aufhorchen lässt, dann ist es das Jahr, in dem der Schriftsteller seine Geschichte beginnen lässt: 2027. Bis dahin sind es gerade mal noch 14 Jahre.

Matthias Politycki: „Samarkand Samarkand“. Hoffmann und Campe, 397 Seiten. 22,99 Euro




„Pimmel ab“ oder: Was Vierjährige hören sollen

So manches Mal habe ich mich schon gefragt, wie die Altersangaben auf Büchern, CDs, Spielen oder Puzzles für Kinder zustande kommen.

Inzwischen glaube ich, dass dabei wohl vielfach auf gut Glück verfahren wird. Nicht selten werden babyhaft leichte Aufgaben erst ab 6 Jahre ausgeschildert. Andererseits gibt es gelegentlich auch den umgekehrten Fehlgriff.

Vor mir liegt eine Hörspiel-CD mit einer Produktion des Berliner Grips Theaters: „Bella, Boss und Bulli“ erzählt die Geschichte des Mädchens Bella, das murrend in ein anderes Stadtviertel umziehen muss, weil die allein erziehende Mutter dort Arbeit gefunden hat. Bella lernt dort zwei höchst unterschiedliche Jungen kennen: Bulli war schon mal im Erziehungsheim, Boss wird vom livrierten Chauffeur im Benz zur selben Schule gebracht. Mit solchen Kontrasten erzählt es sich natürlich besser. Also geschenkt, ob es realistisch ist, dass alle drei Kinder in derselben Gegend wohnen und in eine Schulklasse gehen.

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Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt es zu „Erpressungen im schulischen Umfeld“, um es mal vornehm auszudrücken. Ein größerer Junge hat Bulli beim Diebstahl beobachtet und droht nun, ihn zu verpfeifen – falls er ihm nicht hier mal fünf, dort mal zehn Euro gibt.

Das alles wird gekonnt als Hörspiel aufbereitet (Text: Volker Ludwig) und mit zündenden Liedern (Musik: Birger Heymann) garniert. Gewohnte Grips-Qualität eben. Nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht. Kinder ab 7 oder 8 können hier auf unterhaltsame Weise was lernen. Beispielsweise, wie man Erpressern das Handwerk legt.

Doch darum geht es hier nicht. Der Patmos Verlag, in dem die CD erschienen ist und der übrigens traditionell vorwiegend religiöse Bücher herausbringt, nennt das Ganze ein „Hörspiel ab 4 Jahren“. Also haben wir die Platte guten Glaubens für unsere Tochter gekauft, die in einigen Tagen 4 wird. Auf dem Cover deutet nichts auf eine sonderlich ruppige Gangart hin.

Heute haben wir die CD zusammen angehört. Recht unvermittelt wird da ein Junge von einem anderen bedroht: „Geld her – oder ich schneid‘ dir den Pimmel ab!“ Und dergleichen weitere Nettigkeiten. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig in Erklärungnot geraten bin.

Wahrscheinlich gibt es Leute, die das ganz dool großstädtisch, „cool“ oder prima punkig finden und wegwerfend sagen, ein solch rauher Tonfall komme spätestens in der Grundschule ohnehin zum Zuge. Ich kann auch sagen, wie ich die Altersangabe finde: ungemein dämlich und unverantwortlich. Angesichts des sonstigen, schwer katholisch geprägten Verlagsprogramms sollten die Zuständigen sich vorsehen, dass sie nicht weitere Punkte für die Vorhölle sammeln.




Die Selfmade-Sopranistin: Anne Schwanewilms singt Liederabend in Essen

Hochgewachsene Diva: Die Sopranistin Anne Schwanewilms (Foto: Javier del Real)

Hochgewachsene Diva: Die Sopranistin Anne Schwanewilms (Foto: Javier del Real)

„Alle dachten, ich spinne, und viele waren auch sauer.“ Als Anne Schwanewilms um das Jahr 2001 herum beschloss, sich vom schweren Wagner-Fach zu lösen und in einen Strauss-Sopran zu verwandeln, muss sich diese Entscheidung ziemlich einsam angefühlt haben. Dabei strebte die Stimme der gebürtigen Gelsenkirchenerin über die Jahre immer weiter nach oben.

Ihr Studium begann sie als Kontra-Alt, dann fühlte sie sich als Alt heimisch. Mitte der 90er Jahre war sie bereits ein hoher Mezzo, und ihr Lehrer Hans Sotin meinte, so solle es bleiben. Aber Anne Schwanewilms arbeitete weiter. Entdeckte neue Resonanzräume im Kopf, die plötzlich mitschwangen. Schlug Top-Angebote als Brünnhilde und Elektra an großen Opernhäusern aus, wechselte den Agenten, durfte 2006 erstmals die Feldmarschallin im Rosenkavalier singen. Heute gilt die gelernte Floristin als eine der großen Strauss-Interpretinnen unserer Zeit. Aber auch Wagner ist in ihrem Repertoire verblieben: Im April 2014 singt sie die Partie der Elsa am Teatro Real von Madrid. Im Mai folgt Verdi, die Desdemona aus „Otello“ an der Oper Köln.

Mit Liedern von Gustav Mahler, Franz Liszt und Richard Strauss gastierten Anne Schwanewilms und der Pianist Charles Spencer jetzt in der Philharmonie Essen. Bei ihrem Auftritt im leider nur schwach besetzten Alfried Krupp Saal irritiert die hochgewachsene Diva zunächst durch eine beinahe schulmädchenhafte Ausgelassenheit. Übermütig winkt sie Bekannten im Publikum zu, schneidet dazu lustige Gesichter, als wäre dieser Abend keine sonderlich ernst zu nehmende Angelegenheit. Mit dieser ausgesprochen unernsten Attitüde geht sie die ersten Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“ an, überzeichnet die satirisch-humorvollen Verse mit ausgeprägter Mimik bis zur Karikatur. Ihr Ton weist dabei zuweilen Härten auf.

Wärmer und inniger klingt „Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald.“ Hier blühen erstmals ihre schmeichelnden Legato-Bögen auf, entschwebt ihr äußerst kontrolliert geführter Sopran in die Höhe, um vom süßen Sang der Nachtigall zu erzählen. Charles Spencer unterstützt dies am Klavier mit vielsagendem Nocturne-Klang.

Im leider immer noch viel zu wenig bekannten Liedschaffen von Franz Liszt schwindet dann der letzte Hauch von Härte. Jetzt breitet Anne Schwanewilms großzügig aus, was ihre Stimme an Farben und Glanz zu bieten hat. Süße Flöten und Stimmen der Engel, die den Fischerknaben aus Schillers „Wilhelm Tell“ in tödliche Wassertiefen ziehen wollen, wechseln mit der Wehmut des Hirten über den scheidenden Sommer. Bezwingend formt sie das Drama um „Die Loreley“ nach dem berühmten Gedicht von Heinrich Heine zu einem Ring, an dessen Anfang und Ende die Wasser des Rheins ruhig dahin strömen. Dicht- und Vokalkunst fließen da in eins, erzeugen Bilder von betörender Magie und mythischer Kraft.

Noch einmal zeigt Schwanewilms sich als Mahler-Interpretin: gießt Gift in den Volksliedton des „Rheinlegendchens“, lässt dem todtraurigen Abschied in „Wo die schönen Trompeten blasen“ das ätzende „Lob des hohen Verstandes“ folgen, das den Esel als Kunstrichter verhöhnt. Die Schlusstakte aber gehören Richard Strauss, dessen „Letzte Blätter“ Anne Schwanewilms mit feinstem Fingerspitzengefühl anfasst. Sei es existenzielle Angst („Die Nacht“), verhaltene Wut („Geduld“) oder tiefe Trauer („Allerseelen“): Die Sängerin trifft genau die leisen Zwischentöne, die derlei Emotionen schmerzlicher machen als jede laute Klage. In den glutvollen Samt ihres Soprans gebettet begegnen uns stille Noblesse, zurückhaltende Würde, wissendes Mitleid. Das ist ein Geschenk.




Expressive Eleganz: Neuer Essener GMD Netopil dirigiert in Dresden Halévys „Die Jüdin“

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Jacques Fromental Halévys große historische Oper „Die Jüdin“ („La Juїve“) ist, was den Dirigenten betrifft, ein echtes „Chefstück“: Wer sich diesem Meilenstein der französischen Oper widmen will, muss einen untrüglichen Sinn für musikalische Kontraste mitbringen.

Halévy setzt das gesamte musikdramatische Arsenal seiner Zeit ein: Pompöse Aufmärsche, von denen Wagner profitierte („Rienzi“). Brillantes Koloraturfeuerwerk und verinnerlichte Lyrismen. Geradliniges Pathos und existenzielle Gebrochenheit. Halévy versteht das Handwerk des Musik-Magiers, kann satztechnisch dicht und mitreißend populistisch schreiben, kann in Melodie schwelgen oder mit exquisiten Harmonien frappieren.

Dresden: Halevys "La Juive": Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Dresden: Halevys „La Juive“: Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Für Tomáš Netopil war „Die Jüdin“ an der Sächsischen Staatsoper Dresden also keine leichte Fingerübung. Der neue Essener Generalmusikdirektor, der in diesen Wochen in der Philharmonie und am Aalto-Theater durchstartet, hatte im Juni die Premiere geleitet und stand jetzt in der Wiederaufnahme am Pult. Was ihm herzlichen Beifall, aber auch einige deutliche Buhs einbrachte. Netopils Zugang zur Musik des Franzosen jüdischer Herkunft mit familiären Wurzeln in Fürth in Bayern war hörbar nicht unumstritten.

Die Suche nach dem Grund für das Missfallen ist nicht einfach: Denn der Dirigent aus Tschechien hat nichts falsch gemacht. Zügig und elegant führte er die Sächsische Staatskapelle; tadellos signalisierte er Einsätze, trug er die Sänger mit, unterstützte er den prächtigen Chor der Semperoper. Zwischen den groß angelegten Szenen und der von Phrase zu Phrase changierenden Ausdruckswelt der Musik Halévys fand er die richtige Balance: Lektüre der Partitur mit Augenmaß, kein Verzetteln in reizvollen Details, aber auch kein großzügiges Übersehen charakteristischer Momente. Die Bläser des Orchesters klangen so, als fühlten sie sich mit dieser Leitung pudelwohl. Die Streicher zeigten nicht nur ihre gerühmte samtige Dunkelheit, sondern auch lichte Brillanz, geschmeidiges Reagieren auf die Wechsel der „Beleuchtung“ in der Musik.

Netopil ist ja mit 38 Jahren auch kein Newcomer mehr, sondern ein erfahrener Opern-Dirigent. In Prag, seiner bisherigen künstlerischen Heimat, hat er viel Mozart dirigiert: „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“, aber auch „Idomeneo“ und „La finta giardiniera“ („Die Gärtnerin aus Liebe“). In Dresden gastiert er bereits seit 2008, u. a. mit „Don Giovanni“ und „Le Nozze di Figaro“. Da hat man ihn nur zu gerne für eine neue „Rusalka“ geholt – ihn, der zu Hause nicht nur Janáčeks „Katja Kabanova“ dirigierte, sondern auch die im Westen zu Unrecht unbekannten Werke Dvořáks und Smetanas: „Jakobin“ oder „Libuše“. Und es gab in Antwerpen Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ (2009) oder Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ in Paris (2012) – und im Frühjahr, in Amsterdam, Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“.

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Was fehlte also dem Dresdner Publikum? Der geliebte Christian Thielemann am Pult? Der wird wohl lieber bei seinen Leisten bleiben. Vielleicht war es Netopils relativ kühle Sicht auf das Werk, die zum Unmut führte: Sattfarbige Schwelgereien sind offenbar nicht sein „Ding“; auch hütet er sich, Halévy allzu nahe an die koloristische Pracht und die wehmütigen Legati der Italiener zu rücken. Bei aller differenzierten Kunst der musikalischen Charakterisierung: Halévy steht dem agilen Esprit eines Auber und dem marmornen Klassizismus seines Lehrers Cherubini näher als der Herzensglut Bellinis oder Donizettis. Netopil hat das berücksichtigt; ob es seine Kritiker so sehen, lassen die Dresdner Missfallenskundgebungen bezweifeln – so sie denn keine anderen als musikalische Gründe hatten.

Nach dieser beeindruckenden „La Juїve“ kann Essen mit doppelter Spannung die erste Premiere Netopils am Aalto-Theater erwarten: „Macbeth“ von Giuseppe Verdi am 19. Oktober.




Paul Kuhn ist tot: Viel mehr als „Der Mann am Klavier ohne Bier auf Hawaii“

Seinen ersten Fernsehauftritt hatte er als Achtjähriger während der Berliner Funkausstellung 1936. Er bespielte schon damals recht virtuos das Akkordeon. Anfang des Jahres 2013 sollte er, der noch hochbetagt täglich auf den Klavierstuhl kletterte und die Tasten anschlug, als wäre er gerade mal 17, auf Tour gehen. Er musste aber absagen, weil es wichtiger war, ihm einen Herzschrittmacher ans Herz zu legen.

Im März feierte er dann den 85. Geburtstag und lächelte wie immer verschmitzt in Kameras. An diesem Wochenende starb Paul Kuhn, der „Mann am Klavier“, der „auf Hawaii kein Bier findet“, der Count Basie als seine musikalische Basis betrachtete, wenn er sich als Bandleader definieren sollte, und Art Tatum als sein Vorbild, wenn er das Klavier bejazzte. Ausnahmsweise titelte heute die BILDende Zeitung mal etwas Zutreffendes: Sie schrieb von der „Jazz-Legende“ Paul Kuhn.

Was war nicht alles Gutes aus dem Landessieger Akkordeon Hessen-Nassaus des Jahres 1936 geworden. „Paulchen“ sammelte Ehrungen wie andere Briefmarken – und das in aller Stille, weil die meisten seiner Fans ihn eben nur mit dem „Mann am Klavier“, der auf „Hawaii kein Bier“ findet, gleichsetzten.

Schon 1953 wurde er als  Jazzpianist Nr. 1 in Deutschland gekürt. 1971 erhielt er die Goldene Kamera für seine Fernseharbeiten („Pauls Party“), 1976 den Deutschen Schallplattenpreis, 1976 die Hans-Bredow-Medaille für Verdienste um den Rundfunk, 2002 die German Jazz Trophy für Verdienste um die Jazzmusik, 2003 war er Klavierspieler des Jahres, 2003 erhiel er die Goldene Europa für sein künstlerisches Lebenswerk und 2010 den ECHO Jazz für sein Lebenswerk als Pianist, Dirigent und Komponist.

Der kleine Paul Kuhn, dessen Lächeln so gutmütig ansteckend wirkte, er war ein großer Künstler, konnte viel mehr als munter verswingte Big-Band-Medleys dirigieren, viel mehr als Schlagerchen intonieren und viel mehr als seine Frau Ute Mann mit ihren Singers begleiten. Er machte großartige Unterhaltungsmusik, sorgte mit seinen Freunden und Kollegen wie Greetje Kauffeld, Max Reger und Hugo Strasser dafür, dass die Unterhaltung musikalisches Niveau behielt und er weckte auch schon früh das Interesse sogenannter „ernsthafter“ Künstler. Mit Walter Richter und Hanns Lothar spielte er „Biedermann und die Brandstifter“, das war schon 1958. In der Tragikomödie „Schenk‘ mir Dein Herz“ war er an der Seite von Peter Lohmeyer zu sehen, das war noch 2010. Er spielte sich selbst, einen betagten Pianisten, der nach den ersten Tönen, die er den Tasten entlockt, offenbar in einen Jungbrunnen purzelt…

Tony Lakatos, Gary Todd, Willi Ketzer spielten mit ihm und das noch in Zeiten, da er wirklich erst auf dem Klaviersessel zur einstigen Beweglichkeit zurückfand. Niemand, der mit ihm Musik machte oder auch nur mal zu einer Session mit ihm stieß, hätte je ein Wort gefunden, das ihn unsympathisch hätte wirken lassen.

Und meine Jugend hat er streckenweise begleitet. Ich muss allerdings gestehen, dass es dabei weniger sein grandioser Jazz-Stil war (den lernte ich erst sehr viel später kennen). Aber seine Stimme war‘s, die eigentlich so gut wie keine war, aber genau das war es wohl. Nun wird er nicht mehr „den Mann am Klavier“ spielen und das „Bier auf Hawaii“ vermissen. Eine Stimme, ein Muntermacher, ein Gut-Laune-Lächeln, ein freundlicher kleiner Mann und großer Musikant mit so charakteristisch liebenswerten Lücken im Gebiss, der die Nachkriegszeit bunt erscheinen ließ, lebt nicht mehr. Tschüß Paul, du Berliner aus Wiesbaden.




Ruhrtriennale: Heiner Goebbels zeigt in „Stifters Dinge“ Kunst als Ablauf mechanischer Vorgänge

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für "Stifters Dinge". Foto:

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für „Stifters Dinge“. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Nun hat Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels selbst Hand angelegt. Als Konzeptkünstler, Regisseur und Komponist hat er dem Festival seinen ureigenen Stempel aufgedrückt. Auf dem zu lesen ist: „Stifters Dinge“. Angekündigt als Klavierstück ohne Pianisten, Theaterstück ohne Schauspieler und als Performance ohne Performer.

Goebbels misstraut offenbar dem Menschen auf der Bühne, setzt stattdessen auf die Macht der Elektronik, des Maschinellen. Zu sehen ist eine Installation, die wirkt wie das Ergebnis von jungenhafter Begeisterung an der Bastelei – mitsamt der hellen Freude, dass alles prächtig funktioniert.

Das Stück, wenn wir es so nennen wollen, passt also prima in die Duisburger Kraftzentrale, einst das energiespendende Herz für die Herstellung von Stahl. Denn auf der „Bühne“ laufen vielschichtige Arbeitsprozesse ab. Diesmal allerdings zur Erzeugung von Lauten, Klängen, bildlichen Illustrationen, Textauszügen. Die allesamt offenbar eine herbe Zivilisationskritik ausdrücken wollen: Der Mensch zerstöre mehr und mehr die schöne Natur. Goebbels erweist sich damit als Anwalt des französischen Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss.

Aber zunächst wird eben jene Schönheit beschrieben, ertönt aus dem Lautsprecher „Die Eisgeschichte“ Adalbert Stifters, eine literarische Verneigung vor den Geheimnissen eines winterlichen Waldes, einer Terra incognita. Doch Lévi-Strauss verneint kurz darauf in einem eingespielten Interview, dass es auf der Welt noch unberührte Orte gebe. Und Vertrauen in die Menschheit, nein, das habe er nicht.

Natur - das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Natur – das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Solcherart Pessimismus spiegelt sich nicht zuletzt im zentralen Bühnenaufbau wieder. Fünf (präparierte) Klaviere – zum Teil sind es nur noch deren Torsi – hat Ausstatter Klaus Grünberg an einer Wand aufgeschichtet, dazwischen blattlose Baumkrüppel gesetzt. Wie ein Instrumentenfriedhof wirkt das (oder doch wie ein Altar mechanischer Kunsterzeugung?), dementsprechend wird ein musikalisches Aufzucken inszeniert, das sich in pochenden, knarzenden Geräuschen ausdrückt oder in fragmentierten Läufen, wilden Figurationen. Nur einmal erreicht uns ein Hort der Ruhe: wenn plötzlich der langsame Satz aus Bachs „Italienischem Konzert“ erklingt und aus drei großen Wasserbecken sanftes Plätschern zu vernehmen ist.

Ähnlich mag Jacob van Ruisdaels Waldbild, als Illustration von Stifters Erzählung, unser Gespür von Ästhetik erfreuen. Doch die farblichen Veränderungen, die das projizierte Gemälde alsbald ereilen, machen alles Wohlgefühl zunichte. Sodass uns Goebbels einerseits verstört zurücklässt. Verhindern aber kann er nicht, dass diese besondere, rätselhafte Art politischen Theaters für manche lediglich ein technisches Faszinosum darstellt. Gleichwohl – der Applaus ist höflich.

Weitere Vorstellungstermine sowie Informationen über eine „Unguided Tour“ unter www.ruhrtriennale.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zunächst in der WAZ erschienen.)




Hagener Friedhof Wehringhausen: Hinfälliger Bewahrer großer Namen des Ruhrgebiets

Erst mal wählen gehen. Gesagt, getan, zwei Kreuze und dann wieder in den Sonntagmorgen. Ein wenig zu würdig erschienen mir die Mitglieder des Wahlvorstandes. Schau da, die Sonne bestrahlt auf einmal die Szene. Gleich nebenan liegt ein Friedhof, den mir Andrea schon lange mal zeigen wollte. Vom Bergischen Ring in Hagen aus habe ich ihn schon oft gesehen.

Zugänglich ist er aber nur von der Grünstraße, wo auch das Wahllokal lag, in das wir zum Kreuzemachen spaziert waren. Diesmal und auch weil die Sonne uns wärmte, gingen wir hinein. Es war nicht etwa ein nekrophiler Anfall meinerseits, ich wollte nur ein wirklich wesentliches Stück Hagener Stadtgeschichte aus der Nähe sehen, und das ist der ehrwürdige und an so vielen Stellen leider auch hinfällige Friedhof in Wehringhausen ganz sicher.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Als Liselotte Funcke 2012 starb, da war ich wieder auf den Wehringhausener Friedhof aufmerksam geworden, weil ich las, dass die große und bewundernswert aufrechte alte Dame der FDP dort zu Grabe getragen wurde. Und nicht sehr weit entfernt vom Eingang, vorbei an einigen Grabstätten, die zwischen ungemein gepflegt und da und dort auch pflegebedürftig schwanken, zwingt mich zunächst der Namenszug Osthaus zur Aufmerksamkeit.

Dann die bescheidene, aber edle Grabplatte der verstorbenen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke, der Name Harkort taucht auf, dann Elbers, Post. Der nicht so furchtbar große, mit seiner innenstadtnahen Lage auch nicht so völlig idyllisch-ruhige Friedhof ist ein veritables Stück Industriegeschichte der Stadt Hagen und des Ruhrgebietes. Und viele Grabstätten – auch wenn manche von ihnen inzwischen altersgrau oder bemoost sind – sind auch kulturgeschichtliche Zeugen einer Zeit, in der Hagen-Wehringhausen eine der bürgerlichen und besonders wohlhabenden Gegenden der Stadt war.

Kommerzienräte, Sanitätsräte, Doktores ing., phil. oder jur., Generationen übergreifende Gruften, große Familiengrabstätten, Einzelgräber. Auch Grabstätten, die aufgelassen wurden, Grabsteine, die noch erinnern, aber kein Grab mehr kennzeichnen, Stelen moderner Herkunft. Gräber, deren Zustand den Eindruck macht, als seien inzwischen auch die Hinterbliebenen nicht mehr am Leben. Der kleine Friedhof wirkt wie ein historischer Querschnitt durch die Hagener Stadtgeschichte und wie deren Spiegel. Denn auch die Stadt blüht hier, bröselt da und wird dort umgepflügt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann in naher Zukunft die entstandene Brache mit neuem Leben bevölkert.

Und einige Stellen des schönen alten Geländes zeugen davon, dass private Initiative Geld aufbrachte, um alte Zeitzeugen jungen Nachkommen zu erhalten. So wie beim Mahnmal an Hagener Soldaten, die 1870 gegen Frankreich zu Felde zogen. Da muss meiner Einschätzung nach noch viel mehr in den kommenden Jahren kommen, denn dem Kulturschatz zwischen Bergischem Ring, Lange- und Grünstraße sollte mehr Pflege angedeihen, als es die finanziell sieche Kommune Hagen leisten kann. Viele der Frauen und Männer, die dort zu Grabe getragen wurden, entstammen einer großen Tradition Wohlhabender, die es noch verstanden, Gemeinsinn und Geschäftssinn erfolgreich zu verbinden. Sie zu ehren, könnten Wohlhabende von heute zur Verpflichtung führen, sich dort dem Gemeinsinn zu widmen.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.




Der Wahlabend im Fernsehen: Diese gut geölte Maschinerie könnte ewig laufen

Ganz ehrlich: Ich mag jetzt erst einmal keine Balken-, Torten- und sonstigen Diagramme mehr sehen. Wer sich gleichfalls ab 17 Uhr den ganzen Abend mit der Wahlberichterstattung im Fernsehen um die Ohren geschlagen hat, der weiß, wovon ich rede.

Es waren schon prägnante Nachrichten, die dabei herauskamen: CDU/CSU bundesweit zumindest in Reichweite der absoluten Mehrheit, die FDP erstmals seit 1949 nicht mehr im Bundestag. Doch ob und wie es zu Koalitionen kommt, ist sowohl im Bund als auch in Hessen (die Landtagswahl ging im Trubel beinahe unter) einstweilen unklar. Wird es Schwarz-Grün, gibt es eine Große Koalition? Wir werden es erleben.

In der Obhut von ARD und ZDF

An solchen Tagen bin und bleibe ich in der Wahl der TV-Programme konservativ und begebe mich – wie seit jeher – vor allem in die Obhut von ARD und ZDF. Von etwaigen Sympathien oder Abneigungen mal ganz abgesehen, haben die einfach die meisten Leute im Einsatz (was freilich nicht unbedingt in Qualität umschlagen muss).

Für die ARD im Einsatz: Ulrich Deppendorf und Caren Miosga (Archivbild: © ARD-Hauptstadtstudio/Axel Berger)

Für die ARD im Einsatz: Ulrich Deppendorf und Caren Miosga (Archivbild: © ARD-Hauptstadtstudio/Axel Berger)

Tatsächlich machten die Teams unter Leitung von Caren Miosga, Ulrich Deppendorf und Zahlenjongleur Jörg Schönenborn (ARD) sowie Bettina Schausten und Theo Koll (ZDF) ihre Sache nach den üblichen Maßstäben recht ordentlich. Größere Pannen waren nicht zu verzeichnen. Ironie hin, Sarkasmus her – da sind schon routinierte Profis am Werk. Im akuten Stress eines solchen Wahlabends muss man erst einmal dermaßen die Übersicht behalten.

Die Grenzen der Vergnügungssucht

Übrigens wirkte auch Peter Kloeppel (RTL) diesmal, anders als kürzlich beim Merkel-Steinbrück-Duell, ziemlich souverän und locker. Freilich schaltete sich sein Sender später ins Geschehen ein und verließ die Wa(h)lstatt auch deutlich früher. Schon bald verlegte man sich zudem aufs leicht schrill angehauchte „Menscheln“. Das Zappen zu Phoenix, N-TV und N24 habe ich mir denn doch erspart. So vergnügungssüchtig war ich nun auch wieder nicht.

Allerdings ist die Routine auch allseits das Problem. Man absolviert die immergleichen Rituale. Ein paar neue Formen täten sicherlich gut. Außerdem zeigten sich auch bei den Öffentlich-Rechtlichen wieder die ebenfalls üblichen, ziemlich grundsätzlichen Schwächen: Immerzu lockt die Versuchung, das politische Geschehen gnadenlos zu personalisieren und auf ziemlich simple Begriffe herunterzudimmen. Bei ARD und ZDF war man sich immerhin bewusst, dass man es mit griffigen Formeln wie „Stinkefinger“, „Raute“, Halskette und „Veggie Day“ zuletzt etwas übertrieben hat. Doch man kann nicht ganz davon lassen.

Als die Hochrechnungen sich erst einmal stabilisiert hatten, schnurrte bei den großen Anstalten die volle Routine der gut geölten Maschinerien ab. Das Ganze geriet in einen Selbst- und phasenweise auch Leerlauf, als hätte es (selbst noch nach „Elefantenrunde“ und Jauch-Talk) schier endlos so weitergehen sollen.

„Erst einmal in Ruhe analysieren“

Auch die Politiker sagen halt das, was sie bei solcher Gelegenheit immer sagen: Erst einmal Dank an alle Helfer und Wähler. Erst einmal das Endergebnis abwarten. Erst einmal mit den Gremien sprechen. Erst einmal in Ruhe analysieren. In den nächsten Tagen werden wir mehr wissen. Gottlob wird die eigentliche Politik nicht im Fernsehen gemacht.

Derweil gieren die Fernseh-Journalisten (nicht minder eitel als manche Politiker) stets nach neuen Personalien und hätten am liebsten schon heute verkündet, dass ab morgen Jürgen Trittin als Vizekanzler antritt oder Christian Lindner neuer FDP-Chef wird. Doch auch diese Herrschaften lassen sich natürlich nicht aus der Reserve locken. Warum auch?

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen).




Migranten im Fokus und die Suche nach mehr Publikum: 2. Ruhrgebietskulturkonferenz

Wieder trafen sich die Kulturhauptstadt-Nachhaltigkeitssachwalter der Metropolkommunen, um die Zukunft einzustielen. Um die 350 Teilnehmer trafen sich auf dem Recklinghäuser Festspiel-Hügel, um über neue Strategien der interkulturellen Arbeit  zu beraten.

Veranstalter sind das NRW-Kulturministerium und der Regionalverband Ruhr (RVR). Launig und humorvoll moderiert von Thomas Laue vom Bochumer Schauspielhaus, wurde der Tag zu einem Thinktank-Marathon zur Gestaltung eines interkulturellen Projektes in der Nachfolge des Festivals „Melez“, dem einzigen Bezugspunkt, der der Kulturpolitik in der Vergangenheit aufgefallen ist. Es war ein Familientreffen all der meist alten Hasen aus der Szene, wobei aus der Freien Szene überwiegend deren Funktionäre anwesend waren. Die Kulturdezernenten waren massiv präsent, u.a. aus Dortmund, Essen, Bochum, Gelsenkirchen und Oberhausen.

Kulturkonferenz Ruhr: Blick in den Veranstaltungsraum im Ruhrfestspielhaus (Bild: RVR/Friedrich)

Kulturkonferenz Ruhr: Blick in den Veranstaltungsraum im Ruhrfestspielhaus (Bild: RVR/Friedrich)

Man will also unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit migrantischem Hintergrund auf die Bühnen schieben und hatte als beispielhaftes Unternehmen das Ballhauses Naunynstraße aus Berlin, vertreten von Tuncay Kulaiglu, eingeladen. Kulaiglu erzählte von der Geschichte seiner Familie erzählte und stellte klar, dass das Unternehmen „Postmigrantische Kulturpraxis“ nicht per Knopfdruck funktioniert.  Die Beispiele aus dem Ruhrgebiet bezogen sich wieder alle auf die Institutionen der Städte, die, weil eben kostspielig, sich der migrantischen Themen annehmen sollen und dies durch ein paar Projekte bereits unter Beweis gestellt hatten. Die Bochumer arbeiten mit den Renegade Theater zusammen und nähern sich auch den Streetartisten von Urbanatix. Dortmund wurde gelobt wegen seines Nordstadt-Crash-Test-Projektes, einem Kindergeburtstag in der No-Go-Area Dortmunds mit durchaus bemerkenswerten Einfällen und Szenen.

Schwierig ist es, die Massen zu locken

In einem Workshop wurde ein kleines Licht auf das Hauptproblem der Zukunft der vor allem Darstellenden Künste geleitet, der Publikumsentwicklung, hier „Audience Development“ genannt. Man braucht also insgesamt neues und mehr Publikum. Woher soll es kommen? Frau Professor Birgit Mandel stellte ihre Studie vor, die u.a. besagt, dass es schwierig sei, die nicht kulturaffine Masse zu verlocken, eine Erkenntnis, die ich bereits hatte, als ich als Fünfjähriger mit meinem Kasperle nur die Oma als Publikum erreichen konnte. Mama musste bügeln und Papa schaute die Sportschau.

Das Volk ist zu zufrieden und giert nicht nach theatraler Belehrung oder Erbauung. Kohl und Merkel haben das Land in eine Mittemäßigkeitswüste verwandelt, in der die meisten ihre Kunst und Kulturinstitute zwar gut finden, aber nicht hingehen. Es reicht, dass es sie gibt. Und die Parallel-Gesellchaften schaffen sich ihre eigenen Kulturräume durch Konzerte und andere Veranstaltungen mit Stars aus ihren Ursprungsländern.

Alle zwei Jahre ein „Festival“ als Zwischenbilanz

Aber seien wir optimistisch. Es tut sich was und wie kann man diese Entwicklungen fördern und in den medialen Fokus bringen? Man muss sie entdecken und eine Plattform schaffen. Und das wollen der RVR und die Kulturdezernenten mit Hilfe der Akteure in der Kulturbranche. Jörg Stüdemann, eloquenter Vertreter der Migrationskulturpolitik und sowohl Kämmerer als auch Kulturdezernent der Stadt Dortmund, beziffert die Fördersumme für das Unternehmen auf 1 Million und ist sich sicher, dass diese Summe zusammen kommt. Es soll kontinuierlich flächendeckend ein Netz von migrantischen Projekten entstehen. Alle zwei Jahre (Biennale) soll es dann zu einem „Showing“ kommen. Krampfhaft wird versucht, das Wort „Festival“ zu vermeiden. Das ist schon putzig, aber wenn sich alles Festival nennt, was länger als einen Tag dauert, kann man es verstehen, diesen ungeschützten Begriff zu verstecken, damit nicht wieder die medizinisch korrekt so bezeichnete „Festivalitis“ die Menschen erfasst.

Ein noch nicht besetztes Gremium soll sich eine künstlerische Leitung des Projektes ausgucken. Konzepte können eingereicht werden und dann wird der König der Migrationskultur auserwählt. Essens Dezernent Andreas Bomheuer favorisiert einen Einheimischen und stellte heraus, das die Region genügend eigene Kräfte habe, um so ein Unternehmen erfolgreich durchführen zu können. Mal sehen, was da in nächster Zeit an Namen durch die Kantinen gereicht wird.

Endich tut sich etwas – nach all den verschenkten Jahren

Ein Workshop war dazu angesetzt, für dieses FESTIVAL Vorschläge zu erarbeiten. Welche Spielorte und –formen sollen eine Rolle spielen? Diese Frage einem Kreis von Verwaltern und Nichtkünstlern zu stellen, ist doch eher fragwürdig. So stand auf einer der Karten, die man an eine Pinnwand pinnen konnte: „Aalto Theater – Musik“, „Theater – Schauspiel“. Letztlich braucht man Orte in der Region, die sich jeweils für das realisierte Projekt sinnvoll und inhaltlich eignen. Und wieder war erkennbar, dass das freie Feld der künstlerischen Betätigung auf Institute beschränkt ist – zumindest in den meisten Köpfen der Entscheider.

Doch immerhin spielt die Zukunft der Interkultur, die eigentlich längst Gegenwart ist, eine größere Rolle in der Politik als in den verschenkten Jahren zuvor. Ob allerdings eine Strategie auf Papier zu nachhaltigen Ergebnissen führen wird, ist offen. Vielfältigkeit als Dogma führt an mancher Stelle zu Einfalt und bunt ist nicht immer gleich lebendig, graue Mäuse entpuppen sich oft als Vulkane der Kreativität.

Das NRW-Kulturministerium und der Regionalverband Ruhr stellen jährlich je 2,4 Millionen Euro bereit, um die im Kulturhauptstadt-Jahr entwickelten Netzwerke, regionalen Partnerschaften und Kooperationen zu fördern und weiter zu entwickeln. Infos: www.kulturkonferenz.metropoleruhr.de




Ein Versprechen für die Zukunft: Der Einstand des neuen Essener GMD Tomáš Netopil

Vor einer Woche kassierte Tomáš Netopil für sein Dirigat von Jacques Fromental Halévys „La Juїve“ („Die Jüdin“) in Dresden einige kräftige Buhs. Nichts dergleichen beim Antrittskonzert des neuer Generalmusikdirektor des Aalto Theaters und der Philharmonie Essen: Nach Mahlers Erster Symphonie gab es Jubel und herzlichen Beifall. Aber im Foyer waren auch skeptische Stimmen zu hören: Der Schatten von Stefan Soltesz liegt über diesem Neuanfang. Es ist nicht einfach, sich gegen einen Vorgänger durchzusetzen, der sechzehn Jahre lang den Geschmack eines Publikums geprägt und die Kultur eines Orchesters in einsame Höhen geführt hatte.

Tomas Netopil dirigiert zum ersten Mal als neuer GMD ein Abo-Konzert der Essener Philharmoniker. Foto: Saad Hamza

Tomas Netopil dirigiert zum ersten Mal als neuer GMD ein Abo-Konzert der Essener Philharmoniker. Foto: Saad Hamza

Die „Buhs“ für Netopil in Dresden waren nicht gerechtfertigt; offenbar gibt es dort eine wenig tolerante Thielemann-Fraktion oder einige Musikenthusiasten, die ganz genau zu wissen glauben, wie große französische Oper zu klingen hat. Und wie steht es mit dem Jubel in Essen? Unter der energischen, bewegungsreichen, aber nie zur Show abgleitenden Stabführung des 38 Jahre alten Tschechen war ein Mahler zu hören, dessen Klasse außer Frage steht: Netopil punktet mit seiner präzisen Schlagtechnik vor allem, wenn es um komplexe Strukturen geht – etwa im dramatischen Kampf der Motive und Themen im vierten Satz.

Netopil überlässt den süffigen Klang, den symphonischen Hexenkessel mit seinen aufsteigenden und wieder in den Trubel zurückgerissenen Materialfetzen nicht sich selbst, führt sicher durch alle Wallungen hin zum majestätisch gefestigten Höhepunkt der sechs Hörner. Auch das Charakterisieren gelingt ihm: das unwirsche Bratschenmotiv, die gellenden Bläsereinwürfe, die krachenden Blitze der Schlaginstrumente, aber auch das falsche Gift eines kriechenden Piano-Klangs. Noch haben die Finalausbrüche dieses Erstlings etwas Bestätigendes – das wird bei Mahler noch anders werden!

Der Unterschied zu Soltesz‘ Interpretation – er hat die Erste 2008 dirigiert – ist evident. Soltesz nahm Mahler mit strahlendem, aber stets gerundetem Klang, mit einer auf vollendete Ästhetik gerichteten Kontrolle. Auch Netopil behält die Façon, aber er bringt den klanglichen Zug ins Herbe deutlich ins Spiel, verschließt sich den existenziellen Kämpfen Mahlers nicht.

Das ist viel, aber für Mahler noch nicht genug. Die Souveränität, auch das Zerklüftete, Zerrissene in dieser Musik zu entdecken, bringt der neue GMD noch nicht mit. Vielleicht spielt auch die Befangenheit des Neuanfangs mit, wenn zwar die Klangfläche des Beginns in den Streichern unheimlich gebrochen wirkt (Netopil hat selbst Violine studiert), aber die Einwürfe der Bläser, die absichtslos, quasi zufällig wirken sollten, zu entschieden und zu kalkuliert gesetzt sind. Wie dann die Celli den Impuls der Klarinette aufnehmen und weiterführen, zeugt wieder von einer anfechtungsfreien Kunst, Übergänge zu gestalten.

Wenn uns Pauke und Triangel dann zum ersten dynamischen Aufrollen der Mahler’schen Klangwellen geleiten, mündet das klug kalkulierte Crescendieren in dumpfem Tutti. Vielleicht muss sich Netopil mit dem Raum noch anfreunden: Die Transparenz des Orchesterklangs konnte an diesem Abend nicht überzeugen. Und was mit zum Schwersten gehört, was ein Mahler-Dirigent in klingende Expression zu bringen hat, bleibt bei Netopil auch noch eher im Bereich des Versprechens: Für das Uneigentliche, die Ironie, die Galligkeit, den Schmerz der wirklichen und der angeblichen Zitate in dieser Musik fehlen die Farbe, die Gebrochenheit, die drastische oder groteske Zuspitzung. Denn Mahler treibt kein nettes Spielchen mit augenzwinkernd gesetzten Reminiszenzen, die dann der Zuhörer zu seiner Freude entschlüsselt – das wäre eher eine Idee von Haydn. Sondern er schlägt dem fassungslosen Zuhörer den Tonfall, den Melodiefetzen, den er zu kennen glaubt, mit bitterem Sarkasmus um die Ohren. Das zu hören, war in der Essener Philharmonie nicht vergönnt.

Dennoch: Mahlers Erste war ein Versprechen, und der neue GMD wird, das war zu hören, sich mit einem technisch hochklassigen, sehr kooperativ wirkenden Orchester und dem eigentlich entgegenkommenden Raum sicher noch intensiv anfreunden. Das Potenzial ist da – im Essener Neubeginn knospt der Zauber.

Jan Vaclav Hugo Vorisek. Lithografie von Adolph Friedrich Kunike

Jan Vaclav Hugo Vorisek. Lithografie von Adolph Friedrich Kunike

Ein Versprechen war auch der Einstieg in das erste Sinfoniekonzert der Saison mit einem unbekannten Werk aus Netopils Heimat, Jan Václav Hugo Voříšeks D-Dur-Sinfonie. Wenn das kein Signal ist: Netopil bekennt sich zu dem reichen, aber bei uns längst nicht ausreichend bekannten Kulturraum des östlichen Mitteleuropa, zu seiner Heimat und Herkunft und zu einem Komponist und Werk, das nicht auf jeder gängigen Orchester-Agenda zu finden ist. Das ist nach den Mainstream-Programmen, die Soltesz bevorzugte, ein willkommener programmatischer Akzent.

Voříšek wurde geboren, als Mozart dahinschied: 1791. Er starb, als Beethovens Ruhm kulminierte und ein junger, unbekannter Wiener Komponist namens Schubert sich anschickte, Beethovens musikalischen Modellen Paroli zu bieten: 1825. In Voříšeks bewegter, schroffer, dann wieder klangsinnig eleganter Musiksprache hört man die Höhe seiner Zeit: Mozart grüßt, aber noch mehr die erhabene Dramatik Christoph Willibald Glucks, der theatralische Sensus Antonio Salieris, das neue Pathos etwa eines Peter von Winter. Wer aus diesen 1820er Jahren immer nur Beethoven vor Augen hat, leidet unter verzerrter Wahrnehmung. Netopils Verdienst ist, einen anregenden Außenseiter zu Gehör gebracht zu haben, der dennoch mittendrin in dieser lebendigen musikalischen Welt steht. Mehr davon wäre ungemein anregend!




Ruhrtriennale: Körper-Studie mit allen Mitteln

Foto: Eva Würdinger

Foto: Eva Würdinger

Mann und Frau begegnen sich – man sollte meinen, dass zu dieser Konstellation auf der Bühne kaum mehr Neues erzählt werden kann. Von wegen!

Im Choreographischen Zentrum PACT Zollverein trafen Meg Stuart und Philipp Gehmacher aufeinander. Die renommierte US-amerikanische Choreografin und ihr Kollege aus Österreich arbeiten inzwischen seit Jahren fruchtbar zusammen; diesmal banden sie außerdem den Video- und Installationskünstler Vladimir Miller ein. Das Ergebnis heißt „The fault lines“ – übersetzt etwa „Bruchlinien“, jene Störungslinien, die zum Beispiel nach Erdbeben im Gestein sichtbar werden. „The fault lines“ auf der Bühne ist das Zusammenspiel zweier Systeme, die nicht kompatibel sind.

Zu Beginn stehen Mann und Frau sich gegenüber, gehen aufeinander zu – ganz neutral, ohne erkennbar freundliche oder feindliche Absicht. Doch kaum, dass sie einander zu nahe kommen, reagieren die beiden Systeme unwillkürlich und autonom. Was auch immer der eine Körper macht – dem anderen scheint es unmöglich, sich der Bewegung des Gegenübers anzupassen, darauf einzugehen. Sie klammert sich an ihn – er versucht, sie abzusetzen. Sie flieht – er versucht, sie einzufangen. Er streckt die Arme aus – sie entwindet sich. Stuart und Gehmacher zeigen Dutzende solcher kurzer, heftiger Kontakt-Reaktionen, perfekt choreographiert wie ein Wrestling-Kampf, die meist in einem erschöpften Aufeinander-Liegen am Boden enden – bevor ein neuer Versuch beginnt.

Was da auf der Bühne stattfindet, ist kein Kampf der Geschlechter und auch nicht das ewige Spiel des Anziehens und Abstoßens. Wenn Philipp Gehmacher seinen Armen und Händen fast hilflos und erstaunt dabei zusieht, wie sie autonom, scheinbar ohne sein Zutun agieren, wird deutlich: Auf dieser kargen, einem Schuhkarton ähnlichen Spielfläche werden Körper-Studien betrieben.

Vladimir Miller filmt die beiden bei ihren Studien, fokussiert, filtert Details und definiert die Beziehung der Körper mit Hilfe seiner Kamera neu: Auf der Leinwand hält der Mann plötzlich den Kopf der Frau zwischen seinen Händen – tatsächlich aber steht er einige Meter von ihr entfernt.

Am Ende verschmelzen Performance und Video-Projektion: Er hält sie fest auf dem Boden, umklammert sie; sie ragt suchend die Arme in die Luft, und Miller zeichnet auf die Projektion ihrer Körper. Er zeichnet vorsichtig erkundend feine, zitternde Linien auf die beiden Körper. Es sind Störungslinien. Ein starker Moment, eine überzeugende Studie mit den Mitteln darstellender und bildender Kunst.

„The fault lines“ ist noch einmal am 21. September zu sehen.




Hohe Belastung mit Umweltgift PCB: Uni Bochum reißt zwei Großgebäude ab

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Was muss man da heute lesen? Die Ruhr-Uni Bochum (RUB) will bis März 2015 gleich zwei ihrer Großgebäude abreißen.

Und zwar nicht etwa aus ästhetischen Gründen, um vielleicht den architektonischen Brutalismus rückgängig zu machen. Im Gegenteil: Die beiden Bauten der Ingenieurwissenschaften (Kürzel IA und IB) sollen bis 2017 in gleicher Form und Höhe an selber Stelle wieder erstehen, um die „denkmalwürdige Silhouette“ der Ruhr-Uni zu erhalten.

Doch das ist zwar ein Aspekt, aber beileibe nicht der aktuelle Kern der Sache. Der Abrissgrund klingt nämlich durchaus beunruhigend. Es ist die offenbar viel zu hohe PCB-Belastung in den Gebäuden. Nicht nur als jemand, der einige Jahre in anderen Uni-Gebäuden (vornehmlich GA und GB) zugebracht hat, fragt man sich bang, was es damit auf sich hat. Mag sein, dass ich da etwas verpasst habe. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Thema bisher in einer breiteren Öffentlichkeit über Bochum hinaus debattiert worden wäre.

Offiziell heißt es, bei „Voruntersuchungen zur geplanten Kernsanierung“, die auf dem gesamten Campus nach und nach erfolgt, habe sich gezeigt, dass die PCB-Belastung in IA und IB „ungleich größer“ ist als im gerade sanierten IC-Gebäude vor der Modernisierung.

Weiter heißt es in der Pressemitteilung der RUB: „Es kann nicht sichergestellt werden, dass sich das gesundheitsgefährdende PCB vollständig entfernen lässt.“ Mehr als nur „interessant“ wäre es nun zu erfahren, wie sich die Belastung mit der Krebs auslösenden Substanz wohl auf die Menschen ausgewirkt hat, die bislang in diesen Gebäuden als Lehrende, Studierende oder sonstwie tätig gewesen sind.

Bei IA und IB handelt es sich um die ältesten Bauten der gesamten Uni. Baubeginn war am 2. Januar 1964, bereits Mitte 1965 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen.

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Näheres zum Thema PCB findet sich zum Beispiel hier:
http://www.lfu.bayern.de/umweltwissen/doc/uw_53_polychlorierte_biphenyle_pcb.pdf




Schopf und Schöpfung: Oberhausen zeigt „HAIR! Das Haar in der Kunst“

In der „flotten Schreibe“ älterer Machart hätte man formuliert, die neue Ausstellung in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen sei „eine haarige Angelegenheit.“ Und was der Redensarten mehr sind. Richtig ist, dass „HAIR! Das Haar in der Kunst“ das Titelthema rundum abhandelt. Wer da noch eine wesentliche Lücke entdeckt, ist wirklich findig.

Domenico Gnoli: "Hair Partition" (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Domenico Gnoli: „Hair Partition“ (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Gleich der erste Raum verheißt große zeitliche und ästhetische Bandbreite, die dann auch eingelöst wird: Bei Tilman Riemenschneiders „Marientod“ (um 1515) spielt die Haar- und Barttracht der Figuren eine entscheidende, charakterisierende Rolle – bis hin zur so genannten „Petrus-Locke“, die eben genau diesen Apostel kennzeichnet. Direkt gegenüber hängt eine Fotografie von Cindy Sherman, auf der die Künstlerin als steinreiche, überschminkte Dame der besseren Gesellschaft erscheint. Auch hier macht die Frisur einen Unterschied.

Cindy Sherman: "Untitled # 464", 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Cindy Sherman: „Untitled # 464“, 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Für viele Jahrhunderte bedeutete „ordentliches“ Haar auch geordnetes Denken oder gar Gottesnähe. Aus heutiger Sicht kuriose Dinge wie ein Echthaar-Kruzifix oder eine Maria Magdalena mit Ganzkörperbehaarung gibt es zu sehen, wobei das wallende Haupthaar selbstverständlich ihre jungfräuliche Scham bedeckt.

Spätestens nach der Hälfte des Rundgangs fragt man sich jedenfalls, wieso noch niemand zuvor auf die Idee gekommen ist, dieses Thema zwischen Schopf und Schöpfung zum zentralen Gegenstand einer Kunstausstellung zu machen. Museumsleiterin Christine Vogt und ihr Team haben insofern tatsächlich Neuland betreten.

Denn nach und nach zeigt sich, wie vielfältig der ikonographische Anspielungsreichtum des menschlichen Haares ist. Mal hat es religiöse, mal erotische Bedeutung, mal drückt es Machtverhältnisse oder soziale Zugehörigkeiten aus. Der Griff ins Haar oder die erzwungene Entfernung stehen für Demütigung und Stufen der Gewaltsamkeit. Auch kommt immer wieder der unaufhörliche Geschlechterkampf in Betracht.

Tilman Riemenschneider: "Marientod", um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Tilman Riemenschneider: „Marientod“, um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Haare haben überdies innig mit Tod und Vergänglichkeit zu tun, gerade weil sie das Letzte sind, was vom menschlichen Leibe nach dem Aushauchen erhalten bleibt. Im 19. Jahrhundert gedachte man der Verstorbenen deshalb nicht selten mit Lockenbildern.

Rotes Haar dient traditionell als Zeichen der Sündhaftigkeit, doch auch Blond (Warhols Monroe-Siebdruck, Roy Lichtensteins dekorativ weinendes Comic-Mädchen) und Schwarz (Otto Dix’ geradezu „dreckiges“ Hurenbild „Akt mit Zigarette“) haben ersichtlich ihre starken Reize.

Andy Warhol: "Geburt der Venus nach Bitticelli", 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York - Foto: Anne Gold, Aachen)

Andy Warhol: „Geburt der Venus nach Bitticelli“, 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York – Foto: Anne Gold, Aachen)

Und so geht es wechselhaft voran, mit 134 einschlägigen Exponaten von der Antike bis heute, kreuz und quer durch Bestände der diversen Ludwig-Sammlungen, hie und da um Stücke aus anderen Kollektionen ergänzt. Es wird klar, dass die Peter und Irene Ludwig keineswegs nur Pop Art erworben haben, sondern Kostbarkeiten aus nahezu allen Epochen. Zum Umfang der Ausstellung zählt übrigens auch reichlich altes Silber aus dem Besitz von Irene Ludwig, das davon zeugt, wie im 18. Jahrhundert noch Körper- und Haarpflege sozusagen beim Frühstück betrieben wurden. Hier hat man halt den verstorbenen Stiftern gehuldigt, ansonsten wäre es nicht zwingend nötig gewesen.

So manche Legende der Kulturgeschichte wird nicht zuletzt durchs Haar definiert, so etwa durchs Medusenhaar (auf dem Bild „Die Pest“ des Franz von Stuck). Auch das wallende Haar der sexuell bedrängten Susanna im Bade wäre zu nennen. Oder Judith, die den Schädel des enthaupteten Holofernes bei den Haaren packt.

Edvard Munch: "Madonna - Liebendes Weib", 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Edvard Munch: „Madonna – Liebendes Weib“, 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Streckenweise gerät die Schau also beinahe zur kulturgeschichtlichen Beispielsammlung, doch überwiegt insgesamt der künstlerische Impuls; vor allem, weil vornehmlich einige Gegenwartskünstlerinnen (jawohl, es ist offenbar überwiegend ein Frauenthema) frische Akzente gesetzt haben. Sie können auf alles zurückgreifen, mit Bestandteilen der ganzen Tradition jonglieren. Nicht sämtliche Arbeiten kommen über den bloßen Gag hinaus, doch einige gewinnen der Frisur neue Facetten ab.

Bedrohlich wirkt Rebecca Horns 1974/75 hergestellter Film vom simultanen Haareschneiden mit zwei Scheren, zu dem der jüngst verstorbe Otto Sander einen Text gesprochen hat. Anita Brendgens versetzt Fragmente eines ganzen Friseursalons in ein sanftes Schweben. Die vom Hardrock herkommende Patricia Murawski führt ihre langen Haare fotografisch beim selbstvergessenen „Headbanging“ vor. Und Billie Erlenkamp beweist, dass es möglich ist, die Umrisse eines weiblichen Akts in die dichte Behaarung eines Männerbeins zu kämmen.

Unbekannter Meister: "Erhebung der Maria Magdalena" (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Unbekannter Meister: „Erhebung der Maria Magdalena“ (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Wie bitte? Die Haarlosigkeit sei vergessen worden? Nichts da! Jim Raketes Porträtfoto des Schauspielers Jürgen Vogel und ein Selbstbildnis von Max Beckmann lassen mehr als nur lichte „Geheimratsecken“ sehen. Wuchernde wie abrasierte Intim- und Brustbehaarung kommen gleichfalls vor. Und schließlich darf auch das – aus modischen oder religiösen Gründen – bedeckte Haar nicht übergangen werden. Eine Arbeit der Iranerin Shirin Neshat erhebt hierbei subtilen Einspruch gegen den Tschador. Sieh an, sieh an, die Darstellung der Haare kann also auch gleichsam körperpolitisch gewendet werden.

„HAIR! Das Haar in der Kunst“. 22. September bis 12. Januar 2014 in de Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50, ermäßigt 3,50 Euro.

Nähere Informationen: www.ludwiggalerie.de




Alpiner Kraftakt: Gabriel Feltz gibt seinen Einstand als neuer Dortmunder GMD

Die Alpen (Foto: Demirsoy)

Die Alpen (Foto: Demirsoy)

Kaum ein Dirigent habe länger als fünf Jahre in Dortmund gearbeitet: So behauptete Jörg Stüdemann, Kulturdezernent der Stadt, kurz nachdem er Generalmusikdirektor Jac van Steen in einem 15-Minuten-Gespräch hinausgeworfen hatte. Was der Politiker trotzig zur Normalität erklärte, ist freilich eher Teil eines spezifisch Dortmunder Problems. Seit den Dekaden von Rolf Agop und Wilhelm Schüchter sahen die städtischen Philharmoniker ihre Chefs in rascher Folge kommen und gehen, während die Dirigenten der Nachbarstädte kontinuierliche Aufbauarbeit leisteten.

Nunmehr sind Fakten geschaffen: Gabriel Feltz ist erwählt, an die kurzatmige Kette derer anzuknüpfen, die sich um das Musikleben der Stadt verdient machten. Sein Einstand in Dortmund steht im Zeichen von Naturgewalten. Wie schon 2004 bei seinem Antritt in Stuttgart, beginnt der 1971 in Berlin geborene Dirigent mit seinem Lieblingswerk, der Tondichtung „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss. Dieser lässt er die 6. Sinfonie von Ludwig van Beethoven voran gehen, bekannt unter dem Beinamen „Pastorale“. Wir hören mithin Programm-Musik, klingende Abbilder der Natur, die uns am Bach mit lieblicher Idylle umfängt und im Sturm mit wütender Gewalt begegnet. Was bei Beethoven stets zu innerem Glücksleuchten und klassischer Ausgewogenheit zurück führt, formt Strauss zum wehmütigen Sinnbild für den Kreislauf des Lebens. Aus dem Dunkel zum Zenit aufsteigend, muss alles wieder hinunter, hinab in ewige Nacht.

Feltz wagt also den alpinen Kraftakt. Greift in die Vollen, strebt zum Gipfel. Dort kommt das Orchester unter seiner Leitung auch glücklich an. Mit imposanter Kraft halten sich die Blechbläser in der Höhenluft. Wenn die Philharmoniker beim Anstieg kurzatmig wirken, liegt das vor allem an Feltz’ Eigenart, lange Fortissimo-Strecken nicht durchzuformen. Statt das Orchester unter Spannung zu halten, lässt Dortmunds neuer GMD immer wieder die Zügel nach. Regelmäßig nimmt er die Lautstärke zurück, setzt dann zu neuem Crescendo an. Schon beim Sonnenaufgang wird es in Schüben hell. Der Berg wird in vielen kleinen und größeren Anläufen erobert.

Nur phasenweise magisch

Daneben gibt es gelungene Momente: das feine Oboensolo vor der Gipfelekstase, das finale Hinabsinken der Nacht, in der die Zeit schier zum Stillstand kommt. Das atmet eine Magie, die andernorts schmerzlich fehlt. So geht es auf der Alm trotz Kuhglocken-Geläut fast erschreckend geschäftsmäßig zu. Feltz hebt Details heraus, zeigt jeden Einsatz mit Akribie, blickt wie ein gütiger Vater lächelnd auf die Musiker herab. Aber wo Strauss’ Musik zum großen Gleitflug abhebt, bleibt vieles kleinteilig oder blockhaft, letztlich dem Handwerk verhaftet. In Beethovens „Pastorale“ deutet sich das bereits an. Vieles plätschert hier flott dahin, ohne Spannung oder größere Innerlichkeit zu erreichen. Bachgeriesel, Bauerntanz und Sturmeswut ziehen viel zu folgenlos an uns vorüber, um die „dankbaren Gefühle“ im Finalsatz zu motivieren. Ein Gewitter? War da was?

Der Zauber des Anfangs wird in Dortmund durch manche Unbeholfenheit getrübt. Dazu mag das noch nicht ausgereifte Format der öffentlichen Konzerteinführung ebenso zählen wie der Versuch einer künstlerischen Beurteilung durch Jörg Stüdemann beim Empfang. Immerhin wünschte der Kulturdezernent dem neuen GMD Glück für die kommenden Jahre. Dem wollen wir uns gerne anschließen. Gabriel Feltz wird es brauchen.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Prägnante Szene bei einer schon länger zurückliegenden Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (wahrhaft müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm hat man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz erwartet.

Jetzt wird diese Instanz für immer fehlen. Marcel Reich-Ranicki, der mit Abstand prominenteste Literaturkritiker deutscher Zunge, der sogar vielen Banausen ein flüchtiger Begriff war, ist heute im Alter von 93 Jahren gestorben.

Der „Großkritiker“ ließ sich damals in Frankfurt – wie üblich – nicht lange bitten, mochte sich freilich in jenem Falle nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten „sehr gut geschrieben“. Aha! Aus derlei Frage- und Antwort-Spielchen hat er zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Rubrik bestritten, bei deren Lektüre man sich zuweilen an den Kopf fasste.

Entweder herrlich oder grrrrrrässlich

Bei Licht betrachtet, waren die Maßstäbe des höchst belesenen, im Literaturbetrieb ungemein beschlagenen Reich-Ranicki recht simpel: Entweder gefiel ihm ein Buch – oder es langweilte ihn „grrrrrässlich“; zuweilen schon dann, wenn es im „falschen“ Land spielte, zu umfangreich geraten oder zu unkonventionell erzählt war. Manchmal hat man sich schon gewundert, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit hat bringen können. Doch natürlich war er auch in der Lage, differenzierte Rezensionen zu schreiben, an denen man seine helle Freude haben konnte; besonders dann, wenn er Autoren hoch schätzte, wie etwa den ewigen Leitstern Thomas Mann. Mit seinen Verrissen war Reich-Ranicki allerdings oftmals ungerecht schnell bei der Hand.

Marcel Reich-Ranicki hat seine stets glasklaren, selten von Selbstzweifeln angekränkelten Meinungen mit solcher Wucht und Verve vertreten, dass man schwerlich dagegen ankommen konnte. Er war bestens „vernetzt“ und verstand es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillte er wohl eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur waren ansonsten unübersichtlich genug. Da sollte mal einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wurde er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er auf seine älteren Tage schon mal unumwunden zugegeben hat, nicht „unfehlbar“ zu sein.

Bewegende Biographie

Rund 1,2 Millionen Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ verkauft. Eindringlich schilderte Reich-Ranicki seine Kinderheit in Polen und Berlin, sein unvorstellbar schwieriges Leben in der NS-Zeit, von dem er 2012 auch in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Zeugnis abgelegt hat. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer wollte es ihm da ernsthaft verübeln, dass er später vorübergehend dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald aber wandte er sich ab und wurde wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er wieder nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001) im ZDF hat Reich-Ranickis Entertainer-Qualitäten vollends zur Entfaltung kommen lassen. Nach den Sendungen mussten die Bestsellerlisten immer flugs umgeschrieben werden. Man möchte lieber gar nicht wissen, was die Verlage angestellt haben, um dort besprochen zu werden. Jedenfalls musste ein Mann wie Reich-Ranicki einfachs ins Fernsehen, wo er so manche schwankende Seele für die Literatur gewonnen haben dürfte. Wie hat man sich seinerzeit amüsiert, als er seine öffentlich-rechtlichen Bücherstreits mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche ausfocht. Manchmal war’s herrliches Kasperltheater mit anderen Mitteln…

Grass und Walser haderten mit ihm

Deutschlands bekannteste Schriftsteller wendeten sich freilich vielfach mit Grausen – mit Ausnahme von Siegfried Lenz. Literaturnobelpreisträger Günter Grass war Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verrissen und auf dem legendären „Spiegel“-Titelbild regelrecht zerfetzt hatte. Als Reich-Ranicki die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Und damals wusste man noch nichts von Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit in den finsteren Zeiten…

Auch Martin Walser (umstrittener Schlüsselroman: „Tod eines Kritikers“) gehörte beileibe nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Selbst mit dem langjährigen Freund Walter Jens war Reich-Ranicki zwischenzeitlich heillos zerstritten. Die Einsamkeit des Kritikers, allen Mitstreitern und Medienmächten zum Trotz.

Heimat Literatur, Zuflucht Teofila

In mehr als einer Hinsicht war dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit den schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen von „Zeit“ und FAZ. Als wahre Heimat hat er hingegen immer die (deutschsprachige) Literatur begriffen.

Und es gab noch eine sehr dauerhafte Zuflucht: Über 70 Jahre lang lebte er mit (der 2011 verstorbenen) Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hatte. Auch wenn er gelegentlich damit kokettierte, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er wohl sicherlich treu gewesen. Und jetzt, wer weiß, kann sie vielleicht „dort droben“ seine harmlosen kleinen Eskapaden mit jenem weisen, wissenden Lächeln quittieren, das ihr zu eigen war.




Dieses übliche Leben im Mittelmaß – Daniel Kehlmanns Roman „F“

978-3-498-03544-0.jpg.661869„Sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht. Sie werden nie glücklich sein. Aber das macht nichts. Man kann auch so leben.“ Solche Sätze hören sich ähnlich ernüchtert an wie der alte Begrüßungs-Klassiker: „Wie geht’s? – Muss. – Hauptsache.“

Aber wir wollen uns nicht belustigen. In Daniel Kehlmanns neuen Roman mit dem fauchend kurzen Buchstabentitel „F“ müssen praktisch alle Figuren damit zurechtkommen, dass sie auf ihrem Gebiet allenfalls Mittelmaß darstellen. Da stellt einer schon zeitig fest: „Was bedeutet es, mittelmäßig zu sein – plötzlich ließ die Frage mich nicht mehr los.“ Nun mal ehrlich: Ist das nicht, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, unser aller Lebensthema?

„Mein Name sei Niemand“

Gewiss, sie wehren sich hin und wieder gegen die Erkenntnis, dass sie nicht allzu besonders sind: Arthur, der auf seine mittleren Jahre mit Titeln wie „Mein Name sei Niemand“ ein paar Erfolge als Schriftsteller hat, jedoch alsbald wieder literarisch verstummt; seine Zwillingssöhne Eric (windiger Spekulant, der ein paar Milliönchen macht, dann aber in der Krise scheitert) und Iwan, der in perfider Personalunion als Künstler, Kunsthändler, Kunstkritiker und Kunstfälscher agiert.

Aber was heißt schon „Fälschung“, wo doch Iwans Geliebter, der alternde Künstler Eulenböck, durchaus damit einverstanden ist, dass Iwans Schöpfungen unter seinem Namen auf den Markt kommen und zeitgeistig reüssieren. Und außerdem ist da noch Martin, der linkische Halbbruder von Erik und Iwan, der Priester wird, obwohl er partout nicht an Gott glauben kann und sein bisschen Selbstbewusstsein vornehmlich aus der virtuosen Handhabung des Rubik-Würfels bezieht.

Hypnotische Einflüsse

Dieses durchs Leben schlingernde Quartett haben wir anfangs, als die Söhne noch Kinder waren, im Publikum eines Hypnotiseurs erlebt. Dieser persönlich verstörte, auf der Bühne aber weit über sich hinaus wachsende Lindemann hat damals den Vater Arthur auf die Bühne geholt und mit seinen Suggestionen wohl den Anstoß für alles Folgende gegeben. Die geradezu lachhaft läppische Verwechslung einer Sekretärin, die den falschen Bruder (nämlich Martin statt Iwan) zum beratenden Krisengespräch bei Erik bittet, sorgt schließlich für eine gewaltsam tragische Verkettung.

Das Geschehen schwankt zwischen extremen Polen, die durch Kern- und Schlüsselsätze markiert werden: Einerseits heißt es, niemand könne irgend etwas Genaues über einen anderen Menschen wissen. Also müsste schrankenlose Freiheit des Denkens und Tuns herrschen. Andererseits heißt es: „Jeder kann jeden dazu bringen, sein Leben zu ändern.“ Ganz so, als wäre man ein Spielball, in eigener Sache vollkommen machtlos, jedem Einfluss ausgesetzt. Ein weiterer Haupt- und Merksatz besagt, „dass jeder Mensch tun muss, was ihn rettet (…)“ Wie in Stein gehauen stehen solche Sentenzen da.

Es waltet der Zufall

Kehlmann stellt die uralte Frage: Haben wir ein fremd- oder vorherbestimmtes Schicksal, oder sind wir in der Lage, unsere Wege selbst zu wählen? Und so steht denn auch das große „F“ nicht nur für Friedland, den Familiennamen der genannten Hauptfiguren, sondern vor allem fürs Fatum, also das Schicksal und Verhängnis. Über einige Seiten hinweg wird der Familienstammbaum der Friedlands rückwärts aufgeblättert und man ahnt, welch eine traurig-absurde Häufung von Zufällen eine Rolle gespielt hat, bis die Heutigen zur Welt kamen. Da fragt sich abermals, was der Einzelne überhaupt vermag.

Doch so konstruiert, wie das vielleicht anmuten mag, ist Kehlmanns Roman keineswegs. Die Handlung wird spannungsreich, ja oft geradezu süffig erzählt, der Auto zieht so manche Register. In den besten Passagen ist es, als erzähle sich das Geschehen von selbst, gleichsam ohne spezielle Urheberschaft.

Perspektivensprünge

Doch natürlich hält Kehlmann die meisten Fäden in der Hand – zuweilen auch als allwissender Erzähler. Ab und zu wechselt er die Perspektiven, springt von der Ich-Erzählung in die Distanz und wieder zurück. Die Wechselhaftigkeit entspricht dem Flirren der Identitäten. So ist Eric im eigenen, unwirklich wattierten Leben nicht zu Hause, Sex und Geld sind ihm gleichermaßen öde und uneigentlich. Derweil maskiert Iwan sein ganzes Dasein als Künstler. Um einen alten Buchtitel von Hans Magnus Enzensberger aufzugreifen, stecken die Figuren just zwischen „Mittelmaß und Wahn“ fest.

Gepriesen sei Kehlmanns Kunstfertigkeit. Der Mann ist drauf und dran, einer der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller zu werden. Die Bühnenshow des Hypnotisieurs – atemberaubend geschildert. Die unstillbaren Glaubenszweifel während des Vollzugs der Liturgie und des Beichtsakraments – herrlich in Szene gesetzt. Und so weiter, bis zum Schluss. Dieser Roman ist einfach gut gemacht und das ist nicht etwa relativierend gemeint, sondern aus vollem Herzen lobend, quasi im angelsächsischen Sinne eines „well made“. Und wer da glaubt, derlei Unterhaltsamkeit müsse auf Kosten des deutschen „Tiefgangs“ gehen, der lese und staune doch selbst!

Daniel Kehlmann: „F“. Roman. Rowohlt. 380 Seiten.




Alexander Calder und Candida Höfer: Zwei Ausstellungen in Düsseldorf

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists' Rights Society (ARS), New York© Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists‘ Rights Society (ARS), New York
© Kunstsammlung NRW

Damit ihr Himmel nicht leer ist, hängt man für Babys ein Mobile auf: Das ist bunt, tanzt durch die Luft und macht die Welt zu einem freundlichen Ort. Die Kunst des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder (1898-1976) spricht ebenso direkt unsere kindliche Seele an: Als einer der ersten hat der Avantgardist abstrakte Formen in Bewegung versetzt und damit die kinetische Kunst begründet.

Calder gilt als Erfinder des Mobiles, geprägt hat den Begriff allerdings Marcel Duchamp bei einem Atelierbesuch bei Calder in Paris, als er seine neuesten Objekte begutachtete. Die Wortschöpfung kombiniert die französischen Worte „Bewegung“ und „Motiv“ und die neue Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf „Avantgarde in Bewegung“ zeigt bis Januar 2014 Calders schwingende, klingende und farbenfrohe Objekte aus den 30er und 40er Jahren.

„So wie man Farben komponieren kann, kann man auch Bewegung komponieren“, lautet ein Credo von Calder und selten ist man sich der drei Dimensionen eines Ausstellungsraumes so bewusst wie in der ersten Calder-Ausstellung seit 20 Jahren in Deutschland. Über den Köpfen schweben filigrane und zugleich raumbeherrschende Objekte in den bizarrsten Größen, Formen und Kombinationen. Zugleich tritt mit dem Klang noch eine vierte Dimension hinzu, der Calder ebenso einen wichtigen Platz einräumt: Durch die Bewegung geraten seine Skulpturen in Schwingung und die verschiedenen Materialien erzeugen durch Zusammenstöße eine ebenso zauberhafte wie zufällige Melodie.

Leider ist es nicht erlaubt, die Mobiles im Museum selbst in Bewegung zu versetzen und so warten die Besucher gespannt auf den Mitarbeiter des K 20, der alle halbe Stunde eine rote Kugel mit einem wattierten Stab anstupst. Unter großem „Ah“ und „Oh“ setzt sich eine Kettenreaktion in Gang und das Instrumentarium aus Flaschen, Dosen, Kisten und Gongs lässt eine Melodie hören, deren Komponist der Zufall ist.

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark© Kunstsammlung NRW

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark
© Kunstsammlung NRW

Wenn Calder für Kunst in Bewegung steht, so zelebriert Candida Höfer ein paar hundert Meter weiter im Museum Kunstpalast das genaue Gegenteil: Ihre Fotografien verschreiben sich der absoluten Statik menschenleerer Räume. Die 1944 geborene Tochter von „Frühschoppen“-Gastgeber Werner Höfer studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Becher-Klasse und lebt in Köln. Nun sind unter dem Titel „Düsseldorf“ Arbeiten ausgestellt, die in der Landeshauptstadt entstanden sind – beginnend in den 70er Jahren bis heute, so dass die Schau auch Höfers Entwicklung als Fotografin nachzeichnet.

Denn nicht immer waren ihre Bilder menschenleer: In frühen Fotos von Schaufenstern im Stadtgebiet spiegelt sich die junge Höfer sogar selbst mit Kamera. Eigentümlich spartanisch mutet das spärliche Warenangebot hinter vergilbten Vorhängen in den Geschäften der 70er Jahre an. Seltsam, hatte man doch früher niemals ein Gefühl eines Mangels und doch scheinen sich die Sehgewohnheiten durch die Supermarktkultur weitaus stärker gewandelt zu haben, als einem selbst bewusst ist.

Interessant ist auch Höfers Serie der ersten türkischen Gastarbeiter und ihrer Lebensumstände; ein maschinengeschriebener Brief der Akademie genehmigt der damaligen Kunststudentin ganz altmodisch-bürokratisch die Reise ins Heimatland der Arbeiter, um dort zu fotografieren. Höfers Fotos aus anderen Teilen der Welt bekommt man aber in dieser Ausstellung nicht zu sehen, die Auswahl beschränkt sich allein auf Düsseldorf.

So blickt der Besucher in Kirchen, Prunkräume des Benrather Schlosses, die Eingangshalle eines Bürohochhauses und das Treppenhaus des Stahlhofes. Die Szenarien atmen Perfektion, Akkuratesse und bestechen durch ihre harmonische Bildkomposition wie die Stillleben alter Meister. Es sind, so ist es im Katalog nachzulesen, „Räume vergangener bürgerlicher Öffentlichkeit“ und sie sind leer. Die versteckte Sprengkraft einer solchen Aussage zeigt, dass die Abwesenheit des Menschen als Sujet durchaus zum gesellschaftlichen Statement werden kann. Aus unseren ehrwürdigen Institutionen sind wir längst verschwunden – aber wo sind wir hin?

Infos:
K 20: „Alexander Calder – Avantgarde in Bewegung“, www.kunstsammlung.de
Museum Kunstpalast: „Candida Höfer – Düsseldorf“, www.smkp.de




Jung sein war für sie keine Frage des Alters: Zum Tod der Schauspielerin Helga Uthmann

Für viele war sie der „Inbegriff von einer Schauspielerin“ und so mancher schaute sich ein Stück nur an, um sie zu erleben: Die Kammerschauspielerin Helga Uthmann ist gestorben.

Als Journalistin hat man Termine, auf die man sich freut und solche, zu denen man sich schleppt. Helga Uthmann zu treffen, war jedes Mal wie ein Lichtstrahl. Stets sorgsam gekleidet, die Haare hoch gesteckt, so zuvorkommend, so freundlich, so lebensfroh und interessiert an ihrer Umwelt, an ihrem Gegenüber. Und so aufgeregt.

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Jahrzehnte auf der Bühne waren wie weggewischt, wenn Helga Uthmann plötzlich selbst im Zentrum des Interesses stand. Kein Regisseur, kein Text, keine Vorgaben. „So privat zu sein! Grauenhaft! Ich möchte weglaufen“, rief sie einmal an einem Theaterabend, der ihr gewidmet war. Und das von einer Frau, die allein am Schauspiel Dortmund 30 Jahre lang zum Ensemble gehörte.

Niemals eine Diva

Doch Helga Uthmann wollte nie Diva oder Grande Dame sein. „Theatermama“ nannten sie manch jüngere Kollegen liebevoll. Sie selbst sprach gern von sich als der „komischen Alten“. Und komisch sein, das konnte Helga Uthmann. Wenn sie lachte, dann mit dem ganzen Gesicht, dem ganzen Körper, der ganzen Seele. Ein Lachen, dem sich keiner entziehen konnte.

Es passte zu ihr, diesem so sympathischen Menschen, dass ihr Werdegang buchstäblich auf der Straße anfing, beim Theaterspiel unter Freunden. „Ich war die böse Schwiegermutter. Die Prinzessin fand ich ungeheuer langweilig“, erzählte sie mir einmal in einem Interview. Glamour, Allüren – Fremdworte für sie.

„Ich komm‘ schon noch“

Helga Uthmann legte keine aalglatte Karriere hin. Nach der Folkwangschule blieben viele ihrer Kollegen in Essen – sie ging an das Kleine Theater in Mülheim. Und erlebte eine anstrengende, eine prägende Zeit, in der vom Soufflieren bis zum Wände anmalen alles dazu gehörte – fast wie in einer freien Gruppe. Selbst die ersten Auftritte vor dem Publikum fand sie abschreckend: so fremd, so ausgeliefert. Und doch dachte sie bei sich: „Ich komm‘ schon noch“.

Bemerkenswert an Helga Uthmanns Weg ist, dass er immer auch einer jenseits der Zeit war: Am Anfang lagen ihr die jungen Rollen nicht und sie freute sich über jedes Jahr des Älterwerdens – später ab schien sich ihre Lebensspirale andersherum zu drehen. „Ich werde innerlich immer jünger. Ich bin noch 30″, sagte sie mir, als sie vom Papier her 75 war.

Diese unbändige Spiellust

Wer sie in Mathias Franks Inszenierung von Peter Turrinis „Josef und Maria” mit Claus Dieter Clausnitzer erlebt hat, weiß, was das für die Bühne bedeutete: so voller Lebenslust, so kraftvoll und bezaubernd das Sein umarmend war sie da zu sehen, dass die Zuschauer nur so in das Stück pilgerten. Sie wollten erleben, wie diese beiden vermeintlich Alten plötzlich Tango tanzten, Wange an Wange, jede Widrigkeit des Lebens verlachend. Jung sein ist keine Frage des Alters.

Man konnte sich regelrecht vorstellen, dass Helga Uthmann auch schon mal vor einer Vorstellungen laut brüllte: „Ich hab‘ Lust! Ich hab‘ Lust!“

Und doch sagte Helga Uthmann vor fünf Jahren, ihre Kraft lasse nach, sie wolle kürzer treten. Jürgen Kruses Ruf ans Schauspiel Köln ist sie trotzdem noch einmal gefolgt, als der sie anbrüllte: „Und wenn Du 130 wärst – Du spielst!”

Sie ist leider nicht 130 geworden.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Menschen, der so wundervoll warmherzig war, so groß im Leben und auf der Bühne. Für Helga Uthmann war es ein Kompliment, wenn jemand sie bodenständig nannte. Oder, wie sie es sagte: „Ich muss auch mal dreckige Hände haben und in der Erde wühlen.“




Triennale: Eiskalte Spannung – Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Winkler

Angela Winkler als „Mädchen“ in eisigem Blau. Foto: Julian Mommert/Triennale

Unten die plane, rechteckige, weitgehend leere, öd und unwirtlich wirkende Spielfläche. Alles umringt von steil ansteigenden Zuschauerblöcken. Dahinter schließlich haben sich Chor und Orchester platziert. Gewissermaßen als musikalische Umzingelung. Sodass die Klänge uns mal auf den Pelz rücken, mal wie aus dem Nichts entstehen, uns drangsalieren und enervieren, aber auch aufs Schönste erregen und erheben. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Musik mit Bildern“ wird in einem Raum zelebriert, der bereits Teil des Interpretationskonzepts ist.

Dafür steht der amerikanische Regisseur Robert Wilson, der dieses Theaterkonstrukt als einen Operationssaal sieht. Wie passend: Denn die Geschichte vom armen Mädchen, das in der bitterkalten Neujahrsnacht keine Zündhölzchen verkaufen kann, sie anzündet, um sich für Augenblicke nur zu wärmen, das halluziniert und erfriert, wird gewissermaßen seziert, auf seelische Befindlichkeiten und körperliche Aggregatzustände hin untersucht. Mit einer überwiegend geräuschhaften Musik, die pendelt zwischen wahrhaft monströsem Suggestivklang und allerkleinstem Fragment.

Lachenmann hat dieses Märchen, das nicht zuletzt sozialkritische Züge trägt, um zwei Texte erweitert. Einer stammt von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, ein ideologisch aufgeladenes Pamphlet gegen das „System“, in dem das Zündeln (!) als Akt des Widerstands gesehen wird. Der zweite Textzusatz ist das Höhlengleichnis Leonardo da Vincis, das einen Menschen beschreibt, der zwischen Angst und Neugier pendelnd darüber sinniert, ob er die Höhle betreten solle. Genau wie das Mädchen, schwankend zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf ein besseres Jenseits.

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Lachenmanns 1997 uraufgeführte „Oper“ steht im Zentrum der insgesamt sechs Wochen währenden Triennale, ragt wie ein fremder, wuchtiger, einsamer Monolith über alle bisherigen Festival-Produktionen hinaus. Weil Wilson zur Premiere in Bochums Jahrhunderthalle betörende Bilder findet: mit Hilfe von Licht, Farbe und den allseits bekannten knappen Gesten sowie mit zeitlupenhaften, in Erstarrung mündenden Bewegungen. Ganz im Dienste des Komponisten, der ja zuallererst das Zittern, Frieren und Verharren in Klänge gesetzt hat. Und dem es nicht darum zu tun war, ein Libretto linear musikalisch nachzuerzählen.

Das Mädchen, das ist Angela Winkler. Eine weißgewandete, angstvoll und stumm daherschleichende, fragile Ophelia, mit vom Eissturm gezausten Haaren. Deren stumpf blickende Augen zu leuchten beginnen, wenn sie staunend die Bilder einer besseren, warmen Welt imaginiert, die Wilson mit wenigen Requisiten und zauberhaften Licht-Spielen in Szene setzt. Winklers einziges Sprechen gilt dem erwähnten Höhlengleichnis. In expressiver, beinahe dadaistischer Manier wird der Text in seine Bestandteile, in Laute zerlegt, geht somit einher mit Lachenmanns Musik.

Anderes jedoch bleibt verrätselt: Steht doch Robert Wilson als Gestengeber oder Strippenzieher selbst auf der Bühne. So unterwirft er sich seiner eigenen Regie und leitet das Mädchen in doppeltem Sinne an. Als dessen Alter Ego, als Tod? Und was suggerieren die Menschen in dicken Mänteln, die kurz vor dem Erlösungsschluss im Halbdunkel über die Ebene stapfen?

Das freie Spiel mit Assoziationen, das Bedenken dessen, was zu sehen ist, wäre wohl ganz im Sinne Lachenmanns. Der uns mit unerhörten Klängen vom hörigen Hören, vom stets Gewohnten also, weglocken will. Dessen Musik nie brutal laut ist, sich andererseits in bisweilen ungeahnter Harmonie entfalten kann. Wort- und Gesangsfetzen, Atem-, Schleif- und Klopfgeräusche fügen sich zum fahrigen, wilden, großen Ganzen.

Üppiger Applaus, nicht zuletzt fürs Chorwerk Ruhr und das hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomárico.

Info über weitere Vorstellungen unter www.ruhrtriennale.de

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen.)

 




„Der Parasit“: Komödie zum Saisonauftakt am Düsseldorfer Schauspielhaus

Die Büromöbel stehen noch halbausgepackt auf Plastikfolie, das Vorzimmer des Ministers sieht in prekärer Pressspanoptik aus wie die neuen Räumlichkeiten eines IT-Startups: Ach, und da wird auch schon der erste gefeuert. Buchstäblich auf die Straße geworfen wird der arme Teufel mit der Nerd-Brille, weil sein Kindheitsfreund Selicour (Florian Jahr) ihn ganz übel ausgebootet hat. Doch La Roche (Christian Ehrich) ist nicht das einzige Opfer des „Parasiten“, im Laufe der nächsten anderthalb Stunden bringt der eiskalte Karrierist Selicour noch einige Kollegen zu Fall – bis er selber stürzt.

Foto: Kurt Michel/pixelio

Foto: Kurt Michel/pixelio

Zum Saisonauftakt zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus die von Friedrich Schiller übersetzte französische Komödie „Der Parasit“ im kleinen Haus. Regisseur Nurkan Erpulat hat die Schillersche Bearbeitung von 1803 in die Gegenwart geholt und inszeniert Bürotypen von heute beim Mobben und Gemobbtwerden. Das allerdings mit pointensicherem Rhythmusgefühl, exzellenten Schauspielern und treffendem Witz, so dass ein fluffiger Abend von leichter Hand dabei herauskommt. Als wäre noch Sommer.

Der smarte Selicour im feingestreiften Anzug mit rosa Innenfutter ist zunächst einmal ein Kommunikationsgenie und verkörpert das Klischee eines Marketing-Fritzen, wie sie heutzutage in Wirtschaft, Kultur und Politik sphärenübergreifend herumhampeln. Er quatscht mit jedem, kann mit der Mutter des Ministers (Verena Reichhardt) ebensogut wie mit jenem selbst und empfindet das durchaus als seinen Verdienst: Networking muss man eben beherrschen, wenn man Karriere machen will und wer die richtige Performance nicht drauf hat, bleibt halt auf der Strecke, das ist ja nicht sein Problem.

Außerdem ist der Parasit ziemlich gut im Delegieren, auch das muss ein Manager können. So luchst er dem braven, langgedienten Beamten Firmin (Dirk Ossig) das Memorandum ab, das er abends abliefern muss und gibt es als seines aus. Mal ehrlich, machen Chefs das nicht immer? Da ihm fürs Songschreiben das Gefühl fehlt, bequatscht er den scheuen Retro-Hippie Karl (Marian Kindermann), sein Liedchen abzutreten, mit dem die Tochter des Ministers (Patrizia Wapinska) bezirzt werden soll. Na, und? Er bringt ihn ja auch groß raus auf der Party und Copyright ist sowieso passé.

In dieser Lesart wird die Rache, auf die die Betrogenen sinnen, fast schon unverständlich, da das ganze System das Parasitentum ohnehin zur Norm erhoben hat. Wer soll sich noch moralisch über Schleimerei und üble Tricks entrüsten, wenn das sowieso alle machen (sollen)? Zumal auch der Bling Bling-Minister Narbonne (Moritz Führmann), mal im Tennis-Dress, mal in Reiterkluft, mehr an sportlichen Events als an irgendwelchen Regierungsgeschäften interessiert ist. Klar, hat er lieber Leute um sich, die seinen Lebensstil kopieren als solche Aktenfresser, die ihn an die eigene Pflichtvergessenheit gemahnen. Da stinkt der Fisch vom Kopfe her.

Foto: Sassi/pixelio

Foto: Sassi/pixelio

Für alle Sozialromantiker, die die Gesetze des Marktes und ihrer (verantwortungslosen) Akteure noch nicht begriffen haben, gibt’s aber im Schauspielhaus den guten alten Schiller-Schluss. Mittels List der rechtschaffenen Leute wird der Parasit überführt und der gerechten Strafe zugeführt. Die Welt hat einen Smartie weniger. Blöd nur, dass die immer so bunt nachwachsen.

Infos und Karten:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Menscheln und Musik – die Dortmunder Philharmoniker werben mit einem Heftchen

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Theater Dortmund

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Stadt Dortmund

Die Spannung steigt. Noch ein paar Tage, und für die Dortmunder Philharmoniker beginnt ein neues Kapitel ihrer nunmehr 125jährigen Geschichte. Weil mit Gabriel Feltz, als Generalmusikdirektor (GMD) des Orchesters, ein neuer Chef am Pult stehen wird, der gleich ordentlich ranklotzen will. Mit Beethovens 6. („Pastorale“) und der großdimensionierten „Alpensinfonie“ von Richard Strauss – zwei Werke im Spannungsfeld zwischen Naturlautmalerei und Programmmusik. „natur_gewalten“ ist das 1. Philharmonische Konzert denn auch übertitelt.

Feltz und die Philharmoniker unterwerfen sich also unverzüglich einer mehrfachen Prüfung. Wie dirigiert der neue Mann, wie wirkt er aufs Publikum? Wie meistert das Orchester die gewaltige alpine Herausforderung?  Fragen, deren Beantwortung gewiss einiges über das aktuelle Standing des Dortmunder Klangkörpers sagen wird, der in den letzten fünf Jahren durch Jac van Steen in günstiges Fahrwasser gelenkt wurde.

Doch dem Orchester geht es nicht nur um Leistungsschau. „Wir wollen menscheln“, sagt die Geigerin Barbara Kohl. Das klingt nach Philharmonikern zum Anfassen, und so ist es wohl auch, zumindest indirekt, gemeint. Helfen soll dabei ein neues Medium, das sich „Klangkörper“ nennt. Mehr sagt der Untertitel aus: Menschen – Musik – mittendrin. Das Publikum soll eben nicht nur Konsument im Konzert sein.

Geklotzt wird mit dem schmalen Heftchen freilich nicht. Akribisch gefaltet, wie es ist, passt es in jede Damenhandtasche. Aufgefächert bietet es immerhin Platz für eine große Geschichte, eine Karikatur und kleinere Beiträge. Logisch, dass in der ersten Ausgabe ein großes Porträt von Gabriel Feltz zu finden ist. Eine Homestory darüber, wie es sich so lebt in der neuen Heimat Dortmund.

Die Initiative zu dieser Art Kommunikation sei aus dem Orchester selbst gekommen, sagt Barbara Kohl. Sie zählt ebenso wie der Bassposaunist Paul Galke zum Redaktionsteam, das durch Orchestermanager Rainer Neumann und Gerhard Stranz ergänzt wird. Stranz wiederum ist Vorsitzender der Initiative „Publikum Pro Philharmonie Dortmund“ (PPP). Das Projekt trägt sich durch Sponsoren. Die Auflage beträgt 3000 Exemplare. In dieser Saison soll zu jedem zweiten Philharmonischen Konzert ein Heftchen erscheinen. Abseits dieses Mediums konventioneller Art ist das Orchester auf Facebook wie Twitter zu finden. Eine erweiterte Netzpräsenz ist in Arbeit. „Ohne geht es heute nicht mehr“, sagt Rainer Neumann.

Am Ende aber gilt der (abgewandelte) Satz: Wichtig ist das Konzert. Als Ereignis, bei dem letztlich über Qualität und Akzeptanz entschieden wird. Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass Feltz als Nachfolger Jac van Steens nicht die erste Wahl des Orchesters war. Inzwischen beeilt man sich hinzuzufügen, die Zusammenarbeit verlaufe professionell. Nun, vielleicht fügt sich noch alles zu schönster, andauernder Harmonie. So die Musen (und der Kulturdezernent) es wollen. Wir sind gespannt.

Das erste Philharmonische Konzert findet am 17. Und 18. September im Konzerthaus Dortmund statt (jeweils 20 Uhr). Informationen unter www.theaterdo.de und www.doklassik.de

Facebook: Dortmunder Philharmoniker

Twitter: #doklassik




Navigation ins Nirgendwo

Mit diesen obskuren Objekten, die Navigationsgeräte („Navis“) heißen, stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Im Prinzip ist das ja eine famose Erfindung, die man sich früher gewünscht hätte. Allerdings habe ich damit im Lauf etlicher Jahre fast nur schlechte Erfahrungen gemacht.

Schon mehrere „Montagsgeräte“ haben mir den Nerv geraubt. Die Marke Becker (allenfalls zögerliche Zielfindung) kann ich demnach ebenso wenig empfehlen wie Navigon (seinerzeit unglaublich umständlicher Download von Aktualisierungen, erbärmlicher Support). Reiner Zufall? Bloßes Pech? Inzwischen längst verbessert? Mag sein.

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Doch der Fluch verfolgt mich weiter. Neuerdings ist es ein Apparat von TomTom, der wegen Bildschirmsalat und anschließendem Totalausfall bereits kurz nach dem Erwerb zweimal zur Reparatur eingeschickt werden musste, sodann im Rahmen der Garantie ausgetauscht wurde. Das neue Exemplar bringt nun keinerlei GPS-Empfang zustande, kann also nicht einmal feststellen, wo es sich befindet. Bei der Service-Hotline (wenn man sie denn nach langer Warteschleife erreicht) kenne ich mittlerweile fast alle Stimmen.

Liegt es an der Aura?

Inzwischen suche ich auch nach übersinnlichen Erklärungen fürs Dauerdesaster. Entweder besitze ich eine Aura, welche die Navis von ihrem eigentlichen Tun ablenkt, oder diese Technik ist – unabhängig vom jeweiligen Hersteller – immer noch nicht richtig ausgereift; was Multimilliarden-Geschäfte keineswegs ausschließt.

Eine ins absurde ragende Episode muss noch erzählt werden. Für einen Kurzurlaub ging’s neulich auf die Nordseeinsel Borkum. Vorsichtshalber haben wir nicht nur mein gerade frisch umgetauschtes TomTom-Gerät mitgenommen, sondern auch das Medion-Maschinchen meiner Frau. Doppelt abgesichert, ha! Da konnte ja wohl überhaupt nichts mehr schiefgehen.

Die Affäre mit der Fähre

Doch das erstgenannte Teil konnte just keine Satelliten-Signale empfangen und sich somit gar nicht erst positionieren. Ein Debakel. Also flugs das zweite Gerät angeworfen, das seltsamerweise eine kolossale Fahrtdauer von fast 7 Stunden bis zum Fähranleger in Eemshaven (Holland) vorhersagte. Normal wäre etwa die Hälfte.

Waren da etwa schon Seewege mit einberechnet worden? Egal. Es hätte uns jedenfalls sehr, sehr stutzig machen sollen. Leider haben wir uns trotzdem ohne Kartencheck auf die Wegführung verlassen – und sind geradewegs zum Anleger nach Emden geleitet worden, für den wir freilich keine Fähren-Reservierung hatten. Für eine Umkehr war es schon zu spät.

Kurzum: Wir haben unsere gebuchte Fähre verpasst und konnten in Emden nur noch als Fußgänger mitschippern, was auch schon ein Glücksfall war. Das Auto musste anderntags nachkommen. Während der Umbuchung hieß es bei der Reederei, dass derlei navigatorische Fehlleitungen zum falschen Fährhafen täglich vorkämen. Es war also alles andere als ein Einzelfall.

Suche nach dem Heiligen Gral

Soll ich nun weiter nach der klaglos funktionierenden Navigation suchen wie nach dem Heiligen Gral? Soll ich mich dabei in den Ruin und in den Wahnsinn treiben lassen?

Es empfiehlt sich wohl die reumütige Rückkehr zur guten alten Landkarte nebst Stadtplänen und der Befragung von Passanten via Seitenfenster. Doch wehe, wenn dann einer dämlich zurückfragt: „Haste denn keine Navi?“




Gedanken zum Tod von Otto Sander

Otto Sander ist tot. Ein Schlag in die Magengrube, als ich das gelesen habe. Otto Sander, dieses Gesicht, diese Stimme.

Otto Sander hat mir bewiesen, dass man sich auch in eine Stimme verlieben kann. Als ich damals Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ hörte, da wusste ich zunächst nicht, dass ich Otto Sander lauschte. Ich war einfach verzaubert, von dem Kratzen, der Tiefe, diesem einzigartigen Klang, der die Geschichte zu Bildern formte. Otto Sander war schon mit seiner Stimme ein Schauspieler. „Das Gespenst von Canterville“ gehört seitdem für mich zu den Klängen, die Weihnachten einläuten.

Wirkung

Ich will hier nichts schreiben von Otto Sanders Biographie, seinen vielen Auftritten, mit wem und wann er gearbeitet hat – das können andere viel besser, das wäre anmaßend von mir. Ich kann nur schreiben über die Wirkung, die Otto Sander auf mich hatte.

Da gibt es zwei Worte, die für mich unbedingt zu ihm gehören: Tiefe und Authentizität. Otto Sander konnte selbst den kleinsten Dingen Bedeutung geben, nichts an ihm erschien banal oder oberflächlich. Das Gesicht, so voller Furchen, jede einzelne die Verheißung einer Geschichte, die Augen, so bodenlos. Das ist es, was ich nicht vergessen werde, die Stimme, das Gesicht.

An der Bar

Dann gab es noch diesen Abend, eine Lesung mit Benjamin von Stuckrad-Barre im Schauspielhaus Bochum. Er habe, erzählte der Autor, Otto Sander gerade an der Bar gesehen – vielleicht käme er ja später noch dazu. Immer wieder an diesem Abend erwähnte Stuckrad-Barre Otto Sander. Ich weiß gar nicht, ob er schlussendlich wirklich in den Saal, auf die Bühne kam, so lange ist das schon her. Aber im Grunde war das auch unnötig. Es war einfach dieses Bild, das blieb: Otto Sander, an der Bar, vielleicht rauchend, vielleicht ein Glas vor sich, vielleicht allein.

Danke für viele unvergessliche Momente.




Ruhrtriennale: Seltsame Rituale in Harry Partchs Instrumenten-Wunderland

"Zeit des gemeinsamens Vergnügens" heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto:

„Zeit des gemeinsamens Vergnügens“ heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Das erste Wort gönnen wir Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Die Erkenntnis des Münchner Komikers und Sprachkünstlers kommt uns alsbald in den Sinn, wenn wir vor dem Bühnenbild stehen, das vor allem eine Anordnung überwiegend riesiger, seltsamer Instrumente zeigt, das „Orchester“ des amerikanischen Komponisten Harry Partch.

Darin wuseln Solisten herum, die gleichzeitig Musiker, Sänger, Schauspieler und Pantomimen sind. Die bisweilen winzig klein wirken, wie Arbeiterfiguren in einem Baukasten fürs experimentierfreudige Kind.

Zumal sie hauptsächlich in bunter Werktätigenkluft, teils hübsch-hässlich den Prekariatsstandard erfüllend, sich an ihren klingenden „Maschinen“ zu schaffen machen. Auf dass eine wahrhaft un-erhörte, sirrende, flirrende, motorische Musik erklinge. Mit Anlehnungen an asiatische und afrikanische Exotismen. Was alles einem großen Ritual gleichkommt, das Partch „Delusion oft the Fury“ betitelt hat. Integrales Theater heißt diese Mixtur aus Klang, Sprache, Szene und Licht im Fachjargon – Richard Wagner hatte 100 Jahre zuvor vom Gesamtkunstwerk gesprochen.

Und die Ruhrtriennale, Heiner Goebbels’ Experimentallabor des Theatralischen, hat dem Amerikaner nun in Bochums Jahrhunderthalle ein Podium gegeben. Wir staunen, horchen auf ob verquerer Rhythmen und neuer Tonwelten, ergeben uns einem exzessiven Ritual, das indes alsbald tönende Züge der amerikanischen Minimalisten trägt. Kurzum: Die anfängliche Faszination weicht dem Wunsch, nun doch zum Ende zu kommen.

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto:

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto: Schott-Archiv/Andersen

Wer war Harry Partch? Einer jener amerikanischen Komponisten, die, fernab der Traditionen des alten Europa, eine eigene musikalische Sprache suchten. Der dabei mindestens so radikal zu Werke ging wie sein Landsmann John Cage. Der das wohltemperierte System, das eine Oktave in fünf schwarze und sieben weiße Tasten unterteilt, scharf ablehnte und eigene Skalen entwickelte. Zugleich tüftelte und baute Partch an einem neuen Instrumentarium. Allem voran ein „Chromelodeon“, ein Harmonium, bei dem eine Oktave 43(!) Tonhöhen zählt. Andere Skurrilitäten heißen „Gourd Tree“, ein baumartiges Gebilde aus Kürbisflaschen, oder „Marimba Eroica“, ein riesiges Marimbaphon mit nur vier wuchtigen Klangplatten.

Schon dies lässt erahnen, dass es sich bei Partch um einen Freak der Musikszene handelte. Wie denn auch die meisten Figuren in seinem zweiteiligen Instrumentaltheaterstück „Delusion oft he Fury“ äußerst freaky daherkommen. Obwohl doch ernste Dinge verhandelt werden, einerseits der reuevolle Bußgang eines Mörders, zum anderen der aus einem Missverständnis herrührende Konflikt, der vor Gericht schiedlich-friedlich gelöst wird – wenn auch von einem nahezu taubblinden Richter.

Triennale-Intendant Heiner Goebbels erlaubt sich hier als Regisseur eine amerikakritische Spitze, indem er den Richter als übergroße „Kentucky Fried Chicken“-Pappfigur zeichnet. Die Anspielung, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Fressen vor der Moral kommt, hätte Partch gewiss gefallen. Er selbst, 1901 geboren, erlebte in den USA die „Große Depression“ der 30er Jahre, schlug sich zeitweise als Hobo durch. Solcherart Landstreicher wird im zweiten Teil von „Delusion“ übrigens zur Hauptfigur. Dort mümmelt er, taub und arm, im Wasser sitzend, sein karges Mahl. Im Disput mit einer Ziegenhirtin kommt es zum oben erwähnten Konflikt. Am Ende aber wird der große Versöhnungsgesang angestimmt: „Pray for me“. Ob die rot ausgeleuchtete Bühne (Klaus Grünberg) nebst kleiner Flämmchen eine Art Vorhölle sein soll?

Das Instrumentarium als Werkbank. Foto:

Sonderbares Instrumentarium als Werkbank im hellen Licht. Foto: Wonge Bergmann, Triennale

Manches mag nach geschäftiger Aktion klingen, doch alles geschieht in höchster Strenge. Die Buße und Läuterung eines Mörders lässt Elemente des japanische No-Theaters erkennen – Klangfarben, die Gewandung der Hauptfigur und die rituelle Bedeutung fließenden Wassers deuten darauf hin. Der zweite Teil trägt hingegen afrikanische Züge. So gesehen, hat auch Partch nicht im luftleeren Raum gearbeitet.

Schwer zu tun hat zudem, in vielfältiger Funktion, das Ensemble musikFabrik. Anziehen, umziehen, schreiten, umherhuschen, singen, sprechen, musizieren – ein Mammutprogramm. Damit nicht genug: Partchs Original-Instrumentarium musste Stück für Stück nachgebaut werden – für Thomas Meixner und sein Team eine Herkulesarbeit.

So steht an diesem Abend Bewunderung neben Verstörung. Das letzte Wort geben wir dem Rockmusiker Frank Zappa: „Ich mag den Klang der Instrumente … aber gleichzeitig denke ich, das Zeug läuft und läuft und läuft und läuft und läuft zu lange.“




Politik und Seelenpein statt Formspielereien – starker Saisonbeginn in der Philharmonie Essen

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Die neue Konzert- und Theatersaison nimmt Fahrt auf. Den Blick nach Essen gerichtet, hat sie geradezu mit einem Kickstart begonnen. Denn dort hat Hein Mulders, als Doppelintendant verantwortlich für den Opern- und Konzertbetrieb, ein aufregendes Ausrufezeichen gesetzt. Mit der Verpflichtung des Bayerischen Rundfunk-Symphonieorchesters und ihres Chefs, des lettischen Dirigenten Mariss Jansons, die in der Philharmonie ein Programm jenseits des routinierten Repertoires präsentieren. Das „Konzert für Orchester“ des Ungarn Béla Bartók und das gleichnamige Werk des Polen Witold Lutoslawski.

Es ist Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, doch klingt sie alles andere als avantgardistisch. Beide Komponisten beziehen sich auf traditionelle Formen wie Concerto grosso, Fuge, Toccata oder Passacaglia. Beide haben zudem die folkloristischen Wurzeln ihrer Heimat im Blick. Gleichwohl wirkt manches fremd, weil dissonant zugespitzt, großorchestral wuchtig oder raffiniert perkussiv akzentuiert. Hinzu kommt, und das macht Jansons‘ Lesart deutlich, dass hier Bekenntnismusik verhandelt wird – als Reflexion auf das politische Umfeld der Komponisten. Bei Bartók kommt hinzu: Das aufregende Ausloten seelischer Befindlichkeit.

Denn der Ungar schrieb sein fünfsätziges Werk im ungeliebten New Yorker Exil, krank an Leib und Seele. Weil sein Vaterland im faschistischen Strudel zu versinken drohte. Weil sein Werk in Amerika wenig Aufmerksamkeit fand. Zudem war Bartók von der Leukämie gezeichnet. Das „Konzert für Orchester“, das er 1943 schrieb, war beinahe sein Schwanengesang, vor allem aber das Resumee eines Komponistenlebens.

So wundert es nicht, dass diese Musik die dunkle Schwermut und die gespenstische Unruhe seiner Oper „Herzog Blaubarts Burg“ spiegelt. Jansons und das BR-Orchester zelebrieren diese Düsternis geradezu, in scharfem Kontrast etwa zum Streicherglühen des ersten Satzes. Und es wird alsbald deutlich: Diese Interpretation setzt nicht auf das Mit- und Gegeneinander von Orchestergruppen oder Soli, sondern auf das große Ganze. Dem dunklen Beginn folgt der dramatische Aufschrei, das Scherzo klingt spukhaft und schroff, der langsame Mittelsatz ist ein einziges Weinen und Klagen. Detailversessen und äußerst transparent wird musiziert, und doch verliert sich Jansons nicht in schönen oder aufregenden Stellen. Nur der vierte Satz erklingt als etwas pauschal gehaltenes Intermezzo, abgesehen von der bizarren „Heut geh’ ich ins Maxim“-Parodie. Da hat Bartók der antifaschistische Teufel geritten.

Ein strahlender Dirigent dankt für jubelnden Beifall. Foto: Sven Lorenz

Ein strahlender Dirigent dankt für den jubelnden Beifall des Publikums. Foto: Sven Lorenz

Das Finale schließlich deuten manche als die große optimistische Conclusio, das ganze Werk mithin als ein „Durch Nacht zum Licht“-Geschehen. Wir indes hören mit Jansons eher die musikalische Schilderung eines Molochs namens New York, der Stadt, die niemals schläft (wie von Frank Sinatra besungen). Da klingt Hektik, Aufregung, Turbulenz sowie ein leicht protziges Heldentum und kaum Befriedung durch. So mag es Bartók gefühlt haben.

Der Pole Witold Lutoslawski wiederum, der ganz im Stalinschen Sinne als Formalist gebrandmarkt wurde, war nach dem Krieg zunächst kaum produktiv. Kompositionsaufträge des kommunistischen Regimes lehnte er ab. Das „Konzert für Orchester“, Anfang der 50er Jahre geschrieben, geht auf Initiative des Dirigenten Witold Rowicki zurück. Und es war, in strukturellen Verläufen, Orchestrierung und der Einbeziehung von Volksmelodien, eine Verneigung vor Béla Bartók. In ihm sah Lutoslawski den vielleicht einzigen Komponisten, „der die Beethovensche Höhe des menschlichen Denkens und Fühlens erklommen hat“.

Jansons und das BR-Orchester gehen auch hier weit über die Nachzeichnung barocker Strukturen hinaus. Vielmehr durchzieht das Werk glühende Leidenschaft und im Mittelsatz ein spukhaftes Sommernachtstraumflirren, das indes schnell einer bedrohlichen Eskalation weichen muss. Um sich am Ende mit einem schrägen Dies-irae-Anklang zu vermischen. Folgt ein düsterer, explosiver, auch bedrohlich  schwirrender Finalsatz. Alles mit Verve und großer Vitalität dirigiert. Allenthalben Jubel.




Ruhrtriennale konzertant: Musikalische Endlosschleife zum Untergang der Titanic

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen dieTitanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen die Titanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Nach fortwährender Erkundung neuer Formen des Theatralischen, begibt sich das Experimentallabor namens Ruhrtriennale tatsächlich einmal in die „Niederungen“ des traditionellen Konzertbetriebs. Um aber gleich wieder eine Art Avantgarde zu präsentieren. Mit zwei Frühwerken des 1943 geborenen englischen Komponisten Gavin Bryars, die Luciano Berios „Requies“ umrahmen. Das Fazit des Abends ist schnell umschrieben – spektakulärer Titel, überwiegend langatmige Musik.

Denn wenn Bryars nichts weniger als den „Untergang der Titanic“ klanglich verarbeiten will, dürfte mancher in Duisburgs Gebläsehalle wohl ein großorchestrales Spektakel erwarten. Um sich damit die Katastrophenbilder im Kopf zurechtzimmern zu können. Und wenn die präzise musizierenden Bochumer Symphoniker unter Leitung der estnischen Dirigentin Anu Tali am Beginn ein differenziertes Schlagwerkinferno entfachen, dass es klingt, als schramme im Sturm der Dampfer am Eisberg entlang, scheint die Tragödie greifbar.

Doch Bryars steht nicht der Sinn nach Effekt. Das Heftige weicht einem sanften Streicherhymnus, ungemein harmonisch, als wär´s ein Stück von Haydn. Ständige Wiederholung inbegriffen, mit minimalen Abweichungen, getragen vom tiefen Register der Bläser, die Schwärze des Meeres illustrierend. Inmitten Einspielungen von Interviewfetzen zum Unglück. So will uns Brayrs hinabziehen, lullt uns aber bloß ein.

Seine Nähe zum Minimalisten Michael Nyman ist offenkundig. Dafür steht noch mehr „Jesus’ Blood Never Failed Me Yet“. Der simple Gesang eines Stadtstreichers, aus dem Nichts kommend, lauter werdend, schließlich ersterbend, ist die (vom Tonband zugespielte), laufend wiederholte Grundlage des Stücks. Die Endlosschleife wird harmonisch aufs Angenehmste unterfüttert, mehr und mehr Orchesterstimmen verstärken die Grundierung, bis auch hier alles verblasst. Bryars’ große Meditation will uns einfangen, ist aber bloß Klang gewordene Vorhersehbarkeit.

Da bedarf es schon eines Luciano Berio, der orchestrale Bewegung in Statik gekonnt einflechten kann und dabei ein Füllhorn von Klangfarben über uns ausschüttet. Diese Musik kreist nicht verloren um sich selbst, sie schwebt um ein imaginäres Zentrum. Ein kleiner Glücksfall.

(Der Text ist zuerst in der WAZ erschienen.)




Fieberträume im Opiumrausch: Auftakt zur neuen Saison im Konzerthaus Dortmund

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Copyright: Pascal Rest)

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Foto: Pascal Rest)

Jetzt fährt sie die Krallen aus. Fetzt dissonante Akkorde in die Saiten, zum scharfen Klappern der Kastagnetten. Wirft sich mit ruppigem Schwung in den derben Bauerntanz, in den Prokofjews 2. Violinkonzert mündet. Verflogen ist die grüblerische Stimmung des Beginns, vorüber sind die traumverlorenen Melodiebögen des Andante assai, in dem die Geigerin Janine Jansen ihren eleganten Violinton bis in himmlische Höhen schimmern und blühen lässt.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, musiziert die groß gewachsene Niederländerin jetzt mit aller Vehemenz. Ihr beinahe sportives Spiel, das ihre aus dem Gesicht gebundenen Haare immer wieder nach vorne fliegen lässt, verliert selbst bei äußerstem Bogendruck auf der G-Saite nicht seine durchscheinende Qualität.

Und doch sollte auf Hut sein, wer sich von ihrem ruhig und frei schwingenden Vibrato einlullen lässt, wer den Momenten schier Mendelssohn’scher Schönheit in ihrer Interpretation glaubt. Denn die Geigerin weiß um die Dämonen, die in der Partitur lauern. Da huschen Pianissimo-Läufe vorbei wie Schatten, kalt und schauerlich rieselnd. Wenn Prokofjew seine Themen in virtuose Exzesse treibt, sie durch die tiefsten und höchsten Höhen des Instrumentes jagt, schaut der Wahnsinn um die Ecke. Janine Jansen lässt ihn aufblitzen wie eine gefährliche Klinge. An einem kammermusikalischen Zusammenspiel mit dem Orchester ist der Geigerin sichtlich gelegen: Eine Tatsache, die ihre Klasse als Solistin nur noch mehr unterstreicht.

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Copyright: Pascal Rest)

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Foto: Pascal Rest)

Dem Dortmund von 2010 bis 2013 eng verbundenen Dirigenten Esa-Pekka Salonen und dem in London beheimateten Philharmonia Orchestra war das Eröffnungskonzert der neuen Saison anvertraut. Sie begannen mit einer Komposition des Australiers Brett Dean. Sein Orchesterstück „Testament“, inspiriert von der Musik Ludwig van Beethovens und auf dessen „Heiligenstätter Testament“ anspielend, modelliert große symphonische Klangflächen immer wieder neu. Was zu Beginn surrt und brummt wie ein Hornissenschwarm, beruhigt sich mal zu fahlem Gemurmel, baut sich dann wieder zum tumultösen Fortissimo auf. Salonen und das Orchester formen Deans Werk, als sei es Ton auf einer Drehscheibe. Zitate aus Beethovens „Rasumowsky“-Streichquartette arbeiten sie heraus, ohne den hypnotischen Sog des Werks zu verlieren.

Von hier den Bogen zum Opiumrausch des Helden aus der „Symphonie Fantastique“ zu schlagen, scheint folgerichtig. Die rasende Liebe eines Künstlers zu einer schönen Frau, die uns der Komponist Hector Berlioz in fünf Sätzen mit größter Instrumentationskunst vor Ohren führt, rauscht unter Salonens Leitung vorbei wie ein mehrteiliger Fiebertraum. Von Beginn an gehen Dirigent und Orchester aufs Ganze: Schon der erste Auftritt der „Idee fixe“ ist von solch übersteigerter Nervosität begleitet, dass ein Happy End undenkbar erscheint. Diesen Ansatz hält Salonen gnadenlos durch, unterstützt von Musikern, die jede Tempo-Eskapade und jedes dynamische Extrem mitmachen.

Niemals kehrt Ruhe ein in dieser aufregenden Interpretation, nicht einmal im pastoralen Idyll der „Szene auf dem Land“. Das Mittagslicht gleißt zu hell, um Frieden zu finden. Das ferne Rollen des Donners geht nahtlos in die düsteren Trommeln über, die den „Gang zum Richtplatz“ begleiten. Jede gespenstischer als die vorherige, so fliegen die „Szenen aus dem Leben eines Künstlers“ an uns vorüber. Der wüste „Traum einer Sabbatnacht“ kulminiert im ordinären Röhren der Tuben und Posaunen. Das mittelalterliche „Dies irae“-Thema schwillt an zu infernalischem Lärm. Das Philharmonia Orchestra schrillt und tobt, gibt seine Klangkultur trotz in Szene gesetzter Monstrositäten aber unter keinen Umständen auf. Frenetischer Beifall.

(Am Do., 19. September, gibt der Dirigent Yannick Nézet-Séguin mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra seinen Einstand als neuer Exklusivkünstler. Ticket- Hotline: 0231 – 22 696 200, Informationen unter www.konzerthaus-dortmund.de)




Krieg im Eigenheim: Rimini Protokoll bei der RuhrTriennale

Wie erleben wir Krieg? Im Autoradio, wenn berichtet wird, dass Obama den Militärschlag gegen Syrien vorbereitet. Im Fernsehen, wenn wir Szenen sehen aus dem Sudan, aus Gaza, aus Afghanistan. Doch wissen wir wirklich etwas von den Menschen, die das Kriegshandwerk betreiben und von ihren persönlichen Lebensumständen? Können wir uns in das Schicksal von Opfern und Flüchtlingen hineinversetzen?

Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat jetzt bei der Ruhrtriennale mit „Situation Rooms“ ein Projekt realisiert, das die Organisation des Krieges bis zu einem gewissen Gerade erfahrbar macht. Das die Planspiele, Kalküle, Geschäfte und technischen Voraussetzungen beleuchtet, indem die Biographien von Menschen erlebbar werden, für die Krieg Alltag, Beruf, Schicksal oder die Aussicht auf einen fetten Gewinn ist.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Zugegeben, ich war ein wenig skeptisch, als ich mich mit den 19 anderen Besuchern des Abends in der Turbinenhalle in Bochum versammelte und auf ein zusammengezimmertes Haus mit vielen nummerierten Türen blickte, das wie ein Bühnenbild der Volksbühne wirkte: Tasche einschließen, Pfand abgeben, Kopfhörer aufsetzen und i-Pad am Stil in die Hand nehmen. Bitte an Tür 6 aufstellen und sobald der Film losgeht, den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen, der würde mich dann durch Villa Wahnkrieg führen.

Hilfe, bin ich jetzt Duke Nukem? Muss ich gleich einen Waffenhändler küssen? Schlimmer: Ich werde selbst zum Waffenproduzenten. Zu einem, der im gemütlichen Schweizer Akzent die Vorteile seiner Präzisions(mörder)geräte darlegt und mich im Rundgang durch seine Firma an einer Werkbank vorbeiführt, wo die Familienfotos des Mechanikers hängen.

Doch kurz darauf wechsele ich die virtuelle Rolle, setze den Schutzhelm auf und berichte als dpa-Kriegsfotograf, wie vielleicht jenes maßgefertigte Schweizer Gewehr den Rebellen tötet. Da das Haus der Realität viele Zimmer hat und die Beziehungen ihrer Bewohner verschlungen sind, liege ich eine Viertelstunde später angeschossen (keine Angst, Blut fließt nur auf dem i-Pad) auf einem syrischen Balkon und muss vom Arzt ohne Grenzen im Feldlazarett behandelt werden. Der stuft mich allerdings als minderschweren Fall ein, klebt mir einen gelben Punkt auf die Hand, der bedeutet „Behandlung verschoben“ und schickt mich ein Zimmer weiter. Hier serviere ich einer Flüchtlingsfamilie aus Libyen Tee und lasse mir ihre Geschichte erzählen, während die Kinder herumtoben. Jetzt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich zuvor als Bankmanager dem Diktator Kredit gegeben habe, damit er Panzer kaufen kann.

Das Konzept von Rimini Protokoll geht gnadenlos auf, denn die Subjektivierung durch das Rollenspiel funktioniert tatsächlich. Sicher ist man sich der Distanz zur jeweiligen virtuellen Rolle, die man einnimmt, immer bewusst. Aber genau das lässt einem den nötigen Raum, den man zur Reflexion braucht: „Ich lebe in einem demokratischen Industriestaat und fahre im Urlaub zum Wandern in die Schweizer Alpen“, könnte ich über mein Leben sagen. Jemand anders hat es nicht so gut getroffen, der krepiert im Häuserkampf. Er ist mir sehr fern; er lebt in einer Parallelwelt, in die ich mich nun einlogge. Nach anderthalb Stunden logge ich mich wieder aus. Er nicht.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Das Setting von „Situation Rooms“ ist eine Kunstwelt, die Biographien der Protagonisten sind real, sie basieren auf dokumentarischem Material, wie die Gruppe Rimini Protokoll es gerne verwendet. So wird Krieg konkret, denn er wird von Menschen gemacht. Keinen bösen Menschen, sondern solchen, die einfach nur ihrem Job nachgehen – ganz banal.

Ich steige auf eine Leiter und schaue den kreisenden Drohnen zu. Ein Mitspieler hisst die Flagge von irgendeinem Krisenstaat, sie klirrt im künstlichen Wind. Ich salutiere – man kann ja nie wissen, vielleicht werde ich gerade beobachtet.

Infos und Termine: www.ruhrtriennale.de




Ruhrtriennale: Letzte Abenteuer auf dem Schlachtfeld des Theaters

Foto: Jörg Bauman

Foto: Jörg Bauman

Menschen lieben Geschichten, und wo ihnen keine angeboten wird, basteln sie sich aus dem, was sie wissen, selbst eine zurecht. Insofern ist jedes Stück postdramatisches Theater, das rein mit Stimmungen, Motiven und Versatzstücken arbeitet, eine Herausforderung für den Wahrnehmungsapparat.

Der Zuschauer muss akzeptieren, dass er höchstens das Thema zu fassen bekommt – und die ewige Suche nach dem Sinn aufgeben. Die britische Künstlergruppe Forced Entertainment unter der Leitung des Regisseurs Tim Etchells hat dieses Prinzip perfektioniert. In der weiten, offenen Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zeigte sie für die Ruhrtriennale „The Last Adventures“, letzte Abenteuer.

Die Produktion ist eher Performance denn Schauspiel. Sie hat eine Choreografie, aber – für „Forced Entertainment“ durchaus untypisch – fast keinen Text. Sie hat keine Rollen, dafür aber Kostüme und Ton. Ebenso wichtig wie das Spiel der Darsteller, wenn nicht sogar tonangebend, ist die Sound-Collage, die der libanesische Klangkünstler Tarek Atoui mit einem selbst entwickelten Instrument live auf der Bühne erzeugt.

Zu Beginn erklären die 16 Darsteller einander die Naturgesetze und versichern sich im Chor der Welt: „Sterne können nicht vom Himmel genommen werden“, rufen sie aus einem Mund, „Zeit kann man nicht sparen. Ein Gewehr kann nicht denken. Was wir tun, ergibt keinen Sinn.“

Zuletzt sind die Worte kaum mehr zu hören – das Soundgewitter setzt ein, ab jetzt übernehmen Bild und Klang die Regie. Ein Darsteller nach dem anderen verlässt den Chor, nimmt einen Baum aus unbemaltem Sperrholz  und schiebt ihn von rechts nach links über die Bühne. Wer nun an das Motiv des wandernden Waldes bei Macbeth denkt, liegt vielleicht richtig – vielleicht auch nicht. Es ist das erklärte Prinzip von „Forced Entertainment“, Zuschauererwartungen zu unterlaufen. Immer wenn man glaubt, einen erzählerischen Faden gefunden zu haben, wird er durchtrennt.

Aus dem Wald wird ein Schlachtfeld. Mit Kochtopf-Helmen und Besen-Säbeln inszeniert die Gruppe das Gemetzel eines vielleicht napoleonischen Krieges: Man sieht Leiber zucken, Soldaten robben, töten und marschieren, Verletzte werden abtransportiert, weiße Fahnen geschwungen. Eine lineare Handlung ergibt sich jedoch nicht, der Fokus liegt auf den Trash-Effekten, die die Darsteller verstörenderweise mit großer Ernsthaftigkeit produzieren: Rote Bänder simulieren spritzendes Blut und herausquellende Gedärme, die Toten tragen Skelett-Kostüme.

Foto: Jörg Bauman

Foto: Jörg Bauman

Später betritt ein von drei Darstellern geführter Lindwurm die Szenerie, es folgen Roboter in Alufolien-Kartons, Feen in Gardinenstoffen und Könige mit Papp-Krone. Ein Mann mit Axt verfolgt einen Baum, dann verfolgt der Baum die Axt. Wir sind tief in der Fantasy-Welt, die Naturgesetze gelten nicht länger, und die Maschinenhalle wird zur Bühne für ein Genre-Mashup aus Theater- und Film-Effekten.

Documenta-Teilnehmer Tarek Atoui steht derweil hinter seinem Sound-Pult und bietet fast eine One-Man-Show: Seine Hände fahren durch die Luft, beschreiben Kreise und Gesten und produzieren dadurch auf seinem Instrument elektronisch verzerrte, fragmentarische, collagierte Klanggebilde.

Der Abend ist eine Total-Überforderung – für die Augen, die Ohren, die Sinne. Die durchaus vorhandenen komischen Momente retten den Zuschauer nicht über den Abend. Denn letztlich gibt es kein Motiv, das hängenbleibt – weder textlich noch bildlich oder akustisch. Die Sinnsuche aufzugeben, das fällt einfach schwer. Der Applaus blieb verhalten, vereinzelt waren Buh-Rufe zu hören.




Deutschland – Österreich: Die alte Hassliebe – diesmal völlig unaufgeregt

Lange nicht mehr einen solch leidenschaftslosen Fußballabend erlebt wie diesen. Das Resultat beim alten Hassliebe-Duell Deutschland gegen Österreich war mit 3:0 klar wie Kloßbrühe.

Das Münchner Stadionpublikum blieb denn auch vergleichsweise still. Und der ZDF-Kommentator Oliver Schmidt fiel allenfalls durch Zurückhaltung auf. Der Mann versucht gar nicht erst zu glänzen oder aufzutrumpfen. Ob er es im Fall des Falles könnte, lassen wir mal dahingestellt.

Ein Duo zwischen Krampf und Komik

Das Geplänkel vor dem Spiel tue ich mir in der Regel nicht an. Da wird doch meistens enorm viel heiße Luft in den Äther geblasen. Diesmal mussten Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein und Experte Oliver Kahn (unterstützt von optisch aufgemotzten Einspielfilmchen) rund eine halbe Stunde bis zum ersehnten Anpfiff überbrücken.

ZDF-Fußballexperte Oliver Kahn (Foto: ZDF/Sascha Baumann)

ZDF-Fußballexperte Oliver Kahn (Foto: ZDF/Sascha Baumann)

Dieses Duo wirkt immer ein wenig verkrampft. Während sie die Tendenz hat, leichthin über alles hinwegzutraben, windet und kämpft er sich mühsam zu Meinungen durch, die meist darin gipfeln, dass Oliver Kahn „mehr Aggressivität“ von den Spielern einfordert. Im Zusammenspiel sind die beiden hin und wieder unfreiwillig komisch.

Gerne einer Meinung mit „Jogi“

Ansonsten bestätigt Kahn immer gern die Meinung des Bundestrainers Löw oder rudert sogar eilends zurück, falls er mal nicht mit „Jogi“ übereingestimmt hat. Dass der Ex-Bayer Kahn vor allem im Dortmunder Mats Hummels (der heute auf der Ersatzbank blieb) einen Sündenbock für Defensiv-Defizite ausgemacht hat – geschenkt! Löw hatte Hummels ja nicht aufgestellt, also konnte Kahn quasi nach Herzenslust über den BVB-Spieler herziehen.

Eine Bemerkung zwecks größerer Transparenz: Ja, das sage ich als Dortmunder, aber nicht von ungefähr. Kahns Bayern-Lastigkeit ist ebenso nachvollziehbar wie überprüfbar. An seinem ARD-Pendant Mehmet Scholl (ebenfalls ein Bayer) könnte er sich in jeder Hinsicht ein Beispiel nehmen.

Irgendwann begann das Spiel dann endlich. Es war nicht übel, aber eben auch nicht allzu spannend. Insofern konnte man auch vom Kommentator keine emotionalen Ausbrüche erwarten. Allerdings hätte er in einem Match, in dem die Ellenbogen derart häufig und gesundheitsgefährdend eingesetzt wurden, diese arg rustikale Spielweise thematisieren müssen.

Die altbewährte Namens-Sirene

Stellenweise war man allerdings schon froh, dass das ZDF diesmal nicht den sonst allzeit präsenten Béla Réthy einsetzte, so dass einem dessen oft unsinnige Prosa erspart blieb. Immerhin pflegt Oliver Schmidt eine Marotte, nämlich das unnötig eingeschobene „Ja“. Beispielsatz: „Deutschland und Österreich, zwei Länder, die sich – ja – sehr nahe sind.“ Größere Chancen quittiert er mit der altbewährten Namens-Sirene: „Öziiiiiil…“ Und wenn er auf Bayerisch „dahoam“ (daheim) sagen will, hört sich das an wie verunglücktes Englisch.

Nach dem Spiel lobte Oliver Kahn – na, was wohl – die „Aggression“ der deutschen Mannschaft, aber auch die „Kreativität“. Katrin Müller-Hohenstein rief abermals aus, Miroslav Kloses 68. Länderspieltor sei etwas „für die Geschichtsbücher“. Kann jemand der Frau bitte mal erklären, was wirklich geschichtsträchtig ist?

Zum Ritual eines Länderspielabends gehört es seit jeher, das Statement des Bundestrainers abzuwarten. Doch auch das blieb diesmal ziemlich blass und farblos. Alles in allem: eine Partie, nach der man vollkommen ruhig schlafen kann. Und das ist doch auch etwas!

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Kunstszene am Rhein präsentiert sich: 50 Galerien beim „DC Open“ ab 6. September

Ein feines Kunst-Event, vor allem für Freunde zeitgenössischer Kunst, findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt: Zum „DC Open“ schließen sich 50 Galerien aus Düsseldorf und Köln zusammen, um die Saison mit einem Wochenende zu eröffnen. Der Ausstellungs-Parcours soll die künstlerisch spannende Region vorstellen und knüpft an die Sammler- und Sammlungstradition im Rheinland an. Die Galerierundgänge, erleichtert durch einen Shuttle-Service zwischen den beiden Städten, beginnen am Freitag, 6. September, 18 Uhr.

Nach einem erfolgreichen Start im letzten Jahr bietet DC Open auch in diesem Jahr wieder ein breit angelegtes Programm an Kuratoren- und Sammlerführungen. Eingeladen sind 2013 die Museumsvereine der Umgebung, dazu Ausstellungsmacher, Kunsthistoriker und Sammler schwerpunktmäßig aus Warschau und Istanbul. Geplant ist der Besuch von Galerien, Künstler-Präsentationen und Privatsammlungen. Somit ist DC Open nicht nur ein Wochenende für Kunstinteressierte, sondern auch ein internationaler Treffpunkt für Profis aus der Kunstszene.

Einige Beispiele: Die Galerie Kaune, Posnik, Spohr in der Albertusstraße in Köln zeigt unter dem Titel „Excerpts from Silver Meadows“ Fotos des Amerikaners Todd Hido. Die Bilder, die bis 29. November zu sehen sind, beziehen sich auf eine reale Straße in Kent in Ohio, wo der Künstler seine Kindheit verbrachte.

Benedikt Hipp: "In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional". Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Benedikt Hipp: „In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional“. Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Hido hält jedoch nicht die – nicht mehr existierende – Vorstadtwelt der siebziger und achtziger Jahre fest, sondern fotografiert Orte, die ihn an diese nicht mehr betretbare Kindheitswelt erinnern. Entstanden sind sinnlich-expressive Bilder, geheimnisvolle Landschaften, ambivalente Porträts junger Frauen. Hido ist 1968 geboren, studierte an der „Boston School of the Museum of Fine Arts“ und der Tufts University. Seine Arbeiten werden weltweit gezeigt; der Künstler lebt in der San Francisco Bay Area.

In Düsseldorf zeigt Kadel Willborn an seinem Sitz in der Birkenstraße bis 12. Oktober Arbeiten von Benedikt Hipp: neue kleinformatige Gemälde in hellen Farbtönen und Zeichnungen mit Collagen-Einsprengseln sowie installative Arrangements aus Elementen wie Plastiken, Readymades und objets trouvés. Der 1977 in München geborene Künstler konnte sich seit 2004 in mehreren Einzelausstellungen vorstellen, ist aber für die Rhein-Ruhr-Region ein „Newcomer“.

Bei conrads in der Düsseldorfer Lindenstraße ist Kunst mit differenzierten Bezügen zu Politik, Kunst-, Architektur- und Mentalitätsgeschichte zu erleben: „Great Nature®“ zeigt Arbeiten von Blaise Drummond – etwa das Bild „When the Cathedrals were White“. Im Titel greift er eine Schrift des Architekten Le Corbusier auf, im Bild interpretiert er Camille Corots Gemälde „Chartres Cathedral“. Drummonds Bilder oszillieren – so die Galerie in ihrer Mitteilung – zwischen dem Scheitern der Ideale und dem Wunsch nach einem Neubeginn. Der Architektur stehe in den Bildern die Natur gegenüber – in einer fragmentarischen Repräsentation und auch als Element des Konflikts und des Widerspruchs. Die Ausstellung ist bis 19. Oktober zu sehen.

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Die Galerie Voss, Mühlengasse, Düsseldorf, lässt sich mit Arbeiten von Matthias Danberg auf einen Künstler ein, der vor allem am Computer arbeitet. Danberg zielt auf Schichten historisch-kultureller Entwicklung, verarbeitet sie in einer narrativen, metaphorischen Bildsprache. „Seine künstlerische Strategie changiert dabei zwischen der kalten Simulationsästhetik des Virtuellen auf der einen Seite und der subjektivindividuellen Gestaltungskraft eines tendenziell anachronistischen und damit widerständigen Künstlerverständnisses auf der anderen“, heißt es in der Pressemitteilung der Galerie. Danberg hat in Dortmund und Münster Philosophie und Kunst studiert. Er lebt in Düsseldorf.

Fünf neue abstrakte Skulpturen des Mexikaners José Dávila zeigt die Galerie Figge von Rosen in der Aachener Straße in Köln unter dem Titel „Das muss der Ort sein“. Gezeigt werden auch einige seiner „cut-outs“, Fotodrucke, in die weiße Leerstellen geschnitten sind. Dávila, 1974 in Guadalajara geboren, hatte zahlreiche Einzelausstellungen weltweit. Schon 2011 zeigte die Galerie Figge von Rosen Arbeiten von ihm unter dem Titel „Nowhere Can Be Now Here”.

Jeff Cowens fotografisches Werk bewegt sich zwischen abstrakten, malerischen Kompositionen, Motivcollagen und subtil verfremdeter Porträtfotografie. Der 1966 in New York geborene Künstler wurde bereits 2012 vom Kunsthandel Michael Werner präsentiert. Zum DC Open sind nun neueste Arbeiten Cowens in der Kölner Gertrudenstraße ausgestellt. Zu der Schau erscheint ein Katalog. Bis 26. Oktober sind die Werke zu sehen, die das weite Feld bildnerischen Arbeitens in der Fotografie ausmessen.

Ganz „klassisch“ dagegen präsentiert sich die Galerie Boisserée in der Kölner Drususgasse: Sie zeigt bis 2. November Skulpturen, Radierungen, Lithografien und Arbeiten auf Papier des in Brühl geborenen Max Ernst (1891 bis 1976). Zu dieser Ausstellung erscheint ein 160seitiger Katalog mit einem Text von Jürgen Pech, wissenschaftlicher Leiter des Max Ernst Museums Brühl. Er ist zum Preis von 20 Euro auch per Postversand von der Galerie erhältlich.

Die DC Open 2013 findet vom 6. bis 8. September statt. Die beteiligten Galerien sind am Freitag, 6. September, ab 18 bis 22 Uhr geöffnet, am Samstag von 12 bis 20 Uhr, am Sonntag von 12 bis 18 Uhr. Am Samstag, 7. September verkehrt ein Shuttle-Bus zwischen Köln (Rudolfplatz/Barcelò Hotel) und Düsseldorf (Grabbeplatz/Hermannplatz). Er verlässt Köln um 13, 16, 19 Uhr und Düsseldorf um 12, 15, 18 Uhr. Information: www.dc-open.de




Oper Frankfurt: Verdi-Herbst mit „Les Vêpres Siciliennes“ glanzvoll eröffnet

Ein Schuss peitscht durch die Stille, noch vor der Ouvertüre. Ein junger Mann fällt und wird hastig weggeschleppt. Die Musik setzt ein, düster timbriert, mit einem unheilvoll dumpfen Doppelschlag. Er wird in der Oper immer wieder aufklingen, bis Schüsse und ein jäher, knapper Orchesterschlag das Drama beenden.

Die Oper Frankfurt hat ihre Spielzeit – und den Verdi-Herbst dieses Jubiläumsjahres – mit der Wiederaufnahme von „Les Vêpres Siciliennes“ eröffnet. Ein selten gespieltes Werk, mit dem Verdi 1855 während der Pariser Weltausstellung an der Opéra in Konkurrenz zu den „Klassikern“ der Grand Opéra trat. En Werk, dessen Dimensionen und Ansprüche einer breiten Rezeption im Wege standen. Aber in seiner psychologischen Differenzierungskunst steht Verdi in der „Sizilianischen Vesper“ auf der Höhe, die er mit „Rigoletto“ und „La Traviata“ erreicht und mit dem vier Jahre später entstehenden „Ballo in maschera“ perfektioniert hat.

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in "Die sizilianische Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in „Die sizilianische Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

In Frankfurt hat Jens-Daniel Herzog inszeniert. Er lässt sich nicht auf Schauplatz und Zeit ein – Sizilien 1282, während der Gewaltherrschaft von Charles d’Anjou –, sondern arbeitet die Grundkonflikte des Stücks heraus, die mit den historischen Abläufen sowieso kaum etwas zu tun haben: Eine traumatische Vater-Sohn-Beziehung, eine Liebe im Spannungsfeld von politischer Kumpanei und zärtlicher Verinnerlichung, eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen, getrieben von einem machtbewussten Regenten und einem fanatischen Freiheitskämpfer.

Den Schauplatz definiert Mathis Neidhardt mit seiner Bühne, dominiert von einem Hochhaus im Stil der sechziger Jahre. Der schwarzpolierte Stein des Erdgeschosses, der goldene Beschlag der Eingangstür erinnern an den aufwändigen, dennoch billig wirkenden Protz sozialistischer Repräsentationsbauten, aber auch den stillosen Aufwand der Wirtschaftswunderland-Architektur. Vor dem Haus wird im kalten Schein einer Neonlampe der Mord verübt. In der Ouvertüre huschen Menschen vorbei, stellen mit gehetztem Blick nach links und rechts ein Grablicht auf, legen Blumen ab, kleben das Bild des Ermordeten an den Marmor. Eine alte Frau wir vorbeigeführt, verharrt erschüttert vor dem Bild. Eine Moment, der uns an ähnliche Szenen aus den Bürgerkriegen dieser Welt denken lässt, ob Kosovo oder Afghanistan.

Herzog lässt in seiner Inszenierung, die zu seinen genauesten und scharfsichtigsten gehört, konkrete historische Andeutungen weg. Die Herren, die in geschmacksarm modischen Anzügen das Serviermädchen belästigen, könnten ihren Espresso im Sizilien der sechziger Jahre oder am Rand der französischen Studentenrevolte nippen. Ihre Gegner, dunkel und einfach gekleidete Menschen, stellen sich mit ihren Fahrrädern in einer Front auf. Herzog versteht es, die lauernde Konfrontation in einem kraftvollen Bild einzufangen.

Jens-Daniel Herzog erschließt die komplexen Charaktere

Die Inszenierung des Dortmunder Opern-Intendanten ist kein vordergründiges Polittheater: Herzog erschließt die komplexen Charaktere von Verdis Figuren in szenisch außerordentlich dichten Konstellationen. Guy de Montfort ist der Gouverneur des besetzten Landes, ein Machtmensch, rasch in der Entscheidung, knallhart in der Umsetzung. Seine klar strukturierte Welt beginnt zu bröckeln, als er in einem Brief erfährt, dass der kleine Revoluzzer Henri sein Sohn ist, geboren von einer von ihm vergewaltigten Sizilianerin. Von diesem Moment an spürt Montfort die innere Leere; er lässt seine verdrängte Sehnsucht nach Zuneigung zu – die Suche nach einem „Menschen“, die Verdi zwölf Jahre später in König Philipp im „Don Carlo“ so bewegend darstellen sollte.

Quinn Kelsey macht mit den Farben seines ausgewogenen, sicher geführten Baritons die innere Welt Montforts deutlich: Er ist, wie die anderen Hauptfiguren dieses Verdi-Dramas, kein einschichtiger Charakter. Er leidet an der Einsamkeit des Herrschenden und kann sie nicht überwinden: Im vierten Akt erzwingt er von seinem Sohn mit seinen vertrauten Machtmitteln das öffentliche Bekenntnis zu ihm als Vater. Verdi gibt ihm einen Zug ins Tragische: Montfort ist, innerlich angerührt und „bekehrt“, bereit zur gesellschaftlichen Versöhnung.

Doch die verhindert ein Anderer, der sich zunehmend verhärtet: Jean de Procida, aus dem Exil zurückgekehrt, besingt in seinem Auftritt innig und voll Pathos seine Heimat. In der Bass-Arie, einer der schönsten Verdis, nimmt man ihm eine ehrliche, tief empfundene Verbundenheit mit seinem Land ab. Später mutiert er zu dem, was Verdi als „gewöhnlichen Verschwörer … mit dem Dolch in der Hand“ beschreibt.

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis "Sizilianischer Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis „Sizilianischer Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Procida spitzt den Konflikt zu, schürt die Gewaltbereitschaft, opfert jede menschliche Regung seiner politischen Mission. Wer persönliche Gefühle zulässt, ist Verräter: Henri, weil er sich außerstande sieht, seinen Vater einem Mordkomplott zu opfern. Hélène, weil ihre Hochzeit mit Henri nicht als politisches Kalkül sieht und mit ihrem Ja nicht das Stichwort für eine blutige Erhebung geben will. Kihwan Sim gestaltet diesen Weg ins Unmenschliche mit einer sonoren Stimme, deren schneidende Härte gut zum Charakter Procidas passt. Doch Sim vergisst nicht, dass Verdi den Typ des „basso cantante“ vor Augen hatte – anders als Raymond Aceto in der Premierenserie des „Vêpres Siciliennes“ im Juni, der zu wenig auf Linie sang, zu rau intonierte.

Verdi hat die Entwicklung der großen historischen Oper in Paris genau beobachtet und ihre musikalischen und dramaturgischen Errungenschaften für sich zu nutzen gewusst. Aber er blieb bei seinem Interesse an den Leidenschaften und seelischen Konflikten und hat unter diesem Aspekt das Libretto Eugène Scribes mehrfach kritisiert. Henri und Hélène wirken in der klugen Sichtweise Herzogs nicht als Liebespaar, sondern zunächst als Verbündete in der Opposition. Ein Liebesduett gibt es nicht, doch Verdi gibt vor allem Henri den musikalischen Raum zu verzweifelter Leidenschaft und spitzt damit den dritten und vierten Akt ungeheuer spannungsreich zu: ein idealistischer Junge, zerrissen zwischen den väterlichen Ansprüchen, der Liebe zu Hélène und der patriotischen Pflicht, seine Heimat zu befreien.

Burkhard Fritz lässt diese ausweglosen Konflikte mitfühlen: Er gibt der Figur bis ins mimische Detail hinein Konturen, setzt einen kraftvollen, technisch versierten Tenor ein, der in der schwierigen Partie die gestalterische Herausforderung meistert. Vor ihm hat Alfred Kim den Henri gesungen, mit mehr italienischem Schmelz, Legato-Leidenschaft und hinreißender Attacke. Fritz hat nicht die satte, schmeichelnde Höhe seines Vorgängers, wird beim Aufstieg in die obere Lage gerne schneidend spitz, kann aber mit seiner überzeugenden psychologischen Durchdringung der Figur alles wieder wettmachen.

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Mit Elza van den Heever kann Frankfurt die hybride Rolle der Hélène mit einer weltweit gefragten Sopranistin besetzen. Die Südafrikanerin gehörte bis Ende vergangener Spielzeit dem Ensemble an und ist jetzt – nach ihrem Debut an der Metropolitan Opera New York – freischaffend tätig. Hélène ist keine der duldenden Heroinen Verdis, trägt eher die Züge starker „Macherinnen“ wie Abigaille oder Odabella. Ihre solistischen Selbstäußerungen sind merkwürdig distanziert. Weder das gleichnishafte Revolutionslied des ersten noch der schillernde Boléro des fünften Akts sprechen über sie selbst. Traumatisiert vom Mord an ihrem Bruder dringt sie erst im fünften Akt, zerrissen von der Liebe zu Henri und der Solidarität mit ihren Kampfgefährten, zu ihrer seelischen Mitte vor. Zu spät: Im losbrechenden Aufruhr verlieren die Liebenden ihr Leben.

Van den Heever durchmisst ihre technisch anspruchsvolle Partie mit Bravour, die sie von einer lodernd-aggressiven Cabaletta über psychologisch feinnervige Ensembles zum Koloraturfeuerwerk des berühmten „Boléro“ führt, ein Schaustück vokaler Geläufigkeit, das eher der Sphäre des kapriziösen Oscar aus dem „Ballo in maschera“ nahesteht.

Beispielhafte Verdi-Inszenierungen

Frankfurt wählte die kaum gespielte fünfaktige französische Originalfassung, allerdings ohne die melodienreiche, fast halbstündige Ballettmusik, und setzte damit wieder einmal Maßstäbe in der deutschen Opernlandschaft. Das war auch dem engagierten Orchester zu verdanken, dem Pablo Heras-Casado genau die atmende Phrasierung, differenzierte Dynamik und melodische Intensität abverlangte, die Verdis Musik spannend und vielfarbig machen.

Der 35jährige Spanier hat sich mit diesem Frankfurter Debut nachhaltig als Verdi-Dirigent empfohlen, dem man gerne wiederbegegnen möchte. Die derzeit laufende Vorstellungsserie dirigiert Giuliano Carella, nicht ganz so differenziert im Detail und flexibel im Tempo, aber ebenso mit Gespür für Verdis orchestrale Farben und glühende Expression. Dem Chor, für seine umfangreiche Aufgabe von Matthias Köhler bestens präpariert, würden deutliche Zeichen vom Pult her gut tun: Verdis rhythmisch kantig geschnittene Einsätze sotto voce und a cappella gelangen nicht überzeugend.

Mit „Les Vêpres Siciliennes“ hat Frankfurt neben einem immer wieder bewegenden „Don Carlo“ in David McVicars Regie und einem szenisch wie musikalisch hochkarätigen „Ballo in maschera“ von Claus Guth eine beispielhafte Verdi-Inszenierung im Repertoire; ein Nachweis der Leistungsfähigkeit des Hauses, das unter seinem Intendanten Bernd Loebe in die europäische Spitzengruppe aufgerückt ist. Dass ein solches Erfolgsunternehmen mit Kürzungen bedroht wird, ist ein weiterer Beweis für die desolate Kulturpolitik in Deutschland, das von Rostock bis Halle, von Dessau bis Wuppertal derzeit drauf und dran ist, sein kulturelles Kapital im Bereich des Theaters zu verspielen. Das ist kein Krisen-Management, das ist die pure Leichtfertigkeit.

 




Festspiel-Passagen VI: Opernromantik unterm Sternenzelt – Verona feiert 100 Jahre Oper in der Arena

Der Inbegriff der Opernromantik: Ein samtblauer, sternübersäter Himmel spannt sich aus, ein sanfter, linder Wind erfrischt die Wärme des Abends, ein ägyptischer Tempel hebt sich aus dem Dunkel, warm beleuchtet, als würden ihn Tausende Kerzen illuminieren. Und eine Frau singt sehnsüchtig zur weichen, leisen Riesenharfe eines Orchesters: „Ah, komm, mein Geliebter, berausche mich, beglücke mein Herz!“

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Für solche Momente bezaubernder Stimmung ist die Arena von Verona weltberühmt. Wenn sich Amneris in Giuseppe Verdis Oper „Aida“ mit einem schmeichelnden Melodiebogen nach dem fernen Radamès sehnt, der die ägyptischen Heerscharen an der Grenze zu Äthiopien zum Siege führt, bleibt den Zuschauern der Atem stehen. Ganz still wird es dann unter den Fünfzehntausend, die das Rund der römischen Arena füllen. Nur aus weiter Ferne wehen ein paar Stimmfetzen von der Piazza Brá bis zu den „gradinate“ des Monumentalbaus – den narbigen Steinstufen, auf denen vor 2000 Jahren die römischen Veroneser Gladiatoren und Tierhetzer anfeuerten.

So still ist es nicht immer: Italien trägt ein temperamentvolles Volk auf seiner Erde, und auch die zahllosen Touristen, von denen die Opern-Festspiele in der Arena di Verona leben, lassen sich zu gerne vom südlichen Feuer entzünden. „Brava Violeta“ schreit ein stimmgewaltiger Mann von oben, kaum dass der letzte Ton verklungen ist: ein Claqueur oder jemand, der sein eigenes Organ ebenso gerne hört wie das der Sängerin. Aber er steckt an: Menschen jubeln, klatschen, schreien. Die Oper, das alte „Kraftwerk der Gefühle“, drängt die innere Bewegung zum äußeren Ausdruck.

Am Beifall spürt der langjährige Operngänger in Italien aber den Unterschied zum früheren Publikum: Da haben die „tifosi“ nicht geklatscht, sondern getobt. Da war auf der Bühne der Wettkampf der Stimmen zu erleben – eine Arena der vokalen Exhibition, die nicht selten um des Effektes willen die Grenzen des Geschmacks und des stilistisch sauberen Singens hinter sich ließ. Haudegen wie Mario del Monaco oder Franco Bonisolli haben mit elektrisierenden Spitzentönen den kollektiven Aufschrei provoziert wie ein Siegestreffer in der Arena von Schalke 04. Und die Schlachtrösser des Sopranfachs – erinnert sei zum Beispiel an Ghena Dimitrova – haben in „Turandot“ oder „La Gioconda“ Expression und Opulenz auf die Spitze getrieben.

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Daneben gab es Sänger, die mit den riesigen Dimensionen der Arena „gespielt“ haben, ohne die Musik an die Show zu verraten: Mit Wehmut ist an Fiorenza Cossotto zu denken, eine bestrickende Amneris in zahllosen „Aida“-Aufführungen. Gelingen ihnen die „Schlager“ ihrer Rolle, werden die Protagonisten auch heute hin und wieder noch mit „bis“-Rufen aufgefordert, ihre Arie zu wiederholen – und stellen sich, wenn der Maestro am Pult mitspielt, nur zu gerne der Ehre, ein vokales Schaustück noch einmal zum Besten zu geben. Auf der anderen Seite waren auch schmähliche Schiffbrüche zu erleben: Wer seine schönen Stellen versiebte, durfte nur mit Gnade rechnen, wenn das Rund gerade mehrheitlich mit angereisten Deutschen oder Amerikanern besetzt war. Ansonsten gab es schmerzliches Zischen, hämische Bemerkungen oder Rufe wie „vai a casa“ („Geh‘ nach Hause“).

Das Publikum – ein Raubtier

In solchen Momenten blitzt das antike Erbe der Arena auf: der Wettkampf, die emotionale Erregung, der mörderische Sport. Dann sind nicht nur die Akustik und die immensen Entfernungen zwischen Dirigent, Orchester, Chor und Solisten der Feind des Sängers, sondern auch die lauernden Raubtiere auf den Rängen: bereit, nach jedem glücklichen Spitzenton zu schnappen, bereit auch, jede Unaufmerksamkeit mit Angriff zu vergelten. Mit dem gesitteten Publikum unserer Stadttheater ist diese Atmosphäre nicht zu vergleichen. Aber mit dem Verlust des Maßstabs für gutes Singen, der in Italien noch schmerzlicher als anderswo zu spüren ist, versinken solche Konfrontationen in Vergangenheit: Heute genügt zum Jubel, dass die Partie irgendwie geschafft wird. Maßstäbe für gutes Singen werden für subjektiv gehalten, offene Kritik oder gar Unmut sind dann nicht mehr angebracht.

Oper in Verona – das hat wenig mit dem zu tun, was über die Kunstform reflektierend gesagt und geschrieben wird. Oper in Verona bedeutet Spektakel, Befriedigung der Schaulust, Ergötzen an der monumentalen Dimension, Unterhaltung und, ja, Romantik, im sentimentalen Sinne des Wortes: eine warme Sommernacht, die blitzenden  Sterne, die tausend kleinen Flämmchen der „candelini“ zu Beginn der Vorstellung, das lustvolle Auskosten der schönen Melodie, die unmittelbare Freude am faszinierenden Klang, an der Monumentalfilm-Kulisse, an den Klischees großer Gefühle.

Rekonstruiert: "Aida" in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Rekonstruiert: „Aida“ in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Wer sich der Oper mit dem scharfen Messer des Verstands, mit dem Skalpell der Analyse nähert, wird sein Instrument auf dem Stein der „gradinate“ schnell abstumpfen. Verona ist nichts fürs Konzept- oder Regietheater. Hier hat die Dekoration das Sagen. Es gab Versuche, auch in der Arena Oper anders zu machen als 1913. Sie sind resonanzlos gescheitert. Nicht umsonst hat man 1982 die „Aida“-Aufführung von vor 100 Jahren rekonstruiert. Sie gehört zu den beliebten Schaustücken – und in diesem Jahr, zum Arena-Jubiläum konnte der Besucher sogar wählen: zwischen einem bunten Alt-Ägypten, wie man es sich zu Verdis Zeit vorgestellt hat und dem postmodernen Schnickschnack, wie ihn das spanische Dekorations-Großunternehmen La Fura dels Baus derzeit über die Opernzentren der Welt ausbreitet. Gewonnen hat, so war auch aus den Kritiken zu entnehmen, die Postkarten-Belle-Époque der historisierenden Inszenierung Gianfranco de Bosios.

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Und da schreiten sie, die ägyptischen Scharen, von hinten nach vorne, von links nach rechts über die riesige Bühne, zwischen bunt bemalten Säulen durch, die in ihrer Massivität mit Luxor oder Abu Simbel konkurrieren können. Erhaben gewandet, luxuriös geschmückt. Amneris und der König in Gold und Weiß, Aida im ägyptisierenden Modellkleid, alles andere als eine „ria schiava“, eine anonyme kriegsgefangene Sklavin. Gut, Elefanten sind nicht von der Partie, aber beim Triumphmarsch, dem Höhepunkt der spektakulären Aufzüge, reiten Pferde ein. Radamès, der Sieger, wird auf einem riesigen Thron hereingefahren. Kostbare Stoffe, edle Metalle, Federn: Vor diesem Altägypten verlöre jede Mode-Boutique im Paris der Belle Époque vor Neid und Scham ihre Farbe.

Dekorative Ästhetik von heute in der "Aida" von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dekorative Ästhetik von heute in der „Aida“ von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dagegen kann das stilisierte Sonnenkraftwerk von La Fura dels Baus nicht punkten. Ebenso wenig überzeugt das Planschbecken mit echtem Wasser und Plastik-Krokodil-Masken für plätschernde Statisten im Nilakt. Die „alte“ Inszenierung setzt dagegen auf stimmungsvolle Lichtregie, wenn die Säulen eines Tempels im dunstigen Mondlicht am Fluss sich gewaltig und düster über kleine Menschen erheben. Solche Momente wären durchaus in einer spannungsvollen, glaubhaften Regie mit dramatischem Leben zu erfüllen, wäre da nicht eine grenzenlos banalisierende Personenregie am Werk. Zwischen Rampengesang und Ausfallschritt, zeremoniellem Schreiten und vorhersehbaren Arrangements könnte ein Hauch von Psychologie, von wahrhaftigem menschlichem Verhalten Wunder wirken.

Das ist bei einem Tenor wie Marco Berti nicht zu erwarten, der mit robustem Ton durch seine Partie pflügt und es offenbar dem Zufall überlässt, ob eine Phrase mal stimmig ausgesungen, mal einfach nur mit Kraft geschmettert wird. Der Mann hat die vokalen Fertigkeiten für einen überzeugenden Radamès, aber weder das stilistische Bewusstsein noch das psychologische Feingefühl. Die Aida von Fiorenza Cedolins tut sich bei der Gestaltung von Angst, Ausweglosigkeit, Resignation, aber auch im Moment des Aufbegehrens gegen Amneris und im abgeklärten Einverständnis mit dem Sterben im Finale leichter. Aber ihr Timbre klingt ölig, ihr Vibrato verbraucht – da hilft auch nicht, dass sie die Höhe in der Nil-Arie sicher erreicht.

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Violeta Urmana war als Amneris die überzeugendste Sängerin des Ensembles: In der Szene, in der Radamès von den Priestern verhört und verurteilt wird, breitet sie das Psychogramm einer stolzen, starken Frau aus, die an die Grenzen ihrer seelischen Leidensfähigkeit geführt wird. Überzeugend auch ihre stimmlich beglaubigte Doppelzüngigkeit am Anfang, in der Konfrontation mit Aida, als sich der Verdacht erhärtet, die Sklavin könne ihre erfolgreiche Konkurrentin um die Liebe Radamès‘ sein. Nur die schmeichlerischen Legati in der ersten Szene des zweiten Aktes gelingen ihr nicht ganz: Der Stimme fehlen Samt und schwärmerischer Ton.

Die männlichen Protagonisten bleiben auf mittlerem Niveau: Anbrogio Maestri imponiert in Statur und Stimmgewalt, singt den Amonasro aber wenig differenziert und mit vielen engen Tönen. Orlin Anastassov bleibt als Ramfis ebenso rau und stilistisch grob wie Carlo Gigni als König. Daniel Oren liefert ein routiniertes Dirigat ab, ohne auf die Finessen der Partitur intensivere Blicke zu richten.

Über 600 „Aida“-Vorstellungen in 100 Jahren

Arena und Aida – das sind beinahe schon Synonyme geworden: Mit über 600 Vorstellungen steht die Oper Verdis an der Spitze der Aufführungsstatistik. Vor 100 Jahren verwirklichte der Tenor Giovanni Zenatello zusammen mit dem Impresario Ottone Rovato die Idee, zu Ehren des Komponisten im damals frisch restaurierten römischen Monument „Aida“ aufzuführen. Das Experiment von 1913 – damals noch ohne elektrisches Licht! – gelang, die Arena etablierte sich als sommerliche Spielstätte. 1914 folgte Bizets „Carmen“, dann unterbrach der Erste Weltkrieg bis die junge Tradition, die aber bereits 1919 wiederbelebt wurde. Und zwar, was heute undenkbar ist, mit einer relativ neuen Oper Amilcare Ponchiellis, „Il Figliuol Prodigo“ („Der verlorene Sohn“) von 1880. In den Folgejahren gab es zwar wieder „Aida“, aber auch modernere Stücke: „Il piccolo Marat“ von Pietro Mascagni (1921), „Nerone“ von Arrigo Boito (1926) oder die erst drei Jahre zuvor uraufgeführte „Turandot“ Giacomo Puccinis 1928.

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Ein letztes solches Experiment wagte die Arena 1952 mit Italo Montemezzis „L’Incantesimo“ („Der Zauber“). In den zwanziger Jahren spielte man sogar Wagner in der Arena – nicht einmal das traut sich das Opernunternehmen in seinem und Wagners Jubiläumsjahr: „Lohengrin“ erklang 1922, noch einmal in den Jahren 1933 und 1949 und zum letzten Mal 1963 – eine kluge Wahl für die szenischen Möglichkeiten der Arena. Selbst „Parsifal“ (1924) und „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1931) standen je einmal auf dem Spielplan.

Die Gründer der Operntradition in der Arena hatten ein treffendes Gespür für die Auswahl der Werke. Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalila“, 1921 gezeigt, erfüllt die Bedingungen ideal: große Tableaus und Chorszenen, monumentale Schauplätze, historisierender Stoff, wirksame Musik. Man fragt sich, warum dieses Stück 1974 zum letzten Mal in der Arena zu erleben war. Eine Erklärung: Die Aufführungen in Verona müssen massenkompatibel sein. Abend für Abend zwischen Juni und September sind 15 000 Plätze zu verkaufen. Und in Zeiten, in denen italienische Politiker die Oper nicht mehr für finanzierungswürdig halten, weil sie den Staat nicht in der Pflicht sehen, „Musikshows“ zu unterstützen, gibt es wohl keinen Spielraum für künstlerische Entscheidungen. So kristallisiert sich seit den neunziger Jahren ein Kern von einem Dutzend Opern heraus, die immer wieder aufgeführt werden, unterbrochen von nur wenigen „Ausreißern“ wie „La Gioconda“ (2005) oder dem ersten Mozart in der Arena, „Don Giovanni“ (2012).

Doch diese Entwicklung ist nicht nur ein Indiz finanzieller Risikovermeidung, sondern auch ein Zeichen für die sterile Erstarrung der Oper als Kunstform: Verona schwimmt an der Spitze des internationalen Mainstreams. Ideen wie etwa die Inszenierung einer Meyerbeer-Oper – wie sie in den dreißiger Jahren stattgefunden haben, weil sich die Grand Opéra hervorragend für den Raum eignen würde – sind daher selbst im 150. Todesjahr Meyerbeers 2014 utopisch. Der Spielplan für das nächste Jahr beinhaltet also wieder beide „Aida“-Inszenierungen, dazu Verdis „Maskenball“ sowie „Madama Butterfly“ und „Turandot“ von Giacomo Puccini, ergänzt durch „Carmen“ und Charles Gounods „Roméo et Juliette“ – eine Konzession an Veronas zweiten Touristen-Mythos.