Kindheit und Pubertät in der hessischen Provinz: Andreas Maiers Roman „Die Straße“

Wie macht Andreas Maier das bloß? Von ihm geschildert, erscheint der ganz normale Alltag, wie ihn viele von uns früher erlebt haben, auf einmal so anders und befremdlich, doch plötzlich auch so ungeahnt kenntlich.

„Die Straße“, der gewiss stark autobiographisch geprägte Roman (über die Gattungsbezeichnung für diese Abhandlung ließe sich trefflich streiten) des 1967 in Bad Nauheim geborenen Autors, führt abermals in die hessische Provinzkindheit und in die Pubertät eines Jungen in den 1970er und frühen 80er Jahren. Die Wetterau rund um Friedberg/Taunus wird bei diesem breit angelegten Projekt (bisher u. a.: „Wäldchestag“, „Onkel J“, „Das Zimmer“, „Das Haus“) zum literarischen Gelände besonderer Güte. Und wieder einmal zeigt sich, wie sehr die Provinz auch die Welt bedeuten kann.

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Auch diesmal handelt es sich um eine langsame Einkreisung der Verhältnisse. Es beginnt just mit der Straße und dem anfangs angstvollen Gang aus dem elterlichen Haus in andere Häuser. Dort ist zunächst alles bestürzend fremd, obwohl doch eigentlich so furchtbar ähnlich wie in den täglich vertrauten Zimmern der eigenen Familie.

Heikle Berührungen

Nach und nach werden familiäre und darüber hinaus reichende Netzwerke sichtbar, die vor allem aus (vorwiegend heiklen, verbotenen oder verweigerten) Berührungen bestehen. Wie die Väter damals die Freundinnen ihrer kleinen Töchter auf den Schoß genommen haben. Wie sich die zu kurz gekommenen Mütter mit den kindlichen Söhnen mittäglich ins Bett begeben haben, um ach so harmlose Zärtlichkeiten auszutauschen, wenn die Männer zur Arbeit waren. Wie etwas später die Mädchen untereinander – so auch die Schwester des Erzählers mit ihrer Clique – Körperspiele rund um die sexuelle Initiation vollführt haben. Wie dieser Erzähler damals noch gar keine Begriffe hatte für all das, was sich da ringsum abspielte…

Die Beobachtungen fügen sich zu einer streckenweise aufregend dichten Studie zwischen Kindheit und Adoleszenz, zwar zeitbedingt getönt, doch auch darüber hinaus gültig.

Das Ausmaß der Verdrängung

Und weiter, mit zunehmendem Alter hinaus auf die Plätze und in die Gassen der Altstadt, wo ganze Kohorten schmieriger alter Männer nicht nur Blicke auf die blühende Jugend erhaschen, sondern am liebsten zugreifen wollen. Zugleich bildet sich in der Siedlung eine Bürgerwehr, als von einem Unhold und Exhibitionisten geraunt wird. Welch eine enge Spießerwelt, welches Ausmaß an Verdrängung und Verlogenheit! Da wird manche Erinnerung für viele Jahre verhüllt – und kommt vielleicht eines Tages unversehens wieder hoch.

Von Normalität kann rundum nicht die Rede sein, allenfalls vom nicht in Frage gestellten Sosein einer buchstäblich erdrückenden Mehrheit. Da wagt sich auch die erwachende Lust der Jungen eher als Angstlust, als Gemisch aus Ekel und Gier hervor.

Anleitungen zur Sehnsucht

In diese verkorkste Gemütslage stieß alsdann die „Bravo“ mit ihren abgezirkelten Sexualtipps, dargebracht in dürrer Doktorsprache. Es war, so heißt es hier sinngemäß, wie ein starrer Plan der Sehnsucht und des Begehrens, den die Jugendlichen in allen westdeutschen Gegenden getreulich nach Text- und Gefühls-Bausteinen ausführen sollten. Und so haben denn alle mehr oder weniger dieselben Sätze in ihre Tagebücher geschrieben. Später werden Nackthefte oder auch harte Pornographie solche gemeinsamen Strukturen vorzeichnen. Wie denn überhaupt und andererseits das bloße Leben, das sich über alle Individuen erhebt und sprachlich kaum zu fassen ist, zentrales Thema und Triebkraft dieses Buches ist.

Sodann die eigentliche Jugendzeit, mithin die großen Verheißungen von Freiheit. Die schier unverwundbaren Gruppen auf dem Marktplatz, die in der Hierarchie obenan stehenden „Königspaare“, von allen bewundert. Solche Beobachtungen gipfeln in Sätzen, die die wundersame Aura nicht nur jener Jahre, sondern wohl aller Jugendzeiten erfassen: „Für viele wird es später ihre größte Zeit gewesen sein, als sei das Sein genau einmal gewesen, nämlich da. Einmal ganz und gar wirklich. Und sie mittendrin. Und alles eigentlich für sie.“

Traum von Amerika

Maier verwendet zumeist eine recht einfache, gleichwohl nicht ungeschliffene Sprache, die sich dem Alltäglichen anschmiegt und sich der Realität Schritt für Schritt nähert, zögerlich, vorsichtig, jedoch umso zielsicherer. Wie zum Ausgleich verstören dann aber jene kurzen Passagen, die die Beschreibung unterbrechen und überwölben; reflektierende Einsprengsel, die aufgeladen sind mit elaborierter Begrifflichkeit wie aus einer soziologischen Studie. Sie wirken demgemäß wie Fremdkörper.

Den vagen, ungefähren Traum von Amerika, dem sich die Mädchen der Wetterau überließen, die an Deutschland zu ersticken meinten, greift Maier ebenfalls auf. Es war wohl die massenhaft befolgte Regel, dass die zahlreich im Hessischen stationierten GIs zum Zuge kamen. In diesem Zusammenhang erzählt Maier die vordergründig groteske, im Grunde aber zutiefst betrübliche Geschichte eines amerikanischen Austauschschülers und kommt damit zurück auf die abgründige, noch unbegriffene Traurigkeit, die schon so manchen Kindheitstag verdunkelt hatte.

Andreas Maier: „Die Straße“. Roman. Suhrkamp Verlag. 194 Seiten. 17,95 Euro.




Ansichten eines Hörbuchjunkies (7): München tut dem Franz Eberhofer gar nicht gut

Tja, nun hat es auch Franz Eberhofer aus Niederkaltenkirchen bei Landshut d‘erwischt. Der bodenverhaftete Kriminale, der mit dem dörflichen Freundeskreis in engstem Kontakt und dem Birkenberger, Rudi in schier Ehepaar ähnlicher Beziehung komplizierte Fälle löst, die sich Autorin Rita Falk ausgedacht hat, er hat einen klaren Durchhänger. „Sauerkrautkoma“ heißt der fünfte Eberhofer-Krimi, und in ein solches verfiel der Plot des Romans zeitweilig. Kurz: Hätte ich keinen seiner Vorgänger gehört, fände ich das Hörbuch recht unterhaltsam. Da ich aber alle vier dieser Niederkaltenkirchen-bei-Landshut-Saga genussvoll zu mir nahm und mich bisweilen tränenlachend bei meiner gesellschaftlichen Umgebung zum Deppen machte, ist mein heuriges Urteil: Ganz nett, aber diesmal wie alle anderen auch.

Franz Eberhofer, der ja mittlerweile als die Allzweckgeheimwaffe Bayerns im Kampf gegen vor lauter Dummheit nachgerade geniale Rechtsbrecher gilt, wird von der übergeordneten Behörde versetzt. Im heimatlichen Niederkaltenkirchen bei Landshut ist er den hohen Damen und Herren zu schade, er soll München mit seinen ermittlungstechnischen Alleingängen (natürlich gemeinsam mit dem Rudi) zur Gauner freien Zone machen. Daheim wird’s derweil von dem Simmerl (weltbester Metzger und Leberkäs-Bäcker) sein Bub‘ gerichtet.

Und kaum an der Isar, da landet unverhofft eine weibliche Leiche im Kofferraum von dem Papa sein Auto, das zuvor beim Familienbesuch in der Landeshauptstadt vom Parkplatz geklaut worden war. Rätsel über Rätsel, die natürlich vom Franz in gewohnter Weise gelöst werden.

In gewohnter Weise? Na, eben nicht. Der Franz passt nicht nach München. Der kann so was nur in Niederkaltenkirchen bei Landshut. Zu wenig Schrulliges vom kiffenden Papa, zu wenig Köstliches aus der Küche der Oma, die immer nur dann was hört, wenn sie beschlossen hat, das auch zu wollen. Zu wenig vom Freundeskreis (Metzger Simmerl, Wirt Wolfi, Klempner Flötzinger), dafür etwas zuviel von der Susi, die zu ehelichen sich der Franz nun doch entschlossen hat. Na, vielleicht nicht von der Susi, aber von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen. Es fehlt dem „Koma“ eindeutig an der Authentizität des bayerischen Dorfes und seiner verrückten Gemeinschaft. Es fehlt dem Münchner Eberhofer eindeutig am anarchischen Ermittlungsgeschehen. Und es fehlt dem Krimi-Plot vollkommen die schräge Note und der „Och-Effekt“, den seine Vorgänger  auszeichneten.

Was ist nur aus der fröhlichen Gesellschaft geworden, die einst die Susi aus Italien zurück holte. Wo sind die verbalen Sticheleien zwischen dem Franz und seinem unfehlbaren Bruder Leopold, dem nun auch noch Eheweib Panida nebst Töchterchen abhanden zu kommen drohen. Wo bleiben die unvergleichlichien Szenen, in denen Franz seine Oma durch die Weltgeschichte kutschieren muss, weil die doch dringend die Sonderangebote des wohnortnahen Einzelhandels einsammeln muss.

Rita Falk ist diesmal arg in den Trott der handelsüblichen Krimi-Autoren gestolpert, was dem fünften Fall nicht gut tat. Aber, ich gebe ja die Hoffnung nicht auf. Der sechste wird hoffentlich kommen, dann erfahre ich sicher, was auch dem kurz vor knapp nun doch nicht verheiratetem Paar geworden ist, das der Lamborghini-Fahrer mit der von ihm entführten Susi anstellt, was Oma zum Trost ihrem Enkel zubereiten wird und woran der Birkenberger Rudi sich beim ermitteln diesmal den Magen verdirbt.

Und vielleicht hat’s den Franz dann auch wieder nach Niederkaltenkirchen bei Landshut zurück verschlagen, denn er ist und bleibt kein rechter Großstadtermittler.