Altes Lied ganz neu: Die Nibelungen am Schauspielhaus Bochum

Die Männer sitzen ums Feuer und singen ein altes Lied in einer fremden Sprache, einer spielt Gitarre dazu. Hin und wieder versteht man sogar ein Wort: Denn die Sprache ist Mittelhochdeutsch und die Geschichte, über die sie singen, erzählt von Siegfrieds Heldentaten und Kriemhilds Rache. Regisseur Roger Vontobel hat für das Schauspielhaus Bochum Hebbels „Die Nibelungen“ inszeniert und das Stück buchstäblich als „Nibelungenlied“ kongenial an seine Ursprünge zurückgeführt.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die Gesangseinlagen beschwören den mittelalterlichen Mythos herauf und legen die archaischen Grundzüge der Heldengeschichte frei, so dass sie uns heute wieder etwas sagt. Überhaupt: Wie Vontobel es schafft, die Nibelungen-Sage als packende Sex-and-Crime-Story zu erzählen, so dass der Theaterabend trotz fünfeinhalbstündiger Spieldauer keine Sekunde langweilig, sondern extrem kurzweilig und spannend daherkommt, das ist wirklich eine großartige Regieleistung.

Dabei wirkt Vontobels Erzählweise, die mit einer großen Rückblende arbeitet, in der Siegfried und Kriemhilds Vorgeschichte inklusive Drachentötung und Mord entfaltet werden, keineswegs verflachend. Sehr genau erlebt man die Psychologie der Figuren, erkennt ihre Motive, ihre Schuld-, Eifersuchts- und Rachegefühle und kann verfolgen, wie diese Emotionen letztlich in grausame und tödliche Verstrickung führen.

Im Zentrum des Geschehens steht Kriemhild: Jana Schulz legt diese Figur als ein burschikos-naives Mädchen an, das erleben muss, wie ihre reine, große Liebe zu Siegfried durch Gier und Machtkalkül ihrer Brüder und Hagen funktionalisiert und letztlich zerstört wird. Kriemhilds Rache folgt aus gebrochenem Herzen und der Erfahrung, dass ihre engste Familie sie verraten hat. Darum ist sie umso grausamer und gibt sich erst zufrieden, nachdem sie alle in den Tod getrieben hat.

Diese Charakterentwicklung nimmt man der großartigen Schauspielerin jede Sekunde ab, ebenso wie man ihre sinnliche Bühnenpräsenz nur bewundern kann. Die lange Szene, in der sich Kriemhild die Asche Siegfrieds mit Schwamm und Waschkrug vom Körper reibt markiert sinnfällig die Zäsur. Hier wird aus der Trauernden die eiskalte Rächerin, die im Diven-Outfit ihre Erotik gezielt dazu einsetzt, den zweiten Ehemann Etzel (Matthias Redlhammer) ins Mordkomplott einzuspannen.

Doch auch die Handlungsmotive der übrigen Figuren sind klug herausgearbeitet: Hagen (Werner Wölbern) ist mitnichten nur der Bösewicht, der Siegfried aus Mordlust tötet. Als treuer Gefolgsmann und Berater König Gunthers geht es ihm um Machtpolitik: Er will das Haus Burgund in die Zukunft führen und scheut dabei vor keiner List zurück. Siegfried dagegen ist Mitwisser und Störenfried für ihn, denn er setzt Gerechtigkeit über Treue. In Hagens Welt muss er dafür sterben.

Nun der Held selbst, im Drachenlederanzug: Fast blass und verkopft kommt dieser Siegfried (Felix Rech) daher. Seine Macht von Zauberschwert und Tarnkappe ist ihm eher unheimlich, er wollte lieber für sich und Kriemhild ein kleines Glück, statt ein großer Held zu sein. Doch das Heldentum legt ihm Pflichten auf, die er scheut und das wird ihm zum Verhängnis. König Gunther (Florian Lange) dagegen will mehr, als seine Fähigkeiten erlauben: Er ist scharf auf Brunhild (Minna Wündrich), aber sie ist eindeutig eine Nummer zu groß für ihn, das bringt dieser Ehe nur Verdruss. Richtig komisch sind die Szenen, in denen das Vollweib Brunhild den armen Pantoffelhelden mit Verlaub „zusammenscheißt“ – ach hätte er doch ein nettes Mädchen von nebenan geheiratet anstatt dieser kraftstrotzenden Walküre, deren Wildheit niemand bändigen kann, weil sie aus eisigeren Gefilden stammt und das ganze Rheinland ihr einfach zu lieblich ist.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die politisch heikle Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes hat Vontobel sehr dezent integriert: In Ausstattung und Kostüm sind Anklänge an die Mode und Frisuren der vierziger Jahre zu finden, ohne allzu sehr die abgegriffene 3.-Reich-Symbolik zu bemühen. (Kostüme: Tina Kloempken). Auch die Idee, den berüchtigten Hunnenkönig Etzel als kultivierten Klavierspieler im weißen Anzug zu zeigen, hat Charme. So ist nicht von vorneherein klar, wer eigentlich hier die Barbaren sind und die Deutung gerät offener.

Selbst mit der Gewalt im Stück findet Vontobel einen klugen Umgang: Sicher, es fließt Blut, aber die schlimmsten Szenen lässt er hinter dem geschlossenen eisernen Vorhang spielen. So entstehen die Bilder des Schreckens durch bloße Geräuschkulisse im Kopf des Zuschauers – was sie umso eindringlicher macht (Bühne: Claudia Rohner).

Zeit nehmen, unbedingt hingehen: Wenn draußen vor dem Schauspielhaus Bochum ein Lagerfeuer brennt, gibt’s drinnen die Nibelungen zu sehen.

Weitere Infos und Karten:
http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/die-nibelungen/




Der lange Schatten von Auschwitz – Michel Laubs Roman „Tagebuch eines Sturzes“

Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse, war eine zentrale Frage, die der Philosoph Theodor W. Adorno gestellt hat. Er gab damit einen Anstoß, über Sinn und Wert des Lebens, über Schuld und Verantwortung angesichts der NS-Gräuel nachzudenken. Was der Vertreter der Frankfurter Schule gesellschaftlich und historisch zu hinterfragen suchte, reflektiert Michel Laub am Beispiel (s)einer Familie.

Der Autor, jüdischer Herkunft, ist Journalist, Jahrgang 1973, und wurde im brasilianischen Porto Alegre geboren. In seinem autobiographischen Roman „Tagebuch eines Sturzes“ erzählt er die Lebensgeschichte seines Großvaters, seines Vaters und seiner selbst. Laub, der in seiner Heimat zu wichtigsten zeitgenössischen Autoren gehört, beschreibt über weite Strecken in einzelnen Sequenzen, Szenen oder Momentaufnahme, was der Angehörige einer jeweiligen Generation erlebt und durchlitten hat.

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Das Buch ist in Ich-Form geschrieben. Für den Erzähler ist der Anlass, sich zurückzunehmen und Rückschau zu halten, wahrlich schwierig genug: Er hat ein Alkoholproblem, seine Frau (die mittlerweile 3. Ehe) droht mit dem Ende der Beziehung und der Vater hat gerade von Ärzten erfahren, an Alzheimer erkrankt zu sein.

Da ist das Wort von der persönlichen Krise wohl durchaus erlaubt. Wenn der Schriftsteller nun Verbindungen mit Auschwitz herstellt, mag das im ersten Moment befremdlich erscheinen, im Gesamtkontext der Familie wird es verständlich. Sein Großvater nämlich hat das KZ überlebt und nach dem Krieg in Brasilien ein neues Leben als Geschäftsmann begonnen. Kann man aber hier wirklich von Leben sprechen?

Sein Opa, den er selbst nie kennenlernte, hat nichts über Auschwitz gesagt oder berichtet. Seine Erinnerungen verarbeitete er stattdessen in einem Tagebuch, das er nach Feierabend führte, wozu er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Treffender wäre wohl das Wort „verbarrikadierte“. Was er niederschrieb, erfuhr seine Familie erst nach seinem Tod und bekam einen Eindruck davon, wie sehr er unter den Erlebnissen im Konzentrationslager zu leiden hatte, in dem auch zahlreiche Verwandte starben. Diese seelischen Qualen waren es schließlich auch, die dazu führten, dass er Selbstmord beging. Sein Sohn, damals 14 Jahre alt, fand den Vater tot im Arbeitszimmer. Das Trauma überwand er nie, und auch sein Sohn, der Erzähler, spürte stets, wie sehr sein Vater unter dem psychischen Druck zu leiden hatte.

Auch wenn kein kausaler Zusammenhang zu dem Geschehen, das den jüngsten Nachfahren aufwühlen soll, besteht, stimmt es doch nachdenklich, dass auch er mit einem schwierigen Ereignis zurechtkommen muss. Hierbei ist er allerdings nicht Opfer, sondern gehört zum Kreis der Täter. Er besucht ein jüdisches Gymnasium. Als der einzige nicht-jüdische Mitschüler in der Klasse bei der eigenen Feier zum 13. Geburtstag entsprechend der Anzahl der Lebensjahre in die Luft geworfen wird, fangen ihn seine Mitschüler beim letzten Mal nicht mehr auf. Joao, so der Name des Jungen, war stets Außenseiter und wurde gemobbt. Mit schweren Verletzungen kommt er ins Krankenhaus und als er nach Monaten in die Schule zurückkehrt, ist der Erzähler der einzige, der sich um ihn kümmert. Das Gewissen hat ihn seit dem Fest geplagt. Eine Freundschaft aufzubauen scheitert indes, trotz mancherlei Bemühungen.

Zurück bleibt der Erzähler mit dem Gefühl des Versagens und des Scheiterns. Überhaupt tut er sich schwer mit dauerhaften Bindungen und versucht, die Gründe herauszufinden. Vater und Großvater sind dabei wichtige Glieder in einer Ursachenkette. Der Titel „Tagebuch eines Sturzes“ wird am Ende zu einer Aussage, die mehr meint als „nur“ das Geschehen um den nicht-jüdischen Jungen.

Michel Laub: „Tagebuch eines Sturzes“. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Michael Kegler. 176 Seiten. 19,95 Euro.