Auf der Suche nach heilsamen Giften

Holla! Der Kulturkanal 3Sat lockt uns mit kraftvollen Titeln wie die Boulevardzeitung mit den großen Lettern: „Hitlers Museen – Die Jagd nach den Nazi-Schätzen“ wurde jetzt (nach den Münchner Kunst-Sensationsfunden) kurzfristig ins Programm gerückt. Dafür musste die ähnlich vollmundig benannte Sendung „Dschungelcamp für Homöopathen“ nach hinten rücken.

An Stelle der Forscher, die – auf der Suche nach neuen medizinischen Wirkstoffen – beschwerliche Reisen in den Regenwald unternehmen, wäre man über den „Dschungelcamp“-Vergleich wohl nicht gerade entzückt. Er zieht das ganze Projekt ein wenig ins Halbseidene. Aber wie war das noch: Mit Speck fängt man Mäuse.

Schlangen, Vogelspinnen und anderes Getier

Der Film selbst war hingegen alles andere als spektakulär, sondern wirkte durchaus bedächtig. Das Motto hätte gut und gerne lauten können: Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss.

Pharmazeut Robert Müntz (re.) und der einheimische Guide Orlando haben eine giftige Ameise gefangen. (© ZDF/ORF/seagull Film/Katrin Filenius)

Pharmazeut Robert Müntz (re.) und der einheimische Guide Orlando haben eine giftige Ameise gefangen. (© ZDF/ORF/seagull Film/Katrin Filenius)

Man begleitete den Pharmazeuten Robert Müntz und den Arzt Jan Scholten auf ihren Expeditionen durchs Amazonasgebiet von Peru. Ein einheimischer, des Englischen kundiger Führer zeigte ihnen allerlei Getier, vorwiegend der giftigen Art. Zitteraal, giftige Tausendfüßler und Riesenameisen, Vogelspinnen, Taranteln, Fledermäuse, Ochsenfrösche und natürlich etliche Giftschlangen. „Schönes Tier“, sagte Müntz beim Anblick fast aller dieser Kreaturen. Nun ja. Das ist wohl Ansichtssache.

Der furchtlose Robert Müntz entlockte den Tieren Proben ihrer jeweils spezifischen Giftstoffe, die (entsprechend zerrieben, gelöst und dosiert) eventuell als hochwirksame Arzneien taugen. Dass Müntz dabei auch nicht ganz ungefährliche Selbstversuche betreibt, nötigt Respekt ab. Der Mann lebt für seine Wissenschaft. Und wer weiß, ob nicht ein paar wegweisende Entdeckungen daraus hervorgehen.

Für kritische Fragen blieb kein Platz

Die beiden Forscher schworen aufs naturnahe Leben und auf die Homöopathie, die den Menschen – im Gegensatz zur Schulmedizin – als Ganzes betrachte, ebenso preiswert wie umweltfreundlich sei und weder Patente noch sonderliche Profite ermögliche. Es wird schon einige Wahrheit daran sein, doch hier klang es allzu unwidersprochen.

Eine etwaige Gegenstimme war nicht zu vernehmen. Offenbar hatte sich das Filmteam um Katrin und Götz Filenius mit den Forschern angefreundet, man stellte also keine skeptischen oder kritischen Fragen, erhob erst recht keinerlei Widerspruch. Dass Teams der Pharmakonzerne sehr wohl in den entlegensten Winkeln unterwegs sind, um irgendwann lukrative Patente und Exklusivrechte zu beanspruchen, kam in dieser heilen Homöopathenwelt nicht vor.




Vom Flug der Seele: „Schwanensee“ als brillantes Kammerspiel in Gelsenkirchen

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Schwanenprinzessin Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Der schöne Hals ist grausam verdreht. Der Kopf zuckt krampfhaft, wie in Agonie. Sie ist ein trauriger Anblick, diese hilflose Kreatur, die Odette heißt und zu Beginn des Abends noch ein stolzer weißer Schwan war. Die Zaubermacht, über die sie einst verfügte, die erlösende Kraft der Liebe, hat sich auf tragische Weise gegen sie gekehrt. Da liegt sie nun, zerschmettert, vernichtet.

Es ist fürwahr ein Paukenschlag, mit dem Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner in ihre zweite Spielzeit startet. Hatte sie doch den Mut, sich mit ihrer nur 14-köpfigen Compagnie an „Schwanensee“ zu wagen, den Ballettklassiker schlechthin, märchenhaft, romantisch, opulent. Aus der Not, sprich aus dem Fehlen eines großen Corps de ballet eine Tugend zu machen, fiel Breiner dabei erst gar nicht ein. Lieber nahm sie den bekannten Stoff zum Anlass, Neues zu schaffen: ein dichtes psychologisches Kammerspiel über zwei Unglückliche, die die Liebe befreit, perfekt zugeschnitten auf ihre Compagnie und auf eine starke Primaballerina, die erfahrene Tänzerin Kusha Alexi.

Alexi ist anderer Art als die feenhaft-ätherischen Wesen im Tutu, die für gewöhnlich als Odette über die Bühne schweben. Ihre Schultern sind knabenhaft eckig; jeder einzelne ihrer stählern durchtrainierten Muskeln tritt deutlich hervor. Betont schlicht kostümiert, verkörpert sie ein wundersames Naturwesen, kraftvoll und doch bestürzend fragil. Ihrem Element unglücklich verhaftet – und darin der Nixe Undine nicht unähnlich – ist sie ständig von drei Schatten umgeben, die sie halten und heben, aber auch fesseln (kraftvoll: Joseph Bunn, Junior Demitre, Petar Djorcevski).

Das ändert sich, als Odette dem Prinzen begegnet (Ordep Rodriguez Chacon). Aus ihrem ersten Pas de deux formt Bridget Breiner ein kleines Wunder der Ballettkunst. Nicht genug damit, dass sie uns sämtliche Stadien der Annäherung zeigt, von anfänglicher Furcht und wachsender Zuneigung zur jubelnden Ekstase des Glücks. Hier, auf der Gelsenkirchener Bühne, befreien sich zwei Wesen aus deprimierender Existenz. Unverhofft finden sie ineinander die Erlösung, nach der sie bislang vergebens suchten.

Der Prinz (Orden Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto. Sebastien Gallier/MiR)

Der Prinz (Ordep Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Kusha Alexi und Ordep Rodriguez Chacon tanzen das mit begeisternder, kompromissloser Hingabe. Die starre Formensprache des klassischen Balletts schmilzt dahin, je mehr Feuer die beiden entwickeln. Die Bewegungen werden immer freier und fließender, die Schrittfolgen immer leichter und schneller. Die Hände streben zum Himmel, die Füße enteilen der Erdenschwere, die ausgebreiteten Arme sind endlich bereit, die Welt zu umarmen. Die Zartheit, mit der dieses Paar einander führt und berührt, sprengt jede Fessel.

Es ist kein schwarzer Schwan, sondern die Verlobte des Prinzen, die das Glück des Paars zerstört. Aidan Gibson verkörpert den denkbar größten Gegensatz zur Schwanenprinzessin: Sie ist eine perfekte Blonde, puppenhaft kühl, und natürlich beherrscht sie die den höfischen Formenkanon vollendet. Gibson führt diese Ästhetik mit großer Eleganz vor. Brillant und vergnüglich wird der Abend, wenn Bridget Breiner spöttische Seitenhiebe auf Schwanensee-Klischees einbringt. Dann macht sich die Hofgesellschaft mit albern flatternden Armbewegungen über den Prinzen lustig, und die Hofdamen exerzieren den Pas de quatre der Schwäne mit genussvoller Häme.

Die kleinen, aber quirligen Ensembles bereiten Freude, zumal Breiner eine hübsche Charakterrolle in Gestalt eines frechen Gassenjungen eingebaut hat, der sich später als Mädchen entpuppt (Maiko Arai). Und natürlich kann sie sich auf ihre Compagnie verlassen, die ihre Sicht auf Schwanensee mit allem Herzblut unterstützt. Erstaunlich organisch fügen sich drei Tschaikowsky-Lieder in den Abend ein, die Breiner für intime Seelenstudien nutzt. Die neue Philharmonie Westfalen haucht Tschaikowskys Musik unter der Leitung von Heiko Mathias Förster nach sprödem Beginn durchaus Kraft und Glanz ein. Auch intime lyrische Momente und virtuose Violinsoli lassen aufhorchen.

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Gallier/MiR)

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Unterdessen muss Odette mit ansehen, wie ihr Prinz sich von der perfekten Grazie seiner Verlobten blenden lässt. Umhergestoßen und verhöhnt, wird sie Augenzeugin seines Verrats. Von diesem Augenblick an werden die Schatten zur unüberwindlichen Barriere. Vergebens, dass es Odette und dem Prinzen noch einmal gelingt, sie zu überwinden: Dieser zweite Pas de deux, er ist auch schon ihr letzter. Beide kleben am Boden, der Zauber wirkt nicht mehr, alle Leichtigkeit ist dahin. Odette liegt da wie eine Gekreuzigte, das Gesicht nach unten. Die Flügel zucken noch, aber sie sind gebrochen. Der Traum vom Fliegen ist aus.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/Schwanensee/)




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.