Heilsbringer in der Waschmaschine – Michael Thalheimer inszeniert „Tartuffe“ an der Schaubühne

Endlich haben alle begriffen, dass der als Heilsbringer verehrte Herr Tartuffe nur ein Heuchler ist. Ein Scharlatan, der sich in religiöser Verzückung kurios verbiegen kann und sich in leidender Jesus-Pose gefällt.

All die auf die Haut tätowierten Bibelverse und das Gerede von Schuld und Erlösung können irgendwann nicht mehr vertuschen, dass Tartuffe nur ein geldgieriger Raffzahn und notgeiler Lüstling ist, der die Familie Orgon in den Ruin treiben und es mit der Frau des Hauses treiben möchte. Plötzlich beginnt die kleine Welt der Orgons ins Rutschen zu kommen. Und die Bühne, eben noch eine mit Blattgold verzierte Mönchszelle, rotiert wie eine enthemmte Waschmaschine.

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Das Unterste wird nach oben gekehrt, die Menschen fliegen durcheinander. Nichts und niemand gibt ihnen mehr Halt. Schon gar nicht jener feist grinsende Herr Tartuffe, der – so will es Regisseur Michael Thalheimer – zum bitterbösen Ende hin nicht verhaftet wird, sondern die Familie Orgon einfach vor die Tür setzen lässt.

Michael Thalheimer, offenbar vom interneren Machtkampf mit Platzhirsch Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater entnervt, ist als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne gewechselt. Dort inszeniert er jetzt Molières „Tartuffe“ als, ja, als was eigentlich? Eine ausgelassene Komödie jedenfalls ist es nicht geworden. Eher eine streng formalisierte Groteske. Ein moralinsaurer Abgesang auf die Blindheit der Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück rennen.

Thalheimer bleibt sich, auch am neuen Theater, treu und macht das, was er immer macht: Er entkernt den Text, bis nur noch ein ein dürres Handlungsgerippe übrig bleibt, reduziert die Menschen auf stilisiert wirkende Macken und Marotten, sperrt die Figuren – mit Hilfe seines Bühnenbildners Olaf Altmann – in ein enges Gefängnis. Ob der von allen guten Geistern und jeder Vernunft verlassene Orgon (Ingo Hülsmann), ob seine um Haus und Hof fürchtende, aber einem Seitensprung nicht abgeneigte Frau Emire (Regine Zimmermann) oder der sich mit ausgeleierten Phrasen und billiger Anmache einschleimende Tartuffe (Lars Eidinger): Sie alle müssen sich durch einen kleinen Spalt in den karg möblierten Bühnen-Schrein zwängen.

Lustig ist das nicht. Genauso wenig wie die seltsamen Grimassen, Verrenkungen und Schreiattacken, von denen Tochter Marian (Luise Wolfram), ihr Verlobter Valère (Tilman Strauß) und der Gerichtsvollzieher (Urs Jucker) heimgesucht werden. Einzig Judith Engel als gelangweiltes Hausmädchen Dorine verbreitet als Unheil verkündende Kassandra eine Komik des Schreckens.

Längst bevor die falsche Fassade einstürzt, liegen alle Lügen und alle Wahrheiten offen zutage. Atmosphärische Verdichtung erzeugt allein noch die enervierende Musik: eine schauderhaft-schöne Collage aus schwer dröhnenden sakralen Orgelklängen und metallisch klirrenden Gitarrenriffs. Das bleibt noch lange im Ohr. So wie die zur rotierenden Waschmaschine werdende Bühne sich ins Theater-Gedächtnis einschreiben wird. Aber sonst? Viel Lärm um nichts.

Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153. Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar 2014. Karten unter 030/890023 oder ticket@schaubuehne.de




Radikaler Neuenfels-Abend in Frankfurt: „Oedipe“ von Georges Enescu

Mythos und Politik, Tragisches und Heiteres. In der Frankfurter Oper spielen derzeit Stoffe aus der Antike eine beachtliche Rolle: Ezio und Oedipus, Daphne und Dido, dazwischen Ariadne und bald Danae und Orpheus. Ein weit gefasstes Spektrum, aus dem Georges Enescus „Oedipe“ herausleuchtet. Eine Oper, die seit ihrer Uraufführung 1936 eine ewige Anwartschaft aufs Repertoire einzulösen versucht. 2006 schien in Bielefeld Nicolas Broadhurst mit einer vielschichtigen Inszenierung einen Anstoß zu gelingen: vergeblich. Jetzt hat sich Frankfurt wieder auf den Solitär des rumänischen Komponisten besonnen und kein Geringerer als Hans Neuenfels gibt den Ausgräber.

Den eigensinnigen Altmeister des Regietheaters interessiert die Radikalität des Mythos. Er will ihn weder aktualisieren noch in antiker Form belassen. Er will ihn „an uns heranziehen“. Und wie in seiner legendären Frankfurter „Aida“ von 1981 lässt er einen Archäologen in die mythische Zeit eintauchen und sich auf die Suche nach seinem Selbst begeben. Bevor Oedipus aus einem goldstrahlenden Ei geboren wird, streift dieser Mensch auf der Bühne Rifail Ajdarpasics durch unterirdische Grüfte aus Schiefertafel-Mauern, dicht beschrieben mit Formeln, Zahlen, Zeichen. Weltwissen, das vor der Dynamik des Mythischen verblasst.

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Wir lassen mit Neuenfels die Deuter hinter uns: keine Altertumswissenschaft, kein Freud, auch keine Religion. Die Frage ist die nach der Freiheit des Menschen, die der Ödipus-Mythos radikal verneint. Die Sphinx sagt es schmerzhaft deutlich: Selbst die Götter sind Gefang’ne des Geschicks. Die Antwort Ödipus‘ auf das Rätsel, was größer sei als das Geschick, lautet: der Mensch. Doch die sterbende Sphinx nimmt das Geheimnis mit, ob sie geschlagen sei oder gesiegt habe. Neuenfels lässt sie mit – verzweifeltem oder wissendem? – Gelächter sterben. Und er greift die Ungewissheit auf, wenn er – eines seiner beliebten Regiemittel – am Ende auf die Bühne projizieren lässt: „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“.

Für dieses Ende nimmt Neuenfels schwere Eingriffe in Enescus Stückanlage vor, akzeptiert Dirigent Alexander Liebreich einen musikalischen Blutsturz. Beinahe die Hälfte des Originals sind gestrichen, neben wichtigen Szenen vor allem der gesamte vierte Akt: Die vermeintlich christliche Schilderung von Erlösung bedrohe die Radikalität des Mythos, meint Neuenfels im Interview im Programmheft. Er übersieht dabei, dass die Fatalität des Oedipus-Mythos an sich schon mit den Begriffen von Freiheit und Erlösung im Christentum in denkbar schärfstem Gegensatz steht.

Aber Lösungen sind ja von vorneherein (ideologie-)verdächtig, und so triumphiert die Verweigerung. Am Ende lässt sich Oedipus mit blutverschmierten, riesigen Augenhöhlen wegführen. Und Neuenfels bleibt uns bei aller Regiekunst, die sich vor allem in einer unfehlbaren Personenführung offenbart, die Antwort schuldig, warum es ausgerechnet die Oedipus-Adaption Enescus sein muss, mit der er seinen Fundamental-Fatalismus ausbreitet.

Man hat den Eindruck, diese Frage stellt sich auch Alexander Liebreich im Angesicht einer Partitur, zu der er offenbar mehr kritische Distanz als Zuneigung gewonnen hat: Mit der zwischen spätromantischer Fülle und neosachlichen Konturen, zwischen Detailfinesse und dem Atem großer Aufschwünge changierenden Musik Enescus geht er mit wenig mehr als kühler Genauigkeit um. In den kammermusikalischen Momenten zeigt das Frankfurter Orchester wie stets viel Kompetenz, aber die rauchig-herben, schimmernd exquisiten, sattfarbig fließenden Klangmixturen bleiben spröde, wirken nicht einmal analytisch, sondern nur ihrer sinnlichen Raffinesse harsch entkleidet.

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Unter den Sängern brillieren die Frankfurter Damen des Ensembles wie Katharina Magiera als betörend schillernde Sphinx, Jenny Carlstedt als warmstimmige Merope, Tanja Ariane Baumgartner als entschieden-klangvoll singende Jokaste. Polternd-angestrengt tönen die drohenden Weissagungen des Tiresias: Magnús Baldvinsson intoniert sie als schmutziger Greis, in einem Laufkäfig gefangen. Dietrich Volle setzt seine schöne Stimme charakterisierend ein, wenn er den alerten politischen Aufsteiger Kreon vokal geschmeidig gestaltet.

Auch der Hirte (Michael McCown), der Hohepriester (Vuyani Mlinde), Phorbas (Kihwan Sim), der Wächter (Andreas Bauer) und der grobschlächtige, seinen Sohn mit Urin aus einem königlichen Penis beschmutzende Hans-Jürgen Lazar als König Laios – ohne einen solchen Prügel scheint es bei Neuenfels auch nicht mehr zu gehen – profitieren von der ausgefeilten Personenregie und ihrem stimmlichen Gestaltungspotenzial.

Simon Neal setzt sich mit fesselnder Ausstrahlung und der authentischen inneren Kraft eines großen Darstellers für die Riesenpartie des Oedipus ein; stimmlich opfert er zu heftig dem Drang zu rüder, vermeintlich expressiver Klangbildung. Der Chor hatte Glück: Durch die Kürzungen blieben ihm nur Reste, die er, einstudiert durch Matthias Köhler, mit überzeugender klanglicher Façon realisiert. Ein kühner Neuenfels-Abend, zu dem Enescu eine Vorlage geliefert hat, die man demnächst gerne an einem anderen Haus in ungefleddertem Zustand wiederhören möchte.

Weitere Aufführungen von „Oedipe“ am 3. und 5. Januar 2014.

Die nächste Frankfurter Produktion mit Antiken-Bezug – und gleichzeitig ein weiterer Beitrag zum Strauss-Jahr 2014: Wiederaufnahme von „Daphne“ am 28. Februar, inszeniert von Klaus Guth und mit Stefan Blunier, dem GMD der Oper Bonn, am Pult.