Revolution und Esprit: Mitsuko Uchida spielt und erklärt Beethovens Diabelli-Variationen

Uchida2_Decca_Justin_Pumfrey_sml„Ach, ich könnte Ihnen stundenlang etwas erzählen“! Ja, die japanische Pianistin Mitsuko Uchida, die in Wien aufwuchs, dort ihre Karriere begann und inzwischen längst eine Meistersolistin ist, hat den Kopf voller Worte. Die ihr nur so heraussprudeln, ganz unbändig, sodass sie immer wieder die Ordnung der Gedanken nahezu erzwingen muss. Ihre so lustvoll bewältigte Last ist aber zugleich des Publikums Freude. Das lauscht in Essens Philharmonie so amüsiert wie konzentriert den Ausführungen Uchidas zu Beethovens Diabelli-Variationen.

„Piano Lecture“ nennen die Veranstalter dieses Format. Berühmte Solisten spielen nicht nur ihr Programm, sondern erläutern es auch. Dabei bleibt es den Klavier-Künstlern selbst überlassen, wie sie diesen Abend zwischen musikalischer und verbaler Interpretation gestalten. Uchida wählt, wohl aus Gründen der besseren Konzentration, den Weg, das klingende Werk vor die Erläuterungen zu stellen.

Ludwig van Beethoven vollendete die 33 Variationen über ein Thema Anton Diabellis 1823, da waren die letzten drei großen Sonaten bereits komponiert. Skizzen reichen indes auf das Jahr 1819 zurück. Der Dirigent und Pianist Hans von Bülow nannte die Variationen einen Mikrokosmos des Beethovenschen Genius. Tatsächlich findet sich in diesem gut 50 Minuten langen Werk des Meisters revolutionärer Geist, zarteste Empfindsamkeit und ironisches Augenzwinkern aufs Schönste gespiegelt. Verbunden mit klingenden Verbeugungen vor Johann Sebastian Bach und Mozart.

Uchidas Zugang konzentriert sich entsprechend darauf, die Variationen in ihrem jeweiligen Charakter zu erfassen, mit variablem Anschlag, Leidenschaft und Kraft, mit Sinn für die Reflexion des Poetischen. Das gelingt ihr zunächst nur bedingt, die Pianistin wirkt ein wenig verkrampft, wenn sie auf Beethovens Unerbittlichkeit pocht und Spannungsverläufe hervorheben will. Doch mehr und mehr reichert Uchida ihre Deutung mit Klangnuancen, variabler Gestaltung oder quirliger Virtuosität (ganz ohne Attitüde) an. Sie dringt in Tiefen vor, im Stile einer philosophische Reflexion.

Später sagt sie: „Beethoven wollte mit jeder Note die Welt ändern“, oder „Die letzte Variation, Tempo di minuetto moderato, ist die Weisheit selbst“. So pendelt diese „Piano Lecture“ zwischen dem Ernst des Musizierens und dem Überschwang des Erklärens. Erhabenes dort, Esprit hier – das Publikum applaudiert begeistert.

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Die nächste „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie gestaltet die französische Pianistin Lise de la Salle am 16. Februar 2014 (Sonntag, 11 Uhr). Thema sind die 24 Préludes von Frédéric Chopin.

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Schuljahre mit Schweinepünktchen

Es ist schon ein paar Tage her, wir müssen etwa elf Jahre alt gewesen sein. Sextaner oder Quintaner, wie das damals hieß. Unser ziemlich langer Schulweg führte am altehrwürdigen Dortmunder Stadion Rote Erde („Kampfbahn“) vorbei – zum Max-Planck-Gymnasium an der Ardeystraße.

Auf den Rückwegen ins Kreuzviertel gab es ein Ritual, das Klaus (mein alter Freund seit Grundschultagen, der Himmel hab’ ihn selig) und ich sehr ernst genommen haben, als wären wir beim Statistischen Bundesamt. Ich rede von dem, was wir liebevoll „Schweinepünktchen“ nannten!

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Ihr fragt, was das denn gewesen sei? Ich will es euch sagen.

Durchaus gewissenhaft

Nicht völlig unparteiisch, jedoch durchaus gewissenhaft führten wir eine Liste der Lehrer, die sich tagsüber bei uns besonders unbeliebt gemacht hatten. Lebhaft debattierten wir über die Punktvergabe und kürten so – bestens begründet, wie wir fanden – das Schwein des Tages, addierten die ermittelten Werte zur Wahl des Schweins der Woche und riefen schließlich feierlich auch ein Schwein des Monats und des Jahres aus. Irgendwie musste man ja den Schulfrust bewältigen.

Ich kann mich natürlich nicht mehr Wort für Wort erinnern. In den besten Momenten müssen es allerdings veritable Rezensionen der aktuellen Lehrerauftritte gewesen sein, Theaterkritiken mithin, insofern auch kleine Vorübungen fürs wahre Leben, vermutlich nachhaltiger als so manche Deutschstunde. Und so mancher Befund hätte vielleicht als Grundlage eines Gutachtens für den Schulrat dienen können. Schon Bert Brecht hat geschrieben, die wahre Aufgabe eines Lehrers sei nicht die Stoffvermittlung, sondern die, sich vor den Schülern auszuleben. Wir haben es erlitten.

Pädagogisches Symposium

Hin und wieder schlossen sich Mitschüler unserer Debatte an, mit denen wir einen Teil des Weges gemeinsam hatten. Dann wurde es geradezu ein Symposium über Aspekte der Pädagogik und Psychologie; unter besonderer Berücksichtigung des Schülerinteresses, versteht sich.

Es war eine Zeit, in der man es noch nicht gewagt hat, einem Lehrer mit offener Kritik entgegenzutreten. Auch standen damals die allermeisten Eltern – ganz anders als heute – im Konfliktfalle prinzipiell auf Seiten der Lehrer. Man musste sich anders behelfen, musste gleichsam sublimieren.

Warum ich mich gerade jetzt daran erinnere? In letzter Zeit habe ich bei diversen Anlässen erwogen, die Schweinepünktchen unverzüglich wieder einzuführen. Derzeit führt unangefochten ein Notar die Liste an, über den ich natürlich keine weiteren Andeutungen machen will. Er möge allerdings schleunigst zur Hölle fahren. Seine vielen Pünktchen darf er mitnehmen.