Ja, das Schreiben und das Lesen…

Seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten – ach, eigentlich immer schon, seit es Schriftzeichen gibt – wird um den Bestand der Lese- und Schreibkultur gebangt. Zugegeben: Man bangt ja auch gerne mit.

Aber: Es ist auch schon eine Binsenweisheit, dass – allen Bilderfluten zum Trotz – das Internet eine neue Verschriftlichtung mit sich bringt. Früher war die Schwelle zum Schreiben und vor allem zum freimütigen Herzeigen des Geschriebenen bedeutend höher. Doch nun darf jede(r) ‚ran, auch wenn sämtliche Balken der Rechtschreibung und Sinngebung sich biegen. Manche feiern das als Zeichen der Demokratisierung und wollen alles, alles gelten lassen. Jeder Mumpitz speichert und versendet sich, ob gesimst, im Netzwerk, im Chat oder sonstwo. Herrje!

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Und die Lesekultur, wenn wir denn großzügig von „Kultur“ reden wollen? Hat sich natürlich längst vom Papier gelöst. Beim Urlaub auf einer südlichen Insel ist es mir jetzt abermals aufgefallen, deutlicher denn je: Die Zahl der elektronischen Lesegeräte übersteigt inzwischen an den Stränden die der herkömmlichen Bücher. Da kalauerte mir durch den Kopf, es gebe entlang der Küstenlinie mehr Kindles als Kinder. Hehe, Hauptgag! Tä-tääää!

Gut, manchmal muss jemand sein ach so schickes Apparätchen schwenken und schwenken, bis das Sonnenlicht nicht mehr blendet. Aber dafür flattert auch nichts im Winde. Außerdem kann diese Jemandin theoretisch fünfzig Romane mit sich führen – praktisch ohne Mehrgepäck; während Unsereiner schleppt und ächzt.

Derlei Vorteile könnten einen fast zum Umstieg bewegen. Doch wenn ich dann diese lässigen Wischbewegungen sehe, die das Umblättern simulieren sollen! Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass man auf diese Weise mit solch heißem Herzen liest wie ehedem. Aus dem schier atemlosen Leser von einst wird ein Achwasweißich. Ein Seitenwichser. Ach, da habe ich mich doch glatt vertippt. Egal. Ist doch eh alles wurscht.




„Menschheitsdämmerung“ – die Bochumer Symphoniker erinnern vielfältig an 1914

Georg Heym gilt als Begründer der expressionistischen Lyrik.

Georg Heym gilt als Begründer der frühen expressionistischen Lyrik. 1911 verfasste er die wichtigen Gedichtsammlungen „Die Stadt“ und „Der Krieg“.

1914 – Das Gedenken an einen der markantesten Punkte der deutschen/europäischen Geschichte, von manchen als Ur-Katastrophe des Kontinents bezeichnet, ist vielfältig. Das Jahr, in dem der 1. Weltkrieg ausbrach, und heuer ein Zentenarium zurückliegt, haben Historiker und andere Geisteswissenschaftler zum Anlass genommen, um in Buchform erneut auf die Ereignisse zu blicken – sei es in Form einer Gesamtschau oder in der Fokussierung auf Einzelaspekte. Zahlreiche Museen, auch und besonders in Nordrhein-Westfalen, wollen das Interesse ebenfalls wecken – mit zahlreichen Dokumenten oder Zeugnissen der Kunst jener Zeit.

Vom Allgemeinen zum Besonderen: Die Bochumer Symphoniker haben einen Reigen namens „Endspiel“ aufgelegt – Konzerte, Musiktheatralisches, Lesungen und ausgewählte Bildbetrachtungen (in Kooperation mit dem Museum Bochum) sollen nicht zuletzt auf die Verflechtung der Künste in der Vorkriegszeit hinweisen. Das Schlüsselwort ist der Expressionismus, der in der Literatur die Einsamkeit des Menschen im Moloch Großstadt anprangert, dann wieder jubilierend vom Aufbruch in bessere Zeiten schwärmt, oder in aller Düsternis die Schrecken des „großen Krieges“ vorausahnt. In der Musik wiederum entsteht eine Gegenbewegung zu Romantik und Impressionismus – Arnold Schönberg und die „2. Wiener Schule“ lösten sich von alten tonalen Strukturen, beschworen den Ausdruck als wirkmächtigstes Merkmal einer Komposition.

Exemplarisch blicken die Bochumer Symphoniker in einer gesonderten, vierteiligen Reihe auf dieses Wechselspiel von Dichtung (Textauswahl: Werner Streletz) und Musik . Der Titel „Menschheitsdämmerung“ verweist auf das Endzeitdenken vieler Autoren jener Jahre, und der erste Abend, „Verfall und Aufbruch“ überschrieben, zeugt von Ambivalenz: hier die Hoffnung auf neue Ufer, dort Resignation bis hin zur Todessehnsucht. Veronika Nickl und Martin Bretschneider vom Bochumer Schauspiel lesen die Lyrik von Georg Trakl, August Stramm, Ernst Wilhelm Lotz oder Georg Heym eindringlich, ohne ins falsche Pathos zu verfallen. Und wenn Lotz’ Gedicht „Aufbruch der Jugend“ in flammenden Worten vom Wegfegen der Alten, von leuchtenden neuen Welten spricht, und Martin Bretschneider dann fast nüchtern feststellt, Lotz sei im Alter von 24 Jahren in den Schützengräben des 1. Weltkriegs umgekommen, dann wird die grausige Tragik jener Zeit beklemmend greifbar.

Gelesen und musiziert – es spielt das heimische Streichquartett „Bermuda4“ – wird im Bochumer Wassersaal. Gut 160 Menschen hören zu. Der Raum, mit seinen halbrunden Bögen wie ein Gewölbe wirkend, weist erstaunliche akustische Qualität auf. Das Quartett – mit Raphael Christ und Katrin Spodzieja (1./2. Violine), Marko Genero (Bratsche) und Wolfgang Sellner (Cello) – klingt noch in den zartesten Strukturen von Anton Weberns Bagatellen op. 9 sehr präsent. Die aphoristische, spieltechnisch komplexe, fragile Musik des Schönberg-Schülers ist in ihrem Wechsel zwischen Aufbäumen und Ersterben sinnfällige Ergänzung zur expressionistischen Lyrik.

Frühe Werke Weberns wiederum – „Langsamer Satz“ (1905) und Rondo (1906) – verweist in ihrem dunklen, elegischen Tonfall sogar noch auf Johannes Brahms. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass „Bermuda4“ zum Ausklang dessen 2. Quartett spielt. Mit eindringlicher, teils großer Geste wird die bisweilen fiebrige Musik interpretiert, so ernst und kernig wie strahlend, wenn auch mit wenigen Problemen in der Tongebung.

Die weiteren Termine der Reihe „Menschheitsdämmerung“ sind der 11. und 25. Mai sowie der 22. Juni (Beginn jeweils 19 Uhr).




Die Anfänge eines kunstvollen Scheiterns – Samuel Becketts Briefe 1929–1940

Kaum jemand hat das Scheitern so gekonnt zu seinem Markenzeichen gemacht wie Samuel Beckett. „Wieder scheitern. Besser scheitern“, heißt es in Worstward Ho (Aufs Schlimmste zu; 1983). Die Anfänge des großen Prosaisten, Lyrikers und Dramatikers, der seine Bühnenfiguren in Mülltonnen steckte oder bis zum Hals in einem Erdhügel vergrub, der in seiner Romantrilogie systematisch den Erzähler abschaffte und vor dessen vernichtendem Denken sich kaum eine literarische Gattung retten konnte, die Anfänge sind inzwischen als autobiographische Zeugnisse in Form von Briefen nachlesbar.

Beckett hatte vor seinem Tod im Jahr 1989 verfügt, dass nur solche Briefe veröffentlicht werden dürfen, die für sein Schaffen von Belang sind. Nach und nach entdeckte die Beckett-Forschung, in welchem Maße sich der Autor – wenn auch teilweise bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt – aus Erlebtem bedient hat. Erben und Herausgeber einigten sich auf die Publikation von 2.500 der ca. 15.000 bekannten Briefe, verteilt auf vier Bände.

Der erste Band, 2009 in England und im vorigen Jahr in einer gelungenen Übertragung von Chris Hirte auf Deutsch erschienen, umfasst den Zeitraum 1929–1940. In diese zwölf Jahre fallen mehrere Veröffentlichungen, die den späteren Literatur-Nobelpreisträger allerdings noch nicht berühmt machten – das sollte sich auch für weitere zwölf Jahre bis zu Warten auf Godot, das im Januar 1953 uraufgeführt wurde, nicht ändern.

Da wäre zunächst Whoroscope – ein Langgedicht, mit dem der Vierundzwanzigjährige seinen ersten Literaturpreis gewonnen hat und das sich all denen nicht vollständig erschließen kann, die zum Beispiel nicht dieselbe Descartes-Biographie wie Beckett gelesen haben.

Sein Essay Proust (1931) verkaufte sich akzeptabel; eine weitere von Beckett vorgeschlagene Monographie zu André Gide aber wollte der Verleger nicht folgen lassen.

Für seinen ersten fertiggestellten Roman, Dream of Fair to Middling Women, fand Beckett keinen Verleger – nicht zu seinem Schaden. Der frühe Romanversuch, den Beckett später als „unreif und unwürdig“ bezeichnen und nicht mehr zur Veröffentlichung freigeben würde, enthält mehrere akademisch verbildete oder in Joyce’scher Manier strapaziöse Passagen. Zugleich verrät Beckett darin ungeschützt biographische Details, die auch seine Jugendlieben in unvorteilhafter Weise erscheinen lassen. Das Werk diente jedoch als Steinbruch für den 1934 veröffentlichten Band mit Erzählungen, More Pricks Than Kicks (in deutscher Übersetzung: Mehr Prügel als Flügel).

Es folgte 1935 unter dem Titel Echo’s Bones and Other Precipitates ein Band mit Gedichten, deren Urfassungen Beckett teilweise als Anlagen mit seinen Briefen versandt hat und die in die vorliegende, gut kommentierte, Ausgabe aufgenommen wurden.

Schließlich Murphy, der Roman, der nach zweiundvierzig Ablehnungen im Jahr 1938 endlich bei im Londoner Verlag Routledge erscheint, was Beckett zu dem Zeitpunkt beinah schon gleichgültig zur Kenntnis nimmt. Murphy gilt zu Recht als geniales Frühwerk, nicht zuletzt aufgrund der dort wiedergegebenen Notation einer Schachpartie, die Becketts Denken vielleicht im Kern zutreffender charakterisiert als viele Worte. Jedoch hatte Beckett darin noch nicht zu seinem minimalistischen Stil gefunden, in den er sich im Lauf seines Lebens zunehmend, besser gesagt: abnehmend, hineinschreiben wird.

In den Briefen rund um die mühselige Verlagssuche tauchen bereits die resignierten, lakonischen, selbstironischen Töne auf, für die man Beckett später verehren wird.

„Du weißt, dass ich überhaupt nicht schreiben kann. Der einfachste Satz ist schon Folter“ – am 25. Januar 1931 an Thomas McGreevy. Weiter am 8. November desselben Jahres: „Schreiben kann ich überhaupt nicht, mir nicht mal die Umrisse eines Satzes vorstellen oder Notizen machen“ (ebenfalls an McGreevy). Schließlich, im August 1932: „Zu schreiben habe ich gar nicht erst versucht. Schon der Gedanke ans Schreiben scheint mir irgendwie lächerlich.“ Oder noch genereller an seine Tante Cissie: „Arbeiten kann ich nicht. Einen Monat schon gebe ich mir nicht mal den Anschein von Arbeit“ (14. August 1937).

Was wüssten wir über Samuel Beckett, wäre da nicht der Freund? „Ich hätte niemals einen so detaillierten und auf Tatsachen gestützten Bericht über Becketts Leben, Gedanken und Ideen schreiben können, hätten mir nicht seine Briefe an McGreevy zur Verfügung gestanden“, berichtet seine erste Biographin, Deirdre Bair.

Der dreizehn Jahre ältere Thomas McGreevy war Becketts Vorgänger als Englisch-Lektor an der École Normale Supérieure in Paris. Als Beckett ihn 1928 auf dieser Stelle ablöste, blieb McGreevy zunächst in der französischen Hauptstadt, machte Beckett u. a. mit James Joyce und seinem Umfeld, später mit dem Maler Jack B. Yeats und dem Verleger Charles Prentice (Teilhaber von Chatto and Windus) bekannt; er ermunterte ihn zu dem Essay über Marcel Proust und entfachte seine Begeisterung für bildende Kunst. In ihrer jeweiligen Haltung zu Irland allerdings gab es zwischen den beiden erhebliche Differenzen; die irisch-katholische Vaterlandsliebe seines älteren Freundes konnte Beckett nicht nachvollziehen.

Einzelne Textstellen aus den mehr als dreihundert erhaltenen Briefen an Thomas McGreevy übernahm Beckett in seine Prosatexte und Stücke. In die Korrespondenz investierte er mitunter mehr Zeit als in sein – im engeren Sinne – literarisches Schreiben. Obgleich auch die Briefe nicht ohne literarische Finessen sind. Der deutsche Titel des ersten Bands der Briefausgabe, „Weitermachen ist mehr, als ich tun kann“, ist ein Zitat aus einem Brief vom 26. März 1937 an seinen ehemaligen Studienkollegen vom Trinity College Dublin, Arland Ussher.

Das Schreiben schien ihm aber damals noch keine Notwendigkeit gewesen zu sein, anders als ab 1942, als er sich mit seiner späteren Frau Suzanne – beide waren für die Résistance tätig – im südfranzösichen Roussillon (Vaucluse) vor den Nazis versteckte.

Noch 1937 teilt er McGreevy mit: „es ist weiß Gott nicht so, dass ich jemals gewünscht hätte, mein Leben mit Schreiben zu verbringen.“ Er bewarb sich um eine Dozentur für Italienisch an der Universität Kapstadt („Mir ist wirklich gleichgültig, wohin ich gehe oder was ich tue“). Zeitweise liebäugelte er auch mit der Vorstellung, Pilot zu werden. Ein Praktikum beim Film scheiterte – Sergei Eisenstein reagierte nicht auf seine Bewerbung. Über Nino Frank, den er auf einer Party bei den Joyces trifft, meint er: „Er kann mich hier mit Filmleuten in Kontakt bringen, falls ich überhaupt jemals noch mit jemandem Kontakt haben will“ (am 11. Februar 1939 an McGreevy).

Ein wichtiges Thema in den Briefen, über das zu sprechen Beckett in späteren Interviews rigoros ablehnte, betrifft das gespannte Verhältnis zu seiner Mutter. Immerhin zahlte sie ihm eine Psychotherapie in London, die nur das Ziel haben konnte, den Sohn von der Mutter zu heilen. Beckett, der sich in London auch einen Vortrag von C. G. Jung anhörte, berichtet dem Freund über die fragwürdigen Erfolge der zahlreichen Sitzungen mit seinem Arzt Wilfred Ruprecht Bion.

Letztlich aber half nur die räumliche Distanz vom Elternhaus in dem gepflegten Dubliner Vorort Foxrock. In Paris hielt er sich von 1928 bis 1930 und dann kontinuierlich ab 1937 auf, in London während der langwierigen Therapie 1934/1935 und oftmals zu verschiedenen Besuchen bei Freunden. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Briefwechsels spiegelt seine frühen Deutschlandreisen wider, zunächst in den Jahren 1928/1929 von Paris aus nach Kassel zu seiner damaligen Geliebten Peggy Sinclair, die zugleich seine Cousine war und deren fehlerhaftes Englisch er in Traum von mehr bis minder schönen Frauen (übernommen auch in den Band mit Erzählungen, Mehr Prügel als Flügel) festhält. Dann die halbjährige Deutschlandreise 1936/1937 mit ausgiebigen Besuchen in Kunstmuseen, was ihm zur Vorbereitung einer Karriere als Kurator (die er nie beginnen sollte) ein willkommener Vorwand war, seiner ihn vereinnahmenden Mutter zu entfliehen. Beckett lernt in Deutschland viele Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb kennen und erlebt mit, wie sogenannte „entartete“ Kunst in den Kellern verschwindet, Museumsleiter oder Kunsthistoriker von ihren Posten suspendiert, Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft diskriminiert werden.

In München sah und bewunderte er Karl Valentin – „Komiker allererster Sorte, aber vielleicht gerade am Beginn seines Niedergangs“, wie er am 30. März 1937 an Günter Albrecht schreibt. Durch Albrecht lernte er den späteren Rowohlt-Lektor Axel Kaun kennen, der ihm Gedichtbände von Joachim Ringelnatz zur Übersetzung ins Englische antrug („meiner Ansicht nach nicht der Mühe wert“ – 9. Juli 1937). Der Hamburger Teil der „German Diaries“ wurde 2003 in einer bibliophilen Ausgabe veröffentlicht.

An illustren Namen unter den Briefempfängern oder in den Briefen auftauchenden Personen fehlt es nicht. Da wäre zuallererst das frühe Vorbild James Joyce, der in Beckett seinen talentiertesten Assistenten fand, der aber auch als Erster an Becketts Krankenbett erschien, nachdem dieser bei einer Messerstecherei lebensbedrohlich verletzt worden war.

Mit der Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, die er auf James Joyces Geburtstag 1938 kennenlernte, verband Beckett vom selben Abend an eine Liaison. Sehr hilfreich sind im Anhang die Kurzporträts der wesentlichsten Briefempfänger und mehrerer in den Briefen genannter Personen. Durch die Briefausgabe gewinnen wir auch Einblicke in Becketts frühe Lektüre: Dante, Samuel Johnson, Sade, Schopenhauer, Gontscharows „Oblomow“, die Surrealisten Paul Éluard und André Breton, in Deutschland auch (auf Empfehlung eines Freunds) Hans Carossa.

Der letzte Brief in Band 1 datiert vom 10. Juni 1940, einem Montag. Für den Freitag derselben Woche möchte er sich mit dem Malerfreund Bram van Velde zu einer Partie Billard im Café des Sports verabreden – „All das unter der Voraussetzung, dass wir in Paris bleiben.“ Diese Partie musste leider auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Am 12. Juni bestieg Beckett einen der letzten Züge von der Gare de Lyon nach Vichy, wo die Joyces sich aufhielten“, wie wir durch seine Biographin Deirdre Bair erfahren – „Seine Papiere waren nicht in Ordnung, und Geld hatte er auch keines (…). Er wusste, dass er in Vichy nicht bleiben konnte, denn die Stadt füllte sich zusehends mit Regierungsbeamten, die nach der Besetzung von Paris und dem Fall Frankreichs hier eine neue Regierung aufbauen sollten. (…) Am 13. Juni machte Beckett sich zu Fuß gen Süden auf, fand jedoch bald einen Zug, der hoffnungslos verspätet war und nur sehr langsam vorankam. Beckett zwängte sich hinein, hockte sich in eine Ecke und schaffte es auf diese Weise bis nach Toulouse. Ehe der Zug die Stadt erreichte, sprang Beckett ab und entging damit der Internierung von Ausländern in einem Flüchtlingslager.“ (Deirdre Bair: Samuel Beckett, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 393)

Becketts O-Ton zu den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1941–1956 liegt seit dem September 2011 als Band 2 der englischen Briefausgabe vor. Die deutsche Übersetzung erwarten wir mit Ungeduld.

Cover Beckett Briefe 1929 bis 1940

 

Samuel Beckett:
Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929–1940
Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck
Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte
Mit zahlreichen Abbildungen
Frankfurt a. Main (Suhrkamp), 2013
Gebunden, 856 Seiten, D: 39,95 €
ISBN: 978-3-518-42298-4




Spinxen erlaubt: das Dortmunder Ballett probt „G’schichten aus dem Wiener Wald“

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als "Der Tod". Foto: Bettina Stöß

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als „Der Tod“, mit Untoten. Foto: Bettina Stöß

Theaterproben anschauen, das Unfertige also beäugen, um daraus möglicherweise zu schließen, wie denn die komplett erarbeitete Produktion einmal aussehen wird, hat etwas von der Eigenart, dem Koch in die Töpfe zu gucken. Da brodelt oder brutzelt etwas, und vielleicht wird’s ja eine gute Suppe oder ein saftiges Steak.

Das Lupfen des Vorhangs, um Einblick zu gewähren, was denn passiert, bevor sich zur Premiere eben jener Vorhang hebt, hat manches Opern- oder Schauspielhaus zu seiner Maxime erhoben. Gewissermaßen als geschickter dramaturgischer Akt, das Publikum ans Theater zu binden. Und siehe: Neugierige gibt es genug. Sie wollen mehr als nur konsumieren, wissen, was dahinter steckt.

Gleichwohl existiert nach wie vor der andere Zuschauertypus, der den Premierenzauber genießen will, ohne sich in der Werkstatt bereits umgesehen zu haben. Der sich der Überraschung hingibt und der Hoffnung auf grenzenlose Faszination. Dann geht der Vorhang auf und alles ist neu. Und mancher mag sich fragen: Wie haben die das bloß gemacht?

Wie dem auch sei: Das Dortmunder Ballett hat nun einen Vorgeschmack geliefert auf die „G’schichten aus dem Wiener Wald“. Hat uns teilhaben lassen an ersten Szenenfolgen in kärglicher Kulisse, mit Musik von Johann Strauß und Alban Berg, die noch elektronisch zugespielt wird, mit der Umsetzung eines einstudierten Bewegungsvokabulars auf der großen Bühne. Das alles sieht noch derart nach Arbeitsprozess aus, dass eine Einschätzung, wie es denn wohl wird, nur eine Frage der Spekulation sein kann.

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

Andererseits, erste Gestaltungslinien werden erkennbar. Die Choreographie des Dortmunder Ballettchefs Xin Peng Wang setzt zunächst einmal auf Reduktion. Denn Ödön von Horváths Volksstück, die „G’schichten“ über die kleinen Leute des 8. Wiener Bezirks, bietet eigentlich ein üppiges Personaltableau von einsamen, unglücklichen, einfältigen, aufbegehrenden oder sich in Nostalgie flüchtenden Menschen in der Zeit des aufkeimenden Faschismus. Wang aber fokussiert sich auf nur vier Charaktere, nutzt das Corps de Ballet als eine Art kommentierenden Chor, und führt zwei neue Figuren ins Geschehen ein: den Tod und das Mädchen.

Morbide also wird’s, wenn die Geschichte Mariannes, die den gediegenen, aber langweiligen Fleischermeister Oscar heiraten soll, die sich aber dem Hallodri Alfred an den Hals wirft, der dafür seine Geliebte, die etwas derangierte Valerie sausen lässt, in Form eines großen Totentanzes aufgerollt wird. Einer alten Wiener Legende folgend, dass einmal im Jahr die Toten eine Chance haben, alles besser zu machen als im einstigen Leben. Die daran natürlich scheitern. Wie eben auch Horváths Figuren. Wie denn auch Mariannes uneheliches Kind sterben muss.

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die "G'schichten". Foto: Philip Lethen

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die „G’schichten“. Foto: Philip Lethen

Dabei wird die Frage zu beantworten sein, ob Horváths Sozialstudien, inklusive psychologischer Ausleuchtung, ihre Entsprechung in Bewegung, Gestik und Mimik finden können. Oder anders gefragt: „Sind Tanz und Musik (Strauß’ Walzer und Bergs Zwölftonklangfarbenwucht reiben sich bisweilen aufs Heftigste) in der Lage, die Atmosphäre des Horváthschen Wien einzufangen?

Das Lupfen des Vorhangs hat uns Probenatmosphäre schnuppern lassen, mehr ist kaum zu sagen. Andererseits hat die bewährte Kooperation von Ballett und Dortmunder Harenberg-Haus den Weg gewiesen zu Horváth und seiner Welt. Mit einer wunderbaren Lesung von Eva Dité (Klavierbegleitung: Ursula Schwarz), die Veza Canetti („Die gelbe Straße“) zu Wort kommen lässt – Schilderungen aus dem Wiener Arbeitermilieu, treffliche Typenzeichnungen. Und die Hertha Pauli zitiert, aus deren Buch „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ liest, speziell vom Begräbnis Ödön von Horváths. Der Schriftsteller war 1938 im Pariser Exil durch einen herabfallenden Ast erschlagen worden. „Gemütliche Bestialitäten“ heißt das Programm, und damit ist vieles gesagt.

Xing Peng Wang und seine Compagnie haben sich einiges vorgenommen. Weltliteratur in Tanz umzusetzen ist nicht neu, doch stets eine Herausforderung. Egal, ob Probenbesuch oder nicht, spannend wird’s allemal.

 

„G’schichten aus dem Wiener Wald“ erlebt seine Premiere im Dortmunder Opernhaus am 22. Februar, 19.30 Uhr. Am 22. März lädt Chefdramaturg Christian Baier im Harenberg-Haus zu einem literarischen Spaziergang durch Wien und will einiges berichten, „was die Reiseführer der Stadt (wohlweislich) verschweigen“.




Entfesselter Meister: Martin Grubinger und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Das Mahler Chamber Orchestra ist kein Kammerorchester. Nicht die Besetzungsgröße, die hundert oder mehr Köpfe umfassen kann, sondern das Selbstverständnis der Musiker spiegelt sich im Namen. Das genaue Zuhören, das aufeinander Lauschen, das sie von ihrem Gründervater und Spiritus Rector Claudio Abbado gelernt haben, ist zur prägenden Grundhaltung geworden. Die aus vielen Nationen Europas stammenden Musiker agieren mit einer Aufmerksamkeit, als spielten sie höchstens im Sextett.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, finden sich noch fast kindliche Gesichter in ihren Reihen. Es sind Mitglieder der „MCO Academy“, die am Orchesterzentrum in Dortmund auf das Leben als Berufsmusiker vorbereitet werden. Claudio Abbado hätte diese Weitergabe von Tugenden und Traditionen gewiss gefallen. Ihm, der am 20. Januar in Bologna verstarb, widmet das Mahler Chamber Orchestra jetzt seine Konzerte in Essen, Dortmund und Köln.

Der Ungar Peter Eötvös steht dabei als Komponist und Dirigent im Mittelpunkt. Sein jüngstes Werk „Speaking Drums“ für Schlagwerk und Orchester wird zum überragenden, mit tobender Begeisterung gefeierten Höhepunkt des Abends. Das mag zu gleichen Teilen an der effektvollen Komposition liegen wie auch an Widmungsträger Martin Grubinger, dem Schlagzeug-Wunder aus Salzburg. Er wird vom Publikum bereits wärmstens empfangen, als er vor Beginn der Aufführung noch einmal rasch die Anordnung der Instrumente kontrolliert.

Was dann folgt ist Rausch, Spektakel, Artistik und Ekstase. Sprache vermischt sich in „Speaking Drums“ mit Musik: Der Solist rezitiert während des Spiels lustige Nonsens-Gedichte von Sándor Weöres. Vom staunenden Stammeln über rasendes Sprech-Staccato bis zum markigen Urschrei reicht die Ausdruckspalette, die Grubinger mit nachgerade anarchischer Lust auskostet.

Worauf der sportlich wirkende 30-Jährige gerade herum trommelt, ist vollkommen egal. Ob er auf Röhrenglocken hämmert, auf Klangblöcke schlägt, am Xylophon wirbelt, die Trommel rührt, das Tamtam erdröhnen lässt oder das Fell einer Kesselpauke mit bloßen Handflächen traktiert: Alles geschieht mit einer furiosen Begeisterung, einem hundertfünfzigprozentigen Einsatz, der körperlich sichtbar ist und jede Skepsis, jeden Zweifel mit Hurra über den Haufen rennt. In Dortmund kippt unter Grubingers entfesseltem Spiel sogar ein Ständer mit Hi-Hat-Becken von der Bühne. Macht nichts, die Sequenz war zum Glück gerade sowieso zu Ende. Grubinger wirbelt weiter, Virtuose, Clown und asiatischer Kampfkunst-Meister in Personalunion.

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Beinahe wird der weitere Abend darüber zum restlichen Programm degradiert. Das ist schade, denn Eötvös und das Mahler Chamber Orchestra leisten Großes. Sie lassen in den Bläsersinfonien von Igor Strawinsky somnambule Stimmungen auf frühlingshafte Klänge treffen, die geradewegs aus dem heidnischen Russland zu kommen scheinen. Von zitternden Streicher-Tremoli durchwogt, wachsen die „Jeux“ von Claude Debussy zu raffinierter Klangpracht.

An Schmerzgrenzen führt zum Abschluss Olivier Messiaens wuchtiges Orchesterwerk „Chronochromie“. Dissonante Cluster werden in bohrender Lautstärke wiederholt. Durchaus enervierend auch das Chaos der Vogelstimmen, die von 18 Solo-Streichern intoniert werden. Aber die zugleich klare und passionierte Interpretation durch Eötvös und das Orchester machen deutlich, dass es sich bei Messiaens Werk um eine logische Fortschreibung von Debussys „Jeux“ in die Moderne handelt. Obschon vom Publikum schwächer gewürdigt, zählt auch dies zu den Wundern dieses Abends.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Kommende Höhepunkte im Konzerthaus hier )




„Republik der Wölfe“ – wie das Schauspiel Dortmund Grimm’sche Märchen massakriert

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Männer, die sich oder anderen Eingeweide herausreißen, Gliedmaßen verstümmeln. Dazu heulen die Wölfe. Ein Höllentrip ist das. Unterlegt mit teils psychedelischer oder traumverlorener, teils illustrativer, geräuschträchtiger und die Ohren malträtierender Musik. Willkommen im fiesen Brutalo-Kosmos der Grimm’schen Märchen, das Massaker ist angerichtet. Serviert im Schauspielhaus Dortmund.

Seitdem dort Kay Voges das Intendantenruder in die Hand genommen hat, darf sich das Publikum immer wieder auf allerlei Experimentelles, Skurriles, Grelles und Verstörendes einlassen. Da fügt sich die Regisseurin Claudia Bauer, die nun also Hand anlegt an ein deutsches Heiligtum, an die märchenhafte Romantik im Dunstkreis eines Mythos namens Wald, aufs Schönste ein. In dieser Mixtur aus Splatter-Movie, Spießbürger-Ambiente, sanfter Traumerzählung oder geschriener Suada bleibt kein Auge trocken.

Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, Rapunzel – wer kennt sie nicht, die „Heldinnen“ von Jacob und Wilhelm Grimm, die gewiss allerlei Gemeinheiten, Eifersuchtsszenen, Bedrohungen oder Anschläge aufs Leben erleiden und erdulden müssen, die am Ende aber doch ihren Prinzen finden, glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben … „und wenn sie nicht gestorben sind…“. Wer aber weiß die Gedichte zu benennen, die die amerikanische Autorin Anne Sexton unter dem Titel „Transformation“ geschrieben hat, als Adaption eben jener Märchen? Die Wert legt auf die kriminelle Energie der Figuren, auf drastische Schilderung von Verhältnissen und auf das von Pessimismus durchtränkte Fazit, dass Happy Ends gänzlich unangebracht sind?

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Nun, in Dortmund ist’s zu erleben. Vor allem mit Hilfe der Macht der Bilder. Mit überdrehten, überzeichneten Figuren, sich teils gruselig, dann wieder sanft bewegend. So sind Traum und Trauma im romantisch-modernen Textgemenge nah beieinander. Wer aber die Hintergründe nicht kennt – Anne Sextons Psychosen, ihre Versuche, Lyrik als Therapie einzusetzen, letzthin der Selbstmord (nach zwei Suizidversuchen) –, dürfte wohl etwas ratlos das Theater verlassen.

„Hüte Dich“ wird oftmals geraunt. „Mehr Raum“ schreit’s am Beginn von „Hänsel und Gretel“. Ein Blick auf die altbacken eingerichteten, miefigen, hübsch hässlichen Zimmerchen,  die Ausstatter Andreas Auerbach als zweigeschossigen Loft auf die Drehbühne gewuchtet hat, reicht, um verständnisvoll zu nicken. An diesen Orten des Grauens vergeht sich der Froschkönig an der Prinzessin, verblutet das Rumpelstilzchen, müssen sich die Stiefschwestern Aschenputtels die Füße abtrennen lassen.

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

„Republik der Wölfe“ ist diese Abfolge von Schändlichkeiten übertitelt. Jaja, der Wolf ist in die Deutschen Wälder zurückgekehrt. Und dass der Mensch in gewisser Hinsicht des Menschen Wolf sei, propagierte schon Thomas Hobbes. Daran scheint Regisseurin Claudia Bauer anzuknüpfen. Wenn auch manche drastische Szene im zirkulierenden Horrorhaus einen Hauch von Geisterbahnatmosphäre ausstrahlt, zeigt doch die dunkle Seite der Romantik wirkmächtig ihr grausiges Gesicht. Wenn aber ausgerechnet der böse Wolf, nachdem er die Großmutter gemeuchelt hat und in ihre Kleider geschlüpft ist, von Rotkäppchen aufs Schärfste verführt wird, dann scheint die Regie einem Augenzwinkern nicht widerstehen zu wollen.

Doch im Grunde sind die Dinge, die hier verhandelt werden, von ernster Art, das Böse lauert immer und überall, es gibt kein Entrinnen. Sinnbildlich dafür steht das Ringen der Grimm-Brüder um den rechten Verlauf jeder Geschichte. Wie siamesische Zwillinge kleben die beiden aneinander. Wilhelm sagt: „Jacob, Du kannst nicht alle Märchen gut ausgehen lassen“ (ganz im Sinne von Anne Sexton). Der Angesprochene aber will sich lösen, der Wald soll ihn das wirkliche Leben lehren.

Am Ende des gut 100-minütigen Spektakels aber ist der Fokus ganz auf die somnambul wirkende Schauspielerin Eva Verena Müller gerichtet. Die anfangs mit großen, ängstlichen Augen uns anblickt, als Schneewittchen in anmutigen Todesschlaf sinkt, als Dornröschen aufwacht, nicht weiß, ob sie in der Wirklichkeit angekommen ist. „Ich würde so gerne etwas erleben“, sagt sie, begleitet von sanften, melancholischen Klängen.

Das macht die Band, die sich passend zum Stück „The Ministry of Wolves“ nennt, ganz vorzüglich. Paul Wallfisch, Alexander Hacke, Danielle de Picciotto und Mick Harvey sind in großer Virtuosität daran beteiligt, aus der Szenenfolge ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Eines, das indes schmerzlich bewusst macht, dass die alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, schon lange vorbei sind.




Ohrenöffner: Lise de la Salle bei der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie

Was für eine Frage! Was wohl der Traum Chopins vom Klavier gewesen sei? Der Musikjournalist Christoph Vratz stellte sie zu Beginn der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie. Und Lise de la Salle, die noch kein Vierteljahrhundert auf ihren zierlichen Schultern trägt, zog sich recht geschickt aus der Affäre: Statt musikphilosophische Allgemeinplätze zu bemühen, schwenkte sie um auf praktische Fragen des Chopin-Spiels. Gerade einmal, dass sie Chopins „Préludes“ als „revolutionary“ bezeichnete.

Zum Glück konzentrierte sich dieser erste Teil des Sonntagvormittags in der Philharmonie dann rasch auf die aussagekräftigen Beispiele aus der Reihe der 24 Chopin’schen „Préludes“, von denen fraglich ist, ob sie als „Zyklus“ gedacht waren – denn gespielt hat sie der Komponist selbst nie als solchen. Es ging um die Eröffnung in C-Dur, die Lise de la Salle als „informal“ bezeichnete: als steige der Interpret mit einer absichtslosen Improvisando ins Spiel ein. Es ging um die berüchtigte Mazurka Nummer sieben, die Bellinis berückende Simplizität mit den Problemen eines empfindungsreichen Belcanto verbindet. Und es ging um den verstörenden Abschluss, jenes d-Moll-Appassionato, über das André Gide im Programheft zitiert wird: unerbittliche Verzweiflung.

Die „Lectures“ sind für die erfreulich zahlreichen Zuhörer im zur Hälfte gefüllten Parkett des Alfried Krupp Saales ein doppelter Gewinn: Sie kommen durch die Erläuterungen dem Werk näher und sie erleben die Künstler nicht alleine als Interpreten am Instrument. Das kundige Gespräch öffnet die Ohren und lässt bewusster erleben, was sich in der Musik ereignet.

Im Falle der Chopin-Préludes ist das faszinierend vielfältig: die atmende Dynamik etwa, die Lise de la Salle der Eröffnung mitgibt; der Kontrast zwischen dem Einsatz der linken Hand im meditativen Lento (Nr. 2) und der Rechten im lebendigen G-Dur der Nr. 3. Das frappierende Konstrukt von Nummer vier, bei dem die „Melodie“ nicht zu sich selbst kommt, sondern fragile Brücken-Fragmente zwischen sich harmonisch entwickelnden Akkorden bildet. Oder der Rausch des Allegro molto in D-Dur (Nr. 5), bei dem der melodische Bogen in einem sprühenden Wasserfall virtuosen Spielwerks vergeht.

Die junge französische Pianistin zeigt kundiges Einfühlen in die Tiefen dieser Miniaturen; ein Faible für Chopin, das sie bereits mit ihrer Einspielung der vier Balladen (2010) demonstriert hat. Dennoch schien der Vormittag in der Philharmonie nicht von ihrem glücklichsten Stern beschienen zu sein: Die Figurationen im Bass des ersten Préludes blieben mulmig, im gis-Moll-Presto (Nr. 12) fehlte der Rechten die Kontur. Aber dafür gestaltete sie die Begleitung des ausgeprägt melodischen Basses im h-Moll-Lento (Nr. 6) mit größtmöglicher Sensibilität, fand sie im E-Dur-Largo (Nr. 9) zu erhabener Größe, kleidete das viel strapazierte Des-Dur-Prélude Nr. 15 in pathosfreie Schlichtheit. Und demonstrierte mit markantem Zugriff und famosem Gespür für die Linie, wo Chopin-Nachfolger wie Liszt und Debussy – von dem eine Zugabe erklang – anknüpften.

In der nächsten „Piano Lecture“ am Sonntag, 16. März, 11 Uhr, spricht Christian Zacharias über die Frage, warum Schubert eigentlich wie Schubert klingt, und spielt die Schubert-Sonate B-Dur (D 960).




Ess-Kastanien im Park von „Haus Weitmar“

In den fünfziger Jahren war es für uns als Kinder ganz selbstverständlich, dass wir in den großen Ferien vom grünen Münsterland aus mit der Eisenbahn zu unseren Großeltern ins Ruhrgebiet fuhren. Ruß und Lärm und Kohlenstaub machten uns nichts aus, schließlich wogen das Spielen mit Cousins und Cousinen und die Spaziergänge mit dem Opa alles andere auf.

Unsere Mutter stammte aus Weitmar, und in diesem Bochumer Stadtteil wohnten unsere Verwandten. Ebenso wie der Opa waren auch die Onkel im Bergbau beschäftigt oder beschäftigt gewesen, meist sogar unter Tage. Kohle und Zechen gehörten also zum selbstverständlichen Alltag, genauso wie die Folgen der Steinstaublunge schon für uns Kinder hörbar waren.

Als mir jetzt ein Bild vom Kunst-Kubus auf den Ruinen des ehemaligen Adelssitzes Haus Weitmar unter die Augen kam, gab es einen Erinnerungsblitz. Im weitläufigen Park dieses 1943 durch Fliegerbomben zerstörten Gutshauses der Familie Berswordt gab es mehrere große Esskastanien. In Südeuropa findet man ganze Wälder dieser Edelkastanien, aber in unserer Gegend war das etwas ganz Besonderes, und erst recht für Münsterländer Kinder. Zusammen mit einem Cousin schlichen wir uns im Herbst durch ein Loch im Zaun in den Park und sammelten die Maronen für eine Mahlzeit vom Herd der Oma. Angeblich gab es im Park scharfe Wachhunde, was dem Abenteuer noch mehr Würze gab.

Inzwischen ist die Ruine des Hauses Weitmar, das vor genau 550 Jahre errichtet wurde, durch einen modernen Aufbau zu einer Kunst- und Kulturstätte veredelt worden. „Jedes Jahr im Sommer treten die Schüler der jeweiligen zweiten Klasse der Schauspielschule Bochum im Schlosspark Weitmar auf. Dabei wird traditionell ein Stück oder Szenen von Shakespeare gezeigt. „Der Eintritt ist frei und wird von den Bochumern immer gut besucht“ heißt es bei Wikipedia. Ob die Edelkastanien noch stehen und zuhören? Ich weiß es nicht.




Ungeheuerlich und ganz natürlich – „Der Prozess“ nach Franz Kafka in Dortmund

Wie inszeniert man Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ für die Bühne? Ganz offensichtlich reizt der Stoff die Theaterleute, in den vergangenen Jahren hat es in der Region etliche Versuche gegeben, abgründige, kryptische, pompöse: 2010 in Wuppertal, 2012 in Düsseldorf, 2013 in Essen, und die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Keine dieser Inszenierungen aber geriet so minimalistisch wie die von Thorsten Bihegue und Carlos Manuel auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspielhauses.

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Der Angeklagte und seine Wärter: Josef K. (Björn Gabriel, Mitte), Willem (Andreas Beck, Links) und Franz (Uwe Rohbeck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka“ (Untertitel) agieren dort, unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe, drei Männer und eine Frau in wechselnden Rollen. Nur der vierte Mann bleibt immer Josef K., gegeben wird er von Björn Gabriel. Und die Frage, die schnell sich über den Köpfen des geneigten Publikums nebelgleich erhebt, ist natürlich: Geht das? Funktioniert dieser geheimnisvolle, psychologisch aufgeladene, beengende und bedrückende Stoff noch, wenn man ihn ähnlich inszeniert wie ein naturalistisches, schmutziges, kleines englisches Theaterstück à la Dennis Kellys „Waisen“ ,das ebenfalls auf dem Spielplan des Dortmunder Schauspiels steht?

Sagen wir es mal so: Das, was hier von der Vorlage an „Kafkaeskem“ übrigbleibt, ist sicherlich nur ein kleiner Teil. Doch in der Einrichtung des verantwortlich zeichnenden Regie-Duos entsteht gleichwohl ein passables, schlüssig ablaufendes Bühnenstück, das in seinem linearen Aufbau stellenweise den Charakter einer Nummernrevue hat. Es erzählt, stark gerafft und vereinfacht ausgedrückt, wie die völlig absurde alptraumhafte Situation des Verhaftetseins aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet schnell eine Qualität des Normalen entwickelt. Für die Wärter ist der Umgang mit Verhafteten etwas Normales, Repression und Großherzigkeit im Kontakt mit Josef K. sind ihre üblichen Umgangsformen; Fräulein Bürstner aus dem Büro weiß – wie vermutlich das gesamte Büro – schon von der Verhaftung des Prokuristen K., der ja weiterhin arbeiten gehen darf, der Onkel will helfen, der Maler vermitteln, der Advokat schließlich, seinerseits mit großer Machtfülle ausgestattet, dem Angeklagten sein Ohr leihen. Und bald schon scheint es hauptsächlich darum zu gehen, wie man aus der Sache herauskommt, ohne daß die Sache, eine Straftat demnach, je erkennbar geworden wäre. Es gibt, erfährt das Publikum, wirklich Freisprüche, scheinbare Freisprechungen und die Verschleppung des Prozesses. Sollte man sich also auf einen „Deal“ einlassen?

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Frau Bürstner (Merle Wasmuth) und Josef K. (Björn Gabriel) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Für die jugendlich-karge Dortmunder Inszenierung nimmt ein, daß sie scheinbar anstrengungslos immer wieder Bezüge zum realen Justizgeschehen unserer Tage schafft, zur vielfach üblich gewordenen Trennung von Tat und Urteil beispielsweise, die eher der Bequemlichkeit und der allseitigen Zufriedenstellung huldigt als dem Streben nach Gerechtigkeit und Sühne. Sehr viel mehr allerdings sollte man nicht erwarten. Wenn Merle Wasmuth uns in verschiedenen Frauenrollen auf die eine oder andere Art sexuelle Verführung und Obsession vorspielt, dann ist das möglicherweise zwar der Versuch, einen Hinweis auf (unterdrückte) sexuelle Anteile in der Verursachung der einen oder anderen Irritation des Josef K. zu geben, mehr aber nicht. Auch hält sich diese Inszenierung nicht damit auf, den Romantitel in seiner zweifachen Bedeutung auszuschmecken, nach der „Prozess“ ja nicht zwingend einen solchen vor Gericht bedeutet, sondern auch als Synonym für eine undurchschaubare innere Entwicklung stehen kann. Sonderbare Entwicklungen sind, man denke nur an den armen Käfermann Samsa, ja geradezu ein Markenzeichen für Franz Kafkas Werk. Aber das wäre dann Psychologie, vielleicht gar Psychoanalyse, wie sie in etwa zeitgleich zur Entstehung des Romans von Siegmund Freud in Wien formuliert wurde. So etwas bleibt hier außen vor.

Den Schauspielern ist es zu danken, daß dieser Theaterabend anregend und streckenweise durchaus auch unterhaltsam gerät. Der massige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck geben schon rein äußerlich ein komisches Aufseherpaar ab, Sebastian Graf weiß den obrigkeitlichen Anteil seiner verschiedenen Rollen überzeugend auszuspielen. Björn Gabriel in der Titelrolle schließlich kommt dem literarischen Vorbild eines Dreißigjährigen sehr nahe. Mit seinem leichtem Unterspielen akzentuiert er geradezu die ungeheuerliche Situation, in der er sich plötzlich befindet.

Dem Personal auf der Bühne galt am Premierenabend der größte Applaus.

Die nächsten Termine 23. Februar und 8. März sind ausverkauft. Weitere Termine werden noch bekanntgegeben. Theaterkasse: 0231 / 50 27 222

www.theaterdo.de




Odilon Redon – Der „Prinz des Traumes“ und seine ätherischen Bildwelten

Wie hat der Mann nur diese jenseitigen, ungemein spirituellen Farben erzeugt, die sich oft zu Apotheosen des innigen Leuchtens steigern? Wie hat er diese so flüchtigen und ätherischen Traumgebilde fassen können – und doch nicht gebannt, sondern schwebend gehalten?

Ans Werk von Odilon Redon (1840-1916) kann man zahllose Fragen herantragen. Es hat seine ganz speziellen Reize und stillen Sensationen. Sogar der dunkel, fast reimhaft nachklingende Name scheint sich dazu zu fügen. Seltsam, was einen manchmal unwiderstehlich zu bestimmten Künstlern zieht.

Die Fondation Beyeler (Riehen/Basel) hat eine bemerkenswerte Auswahl aus seinem Oeuvre zusammentragen können, mit Leihgaben aus aller Welt. Wie gut, dass man all das durch Lektüre des streckenweise schwelgerischen Katalogs nachempfinden kann – so weit das eben ohne Originale geht. Aber vielleicht verschlägt es einen in den nächsten Monaten ja doch noch in die Baseler Gegend. Es lohnt sich gewiss.

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In der prachtvollen Summe wird mehr und mehr deutlich, dass der in Bordeaux geborene, hernach selbstverständlich in Paris zu einigem Ruhm gelangte Odilon Redon eine frühe Leitfigur der Avantgarde gewesen ist. Viele seiner schöpferischen Nachfahren sind freilich heute noch berühmter als er.

In seinem legendären Roman „Gegen den Strich“ („A rebours“, 1884) hat Joris-Karl Huysmans den Künstler als „Prinzen des Traumes“ bezeichnet. Odilon Redon, dessen Fixsterne u. a. Delacroix und Courbet hießen, hat, wie bereits Maurice Denis feststellte, „ein mystisches und esoterisches Element“ in die Moderne eingebracht. Nach diesem lange wirkenden Impuls konnten Künstler auf vordem ungeahnte Weise Traumwelten und Visionen darstellen. Redons seinerzeit neuartiges, unter Aufgabe der gewohnten Perspektive ins Unbestimmbare ausgreifendes Raumkonzept beeinflusste zunächst vor allem die Gruppe der Nabis (u. a. Félix Vallotton, Pierre Bonnard, Edouard Vuillard, Maurice Denis, Paul Sérusier).

Im einleitenden Katalogaufsatz des Kurators Raphaël Bouvier gilt Redon überdies recht eigentlich als Begründer der „reinen Malerei“, als Anreger der Fauves („Wilden“), von Matisse und sogar noch von Yves Klein. Damit nicht genug: Auch Picasso und Kandinsky stehen demnach – wenigstens mit bestimmten Werkphasen – in Odilon Redons Traditionslinie. Nun ja, man muss dem Gegenstand (s)einer Ausstellung wohl Geltung verschaffen, warum also nicht gleich eine nahezu universelle?

Tatsächlich lassen Redons Werke, die häufig aus religiösen oder mythologischen Stoffen hervorgehen, aber auf genauester Naturbeobachtung fußen, einen weiten Deutungsspielraum, so dass man gar manches hinein- oder heraussehen kann. Weisen nicht seine zuweilen monströsen Metamorphosen oder seine geheimnisvollen Hybridwesen zwischen Mensch und Pflanze auch auf den Surrealismus voraus? Gibt es nicht auch innige Verbindungen zur asiatischen Kunst, aus der Redon einige Inspirationen empfangen hat? Dass er sich im Verlauf seiner ästhetischen Expeditionen auch schon mal in dekorativen Gefilden verloren hat, sei nicht verschwiegen.

Einzigartig und unverwechselbar sind jedenfalls die monumental wirkenden Bilder der Köpfe mit geschlossenen Augen, die eine innere Welt evozieren, fernab vom Getriebe der hellichten Tage; jene Barken, die in unendliches Blau, also in ganz andere Sphären zu gleiten scheinen. Hier wird Kunst im wahrsten Wortsinn seherisch. Ob man das nun mit dem Stil-Etikett des „Symbolismus“ versieht, tut wenig zur Sache. Diese Gemälde wollen ganz für sich betrachtet werden. In manche kann man sich lange versenken.

Im optisch und drucktechnisch hervorragend gelungenen Katalog erregen zumal auch einige Ausschnittvergrößerungen und Nahaufnahmen die Sinne. Hier wähnt man sich nicht nur unmittelbar an der Leinwand, sondern auch am soeben vollzogenen Schaffensakt. Die Textur der Bilder, die hier hervortritt, hat etwas von der Frische des „allerersten Augenblicks“.

Odilon Redon. Katalog zur Ausstellung der Fondation Beyeler. Verlag Hatje Cantz. 176 Seiten, gebundene Ausgabe 49,80 Euro.

Informationen zur Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, die seit dem 2. Februar läuft und bis zum 18. Mai 2014 dauert:
http://www.fondationbeyeler.ch/ausstellungen/odilon-redon/einleitung




Zeit für „Raketenmänner“ – das neue Buch von Frank Goosen

RaketenmännerBei Elton Johns Song „Rocket Man“ heisst es „I’m not the man they think I’m at home“. Frank Goosen selbst sagte in einem Interview*, diese Zeile sei ihm die Inspiration für seinen Buchtitel gewesen. Es sind Geschichten von Männern, die die Rakete starten wollten, aber mit diversen Fehlzündungen hadern.

Frank Goosen erzählt von geschiedenen Vätern, von Chefs, die in Konferenzen von einem Haus am Meer träumen, von alten Schulfreunden, die in grauer Vergangenheit leidenschaftlich gemeinsam in einer Band schrammelten, von Männern, für die das Leben eine einzige Spätpubertät ist.

Es sind kleine Geschichten, die doch von den großen Lebensthemen handeln: Wehmut, Ernüchterung, der Macht von Vergangenheit und Erinnerung, Träumen, Plänen und was am Ende davon übrig bleibt. So erzählen Goosens Raketenmänner vom Leben und vom Tod sowie dem Frieden, den man damit machen kann – oder eben nicht. Geschichten, jede für sich stehend, aber doch zusammengehörig. Manche Männer treffen wir in einem anderen Umfeld, einer anderen Geschichte wieder. Manch loser Faden fügt sich wieder zusammen, so dass das Buch am Ende keine Sammlung von Kurzgeschichten ist, sondern ein in sich abgerundeter Episodenroman.

Im Buch ist „Raketenmänner“ der Titel einer vergessenen, unbekannten Schallplatte (für die jüngeren Leser: Das sind diese runden, schwarzen Dinger aus Vinyl). Die Raketenmänner tauchen aus dem Dunkel eines alten Plattenladens auf und stehen für das einzig Perfekte, das ein Musiker mit dem bezeichnenden Namen Moses je hervorgebracht hat. Wie ein roter Faden zieht sich diese Platte durch die Geschichten und spielt im Leben mehrerer Männer eine wichtige Rolle.

Goosens Stil in diesen Geschichten ist wie die Musik auf der Platte: „schlicht, ohne Show und Schnörkel. Da trifft einer, ohne zu zielen.“ Mit feinem Sprachwitz und trockenem Humor lässt Goosen zeitweilig auch Melancholie und Nostalgie zu. Rechtzeitig findet er aber immer wieder zurück zu ironischer Distanz, so dass Sentimentalität gar nicht erst aufkommt. „Raketenmänner“ ist ein wesentlich reflektierteres Buch als die beiden letzten des vor allem im Ruhrgebiet äußerst beliebten Autors.

Nach dem kommerziell völlig zu Unrecht nicht so erfolgreichem Roman „So viel Zeit“ konnte man bei Goosen die Befürchtung hegen, er würde sich mit Büchern wie „Radio Heimat“ oder „Sommerfest“ auf eine Art ruhrischen Heimatroman beschränken. Die „Raketenmänner“ nun zerstreuen diese Befürchtung, sie sind sozusagen die Quintessenz des lachenden Pokorny mit So viel Zeit.

Die beliebten Gassenhauer legt Goosen nun klugerweise seinen Protagonisten in den Mund, der Erzähler selbst gönnt sich schöne einfühlsame Bilder wie die „vom Himmel über den abgeschlossenen Geschichten“ oder „vom Irgendwann, dem Land, in dem die schönsten Dinge passieren“. Sätze, für die man manche Geschichten schon vom ersten Absatz an mag, auch wenn man noch gar nicht weiß, worum es geht. Sätze, die so für sich alleine stehen bleiben könnten, eine ganze Geschichte, ein ganzes Leben, in einem Satz erzählt.

Natürlich sind es wie immer Geschichten mit hohem Wiedererkennungswert. Eins der größten Talente des Autors ist seine exzellente Beobachtungsgabe. Der Tonfall eines jeden Charakters ist wunderbar getroffen, man hat sie sofort vor Augen: den schnöseligen Unternehmensberater, den träumerischen Schallplattenverkäufer, die Frau, die man(n) nur noch als Frau Dingenskirchen in Erinnerung hat.

Wie so oft bei Frank Goosen werden viele Geschichten von Musik begleitet. Die lautlosen Geschichten, die keinen Soundtrack haben sind auch die hoffnungslosen. In den anderen Geschichten ist es die Musik, die Leben retten, begleiten und beenden kann. Wie in der letzten Geschichte, die ein würdiger Schlusspunkt geworden ist. Eine Geschichte wie ein Traum von einem Rockkonzert, einem Konzert von „einfachen Leuten“ für „Raketenmänner“ oder umgekehrt. So sind die Raketenmänner ihre eigene Hymne geworden: Auf die Freundschaft, für die Verwirklichung von Träumen und eine verständnisvolle Liebeserklärung an die Männer mit all ihren Bemühungen und all ihrem Scheitern. Kurze Geschichten, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Schließlich wollen auch wir Frauen gerne wissen, wie Männer ticken. Vor allem die, die so gerne „Raketenmänner“ wären.

Bei aller Freude über ein sehr gelungenes neues Buch von Frank Goosen – eins kann der Autor fast noch besser als schreiben: nämlich lesen. Vorlesen. Den Tresenleser vergangener Tage hat er in sich bewahrt. Meiner eigenen Erfahrung nach werden seine Geschichten erst dann so richtig rund, wenn er sie selber liest und kommentiert. Termine finden sich auf seiner Homepage. Gerüchten zufolge gibt es noch einzelne Tickets.

Frank Goosen: „Raketenmänner“. Verlag Kiepenheuer und Witsch. 233 Seiten, € 18,99

Homepage des Autors: frankgoosen.de

(* Interview in der allgemeinen Frankfurter Sonntagszeitung vom 2. Februar 2014)

 

 




Armer Thilo Sarrazin: Er leidet ganz schrecklich unter dem „Tugendterror“

Ich hatte es ja befürchtet, hegte allerdings die Hoffnung, drum herum kommen zu können. Aber diese Hoffnung trog, wie ich heute erfuhr. Er hat es wieder getan: Thilo Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben. Was noch schlimmer ist: Er hat einen Verlag, der es drucken lässt, bewirbt und in die Buchläden bringt.

„Der neue Tugendterror“ heißt es, vom bedauernswerten Opfer Thilo Sarrazin handelt es, die Leiden im boshaften Dschungel des bundesdeutschen „Gutmenschentums“ mit angeschlossener Medienbranche soll es erzählen. Der verlagsernannte Querdenker tobt seinen Flachsinn mal wieder „gewohnt scharfsinnig“ (Werbe-O-Ton des Verlages, DVA) aus, rechnet mit Missständen ab, geißelt alles, was nicht in der Betrachtung seines überragenden Geistes bestehen kann (und da gibt es vermutlich nur sein Spiegelbild) und belehrt jedermensch, dass er nur einem seine ungeteilte Bewunderung schenken darf – ihm, dem Thilo aller Thilos.

Was wird in den kommenden Wochen nach der Ankündigung des bevorstehenden Unheils geschehen? Ganz einfach: Es wird jede sich bietende Talkshow demnächst ganz sicher den schnaubenden Schnäuzer des über Wasser gehenden Alleswissers unter sich wissen wollen. Es wird im Minutentakt über den neuesten Thilo gesprochen werden und in langweiligen Zugabteilen wird mensch alle Nase lang Fetzen tiefgründiger Gespräche mitbekommen: „Wissen Sie, so ganz unrecht hat er ja nicht…“

100.000 Startexemplare wollen ja verkauft sein, und Herr Sarrazin hat ganz sicher Vorkasse ausgehandelt, denn er verhandelt (nach eigenem Bekunden vor laufenden Talkshow-Kameras) ausgesprochen gut.

Aufs Kurze reduziert, bejammert der nie irrende Wasserwanderer den mählichen Verlust von Meinungsfreiheit in diesem, unserem Lande. Wenn er, der Unfehlbare, mal eine Einschätzung von sich gebe, die stromaufschwimmend am Gutmenschen-Mainstream Widerspruch übe, dann sei es danach mit öffentlicher Ächtung verbunden.

Der Ärmste, ich kann mein Mitleid kaum bremsen. Aber Thilo und alle seine „Ganz unrecht hat er ja nicht“-Follower seien versichert: Zur Zeit darf noch jeder in der Republik sagen und schreiben, was er will, selbst wenn es der größte Blödsinn ist. Belege für diese Behauptung sind stündlich in Nachrichtensendungen oder Talkshows zu finden, und nicht nur durch Herrn Sarrazin geliefert.




Der Lehrerausflug – ein kleines Drama in mehreren Akten

Es gibt Tage im Leben einer Lehrkraft, da wünscht sie (die auch ein Er sein kann) sich nichts sehnlicher, als einmal einer ganz normalen Berufsgruppe anzugehören, findet unsere Gastautorin Matta Schimanski:

Ach, wäre ich doch Bäckerin geworden – oder meinetwegen Vermessungsingenieurin. Nein, es sind nicht die Schüler, sondern die Lehrkräfte selbst, die hie und da diesen Wunsch entstehen lassen. Zur Erhellung dieser Behauptung möchte ich unseren letzten Kollegiumsausflug schildern; ich finde, geneigte Leserschaft, da müssen Sie jetzt einfach mal durch. Ich musste es auch.

Erst mal eine Prügelei schlichten

Es war an einem Donnerstagmorgen. Für einen Lehrerausflug gibt es selbstverständlich nicht frei; erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie schon weiland mein Opa selig gerne verkündete. Also begann der Schultag wie üblich.

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Nach vier Stunden Unterricht und der Auflösung einer mittleren Schülerprügelei begaben sich alle Kollegen, die sich zu dieser mehrstündigen Veranstaltung in der Lage fühlten, also 30 an der Zahl, zum …er Bahnhof, um dort die Regionalbahn nach Köln zu besteigen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt traf das Orga-Team (bestehend aus einer weiteren Lehrerin und mir) der eine oder andere vorwurfsvolle Blick: „Es ist kalt!“ Nun ja, ich gebe zu, das war ein Schwachpunkt in der Planung.

„Die sind ja lauter als ihre Schüler“

Im zweistöckigen Zug teilten wir uns auf in Untensitzer und Obensitzer. Ich gehörte zu Letzteren, bereute meine Wahl aber bald, denn auch die Kollegen mit den besonders gut trainierten Stimmorganen saßen da. Als wir endlich in Köln ausstiegen, war die Erleichterung in den Gesichtern der Mitreisenden nicht zu übersehen, und ich hörte noch, wie eine Dame hinter mir zu ihrer Nebensitzerin sagte: „Die sind ja lauter als ihre Schüler!“ Peinlich, peinlich! Aber wenigstens hatte noch keiner eine Flasche Bier geöffnet (was sich ändern sollte).

Zuerst war eine Führung durch Kölns römische Unterwelt angesagt, die auch ganz gut ablief; nur vereinzelt gab einer den Besserwisser, und die meisten hörten auch zu. Aber danach ging ’s dann richtig los.

Wir hatten nicht verraten, wo es hingehen sollte, was schon im Vorfeld zu Irritationen und Gemecker bis hin zu Boykott-Ankündigungen geführt hatte, denn meine Mitstreiterin und ich sind ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig (wobei mir schleierhaft ist, was die anderen sich so vorgestellt haben).

Eine Frage der Pünktlichkeit

Nach einer halben Stunde „Freizeit“ war nun also Treffen auf der Domplatte und Weiterfahrt zur Überraschung verabredet. Nur, dass die Kollegen nicht kamen. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei – sonst Verfechter absoluter Pünktlichkeit – kamen 10 Minuten zu spät: Sie hatten noch im Café gesessen, mit ausgezeichnetem Blick auf den Treffpunkt und die sich dort im Nieselregen versammelnde Gruppe, die inzwischen wieder völlig durchfroren war. Die U-Bahn Nr. 18, die wir hätten nehmen müssen, war weg. Na ja, die nächste folgte bald, und wir hatten mit ein bisschen „Luft“ geplant, kamen also nur 7 Minuten zu spät zum gebuchten „Dinner in the Dark“.

„Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht!“

Als wir unter großem Hallo (Jahahaa – die Überraschung!) das Restaurant betraten, schnauzte mich ein Kollege an: „Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht! Dann fahre ich lieber wieder nach Hause!“ Sprach’s und verließ das Etablissement. Ich rannte gleich hinter ihm her und versicherte ihm, man müsse nicht unbedingt ins Dunkle gehen, man könne auch im hellen Gastraum bleiben. Dann schnell wieder rein und den Wirt gefragt, ob ich da nicht zu viel versprochen hatte. Hatte ich glücklicherweise nicht, also wieder raus und den Kollegen beschworen, doch wieder reinzukommen, was er dann auch tat. Und es fanden sich drei Damen, denen das Ganze ebenfalls nicht geheuer war und die mit ihm im Hellen blieben. Puh!

Handys aus – oder doch nicht?

Das Essen war ganz OK, und alles war so zubereitet, dass man es ohne Schwierigkeiten (jedenfalls ohne größere) auch ohne zu sehen zu sich nehmen konnte, also – wir haben nur geringfügig herumgesaut. Glauben wir zumindest. Es war tatsächlich stockdunkel, absolut schwarz. Der Kellner („Arthur“), der wohl blind ist, bediente uns souverän. Wer aufs Klo musste oder zu trinken nachbestellen wollte, musste ihn immer rufen, alleine aufstehen war tabu. Hätte man auch gar nicht gewollt, man wäre ja völlig orientierungslos gewesen.

Handys mussten aus sein, auch wegen der Display-Beleuchtung, wie in der Schule – und wie dort hielten sich nicht alle dran. Es ist erstaunlich, dass vor allem die Kollegen, die bei Schülern vehement auf unbedingte Einhaltung der Regeln pochen, das selbst nicht schaffen. Aber das war nur einmal ganz kurz. Ehrlich!

Die Witze, die der Kellner schon kennt

Jedenfalls war Arthur beinahe freundlich, und das Menü – man hatte die Wahl zwischen Rind, Geflügel, Fisch oder vegan – war beinahe heiß. Und nur eine Kollegin hatte ein Problem damit, sich etwas in den Mund zu stecken, das sie nicht sah. Alle anderen hatten Spaß und machten die üblichen Witze, über die Arthur schon lange nicht mehr lachen kann.

Als wir nach dem Essen auf die Straße kamen, regnete es richtig. Egal – die Bahn war ja nicht weit weg. Nur: Sie kam nicht. Wir standen im Regen, es wehte ein wilder Wind, man fror. Die Bahn kam immer noch nicht. Einer huschte schnell über die Straße zur Bude an der Ecke und holte ein paar Flaschen Bier – Fortsetzung des im Restaurant begonnenen Gelages.

„Wo gehen wir hin?“ – „Weiß nicht“

Auf einer Anzeigentafel erschien die Nachricht, dass die Strecke durch ein Auto auf den Gleisen blockiert sei und man auf Ersatzbahn oder -bus umsteigen solle. Man konnte in der Ferne auch das Blaulicht sehen. Also zogen wir durch den Regen über die große Kreuzung zum Bus, ach nee, lieber zu der anderen Bahn, ach nee – ja, wo sind die denn jetzt? Die einen waren hierhin, die anderen dorthin geeilt. „Wo gehen wir denn hin?“ „Weiß nicht.“ „Wer kennt sich denn aus?“ „Weiß nicht.“ „Wer hat denn gesagt …?“ „Weiß nicht.“ „Schluss – wir steigen jetzt hier in diese Ersatzbahn, hol‘ mal die anderen, die sind da an der Bushaltestelle.“ „OK.“

Schließlich saßen alle in der Ersatzbahn, allein sie fuhr nicht. Nach 10 Minuten hieß es: „Die 18 fährt wieder, steht auf der Tafel.“ Gut, alle wieder raus, rüber zur 18, die tatsächlich fuhr – uns vor der Nase weg! Wir waren nass, wir froren. „Na, dann nehmen wir eben die nächste.“ Aber sie kam nicht. Erneut blinkte in der Ferne ein Blaulicht. Nun wollten sich vier ausklinken, ein Taxi nehmen und auf eigene Faust zurückfahren; der Nicht-im-Dunkeln-essen-Woller war natürlich darunter. Da sie keine fünfte Person für ihr Gruppenticket fanden, blieben sie doch bei uns, mehr als missmutig.

Nur noch hysterisches Gelächter

„So, jetzt gehen wir zum Bus!“ Gesagt, getan, nur dass der Bus gerade abfuhr, als wir über die Kreuzung trabten. „Dann nehmen wir jetzt doch die Ersatzbahn, die steht ja noch da!“ Neues Bier an neuer Bude beschafft, dann zurückgeeilt, Leib und Leben beim Überqueren der belebten Straße riskiert, nur um die Ersatzbahn gerade abfahren zu sehen. Wir waren nass, wir froren, wir wollten ZURÜCK ZUM HAUPTBAHNHOF! Unser einziger Trost war, dass die SchönerTagTickets (!) bis 3 Uhr morgens des Folgetages gelten … Inzwischen hatten wir das Stadium erreicht, in dem man nur noch hysterisch über alles lacht. Wir müssen einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht haben.

Irgendwo – irgendwie – irgendwann

Zu guter Letzt sind wir einfach in irgendeine Bahn gestiegen in der Hoffnung, sie werde schon irgendwohin fahren, und irgendwie würden wir irgendwann den Hauptbahnhof erreichen. Und so war es dann auch. Die freundliche Fahrerin erklärte uns, wo wir umsteigen mussten (und neues Bier holen konnten), und kaum waren wir losgefahren, kippte eine der Kolleginnen um. Super! War ja bis dahin ziemlich langweilig gewesen.

P.S.: Natürlich kamen wir am Ende mehr oder weniger wohlbehalten zurück nach …, zwei Stunden später als geplant, aber ohne größere Blessuren, und der wackeligen Kollegin ging ’s auch wieder besser.

Etliche waren ja sehr zufrieden mit der Veranstaltung, aber andere wieder nicht; einige hatten schon vorher an allem rumgemeckert. Wir fahren zu früh, wir fahren zu spät, wir fahren zu lang, wir fahren zu teuer, wir fahren ins Unbekannte (wie bedrohlich!) – ein bunter Strauß an qualifizierten Kritikäußerungen, ein Feuerwerk der guten Laune! Der nächste Lehrerausflug, das schwöre ich, wird von anderen organisiert!




Zwischen historischem Spektakel und modischer Revue: Händel-Festspiele und Premieren auf deutschen Bühnen

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Intriganten und Tyrannen, Liebende und Leidende, Herrscher und Heroen: Georg Friedrich Händels Opern bringen ein Personal auf die Bühne, das denkbar weit von unseren Alltagserfahrungen entfernt ist. Ihre hochfahrenden Affekte, ihre extremen Leidenschaften wirken in einem Zeitalter, das sich – zumindest vordergründig – leidenschaftslosem Pragmatismus verschreibt, seltsam überspannt, die Beziehungen und Verflechtungen zwischen den Personen schematisch und vorhersehbar. Händel hat 42 Opern und 14 Pasticci, Bearbeitungen und fragmentarische Bühnenwerke hinterlassen: Nach seinem Tode wurden sie nicht mehr aufgeführt. Heute ist das anders.

2014 werden – so listet es die Website www.operabase.com auf – weltweit in 38 Städten 48 Händel-Produktionen in 201 Aufführungen gezeigt. Damit rangiert Händel zwar hinter Musiktheater-Giganten wie Verdi, Wagner oder Puccini, steht aber nahe vor dem Anschluss an die statistische Spitzengruppe der weltweiten Opernaufführungen.

Spätestens seit den Feiern zu Händels 300. Geburtstag 1985 gibt es ein neues Interesse an den Opern und für die Szene geeigneten Oratorien der musikalischen Leitfigur aus Halle an der Saale. Sicher, Händel-Opern wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts hin und wieder ausgegraben, ehrfürchtig bewundert von den Zeitgenossen wie wiederentdeckte Artefakte aus längst vergangener Zeit: kunstfertig, aber fern und fremd. Und es gab auch die Händel-Festspiele in Göttingen seit 1920 und Halle seit 1922. Aber sie waren der Initiative einzelner Enthusiasten entsprungen und begannen erst allmählich auf die Theaterlandschaft auszustrahlen.

Händel-Renaissancen gab es einige: Nationalsozialistische Kulturpolitiker wollten in ihm einen deutsch-nationalen Komponisten erkennen, die DDR entdeckte in ihm den Aufklärer und Erzieher – nachzulesen in den Ergebnissen einer Forschungsgruppe, die sich seit 2010 in Halle mit der „Händel-Rezeption in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ beschäftigt hat. Doch als fester Bestandteil des Repertoires abseits spezialisierter Festivals oder individueller Interessen sind Händel-Opern erst seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anzusprechen.

Woran liegt das? Entdeckt eine Zeit, in der postmoderne Beliebigkeit, kühle Kalkulation und pragmatische Selbstoptimierung den einsamen, leistungsorientierten Alltag bestimmen, die maßlosen Emotionen der Händel’schen Opernhelden wieder? Haben wir ein Gespür für die Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung zurückgewonnen – sichtbar etwa in der Debatte um Willensfreiheit versus genetische oder biochemische Determination? Erkennen wir in den Personen auf der Bühne, die im Netz ihrer Affekte und Passionen verstrickt ihre Freiheit einbüßen, die an den unsichtbaren Fäden eines undurchschaubaren Schicksals hängen, unsere eigene Existenz wieder: ausgeliefert an anonyme Großstrukturen, eingebunden in unbeherrschbare Systeme, kontrolliert von dunklen Netzwerken, unterworfen modernen Götzen, getrieben von Beautywahn und Bankenkrise?

Das neue Interesse für Händel hat wohl nicht nur mit musikalischer Entdeckerfreude rund um die historisch informierte Aufführungspraxis, sondern auch mit unserer Befindlichkeit zu tun – wie unscharf solche Kategorien auch sein mögen. Die postmoderne Spaßgesellschaft ließ sich in den neunziger Jahren in München ihren Händel genießerisch und lasziv-ironisch zurichten. Das ist vorbei. Die Suche nach überzeugenden szenischen Lösungen führt über den Rückgriff auf barocke Affektdarstellung in Gestik und Bewegung über existenzielle Zuspitzung durch das Hässliche, das Fragmentarische, die Collage von Raum und Virtualität, etwa durch Video und Licht, bis hin zur beziehungsreichen, ironisch aufgebrochenen Revue, wie sie Stefan Herheim mit „Serse“ („Xerxes“) in Berlin und Düsseldorf überaus erfolgreich vorgeführt hat.

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das historische Ausdrucksrepertoire für eine zeitgenössische Expressivität fruchtbar zu machen, ist ein Ziel der Opernpremiere bei den Karlsruhe Händel-Festspielen 2014: Regisseur Benjamin Lazar will die Sprache der Barockbühne ins Jetzt transferieren. Er strebt keine Imitation an, sondern schöpft aus alten Wurzeln, aber mit dem Blick des 21. Jahrhunderts. Adeline Caron und Alain Blancot schaffen ihm dafür Bühne und Kostüme für „Riccardo Primo“. Händels erste Oper mit einem englischen Helden – König Richard Löwenherz – wird ab 21. Februar als deutsche Erstaufführung im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe im Staatstheater Karlsruhe erklingen – in einem Raum, der wie vor 300 Jahren von Hunderten von Kerzen erleuchtet wird. Der international beachtete Countertenor Franco Fagioli übernimmt die Titelrolle, die bei der Uraufführung 1727 der legendäre Altkastrat Senesino gesungen hat.

Ab 1. März bringen die – seit 1978 bestehenden – Karlsruher Händel-Festspiele ein Gastspiel des Mailänder Marionettentheaters Carlo Colla & Figli: „Rinaldo“ ist wie „Riccardo“ ein Sujet aus der Kreuzritterzeit und enthält einige der populärsten Arien, die Händel je geschrieben hat. Leider ist es den Karlsruher Festspielen nicht möglich, mit Wiederaufnahmen ein Festspiel-Repertoire aufzubauen oder gar die Opernproduktion ins Repertoire des Staatstheaters aufzunehmen. Grund sind finanzielle Kürzungen, die schon einige Jahre zurückliegen – und deren Revision dem Land Baden-Württemberg, immerhin eines der reichsten Bundesländer – gut anstünde.

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Unter dem Thema „Herrschaftszeiten!“ widmen sich die Göttinger Händel Festspiele 2014 dem 300-jährigen Jubiläum der Personalunion zwischen Großbritannien und „Kurhannover“: Georg Ludwig bestieg als George I. 1714 den britischen Thron. Im Zentrum der Festspiele in Göttingen steht die kaum gespielte Oper „Faramondo“ über den legendären Stammvater der Merowinger Faramund, die in Deutschland zuletzt 1976 in Halle zu sehen war. Göttingen bringt das Werk in einer Inszenierung von Paul Curran; am Pult steht der Künstlerische Leiter der Festspiele, Laurence Cummings. Der Premiere am 31. Mai folgen bis 10.Juni fünf weitere Vorstellungen.

Zum Jubiläum präsentieren die Händel-Festspiele Halle und Göttingen einen gemeinsamen Zyklus von Kompositionen für die britischen Monarchen aus dem Haus Hannover. Gleichzeitig werden damit auch die populären Krönungshymnen Georg Friedrich Händels in einen musikalischen Kontext gesetzt, das Spektrum der Musik reicht von Psalmenvertonungen Henry Purcells bis zu einer konzertanten Sinfonie von Johann Christian Bach. So erklingen am 30. Mai in der Jacobikirche Göttingen die Musik zur Krönung Georges I. und am 7. Juni in der Stadthalle die Coronation Anthems für George II.

Für den Abend des Pfingstmontag, 9. Juni, kündigen die Festspiele eine Uraufführung an: Das „Oratorium auf das Absterben des Königs von Großbritannien Georg I.“ des Händel-Zeitgenossen Johann Mattheson steht im Mittelpunkt eines Gastkonzertes des Händelfestspielorchesters Halle. Das Werk blieb zu Matthesons Lebzeiten auf Wunsch der königlichen Familie unaufgeführt. Mit dem Werk eröffnet Halle bereits am 5. Juni in der Marktkirche seine Händel-Festspiele. In Halle steht ab 6. Juni die Oper „Arminio“ – als Erstaufführung nach der Hallischen Händel-Ausgabe – auf dem Programm. Nigel Lowery inszeniert, Bernhard Forck dirigiert.

Das Opernhaus in Halle. Foto:  Häußner

Das Opernhaus in Halle. Foto: Häußner

In Bad Lauchstädt, dem reizvollen Goethe-Theater vor den Toren Halles, lässt sich die Karlsruher Version von „Riccardo Primo“ mit einer Inszenierung in einem kleinen, den Opern Händels akustisch entgegenkommenden Raum vergleichen: Elmar Fulda setzt die Oper in Szene, die LauttenCompagney Berlin spielt unter Wolfgang Katschner. Es singen Teilnehmer des Weimarer Meisterkurses für Barockoper 2014 der Musikhochschule Franz Liszt, Weimar. Auch die Oper „Almira“. Händels Erstling, wird wieder aufgenommen: Als Höhepunkt der Festspiele 2013 gedacht, die aufgrund des Hochwassers abgesagt wurden, hatte sie im Herbst ihr Premiere am Opernhaus Halle. Dort erklingt sie am 11. Juni unter Leitung von Andreas Spering.

Und ein unterhaltsames Pasticcio aus Händels Feder – eine Zusammenstellung vorhandener Musikstücke zu einem neuen Inhalt – gibt es drei Mal in Bad Lauchstädt zu sehen: „Giove in Argo“ behandelt die amourösen Abenteuer des Göttervaters Jupiter. Das Barockensemble l’arte del mondo unter Leitung von Werner Ehrhardt bringt diese Rarität am 13., 14. und 15. Juni zu Gehör; die Inszenierung besorgt Kay Link.

Einige Schlaglichter auf das Händel-Repertoire der Opernhäuser zeigen, dass der Opernfreund inzwischen aus einer reichen Auswahl schöpfen  kann: beginnend in Aachen, wo am 6. April der Klassiker „Alcina“ Premiere hat, über Essen, wo ab 19. April in „Ariodante“ der Belcanto triumphiert, bis Hamburg, wo ab 25. Mai „Almira“ unter Alessandro de Marchi an den Ort ihrer Uraufführung (1705) zurückkehrt. In Magdeburg inszeniert am 15. März Arila Siegert eine Oper mit Lokalbezug: „Ottone“. Ihr Titelheld ist der mittelalterliche deutsche Kaiser Otto II., bearbeitet hat das Werk kein Geringerer als Georg Philipp Telemann. Und in Ulm hat am 8. Mai ein anderer Händel-Klassiker Premiere: „Serse“. 1924 in Göttingen wiederentdeckt, ist sie eine der meistgespielten Bühnenwerke Händels – nicht zuletzt wegen des Arioso „Ombra mai fú“, das als „Largo“ fernab seiner musikdramatischen Funktion ein Eigenleben als Wunschkonzert-Stück entwickelt hat.




Der Krankenhausreport (Teil 3): „Das bekommen Sie jetzt alles von uns“

Was ist ein „apallisches Durchgangssyndrom“? Dazu gibt es heute im Hospital eine Selbsthilfegruppe. Viel wissen, sich selbst zu helfen, zumindest kulinarisch. Draußen hält ein Pizzataxi. Ein riesiger Karton Pizzas und Colakisten werden ins Haus geschleppt. Vielleicht das Ergebnis der Ernährungsberatung?

Mein neuer Nachbar erhält eine Biopsie. Man schickt mich raus. Gott sei Dank, denn man will ja nicht mit schmerzenden fremden Körpern konfrontiert werden. Außerdem wartet eine solche Maßnahme auch auf mich. In meiner Arzneischatulle fehlt heute Morgen eine Tablette. Versehen oder der erste medizinische Fehler, der mich mein Leben kostet? Ich frage nach und man sagt mir in der Organisationszentrale der Abteilung, ich bekäme ja abends eine. Ich sage „Nein, morgens und abends“. Es sei nicht so wichtig, denn ich habe ja noch Tabletten aus dem eigenen Bestand.

Ein Namensschild – gottlob noch nicht am Zeh

Vor der Selbsteinlieferung hatte ich der Ärzteschaft eine Liste meiner einzunehmenden Medizin überreicht. Genaue Bezeichnung, Menge, Sinn und Zweck. Bei der Zimmeraufnahme fragte man mich dann, welche Medizin ich einnähme. Ist das ein Trick, um meine Zurechnungsfähigkeit zu testen? Ich deute auf den mitgebrachten Eigenbestand. Alles wird notiert. „Das bekommen Sie jetzt alles von uns. Bis auf Präparat I.“ Das hätten sie gerade nicht vorrätig.

Aussichten

Aussichten

Bei der Visite am dritten Tag fragt mich der Arzt, den ich zum ersten Mal sehe, welche Medikamente ich einnähme. Ich zähle alles auf und er notiert. Es wird viel notiert. Das beruhigt mich. Als hilflose Person würde mir wahrscheinlich irgendwas oder nichts verabreicht. Ich wiederhole meinen Namen, damit es keine Missverständnisse gibt.

Eine Untersuchung muss wiederholt werden wegen eines Computerfehlers. „Wann?“ frage ich. „Bald“ heißt die Antwort. Ich will raus. Die Sonne scheint. Am Fußende des Bettes klebt ein Namensschild, Gott sei Dank noch nicht an meinem Zeh. Das Wort „Frau“ ist durchgestrichen. Herr Dennemann, lese ich. Richtig. „Richtig. Das bin ich“, denke ich.

Nach dem Mittag wird es stiller im Gang. Das ist die Zeit, wo sich die Bösen ins Spital schmuggeln, sich einen Kittel klauen und wichtige Zeugen töten. Ich bin kein Zeuge. Vor meiner Tür sitzt kein dösender Polizist. Glocken läuten. Andacht für alle Glaubensrichtungen. Ich versuche zu dösen und versuche gleichzeitig, mich in einen Traum zu taumeln. Der Traum von einem Kloster, wo unentwegt Füße gewaschen werden.

Stille kann so nervös machen

Stille kann nervös machen. Die Nacht gelingt mir. Sie geht vorüber. Der Aufstand beginnt wieder um 5.50 Uhr mit einem Morgengruß. Ein hinkender Stationsarzt mit migrantischem Hintergrund kündigt die Punktierung des Rückens an. Für 13.30 Uhr. Ich lese die Belehrung, die er mir vorlegt und die darauf hinweist, dass ich möglicherweise dahingerafft werde, falls ich dieses eine Prozent bin. Er verspricht Schmerzfreiheit, ein kühner Bursche.

Das Mittagessen ist wieder akzeptabel, vor allem, weil ich Salzkartoffeln mit Gemüsebeilage mag; egal, welche Fleischbeigabe dazu noch in der Soße schwimmt. Das Hähnchen heute ist wie alle Hähnchen. Die Brühe ist mit ungewürztem Ei angedickt.

Gleich wird eine Hohlnadel in den Rücken gejagt. In gebückter Haltung werden mir Wässerchen entnommen. Der hinkende Arzt ist mir willkommen. In mancher Hinsicht ist er Außenseiter im Ärzteleben. Er wird keiner Krankenhausfußballmannschaft angehören. Und auch bei Golf und Tennis eher zuschauen. Vielleicht beschäftigt er sich auch in seiner Freizeit mit Krankheiten und forscht und forscht. In aller Ruhe zapft er bei mir ab, nachdem er mich vorher vereist hat. Teile von mir sind Polargebiet. Alles läuft gut. Ich solle zwei Stunden ruhen. Nach siebzig Minuten verhalte ich mich gegen den Befehl und renne ins Freie. Jetzt ist die Bettkante Wartepunkt für die irgendwann anstehende Muskeluntersuchung, auf die ich mich freue, habe ich doch selten direkt mit meinen Muskeln zu tun, zumindest nicht mit denen, die Kraft bedeuten. Kau- und ein paar andere Muskeln funktionieren tadellos.

Der Mann aus Libyen sitzt nachts im Flur

Im Foyer gibt es neue Ankündigungen. Man lädt zu einer Krabbelgruppe. Dafür käme ich mutmaßlich erst nach meiner Muskelbehandlung in Frage. Es regnet. Nebenan liegt ein Mann aus Libyen. Eingeflogen. Spricht Englisch. Arbeitet bei der UN. Die Neurologie habe einen guten Ruf bei der UN. Nachts sitzt er im Flur, da die Schlafgeräusche seines Bettnachbarn ihn an kriegerische Auseinandersetzungen erinnern.

Ich achte auf Schritte im Flur. Ob sie sich meinem Einzeldoppel nähern? Ich warte auf die Aufforderung zur angekündigten Untersuchung. Im Gefängnis sind das die Schritte, die das Ernährungsbrett in die Zelle schieben. Gegenüber vom Krankenhaus liegt eine Haftanstalt für Freigänger – wie ein unbewohntes Schloss. Die Insassen gehen zur Arbeit, machen ihre Pausen und kehren abends in die Zelle zurück, lesen, schlafen ein. Kein Doppeleinzel. Nein, ich will nicht tatsächlich tauschen. Hier kann ich jederzeit gehen, meinen Koffer packen und sagen: „Das Hotel gefällt mir nicht. Ich buche um.“

Auf der Wasserflasche steht „gutgesund“

Ich lese das Etikett meiner Wasserflasche und sehe das neue Wort „gutgesund“, also nicht gut und gesund, sondern schlicht gutgesund. Ich frage nach einer Falsche mittelgesund oder mediumgesund. Man blickt mich in der engen Teeküche an, wie man Störenfriede anschaut. Die Teeküche ist so klein, dass alle Vorstellungen von sexuellen Übergriffen des Stationsarztes mit der jungen Schwester ins Leere laufen. Wenn sich dort drei Personen gleichzeitig aufhalten, ist das automatisch schon sexuelle Belästigung – wie in den meisten Aufzügen dieser Welt. Da kann man noch so viele Beutel Pfefferminztee in den Händen haben. Das Stationszimmer, also die Stationsrezeption, das Zentrum der Abteilung, ist der Arbeitsraum für gefühlte elf Personen und man weiß nicht recht, wer Schwester, wer Pfleger, wer Arzt und wer möglicherweise der Vertreter der outgesourcten Ernährungsfirma ist.

Gespräche draußen vor der Tür

Eine mir bisher unbekannte Schwester betritt mein Zimmer, das ich jetzt Warteraum nenne. Eine neue Verkündigung? Nein, sie will zu einem Herrn Pütz, der ich nun mal nicht bin. „Wer sind Sie denn?“ fragt sie. „Darf ich mich vorstellen? Dennemann mein Name.“ „Dann nicht“, sagt sie und verirrt sich in der nächsten Tür.

Draußen vor der Tür finden weiter unentwegt Krankengespräche statt. Nach dem Frühstück oder irgendeinem anderen Vorgang, der mit Magen zu tun hat, kann man nicht empfehlen, solchen Gesprächen zu lauschen. Die junge, hagere Frau mit der gedrehten Zigarette, beginnt ihre Erzählung aus dem Nichts (es ist halb acht Uhr morgens), dass sie ihr Kind verloren habe. Dritter Monat. In der Badewanne. „Flutsch. Einfach so.“ sagt sie. Aber sie habe ja bereits eine 16-jährige Tochter. Ich renne weg. In der Raucherzone sitzen zwei Frauen mit den kratzigen, tiefen Stimmen und dem Gemüt herzhaft knackiger Baumfäller. Sie unterhalten sich über Ausfluss und innere Blutungen, als ginge es um ein neues Kochrezept. Ich renne weg.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, gut aussehende Menschen würden nicht krank. Sorry, aber es sieht so aus. Oder die Gutaussehenden werden in anderen Häusern gehalten. Oder sie rauchen nicht. Also sieht man sie nicht vor den Eingängen herumlungern. Kann aber auch sein, dass die Schönen eine eigene frische Luft erhalten. Vielleicht oben in einem Penthouse-Garten. Dort haben sie Ausgang und da unten vor der Drehtür stehen die Gefallenen und Elenden, die Männer und Frauen in Krankheitskleidung, in Bademänteln und Sporthosen, in Schlappen oder mit übergeworfenen Mänteln, in Rollstühlen mit ausgestreckten Beinen und nackten Zehen, mit Gehhilfen und dicken Kindern. Oben im Penthouse-Garten knabbern die Schönen mit ihren Zipperlein an Möhren und schnappen ihre frische Luft. Ich weiß es nicht.

Wenn Edelgard Schnipper-Henrichs klimpert

Entlassene warten mit ihren Taschen und Koffern auf ihre Anverwandten oder das Taxi. Das Essen auf Rädern ist bereits organisiert. Ich löffle meinen Frankenland-Joghurt Fit 0,1 % Fett. Ich treffe den Chefingenieur der Abteilung und er teilt mir mit, dass die lang erwartete Untersuchung meiner Beinmuskulatur am Nachmittag stattfände. Ich bin es also – „vielleicht“. Das erfüllt mich mit einer solchen Fröhlichkeit, dass ich beschließe, das Klavierkonzert im Foyer wahrzunehmen. Dort vor dem Eingang zum Bistro steht dieses schwarze Piano, als habe es dort jemand vergessen. Dort sitzt Edelgard Schnipper-Henrichs (zugegeben, der Name ist erfunden, aber es gibt keinen Hinweis auf die Künstlerin). Sie spielt eine Largo-Version von „Something stupid“. Welch ein passender Titel.

Ich bin der einzige Zuhörer auf den Drahtstühlen an der Wand. Aufzüge gehen auf und zu. Liegendkranke werden hin- und hergeschoben. Ein älterer Patient setzt sich dazu. „Something stupid“ – Ich bin drauf und dran, mitzusingen, aber ich beherrsche mich, gehe auf und ab unter den Klängen dieser musikalischen Annäherung an Frank Sinatra. An der Wand neben Aufzug 1 hängt eine Hommage auf Leinwand an Pina Bausch. Eine wunderbare Fügung, dass sie von diesem Bild keine Kenntnis mehr erhalten wird. Man sieht eben in einem Krankenhaus auch grausame Dinge. Und es folgt die musikalische Klimax, die ich erwartet hatte: Richard Clayderman. Der ältere Herr im Zuschauerraum hält seinen Kopf eigenartig schief. Ich muss fliehen. Ich bin kein Arzt. Ich kann jetzt auch nicht helfen. Jemand wird ihn schon finden. Und ein anderer wird eventuell das Piano töten und Frau Schnipper-Henrichs in ein Koma versetzen.

Hommage an Pina Bausch in lila

Hommage an Pina Bausch in lila

Im Fahrstuhl bin ich mit der Stationsschwester allein, die mir berichtet, sie käme immer mit guter Laune zur Schicht. „Ich komme lächelnd hier morgens an. Ich bin gut gelaunt.“ Und abends in der Düsternis ihrer Wohnung sei alle Energie von ihr abgesaugt und sie freue sich wieder auf den nächsten Morgen. Ich wünsche ihr ein schönes Leben.

Zurück in der wirklichen Welt

Die Verwaltung ruft mich an und fragt, ob ich einen Abschlussbericht benötige. Ich beharre auf einen Zwischenbericht, denn ich habe noch so einiges vor im Leben. Solche Gags kommen woanders besser an. Ich bereite mich auf meine Entlassung vor. Noch ein weiterer Tag und der Gewöhnungsprozess würde einsetzen. Dem zu entgehen, ist lebenserhaltend, denke ich.

Die neurologische Muskeluntersuchung ist ein Vorgang, der zeigt, was man mit Menschen alles anstellen kann. Eine Nadel wird in den Muskel geschoben, von außen naturgemäß. Der Arzt dreht die Nadel, schiebt sie einmal in die eine, dann in die andere Richtung. Sagen wir mal so: Es ist unangenehm. Ich könne nun mit meinem Muskel musizieren, sagt er. Und in der Tat – ich produziere durch Muskelanspannung den Sound eines Maschinengewehrs, elektronisch etwas verfremdet und somit feure ich Salven ab, die an ein Filmgemetzel erinnern. Bilder aus Vietnam kommen mir in den Sinn. Ich schieße mit meinem Muskel.

Es ist später Nachmittag und ich packe meinen Koffer. Ich kann gehen. Obwohl die Entlassungen morgens stattfinden, ist es mir frei gestellt, bereits des Abends die Lokalität zu verlassen. Ich steuere einen Supermarkt an. Alles scheint mir fremd. Bereits nach viereineinhalb Tagen muss ich erst wieder in die reale Welt eintauchen. Ich trage weder Bademantel noch Blutzufuhrkabel. Ich schleppe meinen Plastikbeutel mit Kartoffeln und fetthaltigen Lebensmitteln in das Auto und fahre heim.

Ende




Im Gespinst des Irrealen: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Phantome in der Oper: In Frankfurt haben sie Fleisch und Bein, wenn auch nur Glasknochen und morbides Gewebe. Im Bockenheimer Depot wehen sie durch Aribert Reimanns „Gespenstersonate“.

Die Kammeroper, 1984 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt, radikalisiert August Strindbergs gleichnamiges Drama mittels einer Musik ohne Grund und Boden: geisterhaft irrlichternde Motivfetzen, schwebende Flageoletts, nebulöse Streicher-Piani, unwirklich schwebende Cluster, dazwischen Fragmente handfest definierter Akkorde, genau umrissene, grelle Bläsereinwürfe, polyphoner Tumult. Und dann die faulige Süße des Harmoniums, ein Ton wie aus dem Geisterhaus im Disneyland.

Reimann setzt diese Mittel virtuos ein: die klanglichen Chiffren des Gespenstischen, des Unheimlichen, wie wir sie aus entsprechenden Filmen kennen. Die Kraft der ins Unendliche geweiteten tonalen und atonalen inneren musikalischen Bezüge. Die immer wieder bezwingende Ausdrucksdichte seiner Erfindung, wie sie von „Lear“ bis „Medea“ seine Opern zu Fixpunkten der Musiktheater-Geschichte der letzten vierzig Jahre macht.

Das Drama – vom Komponisten gemeinsam mit Uwe Schendel eingerichtet – ist ein merkwürdiger Zwitter, erinnert an die psychologisch aufgeladenen Sozialdramen, aber auch an den in Mystizismus und Okkultismus versinkenden späten Strindberg. Die Frankfurter Inszenierung von Walter Sutcliffe leugnet das nicht. Kaspar Glarners Bühne, ein Talboden zwischen den beiden Abhängen der einander gegenübergebauten Besuchertribünen, mimt im kalten Licht Joachim Kleins ständig Realismus – und bricht ihn immer wieder ins Absurde. Die Villa Direktor Hummels steht als fein detailliertes Gebäude da, entlarvt sich aber als abgründiges Modell eines von unwirklichen Gestalten bewohnten Hauses. Sessel und Möbel fahren auf und ab, werden aus dem Untergrund ausgespuckt und verschwinden im Irgendwo. Ein Schrank dient als Habitat, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt; bewohnt wird er von einer „Mumie“. E.T.A. Hoffmann ist amalgamiert mit Maurice Maeterlinck und Alice im Wonderland.

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns "Die Gespenstersonate" an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Schein oder Sein: Die Frage bleibt unbeantwortbar. Das Libretto, eine obskure Geschichte aus gespenstischen Täuschungen, Schein-Realitäten, beziehungsreich verrätselten Erläuterungen, monströsem Trug und symbolistischem Raunen. Die Handlung, eine nicht nacherzählbare Verstrickung der Personen in eine mörderische Vergangenheit, in Unsagbares, Verdrängtes, Irreales, Pathologisches. Die Personen selbst, Untote, Vampire, Wiedergänger, halbreale Irrende zwischen Räumen und Zeiten.

Sutcliffe bemüht sich um größtmögliche Klarheit, ohne die klebrige Geheimnislast des Gespinstes wegaufklären zu wollen. Absurdes kommt daher, als sei es alltäglich real; banale Vorgänge werden weggesogen in eine unheimliche Sphäre des Irrealen. Als „Mumie“ etwa, im grauen Glanz brüchigen Kleidergespinstes, setzt Anja Silja ihre ganze Bühnenerfahrung ein, changiert zwischen dem erbarmungswürdigen psychischen Elend einer verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn einer Greisin und der schrankenlosen Wahrhaftigkeit eines desillusionierten Lebensrückblicks.

Direktor Hummel, Intrigant, Mörder und Verdränger, erinnert bei dem auch stimmlich großartigen Dietrich Volle eher an die patriarchalischen Sozialstudien Strindbergs aus seiner naturalistischen Phase – mit einem Dreh ins Fantastische, der die unheimlichen Seiten der Figur noch verstärkt. Brian Galliford als Oberst gehört auch in diese Kategorie der Väter, deren wohlanständig gesetzte Fassade Abgründe verdeckt. Martin Georgi (Konsul) und Nina Tarandek (Dunkle Dame) lassen durch ihr überlegtes Spiel im Gespenster-Souper erfahren, dass sie nur noch als geisterhafter Nachhall einer einst gelebten Existenz durch den Raum des Spiels klingen.

Einen dämonischen Zug bringen die „dienstbaren Geister“ mit: Bengtsson, der wissende Bediente des Oberst, aalglatt gespielt und schmierig gesungen von Björn Bürger; Johansson, das unterwürfige Faktotum Hummels, von Hans Jürgen Schöpflin als undurchschaubare Gestalt angelegt; die Köchin, Stine Marie Fischer, die sich als unheilvolle Vampirin als Gegenprinzip zum Leben profiliert, das im „Hyazinthenzimmer“ zaghaft zu keimen versucht. Auch das Milchmädchen, angeblich einst Opfer Hummels, gehört in diese Reihe: Kristina Schüttö gibt es als zerbrechliches Zwischenwelt-Wesen.

Verlorene Zeichen der Hoffnung

Beziehungsreich das Bild des Hyazinthenzimmers im dritten Bild, eine weiße Gitterstruktur, halb Gefängnis, halb Zufluchtsort. Die Blumen, in der herkömmlichen Floral-Symbolik für Lebensfreude, Genuss und Zukunftsglück, stehen hier als verlorene Zeichen einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt. Nicht für das Fräulein, wieder einmal brillant gestaltet von Barbara Zechmeister, das sich nicht aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz lösen kann, ohne sein Leben zu verlieren. Und auch nicht für den Studenten Arkenholz, dessen hybriden hohen Tönen – diese Grenzüberschreitungen der Stimme sind eine expressiv sein wollende Marotte Reimanns – Alexander Mayr sich mit verzweifelt gebildeten Falsett-Bemühungen zu stellen versucht. Der junge österreichische Tenor ist auf den Spuren der alten, vergessenen Technik der „voce faringea“, hat aber ohrenscheinlich ihr Geheimnis noch nicht entschlüsselt.

Das Kammerorchester aus achtzehn Solisten führt Karsten Januschke ebenso wie die Sänger sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Der atmosphärische Klang, das scheinbar improvisierend hingeworfene Detail, die präzise Reaktion auf eine bewusst „unnatürliche“ Phrasierung sind bei ihm in besten Händen. Reimanns „Gespenstersonate“ – in der Region bisher in Köln, Münster und Bonn erschienen – könnte in dem seltenen Genre eine Chance haben, sich auch dreißig Jahre nach der Uraufführung im Repertoire zu verankern – neben Philip Glass „Fall of the House of Usher“, Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ und den leider immer noch unterschätzten frühen Ausformungen der Geisteroper, Heinrich Marschners „Der Vampyr“ und „Hans Heiling“.




Der Krankenhausreport (Teil 2): „Wir sind die grünen Damen“

Heute sind zwei Veranstaltungen im Veranstaltungszentrum angesagt: Patientenberatung zum Thema Ernährung und ein katholischer Gottesdienst für alle Glaubensrichtungen. Ich muss zum EKG auf B1. Ich nehme Platz gegenüber dem Schreibzimmer B01.21. Hier gibt es Schreibzimmer. Das klingt nach Therapie. Sitzen hier diejenigen, die sich schreibend ihre Lasten von der Seele schreiben? Ist es etwa das Dichterzimmer?

Ich will hinein, aber es ist verschlossen. Vielleicht ein Geheimbund für alle Glaubensrichtungen. Neben meiner Bank ist das Patienten-WC, ein wunderbarer Hort für all die Bakterien, die hier ihr Unwesen treiben können. Das stille Rauschen wird plötzlich untermalt von einem anhaltenden Piepsen, das man bei Dr. House oder Emergency Room immer dann hörte, wenn die Spannung steigen sollte. Alarm. Exitus. Ich bin dran. Das Piepsen hört auf. Das EKG sagt: „Fit wie ein Turnschuh.“

Kunst im Spital

Kunst im Spital

Um 20.15 ist Nacht. Der Nachbar will den zweiten Teil eines Fernsehfilms sehen. „Okay“, sage ich verständnisvoll und schaue mir diese Wiederholung zum wiederholten Male an. Bereits nach Minuten vernehme ich Schlafgeräusche, die den Text in den Kopfhörern übertönen. Ich schließe die Augen und vor mir tut sich die Nacht auf in Form eines langen dunklen Ganges, in dem ich stundenlang auf- und abgehe.

Um 22.00 Uhr übernehme ich heimlich die Herrschaft über die Fernbedienung. Um 00.00 beschließe ich, Schlaf über mich kommen zu lassen, die Fernbedienung fest in meiner linken Hand. Um 2.15 Uhr habe ich das Gefühl, acht Stunden geschlummert zu haben. Um 3.20 Uhr bin ich sicher, dass schlummern nicht schlafen ist.

Disziplin wie im Luftschutzbunker

Um 5.50 Uhr kommt das erste von vielen Rollkommandos, die den Kranken an das erinnern, worum es im Leben geht: Disziplin und Gesundheit. „Guten Morgen!“ Das klingt so, als ob man direkt ohne Umwege sich in den Luftschutzbunker begeben soll. Es werden aber nur Papierkörbe geleert. Immerhin: Ordnung. Fünfzehn Minuten später wird die Tür erneut eingetreten. Dieses Mal wird ein Wagen hereingeschoben mit allerlei Gerät. Zwei starke Frauen schieben das Labor auf Rädern. Sie wollen messen. „Unter die Zunge“ lautet der freundliche Befehl für das Fiebermessen und „Arm freimachen“ für den Blutdruck, den man auf solche Weise um diese Uhrzeit krankenhausgemäß auf die notwendige Höhe treibt.

6.30 Uhr erneutes Rumpeln in den Gängen. Auf dem Flur ist offenbar der Bär los. Lautes Palavern, Geschirrgeklirre, als sei man bei der Frühschicht der Opelwerke zu besseren Zeiten. Frühstück – mit dem identischen Flashback wie beim Abendbrot. Bevor ich mich strafbar mache, nehme ich alles ein. Es sind immerhin Lebensmittel und darum geht es. Ich schiebe mir gerade das Brot mit Käse in den Mund, da hat mir eine neue Schwester schon die Armbinde umgeschnallt, um mir mein Blut abzunehmen. In der einen Hand das trostlose Käsebrot, aus dem anderen Arm wird zeitgleich gezapft. Ich solle noch etwas drücken. Also drücken mit der labbrigen Stulle in der Hand. Mein Gesicht ist beige wie der Streichkäse.

Ich gehe eine rauchen. Wo sich nachts noch die Krähen in den Bäumen versammelten nach lautem Getöse, ragen nun die leeren Äste unbewohnt vom Baum ab, als wären sie vereinsamt, blattfrei und winterlich. Taxis fahren vor. Selbsteinlieferer zuhauf. Zurück in meiner Kammer. Es erscheint eine Ernährungsfachfrau, die mich aufklärt über meine privaten Wahlmöglichkeiten. Also bestelle ich zum Frühstück am folgenden Tag Rührei mit Kräutern. Eine Schale Obst käme gleich sowieso. Sie wird gebracht wie die Medizin: Eine Banane, ein Apfel, eine Clementine und viel süßes Kekszeug. Um 10.00 Uhr liefert jemand die Tageszeitung, wahrscheinlich auch ein outgesourctes Unternehmen, zuständig für die Belieferung von Tageszeitungen in deutschen Krankenanstalten. Na also, geht doch.

Glaubensgemeinschaft der Liegenden

Kurze Zeit später – eine seltsame Begebenheit, eine dieser Situationen, mit denen man nicht rechnet. Eine ältere Dame mit grüner Bluse, gefolgt von einer jungen schwarzhaarigen Frau um die zwanzig. „Wir sind die grünen Damen“, sagt sie, „und dies ist unsere Neue.“ Grüne Damen? Sind sie an die Stelle des schwarzen Sensenmanns getreten? Gibt es eine neue Glaubensgemeinschaft für Liegende? Die ältere Dame fragt, ob ich Sorgen habe oder Probleme, über die ich sprechen möchte. „Ja“, denke ich, „endlich“. „Nein“, sage ich, „ich bin glücklich und zufrieden.“ Selten kam mir eine Lüge so schnell über die Lippen.

Sie verschwinden, wie sie gekommen sind, fast, als würden sie sich auflösen. Ich schaue bei Wikipedia nach. Vielleicht hätte ich sie herzen sollen oder in mein Bett einladen oder meine Hand zur Verfügung stellen. Ich weiß es nicht. Sie sind in der ökumenischen Krankenhaus- und Altenheim-Hilfe kirchenübergreifend tätig und christlich inspiriert. Meist übernehmen sie Vorlese-, Einkaufs- und andere Dienste. Das habe ich nicht gewusst. Vorlesen aus Kafkas „Verwandlung“ – das wäre eine Behandlung gewesen, der ich mich gerne untergeordnet hätte.

Zwölf Uhr mittags…

Das Mittagessen wird gebracht. Es ist knapp vor zwölf, eine Uhrzeit, die ich zuletzt als Zehnjähriger zu Hause mit Essen in Verbindung gebracht hatte. Zeitgleich kommt der Chefarzt und spricht mit mir. Ich warte ebenso auf Erkenntnisgewinne wie er. Wir sitzen in einem Boot. Er kündigt für heute und morgen weitere Untersuchungen an. Die Tage sind ausgefüllt. Die Brühe habe ich verschmäht, weil kalte Brühe eher etwas ist für die Sommerzeit unter Pinien in Andalusien. Draußen ist Winter im Ruhrgebiet. Der Rosenkohl und die Salzkartoffeln und das Stück Braten erhalten meine Aufmerksamkeit. Alles lauwarm, wie es die Griechen mögen. Ich muss also immer, wenn ein Essen bereitgestellt wird, damit rechnen, dass eine ärztliche Begleitung da ist, die mich zeitgleich untersucht.

Plötzlich gibt es Privat-Alarm. Der alte Herr neben mir muss raus. Man muss ihm die Fernbedienung aus der Hand operieren. „Aber…“, sagt seine treusorgende Frau. „Tut mir Leid“, sagt die Schwester, die für die Zimmervergabe zuständig ist.  „Sie hätten vorher bezahlen sollen“, diesen Liegeplatz bekäme nun ein richtig Privater. Der Pfleger, ein junger Bursche mit wirr auf dem Kopf verteiltem Haar, bestätigt der Gattin des alten Herrn, dass er im Dreier von ihm genauso behandelt würde wie im Zweier. Das Bett wird samt Hab und Gut des Nachbarn herausgefahren. Mit Blutschnüren verkabelt sehe ich ihn winken, aber das ist nur meine Vorstellungskraft im Zuge der Umzugsmaßnahmen. Mann und Frau wehren sich mit Händen und Füßen. Sie verschwinden in einem Dreier-Saal. Ich habe jetzt eine Tanzfläche.

Hier geht es nicht um Wellness

Krankheit ist nicht Wellness. Hier soll man sich nicht wohl fühlen. Man wäre falsch. Man stellt sich seiner Krankheit. Es ist ein Härtetest, nichts für Weicheier. Wer Ruhe will, geht gleich ins Grab. Hier gilt es, was auszuhalten, Gemeinschaft vor allem. Ich spüre es schon. Habe Magenschmerzen. Die Nase läuft plötzlich. Es juckt. Nachts schreit und stöhnt es auf den Gängen und aus den Zimmern. Hier lohnt es sich, Aufnahmen zu machen, die später für Splattermovies genutzt werden können. Das ist das Leben und darum geht es ja. Aber ich kann mir ja noch eine rauchen gehen.

Draußen stehen drei, vier Taxis mit laufendem Motor. Da trifft man sich zum Durchatmen und Rauchen.

Ein Neuer wird in mein temporäres Wohnzimmer eingeliefert. Ein großer Mann an die zwei Meter. Kopfschmerzattacken plagen ihn. Er braucht eine Bettverlängerung und ist Computerfachmann. Jetzt bin ich der ältere und habe die Fernbedienung schon auf mein Nachttischschränkchen gelegt. Wenn er etwas Bestimmtes schauen wolle, solle er ruhig Bescheid sagen, sage ich großzügig. Das sei okay. Er habe sein Notebook. Für mich ist das auch okay. Ich trinke meinen inzwischen obligatorischen „Cafeteria-Cappuccino für unterwegs.“ Es folgen zwei Untersuchungen auf A5. Elektronik. Impulse. Eine gelungene Abwechslung vor dem Mittagessen. In zehn Minuten solle ich mich auf B1 einfinden zum EEG. „Jawoll!“, sage ich, „ich laufe los“. „Nicht jetzt! In zehn Minuten!“, heißt es. Ich könne mir ja noch eine rauchen.

Der Rest des Tages ist Zeitvertreib zwischen Bettkante, Dieselgeruch und Fahrstuhlfahren.

Paris erkennt man am Eiffelturm

Krankenhausgänge sind kein kunstfreier Raum. Im Gegenteil. Hier wird den lokalen Künstlern Raum gegeben. Auf A5 beherrscht Mischtechnik auf Leinwand die Ausstellung. Impressionen in Pastell. Cities. Das Motiv „Paris“ irritiert mich. Es zeigt deutlich den Eiffelturm. Das ist subtile Direktheit. Auch „Pisa“ kommt ohne den schiefen Turm nicht aus. Wie solle man sonst Pisa erkennen? Ein Gesichtsausschlag macht auch ohne sichtbaren Ausschlag keinen Sinn – also für den Betrachter.

Im Wartebereich zum EEG zieren Landschaftsbilder die Wände, an die man wartend unweigerlich zu starren beginnt. Wo sonst, wenn nicht hier, hat das Kunstwerk uneingeschränkte Aufmerksamkeit? Wer geht in ein Museum, um sich stundenlang ein einziges Bild anzusehen? Leicht der japanischen Seidenmalerei angelehnt, ist hier Landschaft Landschaft. Im Foyer des Hauses gibt es Aquarelle und bunte Malerei, wegweisend für den weiteren Verlauf der Gänge und Abteilungen. Manche Bilder hängen schief. Niemand wird sie je gerade richten.

In allen Nachrichten liest und hört man heute Berichte über Zustände in deutschen Krankenhäusern. 19000 Tote durch Behandlungsfehler. Das ist prickelnd, wenn man gerade selbst einsitzt oder –liegt. Überhaupt ist Humor unerlässlich. An der Wand meines Zweierappartments hängt ein Gerät, aus dem Desinfektionsmittel sprühen, wenn man es betätigt. Es betätigt nur niemand. Ich mache einen Versuch und die Flüssigkeit sprüht aus einer Düse auf meine Hose, an eine Stelle, wo das Erklären von Flecken keinen glaubwürdigen Sinn macht.

Fortsetzung folgt




Wer steckt eigentlich hinter dem „Oscar“?

Seit ich alljährlich meine persönlichen Gedanken zu den Oscar-Nominierungen niederschreibe, frage ich mich heute mal: „Who da fuck is Oscar“, obwohl das richtig heißen müsste, „Who da fuck is…“ diese ominöse „Academy of Motion Pictures“? Wer steckt dahinter? Kennt man die Leute? Sind das hoch dekorierte Aktricen und Akteure, Regisseure, Dekorateure, Requisiteure, Komponeure, Friseure, Couturiers, Make-up-Artisten, Drehbuchschreiber, Autoren, Kameraleute, Editoren, Cutter, Kabelträger, Besetzungsbüros, und andere Filmschaffende?

Oder gar Multimillionäre, Banker, Wheeler/Dealer, Money Traders, die Mafia vielleicht (an alle strenggläubigen Frauenrechtspersonen jeglichen Geschlechts: all diese Berufe auch für –innen, versteht sich von selbst)?

Ich hatte nie drüber nachgedacht.

Seit nun aber schon wieder so ein Mogelpaket mit Namen ADAC geplatzt ist und auch seit wir ja jetzt mit Gewissheit erkennen durften, dass dieser früher von vielen belächelte „Big Brother“ unser Leben nicht nur vollelektronisch überwacht, sondern auch steuert, hab ich mal ein bisschen recherchiert. Bei Wikipedia und Co. Da weiß man ja auch nicht immer, woher die Informationen kommen, ob sie komplett sind, und ob sie stimmen. Aber ich bin gutgläubig und nehm das jetzt alles mal als ziemlich wahr hin.

Ehrenamtlich und gemeinnützig

Ich wollte also wissen, wer genau die Bestimmer von Qualität und Leistung in der Illusionsfabrik Hollywood sind.

Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) wurde 1927 als eine ehrenamtliche und gemeinnützige Organisation gegründet. Das heißt soviel wie: Die kriegen keine Knete für ihr Schaffen. Die Gründungsmitglieder kommen tatsächlich aus den von mir vermuteten Bereichen und noch ein paar mehr. Aber mafiöse Verbindungen sind nicht dokumentiert (die werden sich hüten, so was an die Öffentlichkeit dringen zu lassen). Obwohl, da ging ja mal die Frankie „Old Blue Eyes“ Sinatra-Geschichte einer Mafia-Connection durch die bunten Blätter. Alles nur Gerüchte?

Die Mitglieder also arbeiten (immer noch) ehrenamtlich. Das ist vielleicht für einige der Weltstars ein Opfer, wo ich doch immer wieder lese, dass man in den Kreisen gern schon für einen kleinen Händeschüttler bezahlt werden möchte. Aber schließlich, was zählt, ist doch zuerst die Ehre, dann das Amtliche.

Angeschwollen auf über 6000 Akademie-Mitglieder

Aus den anfänglichen 36 Mitgliedern wurden dann in 86 Jahren über 6.000, darunter manche, deren Namen nur begrenzt bekannt waren und wurden. Mitglied wird man nur auf Einladung der AMPAS. Wer über die Jahre des Filmschaffens einen oder gar mehrere Oscars einsammelt, darf fest damit rechnen, in den erlauchten Kreis eingeladen zu werden.

Damit da nun nicht alles kreuz und quer und chaotisch durcheinander läuft, gibt’s natürlich eine Organisation wie im richtigen Leben mit Präsident(in), 1. bis 3. Vize-Präsidenten, Schatzmeister, Sekretariat und CEO, dessen oder deren Aufgabe sich mir nicht ganz erschließt. Aber auch in Lala-Land ist ein Verein ohne Geschäftsleitung nichts. Auch eine Non-profit-Gesellschaft braucht eine Sekretärin, und die bekommt hoffentlich trotz aller Ehrenamtlichkeit ein Gehalt.

Titel wie Vice President und CEO machen sich immer gut auf einer Visitenkarte bei einer Party oder bei einem Telefonat, auch wenn das eine finanzielle Luftnummer ist. Da hat man halt was Eigenes, wie ein Diplom oder einen Ehrendoktor, mit dem man Eindruck schinden kann. Namentlich in Erscheinung treten diese Herrschaften äußerst selten.

Es gibt unheimlich viel zu gucken

Nun also sitzen jährlich Tausende von ebendiesen Filmschaffenden zuhause rum und gucken Filme ohne Ende. Nebenbei werden sie ja auch noch selber mal hier und da ’ne Rolle übernehmen. Je nach Autor, Story und Regisseur kann das auch ne wochen-, monate- oder jahrelange Sache werden. Ob die sich dann nach einem anstrengenden Dreh abends noch in ihre Wohnwagen schleppen, um das Material für den nächsten Preisverleih zu sichten? Das ist nicht überliefert. Aber falls sie es tun, dann gab’s für die diesjährige Veranstaltung viel, viel zu gucken, denn einige der nominierten Werke sind tatsächlich 180 Minuten lang.

That’s a lot of viewing! Und sie bekommen dafür ja höchstens diese Beutelchen mit hochwertigen Sächelchen drin, die „Goody Bags“ (und die Ehre natürlich). Da ist Kram drin, die keiner der Hollywoodies braucht, aber nett zum verschenken an Freunde, Verwandte und Fans. Oder verscherbeln sie es bei Ebay? Eine Gucci-Sonnenbrille, die Uma Thurman mal angefasst hat, das bringt bestimmt was ein.

Mein Fazit also, da sie es alle nur für Krishnas (beliebig ersetzbar durch andere Gottfiguren) Lohn tun, hoffe ich auch, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen jurieren. Ganz sicher bin ich da ja nie.
Vielleicht sagt sich da auch mal die Eine oder der Andere: „Hach nee, die/den kann ich nicht ab, keine Stimme von mir, egal wie göttlich die/der da war“. Oder solche, die grad nen brandheißen Film zu verhökern haben, antichambrieren und verführen Stimmberechtigte mit Champagner in Jacuzzis, gefüllt mit lauwarmer Eselsmilch – und reichen dazu frittierte Elefantenhoden.

In 86 Jahren präsidierten nur drei Frauen

Erstaunlich finde ich, dass in den ganzen 86 Jahren nur drei Frauen Präsidentin der Akademie waren. Die erste war Bette Davis 1941. Nach zwei Monaten schmiss sie der Academy ihr Amt vor die Füße, da war sie 33. Offizieller Grund: zu viel Filmarbeit, um diesen Job ausfüllen zu können. Hinter vorgehaltener Hand entwichen allerdings die wahren Gründe, nämlich, dass sie stinksauer war, weil sie vermutete, dass sie nur als Pappkameradin, Quotenfrau quasi, ausgewählt worden war.

Dann folgten erst mal wieder Männer, von denen nur Gregory Peck zu Weltruhm kam. Fay Kanin musste bis 1979 warten, ihre Präsidentschaft dauerte vier Jahre. Wie im wirklichen amerikanischen Leben. Über Frau Kanin, die in Hollywood und der Filmbranche weltberühmt war, habe ich nicht viel erfahren können. Sie war nur einmal, mit Herrn Kanin, verheiratet und wurde 96 Jahre alt. Sie starb voriges Jahr.

Nun folgen ganz viele Männer, der bekannteste war Karl Malden. Erst voriges Jahr im Juli übernahm dann Cheryl Boone Isaacs. Sie ist African American und war bisher im Film-Marketing tätig. Sie hat die Marketing Kampagnen für „Forrest Gump“ geleitet, der ja dann einen Oscar für „Best Picture“ gewann. Wenn das keine Empfehlung für die Präsidentschaft ist! Wir werden sie dieses Jahr zur Eröffnung der Feierlichkeiten kennenlernen.

Auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, dass AMPAS eigentlich nur um sich selbst rotiert, stimmt das nicht. Sie unterstützen und fördern verschiedene Akademien rund um das Filmgeschäft. Sie vergeben Stipendien und gut dotierte Preise an Studenten und Schulen. Woher diese finanziellen Mittel kommen, konnte ich noch nicht rausfinden, wo doch alle Mitglieder ehrenamtlich arbeiten. Vielleicht fließt da Geld von den oben erwähnten Gönnern, Million-Dollar-Unternehmen und anderen Mäzenen.

Ein wenig eigener Senf muss sein

Noch in diesem Monat und vor der Übertragung der Oscar-Zeremonie (2. März) werde ich mich hier über einige Filme fürs diesjährige Event auslassen. Wie immer eine total subjektive Beurteilung, und ich ahne jetzt schon, dass Aufschreie durch die Reihen meiner Leser gehen werden.

Fünfeinhalb der neun nominierten Filme hab ich schon gesehen (manche davon durchlitten, besonders den halben). Da es meistens sehr lange Filme sind, muss ich sehen, dass ich mich kurz genug fasse, um alle wenigstens andeutungsweise zu würdigen. Und das dauert ja auch. Also, gedulden wir uns.

Leider bin ich ja nicht Mitglied in dieser ehrenwerten Organisation (das wär mein Traumjob, würd‘ ich glatt ohne Lohn, nur gegen Kost und Logis, machen), deshalb kann ich jetzt schon und ohne zweckorientierte Begleiterscheinungen meinen (bis jetzt) Lieblingsfilm für dieses Jahr nennen, der zwar nicht nominiert ist, dafür aber die leading (Cate Blanchett) und die supporting (Sally Hawkins) Lady: „Blue Jasmine“ von Woody Allen.

Noch diese Woche fange ich an, meinen Senf über diesen oder jenen nominierten Film zu breiten. Bis dahin: Hasta la vista, Baby.




TV-Nostalgie (10): „Fury“ – eine Zeitreise in die Kindheit

Von links: "Fury", Joey, Jim und Pete (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=mDZ2uXULqy0)

Von links: „Fury“, Joey, Jim und Pete (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=mDZ2uXULqy0)

Ach, schon der Vorspann führt einen mitten in die Kindheit zurück. Wie der kleine Joey mehrmals „Fuuuuury!“ ins weite Land hinaus ruft. Wie der schwarze Hengst dann endlich angaloppiert kommt und neben dem Jungen mit den Hufen scharrt. Und dann der legendäre Satz: „Na, Fury, wie wär’s mit einem kleinen Ausritt?“

1959 hatten meine Eltern ihren erstes Fernsehgerät gekauft, natürlich winzig und schwarzweiß. Seit dem 5. Oktober 1958 lief „Fury“ im Deutschen Fernsehen. Es war eine meiner allerersten TV-Erfahrungen. Wenn ich heute einige Episoden wiedersehe, ist das eine sentimentale Zeitreise.

Es geht um Moral und Anstand

Joey (Bobby Diamond) war als angeblich schwer erziehbarer Waisenjunge auf die „Broken Wheel“-Ranch von Jim Newton (Peter Graves) gekommen. Nicht nur der Junge muss „gezähmt“ werden, sondern auch ein wildes schwarzes Pferd namens „Fury“. Das aber gelingt niemandem besser als eben Joey. Nach dieser Probe wird er von Jim adoptiert und macht unentwegt Fortschritte – und mit ihm (so die deutliche Absicht und Hoffnung) die Kinder vor den Fernsehapparaten. Man sollte und konnte sich mit diesem Joey identifizieren.

Der Verfasser dieser Zeilen vor einigen Jahren bei gepflegter "Fury"-Lektüre (Bild: Privat)

Der Verfasser dieser Zeilen vor einigen Jahren bei gepflegter „Fury“-Lektüre (Bild: Privat)

Vor allem werden allerlei Moral- und Anstandsfragen durchgespielt und erörtert. Immer gilt es etwas zu lernen. Dabei geht es nicht so sehr um rationale Einsichten, sondern vor allem um die „innere Stimme“ des Gewissens, ja den Instinkt, der selbstverständlich in Reinkultur von „Fury“ verkörpert wird.

Ein ungemein kluger Hengst

Bei den vielen Abenteuern, die zu bestehen sind, spielt natürlich „Fury“ eine herausragende, oft entscheidende Rolle. Das Mindeste ist, dass der Hengst bei akuter Gefahr Alarm wiehert. Oft aber greift das ungemein kluge Pferd auch direkt ins Geschehen ein, indem es böse Menschen von ihrem schäbigen Tun abhält oder die Guten durch gezielte Stupser darauf hinweist, wohin sie sich wenden müssen.

Drei „Fury“-Folgen – jede rund 25 Minuten lang – habe ich mir noch einmal angeschaut: „Lebensfreude“, „Der starke Mann“ und „Ein alter Indianertrick“. In der zuerst genannten Episode geht es um Furys Sohn, der als „halbstarkes“ Tier zum nützlichen Mitglied der Pferdewelt erzogen werden soll. Dieser pädagogische Anspruch, der natürlich indirekt auch Joey betrifft, wird überdeutlich zur Sprache gebracht. So heftig könnte man heute nicht mehr den Zeigefinger schwenken.

Winke mit dem Zaunpfahl

„Der starke Mann“ dreht sich um gewaltlose Duldsamkeit als vorbildliche Haltung, die tollen Indianertricks beherrscht ein hinkender Junge, der einen Pferdedieb zur Strecke bringt. Auch hier winkt das Drehbuch mit dem Zaunpfahl.

„Fury“ spielt zwar nicht im klassischen Wilden Westen, sondern in der Gegenwart der 1950er und 1960er Jahre mit Auto und Telefon. Doch da draußen auf der Ranch stehen immer noch die alten Werte zur Debatte. Auch sind wir hier noch in einer nahezu lupenreinen Männerwelt. Jim Newton hat keine Frau, sondern mit dem alten Pete (William Fawcett) einen Koch und Haushälter, der nach damaligem Verständnis gleichsam eine Mutterrolle für Joey übernimmt.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), „Bonanza“ (9)




Solisten des Bottroper Kammerorchesters zelebrieren Morton Feldmans stille Musik

Morton Feldmans Musik erklang im Bottroper Malakoff-Turm. Foto: Stadt Bottrop/Pressestelle

Morton Feldmans Musik fand im Bottroper Malakoff-Turm einen schönen Klangraum. Foto: Stadt Bottrop/Pressestelle

Vier Flötentöne bilden eine kleine, sachlich anmutende Phrase, sekundiert von Klavierakkorden, und darüber wölbt sich die schwebende Figuration des Vibraphons. Diese Musik ist Klang und trägt nichts Aggressives, Dissonantes, Gehetztes in sich. Sie changiert in aller Behutsamkeit, mit minimalen rhythmischen Verschiebungen, in sanfter Dynamik, mit wunderbaren Farbwechseln.

Der amerikanische Komponist Morton Feldman hat das Werk 1983 geschrieben, als Beitrag zur Gattung Trio, mit dem Titel „Crippled Symmetry“, verweisend auf die Tatsache, dass die Symmetrie des musikalischen Verlaufs beständig zerstört wird. Mitglieder des Bottroper Kammerorchesters haben es nun unter Leitung Kai Röhrigs im „Klangturm Malakoff“ aufgeführt. Ja, hier entfaltet sich der Klang prächtig, die Solisten agieren mit unerschütterlicher Präzision. Und das Publikum verharrt mucksmäuschenstill.

Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Denn Feldman hat kein Trio – für Flöte/Bassflöte (Birgit Ramsl), Vibraphon/Glockenspiel (Andreas Steiner) und Klavier /Celesta (Röhrig) – im klassischen Sinne geschrieben, als tönend bewegte Form. Vielmehr wählt der Komponist musikalische Elemente zur Gestaltung eines freien Klangflusses, der 90 Minuten lang währt. Festhalten kann sich der Hörer an bestimmten Phrasen oder Tonwiederholungen. Die aber, kaum vernommen, rasch wie ein Chamäleon ihre Farbe wechseln.

Dann kommt etwa die Bassflöte zu Wort mit ihrem dunklen Timbre, formuliert eine beschwörende Episode, das Glockenspiel assistiert staccato auf einem Ton, das Klavier grundiert samtweich. Oder die Celesta hellt die Szenerie noch ein wenig auf. Das Publikum darf sich dem ergeben, meditieren oder sinnieren, etwa über das Phänomen des Dauerns in der Musik.

Karlheinz Stockhausen hat versucht, mit „Natürliche Dauern“, einem Zyklus von 24 Klavierstücken, eine Antwort zu geben. 140 Minuten lang, als Bruchteil eines auf 24 Stunden angelegten Projektes namens „Klang“. Der Ton entfalte seinen wahren Charakter erst mit dem Ausklingen – was Feldman postulierte, hat Stockhausen 20 Jahre später in seinem Werk einfließen lassen.

Der Amerikaner wiederum verordnete seinem zweiten Trio eine Dauer von gut vier Stunden. Zum Zeitphänomen sagte Feldman: „Bis zu einer Stunde denkt man über die Form nach, doch nach eineinhalb Stunden zählt der Umfang. Man muss das ganze Stück überblicken – dazu bedarf es einer erhöhten Art der Konzentration“. Auch dieses Werk haben die Solisten des Bottroper Kammerorchesters aufgeführt, einen Tag später nach Nummer eins, in der Heilig-Kreuz-Kirche. Feldman schrieb das Stück als Hommage an den Maler Philip Guston. Eine Musik des Stillstands, wie der Komponist es selbst formulierte. Alles kommt sanft daher, schwebend und zwischendurch nichts als Stille.

Noch einmal sei Feldman zitiert: „Meine Musik ist eher ein Monolog, der keiner Ausrufezeichen, keines Doppelpunktes bedarf“. Und: „Wenn man laut ist, kann man den Klang nicht hören“. Fürs Publikum eine musikalische Grenzerfahrung. Nun, wer wollte, konnte hinausgehen und sich eine Pause gönnen. Am Ende aber bleibt die Anerkennung für ein solcherart ambitioniertes Programm. Das Bottroper Kammerorchester traut sich was.

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ-Ausgabe Bottrop erschienen.)




Familienfreuden XIV: Eine Lektion Babyschwimmen

Es gibt solche Eltern. Und es gibt solche Kinder. Oder: Wir waren beim Babyschwimmen. Eine Lektion in Demut, Erziehung und dem ganz normalen Wahnsinn.

Ich bin sicher, es gibt sie. Kinder, die nie nölen, schreien oder laut protestierend ihren Willen durchsetzen wollen. Die nie im unpassenden Moment in die Windel machen, für den nächsten Keks fast den Kinderwagen zum Umfallen bringen oder an der Supermarktkasse eine Revolte anfangen, gegen die die Französische Revolution ein Fliegenpups ist. Die allerdings schon mit sieben Monaten das Laufen begonnen haben, mit acht Monaten das Sprechen und ab anderthalb den ersten Kurs an der Uni besuchen. Und es gibt sicher auch die Eltern, die nie die Nerven verlieren, die immer genau wissen, was gerade mit ihrem Kind los ist und die nie auch nur ein gekauftes Gläschen an ihren Nachwuchs verfüttert haben.

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Ich gestehe: Wir gehören nicht dazu.

Der Auslöser für diese Zeilen? Wir waren beim Babyschwimmen.

„Was ein Stress“

Normen watete mit Fi ins Wasser, ich stand am Beckenrand. Als ein Vater einen anderen mit leidendem Gesichtsausdruck und den Worten „Oh, was ein Stress! Wir müssen gleich noch zu Babyone!“ begrüßte, versuchte ich, das nicht als böses Omen zu werten.

Und tatsächlich: Fi lachte, planschte, paddelte – das Glück hatte ein Gesicht.

Nur ich hätte es beinahe nicht gesehen, weil mir schwarz vor Augen wurde. Die Schwimmhalle war auf gefühlte 50 Grad aufgeheizt. Die anderen Väter und Mütter am Beckenrand standen in luftigen Sportklamotten da – ich in meiner Winterkleidung drohte gleich, ins Wasser zu kippen.

Als ich einer Mutter sagte, dass mir die Hitze zu schaffen machte und die anderen Eltern ja schlauerweise dünner angezogen seien, schaute sie mich von oben bis unten an und sagte: „Mit gutem Grund!“

Ich schluckte es runter wie Fi das Chlorwasser.

Wickeln im Stehen

Hinterher in der Kabine, neben mir eine Mutter, die ihr Kind anzog, die Oma daneben. Ein eingespieltes Team, das sah man sofort. Fiona hingegen verstand unter Einspielen etwas anderes, als sich ruhig hinzulegen und anziehen zu lassen. Sie blieb zeternd stehen. Wickeln im Stehen gehört mittlerweile zu meinem Standardrepertoire – in normalen Situationen. Eine winzige Umkleide bei tropischer Hitze sprengt allerdings den normalen Rahmen. Wir arbeiteten uns millimeterweise vorwärts, ich beruhigend auf Fi einredend, sie zappelnd.

Blick von links. Missbilligend. Vielsagendes Räuspern. „Schau mal, Arabella“, sagte die Mutter neben mir honigsüß zu ihrer Babytochter, „DA wird noch diskutiert. DIE Phase haben wir ja schon hinter uns. DU wirst einfach hingelegt – und gut ist!“

Kennt Ihr die Folge des Tatortreinigers, bei der er von einem Nazi verbal belagert wird und in Tagträumen überlegt, wie er gern reagieren würde? Ich will keine Details nennen, aber mein Tagtraum hatte mit Fi’s voller Windel zu tun…

Glück zählt

Was soll ich sagen? Wir werden trotzdem wieder hingehen. Fi schließlich hat es glücklich gemacht – das zählt.

Das nächste Mal aber werde ich daran denken, was Normen beim Umziehen in der Männerkabine mitangehört hat. Dass nämlich der eine Vater den anderen fragte, ob er demnächst mal wieder joggen werde. Und der nur resigniert sagte, er habe nun Familie, Job, Haus. Da sei sowas wirklich nicht mehr drin.




Der Krankenhausreport (Teil 1): „Ich nehme dann das Einzeldoppel“

„Ich brauche etwas Schleim von Ihnen!“ So beginnt der Besuch an meinem neuen Bett, die Befragung des Stationspersonals nach meiner Selbsteinlieferung ins Spital. Das hatte ich am Sonntag noch im Tatort gesehen.

Sie nimmt diesen langen Stab mit dem Watteköpfchen, schiebt ihn in meinen Mund, dreht ein wenig und schiebt ihn dann sofort in ein Nasenloch, dreht ihn wieder hinaus, den Stab. Um 13.40 Uhr melde ich mich zuvor auf Station B4. Ich müsse zuerst in die Patientenaufnahme unten links.

Ich lasse meinen Reisekoffer zurück, an dessen Tragegriff der noch den Gepäckaufkleber der Lufthansa baumelt. Dieser dunkelrote Koffer hatte bisher für mich nur eine einzige Bedeutung: Reisen. Dazu verfolge ich eine Packliste, die ich angefertigt hatte, um nichts zu vergessen. Es gibt die Varianten „2 Tage“, „3-5 Tage“, „bis zu 10 Tagen“. Daraus folgen die Anzahl der Socken, Unterwäsche, Hemden etc., die mir den Aufenthalt am jeweiligen Reiseort – zumindest was die Kleidungsvariationen betrifft – variabel gestalten soll. Ein bisschen Urlaubsgefühl ist dabei, wenn ich diesen Trolley durch die Gänge schiebe. Hier allerdings suche ich nicht den richtigen Terminal, sondern die richtige Station, ein Urlaub also zur Verhärtung weicher Lebensgefühle.

Einzeldoppel

Einzeldoppel

Ich melde mich an und erhalte eine Info-Mappe der Krankenanstalt mit einem kleinen Prospekt für Zusatzleistungen. Die Fotos haben etwas von einem Reiseprospekt. Man kann also Extras nachbuchen. Zum Beispiel Einzeldoppel. Das kenne ich von meinem ersten Urlaub, damals in den 70ern auf Mallorca. Damals hatte ich ein Einzeldoppel, wusste also vorher nicht, wer noch in meinem Bett wohnt. So ist das also auch hier. Ich fahre wieder hoch zur Station B4 und frage die Schwester in der Rezeption nach einer solchen Sonderleistung und deute auf das Foto im Prospekt. Vor einer bunten Wandtapete liegt eine fröhliche Einzelperson in einem opulenten Bett. Sie lächelt so wie auch die Schwester. Man habe ein solches Einzel nicht. Die Diensthabenden lächeln unisono. „Okay“, sage ich, „ich verstehe. Ich nehme dann das Einzeldoppel.“ Ich könne mir ruhig noch eine rauchen gehen.

Bitte im Voraus bezahlen

Das Zimmer, also das Einzeldoppel, soll ich im Voraus bezahlen. Die Dame in der Patientenanmeldung muss wieder ein paar Formulare ausfüllen. Ich kann per Karte bezahlen. Ist klar, wer hier bucht, dessen letztes Stündlein könnte geschlagen haben und dann ist es schwer, an die Kohle zu kommen, also vorab cash. Kein Sonderfall also. 59,00 Euro inklusive Tageszeitung, heißt es. Der Chefarzt sagte mir schon bei meinem Vor-Einlieferungsgespräch, dass ich nicht in einem Schlafanzug herumlaufen müsse. Von Dinnerkleidung hat er nicht gesprochen. Also sitze ich in zivil auf der Bettkante und schaue auf graue Dächer. So wie es die Wahnsinnigen tun, wenn es um Filmszenen geht. Die Kamera zeigt den Kranken von hinten auf der Bettkante sitzend, aus dem Fenster schauend. Unten draußen meist ein Park mit einer Bank. Dieses Zimmer ist ein Einzeldoppel mit einem Flachbildschirmfernseher. Keine bunte Tapete, aber ein geräumiges Bad.

Bettnachbar mit Fernbedienungshoheit

Der Zimmer- und Bettnachbar ist ein älterer Herr, der an Zu- und Ableitungen gefesselt ist. Er hat die Fernbedienungshoheit. Es läuft RTL2. Das deprimiert mich, gelinde gesagt. Ich sollte zur Rezeption flitzen und auf eine Reisepreisminderung von mindestens 20% pochen. Aber ich versuche stattdessen, mir etwas Niederträchtiges einfallen zu lassen, um an die Fernsehhoheit zu kommen. Nach circa 20-minütigem Bettkantensitzen fällt mir etwas ein, aber ich werde es nicht tun. Man würde mich in ein Zimmer verfrachten, welches nicht einmal über eine Bettkante verfügt.

Bei der Schleimentnahme kurze Zeit später meint die Schwester, sollte ich jenen Virus oder jenes Bakterium mitgebracht haben, müsste ich umgehend in ein Einzelzimmer, Aber es gelingt mir nicht, mir diese kleinen Biester schnell zu besorgen. Also Doppel-Einzel. Fertig. Immerhin gelte ich jetzt als „privat“, nur mit der gleichnamigen Sphäre ist nicht weit her. Scheinbar sieht man mir das Private an. An der Rezeption der Empfangshalle frage ich nach einem Kopfhörer. „Sie müssen nichts zahlen. Sie sind ja privat, “ sagt Frau Sommer. Vielleicht liegt es an meiner Stimmlage oder Haltung. Ich gebe ihr trotzdem zwei Euro. Das wirkt wie ein Strauß roter Rosen. „Schon gut“, sage ich in meiner Graf-Koks-Haltung. Und ich könne mir ja noch eine rauchen.

Draußenk in der fünfzig Meter vom Eingang entfernten Raucherbox für die Aussätzigen, aber immerhin Wind geschützt, stehe ich rum wie man nur rumstehen kann. „Ich bin privat“, denke ich. Dass man eines Tages für reine Privatheit extra zahlen muss, ist mir längst klar. Privatier innerhalb eines Massensystems – das können sich eines Tages nur die Reichen leisten.

Nach den Elektroschocks eine rauchen gehen

Es ist gut, dass sich die Türen ins Spital automatisch öffnen. Das hat etwas Erhabenes. Ich soll in den fünften Stock kommen zur ersten Untersuchung. Es gibt Elektroschocks. Ich weiß, was auf mich zukommt. Bereits im Vorfeld meiner neurologischen Laufbahn hatte ich diese Untersuchung über mich ergehen lassen. In einem stillen Raumschließt sie mich an ein Gerät an, die Mitarbeiterin, die für Elektroschocks ausgebildet wurde. Ich werde nicht als Ganzes angekabelt, sondern nur Beine, Füße und Hände. Und es zuckt und stößt. Das erinnert mich an Bilder aus einem Schlachthof. Dort vibrieren die Schweine und Rinder nach dem Elektroschlag noch etwas nach. Sie zucken, bevor sie zur Wurst werden. Auch ich zucke und es zeigt, dass Leben in mir tobt. Das ist gut. Und anschließend könne ich ja noch eine rauchen gehen.

Mein Zimmernachbar schaut jetzt irgendein Reality-Format. Ich versuche, Müdigkeit in Schlaf zu verwandeln. Ich stöpsele den Kopfhörer in mein iPhone und höre Radio. Es kommt zum ärztlichen Aufnahmegespräch.

Der Arzt hat etwas von einem Assistenz-Arztdarsteller in Arztfilmen. Er fragt Fragen, die ich bereits vorher sorgfältig schriftlich beantwortet hatte. Er füllt seinen Aufnahmearztbogen aus und sagt, er sei mit der Diagnose seines Chefs einverstanden. Auf Wiedersehen. Ich sitze auf der Bettkante und lese meine Emails auf dem iPhone. Kurz zuvor hatte ich dem Arzt noch meine Röntgenaufnahmen hintergeworfen. „Hier meine Röntgenbilder“, rief ich, „Füße, Hände, Hüfte. Falls das von Interesse ist.“ Ich hätte auch noch Lunge und Hals, auch den kompletten Kiefer. Fast widerwillig nahm er die großen Umschläge mit den Aufnahmen und verschwand mit wehendem Kittel.

Ich sehe mal unten im Foyer nach. Dort gibt es laufend Ankündigungen zum Veranstaltungsprogramm des Instituts. Es gibt Sprechstunden bei einem Patientenfürsprecher. Mh?

Dinner

Dinner

Seelsorge, Selbsthilfegruppen aller Art und ein Klavierkonzert. Alles Vorbereitungen auf den Ernstfall. Ich bekomme Besuch und das erste Abendbrot. Es ist 17.00 Uhr! Wir besuchen die Cafeteria, die ihre Öffnungszeiten bis 18.30 Uhr begrenzt. Vielleicht gibt es da ein Gesetz, denn nun wäre die Zeit für den großen Schnitzel- und Pommesumsatz.

Abendbrot als Zeitreise in die 1970er

Das Abendbrot war eine Zeitreise an den Anfang der 1970er, als ich meinen ersten Krankenhausaufenthalt absolvieren musste. Sechs Wochen stationär. Das Abendbrot war exakt dasjenige, welches ich soeben lieblos angeknabbert hatte. Eine Scheibe Graubrot, eine Scheibe Weißbrot, Marmelade und eine Packung billigster Streichkäse of the world, Pfefferminztee und ein Fruchtjoghurt ohne Löffel. Damit sind alle Erkenntnisse der letzten Jahre über Ernährung über den Haufen geworfen. Alles, was man über gute Ernährung seit den 70ern hat erkennen können, wird hier missachtet. Aber ich esse mein Brot und trinke meinen Pfefferminztee, weil ich mich den Gegebenheiten einer Krankenanstalt anpassen will. Das gehört hier zum Überlebenstraining und was ist gegen deutsches Brot einzuwenden? Gar nichts. Die Amerikaner fahren Meilenweit, um etwas graues Brot zu bekommen, anstelle der weißen Knetmasse, die man in Toaster drückt.

Fortsetzung folgt




„re:set“ – Recklinghausen zeigt Malerei nach Computer-Motiven

Drum

Viereinhalb Quadratmeter wabernde Kunst: „Drum’n Bass“ von Volker Wevers aus dem Jahr 2007 (Bild: Kunsthalle Recklinghausen/Katalog)

Der Computer, eine Binse, hat viele Lebensbereiche gravierend verändert. Auch die bildende Kunst bedient sich seiner, manche Menschen behaupten gar, der Computer selbst besäße Kreativität und würde den Künstler bald überflüssig machen. Ist die Maschine also das letzte Maß der Dinge? Das will man ja auch nicht so recht glauben, zumal Bäume nicht in den Himmel wachsen, selbst dann nicht, wenn sie digitalisiert sind.

In der Recklinghäuser Kunsthalle sind nun rund 70 Bilder zu sehen, deren Schöpferinnen und Schöpfer sehr bewußt eine Trennlinie zur elektronischen Kunstgenerierung gezogen haben. Es ist dies eine Grenze irgendwo auf dem Weg zum künstlerischen Endprodukt, keine Ausgrenzung des Elektronischen schlechthin. Vielmehr sind viele Entwürfe im Rechner entstanden, um letztlich jedoch zu einem „gemalten“ Bild zu führen. „Re:set – abstract painting in a digital world“ ist die Gemeinschaftsschau von 16 Künstlerinnen und Künstlern überschrieben, und es darf einen nicht wundern, daß vier von ihnen mit Video arbeiten, was der Malerei ja nur mit einigen definitorischen Anstrengungen zuzuordnen ist.

Die Teilnehmer stammen aus Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, kuratiert wurde die Ausstellung von Claudia Desgranges und Friedhelm Falke, die auch als Künstler beteiligt sind, und das ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kunsthalle Recklinghausen mit dem Kunstmuseum Heidenheim, dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und dem Kunstmuseum Celle, wo die Ausstellung bereits zu sehen war. Womit wir endlich beim Thema wären: Was gibt es überhaupt zu sehen?

Global und kränkend phantasielos geantwortet: Viele große bunte Bilder, die in Machart und Anmut natürlich ebenso heterogen sind wie das Teilnehmerfeld. Noch komplizierter wird es, wenn in jedem Oeuvre die spezifische Beziehung zur elektronischen Bildergenerierung mitgedacht werden soll oder gar der Mehrwert für den Betrachter, der durch die handwerkliche Ausführung entsteht. Da hat Friedhelm Falke beispielsweise von schwarzen Balken dominierte Flächenkompositionen auf dem Rechner durchprobiert und seine Favoriten mit Acrylfarbe auf Nesselgrund gemalt; Signe Guttormsen betont die Stofflichkeit ihrer Werke, indem sie beim hölzernen Trägermaterial immer wieder die rechteckige Grundform bricht, Ab van Hanegem wiederum malt vergleichsweise traditionelle, farbenfrohe Flächenkompositionen auf Segeltuch. Ist er damit eher bei Cézannes Stilleben-Apfel, oder war der Bildschirmschoner sein Vorbild? „Eher Apfel als Bildschirmschoner“, stellt Hans-Jürgen Schwalm, der stellvertretende Chef der Kunsthalle, kategorisch fest. Wenngleich van Hagenems farbsatte Bilder auch sehr schöne Bildschirmschoner ergeben würden, unterlegt vielleicht mit einem pfiffigen Animationsprogramm.

Man schreitet voran durch die Hallen des ehemaligen Hochbunkers am Recklinghäuser Bahnhof, trifft auf Michael Jägers stupende Ansammlungen kleinteiliger Dekorationsmuster in knallbunten Clustern auf monochromen Flächen, begegnet Martijn Schuppers’ geheimnisvollen, dreidimensional wirkenden Farboberflächen, die aus dem All oder auch aus dem Elektronenmikroskop stammen könnten, tatsächlich jedoch in einer sehr speziellen Prozedur unter Zuhilfenahme von Lösungsmitteln und weiteren geheimen Chemikalien entstanden. Entfernt lassen sie in ihrer Textur übrigens an manche Flächenbilder von Gerhard Richter denken, der jedoch mit vollkommen anderer Technik zu seinen Resultaten gelangte.

Den wild geschweiften Flachformaten Volker Wevers’ ist eigen, daß sie kraftvolle Titel tragen: „Roundaboard“ heißt eines von ihnen, „Drum’n Bass“ ein anderes, „Wide Car in Germany“ ein drittes. In ihrer schlierigen, plastischen Anmutung erinnern sie an den spontanen Expressionismus des hundertjährigen K.O. Götz, den die Kunstwelt soeben wiederentdeckt (ab März in der Duisburger Küppersmühle), doch sind sie, wie angesagt, Früchte der Auseinandersetzung mit Computergeneriertem.

Einige Plastiken sind in der Ausstellung, und warum sie nicht Plastiken sein sollen sondern Malerei, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. Aber die stilistischen Zuordnungen von Kunst sind eh immer schwierig und wirken oft auch willkürlich. Ohne Computer-Hintergrund könnte man durchaus auch meinen, in dieser Schau etlichen Vertretern beispielsweise des abstrakten Expressionismus oder der konkreten Malerei begegnet zu sein.

Der Eindruck, den diese Recklinghäuser „postdigitale“ Bilderschau hinterläßt, bleibt verhalten. Natürlich liegt das ganz wesentlich daran, daß die zwölf unterschiedlichen Positionen einander gegenseitig Aufmerksamkeit wegnehmen. Doch köchelt das Gezeigte auch sehr im eigenen Saft, zeigt jenseits des autoreferentiellen Eifers wenig Lust auf Botschaft oder gar Radikalität.

Schließlich gilt, wie stets: Man (und frau!) gehe selber ins Museum und mache sich ein Bild. Denn nur hier gibt es die Originale zu sehen, und die wirken viel stärker als jede Reproduktion.

„re:set“ – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27 (am Bahnhof). Sonntag, 9. Februar, bis 13. April 2014. Geöffnet täglich außer Montag 11 bis 18 Uhr. www.kunst-re.de, Eintritt 3 Euro. Der ausführliche Katalog kostet im Museum 12 Euro, im Buchhandel 24,80 Euro.




Neue Familienopern statt „Hänsel und Gretel“ – Intendanten kooperieren für junges Publikum

Szene aus der neuen Familienoper "Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte". Foto: Hans-Jörg Michel

Szene aus der neuen Familienoper „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“, mit Alma Sadé und Florian Simson. Foto: Hans Jörg Michel

Nun soll „Hänsel und Gretel“ endlich in die Asservatenkammer verbannt werden. Jahrzehntelang hat Engelbert Humperdincks musikdramatisches Stück als Märchen- und damit Kinderoper auf großen Bühnen herhalten müssen. Das hat jetzt ein Ende – zumindest wenn es nach dem Willen von Christoph Meyer, Bernhard Helmich und Jens-Daniel Herzog geht. Denn die drei Intendanten haben für ihre Häuser (die Rheinoper Düsseldorf/Duisburg, die Oper Bonn und die Oper Dortmund) eine intensive, auf mehrere Spielzeiten angelegte Kooperation mit dem Ziel beschlossen, neue Produktionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu fördern.

Der erste Schritt in Richtung „Familienoper“ ist bereits getan. Mit der Uraufführung von Marius Felix Langes „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“ am 14. Februar 2014 im Theater Duisburg. Düsseldorf übernimmt die Produktion am 25. Juni. Die Häuser in Bonn und Dortmund ziehen in den kommenden beiden Spielzeiten nach. Die Kosten für das Projekt werden gedrittelt. Eine Bühne allein könnte es kaum schultern, erklärten die Intendanten einmütig, die ihr Vorhaben jetzt erläuterten.

Wiederum ist es die Rheinoper, die für Februar 2015 die zweite Produktion erarbeitet (Uraufführung in Duisburg). Jörn Arnecke wird die Musik zu „Ronja Räubertochter“ schreiben, nach der Erzählung von Astrid Lindgren. Intendant Christoph Meyer: „Nur unserer Kooperation ist es zu danken, dass wir die Rechte an diesem Stück erwerben konnten“. Einen Monat später wird diese Familienoper in Düsseldorf zu sehen sein, später dann in Bonn und Dortmund.

„Den Zauber der (großen) Oper entfalten“, das ist für den Bonner Intendanten Bernhard Helmich Sinn und Zweck des gemeinsamen Vorgehens. Doch auf keinen Fall sollen diesen hoch aufwändigen, neuen Werken kleinere Produktionen (in Zusammenarbeit mit Schulen) zum Opfer fallen. „Wir wollen etwas zusätzliches schaffen“, betonte Helmich. Und Christoph Meyer sagte: „Es geht nicht ums Sparen“.

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Das sieht auch der Dortmunder Opernchef Jens-Daniel Herzog so, der für ein breites Repertoire für alle Altersstufen plädierte. Aus seinem Haus (und das gilt auch für Bonn) wird indes eine neue, große Familienopernproduktion wohl erst zur Saison 2016/17 kommen. Das Bild ist auch noch diffus, fällt der Blick in Dortmund aufs klassische Kinderoperngeschehen in der nächsten Spielzeit. Sicher ist bisher nur, dass „Der kleine Barbier“ wieder aufgenommen wird. Das eine oder andere soll noch hinzukommen, heißt es. Darauf sind wir gespannt.

Bei der Vorstellung des Drei-Städte-Projektes kam der interessanteste Satz im übrigen vom Komponisten Marius Felix Lange: „Wir wollen die Kinder nicht irgendwo abholen, sondern sie für etwas begeistern, was uns selbst begeistert“. Lange weiß eben, dass die Nachwuchshörer Voreingenommenheit gegenüber dem Neuen nicht kennen. Und so wünschte sich Christoph Meyer, dass mit den Kindern auch die Eltern erreicht werden. Auf dass sich die Familie eben nicht nur auf das ewige „Hänsel und Gretel“ zurückziehe.

 




Beschädigte Welten: Uraufführung am Schauspiel Köln

Die Zutaten sind gut, das Rezept ist originell, trotzdem schmeckt das Chili ein wenig langweilig. Woran liegt das bloß? An den Schauspielern jedenfalls nicht: Sie schlüpfen in der Uraufführung „Die Welt mein Herz“ von Mario Salazar am Schauspiel Köln in zahlreiche unterschiedliche Rollen und beweisen ihre extreme Wandlungsfähigkeit.

Dabei verfährt Regisseur Rafael Sanchez nach dem Prinzip des cross-gender-acting: Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer, aber manchmal bleiben sie auch, was sie sind.

Liegt es an der Story? Sie ist tatsächlich etwas verwickelt, springt von von einem Diner in New York, in dem sich junge mexikanische Einwanderer treffen und von einem besseren Leben träumen, in eine argentinische Favela, wo diese Hoffnung noch ein wenig unwahrscheinlicher erscheint. Hier bleiben nur Prostitution, Gewalt und das gegenseitige Belauern von Hure und Zuhälter, Mutter und Kindern, Mann und Frau.

Einen weiteren Handlungsstrang bildet die Welt von Steve und Janine in Stendal und anderswo bzw. im Netz, ihre Mails kann man per Video-Projektion mitlesen. Sie haben ihr Kind umgebracht und können das nicht verkraften, deswegen fliehen sie voreinander in alle möglichen Länder, wo sie dann den Mexikanern begegnen. Aber nur kurz.

Tatsächlich sind die mäandernden Handlungsstränge nicht wirklich ein Problem, denn sie geben dem Stück so eine „globale“ Atmosphäre, ein Empfinden eines gleichzeitigen Geschehens in verschiedenen Zeitzonen und unterschiedlichen prekären Milieus. Denn beschädigt sind diese Welten alle, in die wir hineinblicken.

Vom Lebenskampf und ökonomischen Sorgen zermürbt, verroht auch die Innenwelt dieser Figuren; die Enttäuschung macht sie bitter und resigniert, hart gegen sich und andere, die Hoffnung nimmt ab wie der Mond und dann wird es dunkler. Es flimmern nur noch geisterhafte Figuren (oder ist es das tote Kind?) durch die Tiefen des Netzes, projiziert an die Bühnenwände.

Als verbindende Idee hat Salazar die Phantasie entwickelt, dass die Mexikaner in der Wüste von Nevada in ein Loch durch den Mittelpunkt der Erde hindurch fallen und in Stendal wieder rauskommen und dort auf Steve und Janine treffen und dann – passiert eigentlich nix. Müsste jetzt was passieren?

Jedenfalls ist die Szene lustig gespielt in einer Art kindlichem Impro-Stil. Witzig sind auch die Szenen, (den Handlungsstrang hatte ich fast vergessen) in denen sich die beiden alten dementen Damen aus ihrem Leben erzählen: Erinnerungsmäßig geht da allerdings einiges durcheinander. Auf jeden Fall ist die eine Omi die Geliebte vom Ehemann der anderen gewesen: Erfrischend zu sehen, dass Alter nicht vor Zickigkeit, Sex, Bosheit und Humor schützt. Vergessen hilft dabei, die Dinge von der leichten Seite zu nehmen.

Also: Warum ist das Chili nicht so ganz scharf? Ich weiß es nicht, seht selbst…

Tickets und Termine:

www.schauspielkoeln.de

 




Afrikanischer Immigrant im mörderischen Dauerstress – „Call Shop“ beim WLT uraufgeführt

Noch ein Stück über afrikanische Immigranten? Wieder die bis zum Überdruss vernommene Klage über das Unrecht in der Welt und die Ignoranz der reichen Europäer?

Die Ankündigung des Stückes „Call Shop“ von Jubril Sulaimon, das jetzt beim Westfälischen Landestheater seine Uraufführung erlebte, weckt solche Erwartungen, geht es doch in der Tat um einen afrikanischen Studenten und seine „typischen“ Probleme, die immer deutlicher werden, je länger wir ihm beim Telefonieren zusehen. Doch was Sulaimon als Autor wie auch als Hauptdarsteller erzählt, ist weitaus komplexer als erwartet. Und beschämt, wie könnte es anders sein, all jene, die vorher schon alles ganz genau wussten.

Im Gepäck vieler Menschen aus ärmeren Teilen der Welt, die in den reichen Norden kommen, stecken riesengroß auch die Erwartungen der Daheimgebliebenen. Man rechnet mit Geldüberweisungen, mit Hilfe vor Ort für Nachzügler. Außerdem, das Telefon macht die Erde zum globalen Dorf, erwartet die Verwandtschaft, dass sich die jungen Emigranten weiter um die Probleme zu Hause kümmern, um den kaputten Stromgenerator, um Großmutters Verdauungsprobleme, um die Ziege, die einem Nachbarn angeblich eine Glasscheibe zerstört hat, wofür dieser Schadensersatz haben will. Nicht im geringsten können sich die eigenen Leute vorstellen, dass ihr Sonnyboy Lamidi in Europa ganz andere, riesengroße Probleme hat, dass sein Visum erloschen ist und ihm die Abschiebung droht. Im Call Shop, in dem einige Telefone gar nicht und manche nicht richtig funktionieren, kämpft Lamidi einen aussichtslosen Kampf gegen übermächtige Widerstände. Er muss einem leid tun.

Die andere Figur in diesem Zweipersonenstück ist Damika (Julia Gutjahr), die mit mäßiger Motivation im Call Shop an der Kasse sitzt und für die Dauerklagen des gestressten Dauertelefonierers den entspannten Dialogpartner abgibt. Heirat verhieße Bleiberecht – man spricht über Paare, über alte Europäerinnen und ihre jungen afrikanischen Männer, über subtile Formen der Ausbeutung.

Späterhin verändert sich Damikas Rolle grundlegend, die Maske der Coolness fällt von ihr ab. Sie berichtet, dass ihre osteuropäische Familie sie schon als Kind zur Prostitution zwang, dass sie nach Deutschland floh und keinen Kontakt mehr zu ihren Leuten hält. Das ist ihre Überlebensstrategie, die sie auch Lamidi beschwörend nahelegt: Wenn er in der Fremde überleben will, muss er sich von den Problemen der alten Heimat abnabeln. Aber das ist nicht leicht.

So, wie Christian Scholze es in Castrop-Rauxel inszeniert hat, ist Jubril Sulaimons aufgeregtes, rastloses Einstundenstück eher Statement als Erzählung. Doch sicherlich hätte man auch die Geschichte im Stück stärker betonen können. Denn wenn Damika und Lamidi einander näherkommen und der Call Shop sich als ihrer beider verzweifelter Sehnsuchtsort entpuppt, als kümmerlicher Treffpunkt der fortgejagten, einsamen Kinder, dann ist das eine Liebesgeschichte, wenngleich ohne Happy End. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, sagt Lamidi gegen Ende des Stücks, „Ich brauche die Stimmen von zu Hause“. Und dann geht er doch.

Seit 1992 lebt und arbeitet der Nigerianer Jubril Sulaimon (Jahrgang 1968) in Deutschland, spielte in Essen, Bochum, Bremen, Wuppertal, Düsseldorf und Hamburg Theater, ist aktuell mit seinem Tanz- und Theaterensemble „Jubril Sulaimon und aipo“ auf Tournee, macht Soloprogramme. Er ist ein Märchenerzähler und ein Komödiant, meistens. Wenn in diesem bedrückenden „Call Shop“ keine Heiterkeit aufkommen konnte, so lag dies sicherlich nicht an ihm.

Die nächsten Termine sind in Essen: 26. u. 27. Februar, 20 Uhr, Einführung 19.30 Uhr. Maschinenhaus Essen. www.maschinenhaus-essen.de, Tel. 0201 / 83 78 424.
Weitere Infos: http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/400/

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen)




„Die Anstalt“: Harte Arbeit an der ZDF-Satire

Es sieht ganz so aus, als wollten sie nicht mehr in erster Linie komisch sein, sondern vor allem (ge)wichtig und relevant. Sie attackieren frontal die Deutsche Bank, sie zeigen gar deutliche Sympathien für Positionen der Linkspartei, als wollten sie die leitenden Herrschaften beim ZDF mal so richtig ärgern. Doch sie spielen auch schon die Illusion mit, die sich darin verbirgt.

Sie, das sind Max Uthoff und Claus von Wagner, die jetzt von Urban Priol und Frank-Markus Barwasser (Pelzig) die Satiresendung des ZDF übernommen haben. Die heißt nicht mehr „Neues aus der Anstalt“, sondern schlichtweg „Die Anstalt“ und hatte heute ihre Premiere.

Neue Chefs in der "Anstalt": Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Neue Chefs in der „Anstalt“: Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Was der Sendung leider fehlt, ist eine wirklich prominente und zugkräftige Leitfigur. Ersichtlich fahrig und hektisch strampelt man sich ab, um den mangelnden Bekanntheitsgrad wettzumachen. Man kokettiert mit der eigenen, mutmaßlich durchschlagenden Wirkungslosigkeit, erklärt die Sendung aber vollmundig für „besetzt“ und träumt nicht nur insgeheim davon, dass das ZDF einem „den Saft abdreht“. Doch dazu besteht vorerst denn doch wenig Anlass.

Gewiss. Man arbeitet sich nicht mehr so sehr parodierend an einzelnen Figuren des Politikbetriebs ab, wie es Urban Priol kräftezehrend vollführt hat. Doch so mancher personalisierende Kalauer (Gauck als „moralische Knautschzone“ usw.) rutscht auch jetzt noch durch. Sei’s drum.

Gewiss. Eine Wut über so manche Verhältnisse (Fernsehprogramm-Elend, Schwulen-Diskriminierung, irrwitzige Banken-Macht, unbarmherziger Umgang mit Flüchtlingen) ist spürbar. Doch das wirkt zum Auftakt noch etwas wahllos gestreut, ja mitunter geradezu diffus – und gelegentlich auch flau und undifferenziert.

Gewiss. Da gibt es den einen oder anderen erhellenden, aufklärerischen Moment. Doch vieles kommt noch herzlich unkomisch und somit flügellahm daher. Der depressive Gestus von Nico Semsrott und der dampfende Zorn von Matthias Egersdörfer setzen immerhin gegenläufige Akzente mit etwas Kontur. Simone Solga steht freilich ein wenig hilflos dazwischen.

Aus der Sendung kann jedoch noch etwas werden, wenn man nach und nach die richtigen Mitstreiter an Land zieht und einen wirklich eigenen Stil entwickelt. Wahrlich keine leichte Aufgabe, diese Kärrnerarbeit an der ZDF-Satire…




Das Volk bei Laune halten – Filme mit Rühmann

Die Kinofilme mit Heinz Rühmann (1902-1994) zählen auch zum eisernen Bestand des Fernsehens. Immer mal wieder werden die Klassiker wiederholt – vor allem mit Blick auf ein gereiftes Publikum.

Wie ich darauf komme? Nun, heute war beim Kulturkanal arte mal wieder Helmut Käutners „Der Hauptmann von Köpenick“ (1956) zu sehen. Bei solchen Anlässen schwelgen viele in nostalgischen Gefühlen.

An alte Erfolge angeknüpft

Damals hatte der Film rund 10 Millionen Kinozuschauer und war somit der meistgesehene Streifen der Saison. Spätestens damit knüpfte Rühmann an seine Erfolge aus Vorkriegs- und Kriegszeiten („Die drei von der Tankstelle“, „Die Feuerzangenbowle“ und viele, viele andere) an.

Alle stehen stramm vor ihm: Heinz Rühmann als "Hauptmann von Köpenick". (© ARD/Degeto)

Alle stehen stramm vor ihm: Heinz Rühmann als „Hauptmann von Köpenick“. (© ARD/Degeto)

Man kann es nicht verschweigen: Bis heute streiten sich die Geister, inwieweit Rühmann in die NS-Zeit verstrickt gewesen ist. Goebbels und Göring haben sich jedenfalls hin und wieder für ihn eingesetzt. Er hat das Volk in finsteren Zeiten bei Laune gehalten…

Mit Uniform ein anderer Mensch

Zurück zum „Hauptmann von Köpenick“. Die allzeit junge Geschichte vom einfachen, verarmten Schuster Wilhelm Voigt, der weder Ausweis noch Arbeit hat, sich eine alte Uniform verschafft und fortan auf lauter unterwürfige Leute trifft, kann als Kritik am kaiserzeitlichen Militarismus verstanden werden. Wie kaum anders zu erwarten, hat Rühmann das allerdings nicht scharf ausgespielt, sondern letzten Endes eher milde und verschmitzt.

Ich gebe gern zu, dass ich diese Spielweise nicht immer sonderlich gemocht habe. Im sämigen Einverständnis mit seinem Publikum spielt Rühmann oft ein allzu versöhnliches Augenzwinkern mit. Doch andererseits trägt und prägt er ganze Filme wie nur wenige. Und der „Hauptmann“ ist fürwahr einer seiner stärksten Auftritte überhaupt.

Oft den „kleinen Mann“ verkörpert

In seinen jungen Jahren sollte der gebürtige Essener, dessen Eltern zeitweise die Bahnhofsgaststätte in Wanne (heute Herne) und dann das Essener Hotel „Handelshof“ betrieben haben, auf den Theaterbühnen zunächst Heldenrollen übernehmen. Das konnte schon wegen seiner geringen Körpergröße nichts werden. Und so hat er später bevorzugt jungenhafte Typen oder buchstäblich den „kleinen Mann“ verkörpert – am eindrücklichsten vielleicht im Fernsehfilm „Der Tod des Handlungsreisenden“ (1968) nach Arthur Miller. Oder eben auch im „Hauptmann von Köpenick“ nach Carl Zuckmayer. Da zeigt Rühmann anfangs den ganzen Jammer und die Resignation des im Leben Gescheiterten. Doch dann schwingt er sich auf – und wie!

Der Köpenick-Film überzeugt jedenfalls auf ganzer Linie, auch wegen weiterer Darsteller wie Martin Held, Josef Offenbach oder Wolfgang Neuss. Vor allem jedoch: Rühmann mag eine zwiespältige Größe sein, aber er ist ein Größe. Ursprünglich sollten Curd Jürgens oder Hans Albers die Rolle spielen, erst Regisseur Käutner hat Rühmann gegen Widerstände und Bedenken durchgesetzt. Die anderen Schauspieler hätten es anders gemacht, aber bestimmt nicht besser.




Wacht auf, Verdammte dieser Erde: „Der fliegende Holländer“ wieder am Aalto

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

„Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das berühmte Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Diesen Satz hat Regisseur Barrie Kosky in seiner Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ von 2006, die jetzt in der Aalto-Oper in Essen wiederaufgenommen wurde, ganz wörtlich genommen.

Er deutet den Holländer als Wiedergänger des geschundenen Arbeiters, des Kommunisten der ersten Stunde, der in der Welt keine Heimat finden kann – schon gar nicht im real existierenden Sozialismus der DDR. Hier leben nämlich Senta (Astrid Weber), ihr Vater Daland (Tijl Faveyts) und auch alle Matrosen dieses „Staatsschiffes“, das anmutet wie ein Bürogebäude der Staatssicherheit in Plattenbauweise. Die „Wacht“ des Steuermannes (Rainer Maria Röhr) wird dabei übersetzt als Komplettüberwachung der Bevölkerung durch die Behörde „Horch und Guck“. Mit Fernrohren spähen die Seeleute bzw. Beamten aus dem Fenster, ab und zu blitzt eine Kamera auf, um einen Vorgang auf der Vorderbühne zu dokumentieren.

Dieser Zugriff auf eine Wagneroper scheint zunächst ein wenig ungewöhnlich und man braucht als Zuhörer etwas Zeit, die Bilder zu enträtseln, während die bekannten Klänge aus dem Drama um das Geisterschiff, Liebestreue und Erlösung an die Ohren drängen.

Doch es funktioniert, denn Barrie Kosky hat seine Interpretation dem Stoff nicht einfach übergestülpt, sondern seine Ideen aus ihm entwickelt. Was bedeuten Treue und Verrat für Menschen in unserem Jahrhundert? Kann man sich auf Freundschaft in einem sogenannten „Unrechtsstaat“ verlassen? Kann ich mir sicher sein, dass meine eigene Ehefrau mich nicht bespitzelt? Auf diese Weise macht Regietheater Spaß und Sinn – vor allem, wenn wie in Essen, der musikalische Genuss noch dazukommt (Dirigat: Tomás Netopil).

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

Stimmlich beeindrucken vor allem Astrid Weber als Senta und Tijl Faveyts als Daland. Ebenso zeigt Almas Svilpa als Holländer Präsenz, wenn er wie einst Manfred Krug im Film „Spur der Steine“ in Feinripp-Unterhemd und Zimmermannshose die Bühne beherrscht, von den staunenden Bewohnern des Arbeiter- und Bauernstaates als ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten begafft. Die Szene, in der dann der komplette Opernchor als Senta verkleidet kurz davor ist, das Geisterschiff zu stürmen, überdreht die Sache ein wenig und kann doch sinnvoll gedeutet werden: Den Traum vom wahren Sozialismus haben nicht nur Senta, sondern sie alle vielleicht mal geträumt. Doch was ist daraus geworden: Ein Schiff, bewohnt von Gespenstern. Und die Ideale von damals? Sind in der hinterhältigen Spießigkeit des Überwachungsstaates irgendwann verlorengegangen…

„Fürchtest Du ein Lied, ein Bild?“ singt Senta, gerichtet an Erik (Jeffrey Dowd), ihren Führungsoffizier, und spielt damit auf das schwierige Verhältnis der Kulturschaffenden zur Staatsführung an. Die Szene, in der Erik Senta noch einmal auf ihre Liebe verpflichten will, ist konzipiert wie ein Verhör. Senta hätte „eine Versicherung ihrer Treu“ gegeben respektive unterschrieben, bei der Stasi mitzutun. Hat sie? Der Holländer, der hinter dem Vorhang steht, muss dies glauben: Senta hat ihn verraten.

Sie nun, setzt das Messer an seinen Hals und erlöst ihn. Sich selbst zu richten, das gelingt ihr bei Barrie Kosky nicht. Senta blickt stumm ins Leere: Aus der Traum.

Nächste Aufführung: 21. Februar 2014
Karten: www.aalto-musiktheater.de

 




Starke Gemeinschaftsleistung: Leonard Bernsteins „On the Town“ in Gelsenkirchen

Die forsche Taxifahrerin Hildy (Judith Jakob) kutschiert Chip (Michael Dahmen) durch New York (Foto: Thilo Beu/MiR)

Die forsche Taxifahrerin Hildy (Judith Jakob) kutschiert Chip (Michael Dahmen) durch New York (Foto: Thilo Beu/MiR)

Den Erfolg seines Musicals „West Side Story“ hat Leonard Bernstein in späteren Jahren oft erdrückend gefunden. Er, der gerne als Komponist ernsthafter Werke anerkannt werden wollte, der neben drei Sinfonien noch die „Chichester Psalms“, Lieder, Klavier- und Kammermusik schuf, fühlte sich immer wieder auf seine drei populärsten Werke reduziert.

Zu ihnen zählt neben der „West Side Story“ und „Candide“ sein bereits 1944 uraufgeführter Musical-Erstling „On the Town“: ein vor Optimismus sprühender Geniestreich eines 26-Jährigen, der in der Verfilmung mit Gene Kelly, Frank Sinatra und Jules Munshin weltberühmt wurde. Drei Matrosen auf Landgang in New York haben in dieser turbulenten Seemannskomödie nur 24 Stunden Zeit, um die Stadt und die große Liebe zu erobern.

Einem lang gehegten Wunsch seines Chefdirigenten Rasmus Baumann folgend, hat das Musiktheater im Revier jetzt alle Kräfte gebündelt, um „On the Town“ zu einem lebensprallen Streifzug durch das New York der 40er Jahre zu gestalten. Gelsenkirchens Hausregisseur Carsten Kirchmeier, neben Kinderopern hier schon für drei Musicalproduktionen verantwortlich, arbeitete dabei Seite an Seite mit Ballettchefin Bridget Breiner, deren Compagnie den Schwung von Bernsteins Musik lustvoll aufgreift und umsetzt.

Die Jagd nach dem Glück spielt sich zwischen monumentalen Überseekoffern ab, die eng gruppiert die Straßenschluchten von Manhattan heraufbeschwören, zuweilen aber auch überraschende Inhalte freigeben. Auf diese sicherlich kostengünstige, aber wirkungsvolle Bühne von Jürgen Kirner zaubert die Kostümabteilung US-amerikanischen Charme, der Nostalgie und Glamour zitiert, das Grelle aber wohltuend meidet (Renée Listerdal). So kommt eine unterhaltsame Typenparade zustande, die das facettenreiche Bild einer vibrierenden Metropole zeichnet.

Umschwärmt: Die "Miss U-Bahn Ivy Smith (Julia Schukowski. Foto: Thilo Beu/MiR)

Umschwärmt: Die „Miss U-Bahn“ Ivy Smith (Julia Schukowski. Foto: Thilo Beu/MiR)“

Die Premiere gerät vor allem deshalb zum Erfolg, weil Statisten, Chöre, Sänger, Tänzer und Musiker überzeugend an einem Strang ziehen. Dies hilft der Produktion vor der Pause über manch zähflüssigen Dialog hinweg.

Für die starke Gemeinschaftsleistung seien ein paar Namen exemplarisch herausgehoben: Die Matrosen Gabey (Piotr Prochera), Chip (Michael Dahmen) und Ozzie (E. Mark Murphy), die vor jugendlicher Unternehmungslust schier aus ihren Uniformen platzen, die blonde Ivy Smith (Julia Schukowski), die für ihre Gesangsübungen sogar in den Kopfstand geht, die skurrile Anthropologin Claire (Dorin Rahardja mit sicheren Spitzentönen) und die forsche Taxifahrerin Hildy, von Judith Jakob mit quirligem Temperament und auftrumpfender Stimme verkörpert. Die staunenswerte Athletik des Tänzers Joseph Bunn, manch stimmungsvoller Pas de deux und viele liebevoll gezeichnete Nebenfiguren füllen das Porträt der Großstadt mit Farben.

Abermals spielt sich im Orchestergraben unter der Leitung von Rasmus Baumann ein kleines Wunder ab. Vom Beat des Schlagzeugs unterstützt, zelebriert die Neue Philharmonie Westfalen einen Big Band Sound, der sich bis zur Zarathustra-Apotheose steigern kann und doch nie knallig klingt. Noch in den vertracktesten Rhythmuswechseln geht das Orchester geschmeidig mit.

Wirklich aufhorchen lassen die vielen feinen Nuancen, die unter dem Pomp an die Oberfläche steigen. Da gibt es jüdische Anklänge, Orientalismen, Blues-Eintrübungen und feurige Latin-Rhythmen, dass man sich die Ohren reiben möchte. Die Neue Philharmonie Westfalen zeigt uns Leonard Bernstein als musikalisches Chamäleon, das viele Stile adaptieren kann, ohne seinen spezifischen Sound zu verlieren. Inwieweit eine strikte Unterteilung in U- und E-Musik da noch sinnvoll wäre, müssen sich selbst hart gesottene Klassikfreunde fragen.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/OnTheTown/)




„Tatort“: Dringliches aus Dortmund

Halten wir uns nicht lange mit inhaltlichen Details und bis ins Letzte gefädelten Plausibilitäten auf. Was den Psychodramen-Faktor angeht, so dürfte der Dortmunder „Tatort“ mit Kommissar Faber (Jörg Hartmann) wohl spätestens jetzt bundesweit die Führung übernommen haben.

Nun wissen wir es: Ein Mann namens Markus Graf, Sohn eines Mädchenmörders und Vergewaltigers, den Faber vormals in Lübeck „zur Strecke gebracht“ hatte, war jenes Phantom, das Faber bis nach Dortmund verfolgte und bestürzende Botschaften in seinem Schreibtisch hinterließ. Immer wieder war Faber schon in den letzten Folgen aufwühlend an den gewaltsamen Tod seiner Frau und seiner Tochter erinnert worden. Eigentlich kein Wunder, wenn einer dabei durchdreht. Jetzt kam es zum Psycho-Duell zwischen den beiden zutiefst Traumatisierten, zwischen Graf und Faber. Abgründig. Mit nahezu allen Mitteln. Bis auf den Grund der Existenz.

Psycho-Duell, nur selten so handgreiflich: Kommissar Faber (Jörg Hartmann, rechts) und Markus Graf (Florian Bartholomäi) (© WDR/Thomas Kost)

Psycho-Duell, nur selten so handgreiflich: Kommissar Faber (Jörg Hartmann, rechts) und Markus Graf (Florian Bartholomäi) (© WDR/Thomas Kost)

In beängstigend kurzer Folge verschwanden in der Folge (mit dem Untertitel „Auf ewig Dein“) drei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren. Schon zu Beginn wurde die erste Leiche im Wald gefunden. Zunächst stand der Stiefvater dieses Opfers unter Verdacht, der sich in kinderpornographischen Chatrooms herumgetrieben hatte. Weitere Verdächtige wurden zwischendurch nur halbherzig ins Visier genommen. Bald konzentrierte sich alles auf den smart-diabolischen Graf junior. Wie er auch noch Austern schlürfte…

Nicht nur Wortklauberei: Das Dortmunder Kripo-Team ist zusammengewachsen – und es ist zusammen gewachsen. Auch die anfangs etwas schwächer erscheinende Aylin Tezel ist gleichsam etwas hinan gezogen worden. Jörg Hartmann und Anna Schudt (als ebenbürtige Kollegin Bönisch) waren eh von der ersten Episode an höchst präsent. Und wenn es jetzt heißt, der „Tatort“ aus dem östlichen Revier sei bei sich selbst angekommen, so mag das meinethalben stimmen. Doch es war von allem Anfang an angelegt, dass es sich so entwickeln würde.

Etwaiges Lokalkolorit ist eine hie und da kraftvoll würzende Zutat. Diese Filme müssten freilich auch ein Publikum in Rio, Sydney oder sonstwo in Atem halten. Dieses Dortmund ist überall, ganz so wie beispielsweise Stockholm, Göteborg oder auch manche US-Metropole.

Das Privatleben des Teams wird bekanntlich keineswegs ausgespart, es drängt sogar mit Macht in den Vordergrund. Was anderorts gelegentlich als Schmankerl nervt, ist hier Grundierung, ist fester und notwendiger Bestandteil der Fälle. Faber könnte sich nicht in die perversesten Täterphantasien versetzen, wenn er nicht so bestialisch gelitten hätte. Deutsche Krimis mit dichteren Szenenfolgen muss man lange suchen. Hier geht es dringlich aufs Ganze.

Ob das alles für Faber kathartisch und heilsam gewesen ist? Ob seine Figur dadurch an Wucht, Fallhöhe und Tiefenschärfe verliert? Wir werden es erleben. Und wir sind schon gespannt. Oder etwa nicht?