Kein Wunsch bleibt offen: Essener Philharmoniker erkunden die „russische Seele“

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Eines muss man dem neuen Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil lassen: Die Programme der Sinfoniekonzerte sind abwechslungsreich geworden und verlassen sich nicht vornehmlich auf den – durch häufige Aufführung eher abgewetzten als aufpolierten – Glanz gängiger „Meisterwerke“. Statt beim Stichwort „Russische Seelenklänge“ wieder einmal bei Tschaikowsky herumzuschwelgen, bot das siebte Sinfoniekonzert der Philharmoniker mit Mussorgsky (in der Überformung durch Nikolai Rimski-Korsakow), Skrjabin und Rachmaninow wahrhafte Seelen-Musik aus der geistesgeschichtlich spannenden Epoche vor dem Ersten Weltkrieg.

„Seele“ also nicht gleichgesetzt mit Sentiment, sondern in ihren rätselvollen Tiefen erforscht durch Kompositionen, die dem Symbolismus der Literatur und Bildenden Kunst und der radikalen philosophischen Selbstbespiegelung eines Friedrich Nietzsche anverwandt sind. So geht Programm!

Insofern ist es auch konsequent, von Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ nicht die kühne, schroffe Urfassung zu spielen, sondern Rimski-Korsakows luxuriöse, aber auch glättende Version. Dennoch: Es bleiben genug exzessive Orchesterfarben, rhythmische Grotesken, grelle Entladungen, um die Essener Orchestermusiker ihr Können vorführen zu lassen. Der Dirigent des Abends, Kirill Karabits, gehört unter den vielen neuen Kapellmeistern, die in Essen für Abwechslung und Qualitätssicherung sorgen sollen, zu den erfreulicheren Gästen: Er bringt offenbar das Gespür und die Technik mit, Schärfe und Konturen, Farben und dynamische Steigerungen detailliert und dennoch im Überblick zu entfalten. Vom lauernden Pianissimo bis zur Eruption glutheißer Klang-Lava hat Karabits den opulenten Apparat im Griff.

Körperlich-erotische Musik

Das gilt auch für Alexander Skrjabins „Poème de l’extase“. Der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten wollte seine eher symbolistisch als programmatisch gedachte Vierte Symphonie nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen. Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skrjabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute reißt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 in den Strudel seiner Exaltation mit.

Karabits hat den Überblick über ein noch einmal gewachsenes Orchester-Rund zu wahren und macht schon mit den einleitenden heiklen Pianissimo-Strukturen klar, wie umsichtig er den Philharmoniker helfen würde, aufeinander zu hören und die Balance des fragilen Klangs zu finden. Und im Gegensatz zu Mikhail Pletnev, der Skrjabins berauschend-ekstatischen Sabbat im November 2012 in Essen dirigiert hat, findet Karabits die drängende dynamische Energie, um der Steigerungsdramaturgie des Werks gerecht zu werden. Dass sich die wirbelnde Unruhe und die fiebrige Poesie zwischendurch erschöpfen, die klangfarblichen Effekte verblassen, hat wohl weniger mit der konzentrierten Ausführung durch die Philharmoniker als mit dem Werk selbst zu tun: übersteigerte Reize stumpfen schnell ab.

Und um die Philharmoniker in der Schwelgerei des Klangs und das Konzert in der Kulmination des ideellen Konzepts zum Höhepunkt zu führen, steht am Ende Sergej Rachmaninows Chor-Sinfonie „Die Glocken“ (op. 35) – ein wegen seines gewaltigen Aufwands nicht eben häufig aufgeführtes Werk. Verpflichtet dem morbid-üppigen Luxus eines Zeitalters, das selbstbewusst allen musikalischen Möglichkeiten gebietet; affiziert von einem Symbolismus, der sich wohlig in die Schauer untergründiger Ahnungen kuschelt; aber auch verstört vom existenziellen Grauen eines Edgar Allan Poe, dessen gleichnamiges Gedicht die programmatische Basis der entfesselten Musik bildet. Die Glocken sind ja nicht nur Träger von Klang: Sie stehen für die Lebensstationen des Menschen und sie sind Mahner an verborgene, abgründige, jenseitige Sphären – man mag sie tiefenpsychologisch zu fassen versuchen oder religiös zu ergründen.

Muster an Präsenz und Präzision

Karabits sucht und findet die klanglichen Entsprechungen dieses geistigen Programms in impressionistischer Lyrik und in imperialem Auftrumpfen. Anders als Simon Rattle, der auf CD eine intellektuell durchdrungene, aber klanglich zur Dürre neigende Version vorgelegt hat, scheut der in Kiew ausgebildete Dirigent der Essener Aufführung den Klang als Träger des Ausdrucks nicht. Das ist kein Gegensatz zu Präzision im Detail: die gespenstischen Spiccati des Beginns gelingen ebenso wie ein unheimlich starrer Spieluhren-Rhythmus; instrumentale Details sind expressiv eingearbeitet wie etwa die gestopften Trompeten des zweiten Teils, die den Klangteppich der Streicher pianissimo mit dem Rauch des Unheimlichen verschleiern. Dass Rachmaninow eminent theatralische und atmosphärische Musik geschaffen hat, wird nicht geleugnet.

Und wieder einmal muss Alexander Eberle bescheinigt werden, zu einem großen Moment beigetragen zu haben: Seine Chöre, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen, sind ein Muster an Präsenz und Präzision: Erst in dem Summchor, der sich ortlos schwebend in den Klang mischt, dann im dynamischen Aufwachsen, das den Klang der Stimmen wie einen Riesenschatten über das Orchester legt.

Dass unter den Solisten die Tenorpartie zu leichtgewichtig besetzt wird, scheint sich zu einer Tradition zu versteifen: Alexey Sayapin kämpft gegen den – vom Dirigenten keineswegs zu kräftig entfalteten – Orchesterklang. Sandra Janušaité hat dieses Problem nicht, weil sie einen metallisch leuchtenden, kraftvoll vibrierenden Sopran einsetzt. Alexander Vassiliev muss seinen eher baritonal als „schwarz“ gefärbten Bass in die Höhe treiben – und schafft das ohne Anspannung. Klug konzipiert und künstlerisch gelungen – bei so einem Konzert bleibt kein Wunsch offen!




Uraufführung in Bochum: Aus der neuen Arbeitswelt

Es ist die vielleicht banalste und zugleich wichtigste Frage: Wie soll ich leben? Banal, weil man das doch eigentlich wissen sollte. Und wichtig, weil es viele Menschen gibt, die sich diese Frage niemals stellen. Laura Naumann hat ein Stück über die Suche nach Antworten geschrieben. „Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken“ erlebte nun im „Theater Unten“ am Bochumer Schauspielhaus seine Uraufführung – es geht um Menschen, die suchen und um solche, die noch nicht wissen, dass sie auf der Suche sind.

Die junge Autorin, Förderpreisträgerin und Absolventin eines Studiengangs für kreatives Schreiben, mixt in ihrem fünften Stück Dialoge voller Schärfe und pointierten Spitzen mit Erzähl-Passagen, in denen die Figuren ihr Erleben aus der Ich-Perspektive schildern. Das gibt dem Stück Witz und Tiefe zugleich. Die temporeiche Inszenierung von Malte C. Lachmann wurde dem Text vollauf gerecht.

Auf der Bühne prallen Lebensentwürfe aufeinander, dass es funkt: Moana (Sarah Grunert) hat gerade ihren stressigen Job als Unternehmensberaterin begonnen und will alles richtig machen, um im Team für Paris zu landen: „Ich weiß, ich tauge zur Leadership.“ Ihre Mutter Christiane (Nicola Thomas) möchte auch alles richtig machen – allerdings nicht im Hinblick auf ihre Karriere als Nachrichtensprecherin, sondern auf eine bessere Welt. Dank der Nachrichten, die sie liest, könnten sich die Menschen schließlich ein Bild von der Welt machen und entsprechend handeln. Nur: Warum bleibt trotzdem immer alles beim Alten?

Höchst unterhaltsam streiten sich Mutter und Tochter um die Zukunft des Planeten, das richtige Business-Kostüm und die Badewasser-Temperatur. Moanas Freund, der Flugbegleiter Boris (Matthias Eberle), schneit zwischen seinen Flügen herein und vermittelt – er selbst ist familiär belastet und führt ein Leben wie auf der Flucht.

Unweigerlich steuert die Konstellation auf eine Katastrophe zu: Mutter und Tochter katapultieren sich selbst mehr oder weniger unbewusst aus der Bahn. Moana bricht sich bei einem Verkehrsunfall beide Arme, und ihre Mutter beschimpft das Nachrichten-Publikum live als passiv und verantwortungslos: „Ich werde Ihnen diese Scheiße nicht mehr vorlesen.“

Mit diesem Wendepunkt tritt Nikita (Torsten Flassig) in das Leben der drei. Nikita hat Moana beim Verkehrsunfall gerettet und zieht vorübergehend bei den Frauen ein. Ob Nikita Mann ist oder Frau, ob er oder sie einen Beruf hat, Familie oder einen Plan fürs Leben – nichts von alledem bekommen sie aus Nikita heraus. Nikita will sich nicht festlegen, sondern lebt vollkommen im Hier und Jetzt. Mit buddhahafter Gleichmütigkeit ist er einfach nur präsent – und schon projizieren die drei bedürftigen Mitbewohner ihre Sehnsüchte auf ihn.

Als Nikita plötzlich wieder verschwindet, wird allen dreien die große Leere in ihrem Leben erst richtig bewusst.

Im Gedächtnis bleibt unter anderem Moanas Monolog eines Anti-Gutmenschen: Boshaft engagiert, gänzlich unironisch und dabei sehr traurig erklärt Sarah Grunert als Moana, wie geil sie es findet, wenn auf Flügen viel CO2 in die Luft geblasen wird. Wie sie ohne schlechtes Gewissen Plastikflaschen ins Meer wirft. „Mir ist vor allem wichtig, möglichst viel kaputt zu machen“, sagt sie.

Man mag das Stück als Kommentar auf die moderne Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf den Menschen von der Anlage her etwas platt finden – es funktioniert jedoch allemal, es unterhält, und es führt unweigerlich zu der Frage: Wo stehen wir eigentlich selbst?

Nächste Termine hier

_________________________

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger)