Den Papst in der Tasche: Warum Paderborn (wahrscheinlich) in die Bundesliga aufsteigt

Aus fußballerischen Gefilden ist Bemerkenswertes zu vermelden: Nicht nur, dass überwiegend katholisch geprägte Städte die Schlussrunde der Champions League weitgehend unter sich ausmachen (Madrid, München); auch beim Aufstieg in die Erste Bundesliga sind sie führend.

Dass der 1. FC aus der rheinischen Domstadt Köln dabei ist, durfte man erwarten. Nun aber klopft auch die Mannschaft aus der westfälischen Domstadt Paderborn ans Tor des Oberhauses, um mal kreuzbrav im Jargon der landläufigen Sportberichterstattung zu bleiben. „Stand jetzt“ (auch so eine Floskel) müssen sie sich nicht einmal durch die Relegation quälen, um sich zu qualifizieren.

Tabellen lügen nicht

Tabellen lügen nicht

Zu dieser gelinden Sensation fallen einem schnell diverse Sprüchlein ein. Sicherlich haben demnach die Kölner und Paderborner Kicker „den Papst in der Tasche“. Leute, die ihnen weniger wohl gesonnen sind, mögen spotten: „Mit die Doofen is’ Gott.“ Und was dergleichen gackernder Spontanblödheit mehr wäre.

Auffällig ist es jedenfalls, dass zwei solch ausgeprägt katholische Kommunen in die höchste deutsche Spielklasse vordringen. Eigentlich fehlt jetzt noch Preußen Münster, doch die dümpeln irgendwo derart weit unten herum, dass wir lieber nicht genauer nachschauen wollen. Hält der gegenwärtige Trend an, so darf man aber wohl fest damit rechnen, dass sich statt dessen segensreiche Teams aus Altötting und Telgte einen Weg nach ganz oben bahnen werden.

„Geld schießt keine Tore!“ heißt es (meist fälschlich), wenn Missgunst auf die reichsten Vereine mit den teuersten Stars sich Luft schaffen will. Wer aber netzt für Paderborn ein? Wir wollen da lieber nicht weiter spekulieren, sonst wär’s am Ende noch lästerlich. Vielleicht hat ja die Flügelzange, äh, die parallele Heiligsprechung zweier Päpste noch einmal die letzten Reserven mobilisiert, hat somit mehr Doppelpässe und Flanken gelingen lassen als sonst. So rein mental jetzt.

P.S.: Bliebe noch nachzutragen, dass die Protestanten aus Hamburg, Braunschweig und Nürnberg aufs Högschte abstiegsbedroht sind. Noch Fragen?




TV-Nostalgie (15): Robert Lembkes „Was bin ich?“ – die wunderbare Ruhe beim Beruferaten

Der Mensch braucht seine Rituale. Drum gab es auch Fernsehsendungen wie das heitere Beruferaten „Was bin ich?“ mit Robert Lembke (1913-1989).

Da lief alles immer nach gewohntem Muster ab, da gab’s keine sonderlichen Überraschungen; erst recht keine unliebsamen.

Robert Lembke mit "Schweinderln" (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=CherRLsSI6w)

Robert Lembke mit „Schweinderln“ (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=CherRLsSI6w)

„Welches Schweinderl hätten S‘ denn gern?“

Zwischen eingeschliffenen Formeln wie „Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?“ und „Gehe ich recht in der Annahme, dass…?“ bewegte sich das Ratespiel in ausgesprochen ruhigen Fahrwassern. Die Teilnehmer blieben die ganze Zeit über fast reglos auf ihren Stühlen sitzen. Rein äußerlich betrachtet, war’s eine wunderbar windstille Ereignislosigkeit, die heute wohl kein TV-Sender mehr riskieren würde.

Ein bisschen Schadenfreude

Die wohldosierte, bestens erträgliche Spannung von „Was bin ich?“ entstand schlicht und einfach dadurch, dass man voller Vergnügen sah, wie sich das Rateteam abmühte, den jeweiligen Beruf zu erraten. Jeder gedankliche Irrweg steigerte die Schadenfreude. Der Beruf wurde zu Beginn eingeblendet und um eine „typische Handbewegung“ ergänzt. Wenn man wollte, konnte man in diesen Momenten die Augen schließen und danach vor dem Bildschirm mitraten. Es war Familienfernsehen der herzlich harmlosen Ausprägung.

Es war noch eine andere Arbeitswelt

Zum Schluss galt es jeweils noch, einen prominenten Gast anhand seiner (von Robert Lembke ausgesprochenen) Ja- und Nein-Antworten zu erkennen. Dazu mussten die Ratenden blickdichte Masken aufsetzen. Im Internet sind heute fast nur noch Ausschnitte aus diesem Promi-Raten aufzufinden. Das ist doppelt schade, denn ansonsten wurde ja so mancher seltene Beruf vorgestellt, der heute ausgestorben ist. Die Arbeitswelt (deren Schattenseiten natürlich nie kritisch zur Sprache kamen) war damals vielfach noch sinnlicher, körperlicher, fassbarer. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie heute etwa die zahllosen Computerberufe zu erraten wären – vielleicht mit der typischen Handbewegung beim Mausklick oder mit Wischgesten à la Touchscreen?

Simples Konzept – aber unverwüstlich

Kaum zu glauben, wie viele Jahre diese (sehr preiswert produzierte) Sendung überlebte. Das simple Konzept stammte übrigens aus den USA, Lembke hatte die Rechte in England erworben. Der Vorgänger „Ja oder Nein“ lief vom 2. Januar 1955 bis 1958, das eigentliche „Was bin ich?“ vom 11. Februar 1961 bis 1989 (!). Ohne Lembke und seinen milden Humor mit Münchner Timbre hatte das bis dahin unverwüstliche Spiel einen speziellen Reiz verloren. Bei allem seriösen Gerechtigkeitsempfinden ließ er auch schon mal fünfe gerade sein, wenn’s sein musste. Er sorgte halt auf unnachahmliche, sehr beruhigende Weise für die richtige Mischung. Weder die ARD noch andere Kanäle konnten den Dauererfolg später wiederbeleben.

Vom Staatsanwalt bis zum „Ratefuchs“

Langjährige Kontinuität auch beim Ratequartett: Es bestand über weite Strecken aus dem Oberstaatsanwalt Hans Sachs, der Fernsehansagerin Annette von Aretin, dem Schweizer TV-Unterhaltungschef Guido („Ratefuchs“) Baumann sowie der Schauspielerin und späteren Ärztin Marianne Koch, die sich mit der Ansagerin Anneliese Fleyenschmidt abwechselte. Sie bildeten alsbald ein eingespieltes Team, das auch ziemlich knifflige Rätsel löste. Falls nicht, so kamen maximal 50 Mark (10 mal 5 pro Nein-Antwort) ins Sparschwein. Ein solch mickriges Sümmchen können sich jüngere Millionärsquiz-Zuschauer heute kaum noch vorstellen…

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), „Kojak“ (14)




Morden nach Zahlen: Spannende Krimi-Recherche zum „Tod eines Mathematikers“

422_rgbEr verkörpert den Prototyp eines Professors, zumal eines Wissenschaftlers in der Disziplin Mathematik: verschlossen, eigenbrötlerisch und ein wenig vergesslich. Wer sollte schon Interesse haben, einen solchen Mann umzubringen?

Diese Frage stellt sich die Kripo auch, als sie im Fall des Todes von Albert Katzenstein ermittelt – und hat die Antwort schnell parat: Hier handelt es sich nicht um Mord, sondern um einen klaren Fall von Suizid. Der hoch angesehene Experte hat das eigene Ende selbst verbeigeführt. Doch seine Tochter, von Beruf Journalistin, mag daran nicht glauben. Da sie das Recherchieren gelernt hat, beginnt die junge Frau selbst mit der Spurensuche. Ihre Kontakte zur Polizei sind hilfreich, um Beamte von ihrem Zweifel an der Selbstmordversion zu überzeugen.

Kerstin Herrnkind und Walter K. Ludwig haben mit „Tod eines Mathematikers“ einen ungemein spannenden Krimi geschrieben, der vor allem durch überraschende Wechsel und Wendungen überzeugt. Indem das Autorenduo immer wieder neue Nebenschauplätze eröffnet, kommen zusätzliche Motive und Täter in Betracht, die für den Tod des Professors und weitere ungelöste Kriminalfälle aus der Vergangenheit verantwortlich sein könnten. Es gelingt den Verfassern, die einzelnen Handlungslinien geschickt miteinander zu vermischen, ohne dass der Leser den Überblick verliert. Der Roman gewinnt vor allem auch dadurch an Dynamik, dass Romanfiguren in höchste Gefahr geraten, die bis dahin mit einem absolut sicheren Auftreten beeindruckten und nicht für eine Opferrolle geschaffen schienen.

Der Leser erfährt darüber hinaus, das aber eher beiläufig, wie es in Zeitungsredaktionen zugeht. Die Tochter des Mathematikers arbeitet für ein Blatt in Bremen, das, wie viele andere Printerzeugnisse, unter Auflagenschwung leidet und Stellen abbauen muss. Scheinen auch hier und da die Umgangsformen von Journalisten etwas überzeichnet zu sein, ist es amüsant zu lesen, wie es im Redaktionsalltag ab und an zugehen kann. Das gilt ebenso für die Kripo, zu deren Mitarbeitern einige schräge Typen gehören. Ohne sie wäre allerdings die gesamte Geschichte nur halb so unterhaltsam. Zu den Annehmlichkeiten dieser Lektüre gehört ferner eine einfache wie aber auch sehr lebendige Sprache, die durchaus mal ganz derb sein kann.

Wer übrigens meint, man könne gegen Ende das Buch aus der Hand legen, weil alle Unklarheiten beseitigt sind, der sollte sich eines Besseren belehren lassen. Zum Schluss folgt noch ein Clou – vielleicht Stoff für eine Fortsetzung?

Kerstin Herrnkind/Walter K. Ludwig: „Tod eines Mathematikers“. Grafit Verlag, Dortmund. 351 Seiten. 10,99 Euro.




Familienfreuden XV: Ostern von seiner Schokoladenseite

Wenn "Lade" lockt, braucht man mit Möhrchen nicht mehr zu kommen. (Bild: Nadine Albach)

Wenn „Lade“ lockt, braucht man mit Möhrchen nicht mehr zu kommen. (Bild: Nadine Albach)

So ist das ja meistens mit den Sachen, die man sich auf eine ganz bestimmte Weise sooo schön vorgestellt hat – sie laufen ganz anders als geplant. Oder mit anderen Worten: Ostern mit einer fast Zweijährigen.

Eier und Geschenke verstecken, Gäste herzlich begrüßen, vielleicht noch etwas vom Osterhasen erzählen – und dann das Startsignal für die große Suche im Garten geben, bei der alle freudig die Tulpen nach Buntebemaltem durchforsten. So in etwa sah meine Vorstellung vom Osterfrühstück mit den beidseitigen Großeltern aus. Ich hatte die Rechnung ohne den Forschungsdrang von Fiona gemacht.

Von wegen gutes Timing

Die Großeltern waren für halb Elf bestellt. Gut eine halbe Stunde vorher hatte ich – im Osterhasen-Stellvertreter Amt– alles versteckt. Gutes Timing, dachte ich. Prima, dachte Fi, die gerade vom Vierrad-Fahren mit Normen zurückkehrte, die Gartenpforte öffnete – und mit messerscharfem Blick das erste Ei erblickte. Soviel auch zu meiner Theorie, dass die Eier besser nicht zu schwer versteckt sein sollten…

Fi stürzte sich „Ei! Ei! Ei!“ brüllend auf das eben so Beschrieene, reckte es stolz empor wie einst die Affen den Knochen in Kubricks „2001“ – und donnerte die Beute auf die Natursteinmauer. Hatte ich schon erwähnt, dass Fiona Eier ungefähr so liebt, wie andere Kinder Süßigkeiten – und Ostern somit für sie Weihnachten gleichkommen dürfte? Jedenfalls: Das erste Ei war schneller in ihrem Mund verschwunden, als ich ein Versteck dafür ersonnen hatte. Als das zweite Ei dem gleichen Schicksal anheim zu fallen drohte, klingelte es glücklicherweise an der Tür…

Lebensmittel-Konkurrenz

Der Vormittag verging friedlich mit der Suche nach den immer wieder neu versteckten Eiern. Ein Lebensmittel aber machte dem Produkt glücklicher Hühner ernsthafte Konkurrenz. „LADE!“ Ich bin sicher, wenn Fiona einmal eine Partei gründen sollte – dies wird ihr Schlachtruf: „LADE für alle!“ Alle Menschen werden sie dafür wählen, denn wer isst sie nicht gern – die Schokolade?

Fiona jedenfalls öffnete sich zu Ostern eine Tür in eine neue Welt, die wir zu Weihnachten noch geschlossen halten konnte: Die verlockend lächelnden Hasen, die süßen Eier in allen Größen die Küken und Käfer – sie alle präsentierten sich ihr diesmal ungehemmt von ihrer Schokoladenseite. Von den Großeltern, der Nachbarin, auch ein wenig von uns. Wir hatten keine Chance.

Versteckspiel nur umgedreht

Irgendwann mussten wir das Versteckspiel umdrehen und die bereits gefundenen Schoko-Schätze außer Sichtweite bringen, damit das Ganze nicht in einer Orgie endete, für die jeder Zahnarzt uns gekreuzigt hätte.

Einen Tag später hatten wir fast alle Spuren beseitigt. Fionas Spürnase allerdings ist jetzt schon äußerst ausgeprägt, so dass sie zielsicher und für uns unerwartet einen lächelnden Schokohasen in der Hand hielt, der so groß war, dass er ihr ein ehrfürchtiges „Boah!“ entlockte.

Nicht allein

Übrigens, wir sind nicht allein. Als wir – ja, Schande über uns – heute den beiden Nachbarskinder ein verspätetes Schokoladen-Nest reinreichten, fielen die Eltern fast in Ohnmacht.

P.S.: Wir haben jetzt mit den besagten Nachbarn ein „No-Schoko-Agreement“ beschlossen  – kurz NSA.

 

(Mehr von Nadine Albach gibt es übrigens auf der Medienwiese).




Die Nabelschau des Karl Lagerfeld im Essener Museum Folkwang

Gerade konnte man die Erfolgsmeldung lesen: Der 50000. Besucher in der Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Essener Museum Folkwang wurde gezählt, und das Museum freut sich besonders, dass so viele junge Zuschauer kommen. Im doppelten Sinne kann man sagen: Lagerfeld zieht die Menschen an.

Dabei macht das Thema Anziehen nur einen kleinen Teil der Schau aus. Mit Fotografie fängt es an – großformatig und bunt, und nicht immer hat KL selbst auf den Auslöser gedrückt. Wie es sich für seine Egonummer gehört, sieht man den Meister nicht selten selbst im Bild.

Buchkunst ist das zweite Thema, und da hat Lagerfeld aus den letzten fünf Jahrzehnten so einiges vorzuweisen. Gerade in der Inszenierung literarischer Vorlagen wie Goethes Faust oder Shakespeares Romeo und Julia, umgedeutet als Mode-Erzählung, zeigt sich die Kreativität des deutsch-französischen Selbstdarstellers.

Natürlich muss Mode den dritten Teil der Ausstellung ausmachen, und dazu gehören nicht nur seine Modelle und Fotos für die großen Schauen von Chanel und Fendi in Paris und anderswo, sondern auch die dazu gehörenden Kleider im Original.

Das Museum Folkwang ist ja schon um seiner selbst willen einen Besuch wert. Ob allerdings einem eher zweitrangigen „Künstler“ wie Lagerfeld eine derart umfangreiche Nabelschau gewidmet werden sollte, bezweifle ich persönlich. Manche weibliche Besucherin mag das ja anders sehen.

Fast peinlich wird es am Ende des Rundgangs, wenn KL zusammen mit dem Museum einen Raum inszeniert, in dem die Bücher ausgestellt werden, die er gerade liest, früher einmal gelesen oder in seiner privaten Bibliothek stehen hat.

Fehlt nur noch ein kleiner Altar mit Kerzen und Heiligenbildchen.

Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze. Museum Folkwang Essen, bis 11. Mai, Di-So 10-18 Uhr, Fr 10-22 Uhr. Navi-Adresse: Bismarckstraße 60.
Weitere Infos: http://www.museum-folkwang.de/de/ausstellungen/aktuell/karl-lagerfeld.html




Die ARD-„Tagesschau“ im neuen Design: Sündhaft teures Breitformat

Das war sie also: die allererste ARD-„Tagesschau“ aus dem neuen Hamburger Studio, das rund 23,8 Millionen Euro Gebührengeld gekostet hat. Und wie war’s jetzt? Hat sich der Aufwand gelohnt?

Nun, die journalistische Qualität ist mit dem neuen Design erwartungsgemäß nicht explodiert. Wie denn auch? Wir sehen jetzt aber Teile der Nachrichten gleichsam im Breitformat, in Cinemascope, um einen altmodischen Kinobegriff zu verwenden.

18 Meter lange Bildwand

Zu diesem Zweck gibt’s nun eine fast 18 Meter breite (!) Bildwand an der Rückseite des Studios, die so manches sinnvolle oder auch unsinnige Panorama ermöglichen soll. Mir kommt es so vor, als protze da jemand mit seinem neuen, extrabreiten Flachbildschirm. In der Debütsendung, die von Chefsprecher Jan Hofer präsentiert wurde, kam diese Errungenschaft jedenfalls nur im pompösen Vorspann zum Einsatz.

"Tagesschau"-Chefsprecher Jan Hofer bei einer Stellprobe im neuen Studio. (© NDR/Thorsten Jander)

„Tagesschau“-Chefsprecher Jan Hofer bei einer Stellprobe im neuen Studio. (© NDR/Thorsten Jander)

Die eingeblendeten Fotos ziehen sich jetzt also über die ganze Bildschirmbreite und erhalten deutlichere Schlagzeilen. Auch wird das „Tagesschau“-Logo mehr betont als vorher. Man will schließlich ein unverwechselbares Markenzeichen bleiben.

Ein Fall von Gebührenverschwendung

Man möchte lieber nicht wissen, was die Designer für ihre immer wieder modifizierten Entwürfe und Realisierungen kassiert haben. Oder will man’s vielleicht doch wissen? Jedenfalls ist das neue Studiomobiliar in seiner keimfrei futuristischen Art recht monströs geraten. Ob’s hässlich ist, bleibt dem persönlichen Geschmack überlassen.

Man möchte erst recht nicht wissen, was die ARD für die Stimme ausgegeben hat, deren Trägerin Claudia Urbschat-Mingues heißt und die nun allabendlich sagt: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ‚Tagesschau’“. Es handelt sich nämlich um die deutsche Synchronstimme des Filmstars Angelina Jolie, mit der die TV-Gewaltigen einen „Exklusivvertrag“ abgeschlossen haben. Für einen einzigen Satz…

Man möchte es nicht wissen, weil man dann eventuell ziemlich zornig werden könnte über eine solche Gebührenverschwendung. Dabei klagen sie bei den öffentlich-rechtlichen Sendern doch allenthalben über Sparzwänge. Für das Flaggschiff „Tagesschau“ und die „Tagesthemen“, die ab sofort ebenfalls aus dem neuen Studio kommen, haben diese Zwänge wohl nicht gegolten.

In den „Tagesthemen“ um 23:15 Uhr wurde die Dominanz der Bilder noch viel deutlicher. Wie verloren Thomas Roth als Ganzkörper-Moderator vor dem riesenhaft aufgeplusterten Berliner Stadtschloss stand… Noch mehr als bisher achtet man auf jede Bügelfalte in der Kleidung des Anchorman und seiner Helfer. Und ausgerechnet in dieser Ausgabe machte man sich über Verschwendung in der Hauptstadt lustig.

Emotionen, Emotionen…

Man wolle „Emotionen“ betonen, hat es im Vorfeld geheißen. Das (große) Bild soll demnach noch mehr Gewicht erhalten und den Zuschauer auch schon mal überwältigen. Man ahnt schon, welche Zwänge dabei entstehen, unter welchen Druck sich die „Tagesschau“-Macher setzen werden. Schon bisher (das haben Studien belegt) hatte man nach einer „Tagesschau“-Ausgabe mehr Bilder als Nachrichten-Inhalte im Kopf. Dieser ungute Effekt wird sich noch steigern.

Ein altes Ritual

Ob man so das angestrebte jüngere Publikum erreicht? Man darf es füglich bezweifeln. Zuschauer-Umfragen hatten übrigens ergeben, dass die Mehrheit sich gar keine großartigen Veränderungen an der „Tagesschau“ wünscht. Diese altgediente Institution ist – vor allem für ältere Menschen – vor allem ein Ritual. Und an Ritualen zurrt man nicht ständig herum. Wir wissen es, seit der legendäre Sprecher Karl-Heinz Köpcke es eines Tages wagte, vor der Kamera einen Bart zu tragen. Damals erregte sich die Nation. Doch solche Emotionen weckt die „Tagesschau“ schon längst nicht mehr; ganz egal, in welchem Studio.




„Stecke Erdloch“: Becketts „Glückliche Tage“ am Schauspielhaus Düsseldorf

In Düsseldorf ist die Wüste blau: Ein sattes Yves Klein-Blau, das den Erdhügel bedeckt, in dem Winnie steckt. Unter der kräftigen Farbe lugt allerdings ein metallisches Eisengestänge hervor, das wie ein überdimensionaler Reifrock wirkt, der Winnie einschnürt. Das passt zu ihrer aussichtslosen Lage, denn im Laufe von Becketts „Glückliche Tage“ wird sie immer weiter in ihrem Erdloch versinken.

Eine Kamera zeichnet Winnies Tage auf, durch die Projektion auf eine überdimensionale Leinwand können wir wie Voyeure jede Veränderung in ihrer Mimik verfolgen. Doch vielleicht ist Winnie über den gefilmten „Selfie“ ja gar nicht mal so unglücklich: Immerhin sieht und hört ihr in der Inszenierung des französischen Regisseurs Stéphane Braunschweig wenigstens jemand zu. Was man von Ehemann Willie nicht behaupten kann, der nahebei in einem Erdloch lebt und seit der Uraufführung der Beckettschen Endzeitparabel 1961 in New York als Musterexemplar eines Maulfaulen gilt.

So hat Winnie zur Unterhaltung nur die Gegenstände in ihrer Handtasche: Zahnbürste, Revolver, Taschenspiegel, Sonnenschirm. Und sie hat ihre eigene Eloquenz: Ich spreche, also bin ich (noch). Solange die Illusion besteht, dass ihr Gerede einen Adressaten hat, und sei es der wortkarge Willie, gibt es noch Hoffnung. Dann ist dieser Tag ein „glücklicher Tag“. Dann sind die engen Grenzen ihrer kümmerlichen Existenz zu ertragen, dann hat ihr einsames Dasein einen Sinn.

Durch Winnies Kampf gegen die Auslöschung wird man unweigerlich in die Gedankenwelt Becketts hineingezogen und die Traurigkeit des Nichts weht einen an – auch wenn die Alltagserfahrung 2014 eher von Reizüberflutung denn von extremer Reduktion geprägt ist. Warum kauft der Winnie eigentlich keiner ein Smartphone? Dann könnte sie ein paar Leute kontakten und die Langeweile wäre verflogen. Doch wie man Beckett kennt, hätte das bestimmt in der Wüste keinen Empfang.

So zeigt Claudia Hübbecker die Winnie als englische Lady von altem Stil. Die Spitzenbluse sitzt, das Hütchen ist à la mode, die Reste der klassischen Bildung helfen über monotone Stunden hinweg. Hübbecker spielt Winnies brüchige Seelenlage meisterhaft, weil äußerst nuancenreich. Ein Zittern des Mundwinkels verrät zurückgedrängte Verzweiflung, ein Straffen des Oberkörpers eisernen Durchhaltewillen nach dem Motto „keep calm and carry on.“ Mit blauem Augenaufschlag flirtet Winnie mit Kamera und Publikum, in der geschwätzigen Tonlage ihres ungebremsten Mitteilungsbedürfnisses ist sie gleichermaßen authentisch und witzig. Auch wenn Willie was zu sagen hätte: Wer wollte es hören? Das liegt nicht an Rainer Galke: Er macht seine Sache gut, indem er seinen Körper gekonnt unbeholfen durch die Drahtgestänge schiebt, grunzt und schweigt.

Es liegt an Beckett: Er wusste einfach noch nichts von Facebook oder Twitter: @Winnie, stecke blaues #Erdloch, krass langweilig. Was geht bei euch?

Infos und Karten: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




TV-Nostalgie (14): „Kojak“ – ein Markenzeichen mit Charakter

Nicht zu glauben: Jetzt ist es schon fast 40 Jahre her, dass der wohl berühmteste Glatzkopf der Fernsehgeschichte auch auf deutschen Bildschirmen erschienen ist. Am 3. Oktober 1974 hatte der New Yorker Polizist „Kojak“ seine ARD-Premiere.

Immerhin 118 Folgen lang jagte der gebürtige Grieche (bekanntlich gespielt von Telly Savalas – ursprünglich sollte Marlon Brando die Rolle übernehmen) beim Einsatz in Manhattan jede Menge Schwerverbrecher. Nicht nur der kahle Schädel steigerte Kojaks Wiedererkennungswert. Auch sein Konsum von Dauerlutschern (Lollis) wurde legendär, sie dienten zunehmend als Ersatz für die Zigarillos, die er anfangs noch rauchte.

Telly Savalas als "Kojak" (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=xIzHr8Wuz5Y)

Telly Savalas als „Kojak“ (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=xIzHr8Wuz5Y)

Kahler Schädel, Dauerlutscher und anderes…

Der meist gediegen gekleidete Herr (gerne Anzug mit Weste) trug außerdem Hut, dazu ein Goldkettchen am rechten Handgelenk und hatte Lieblingssprüche wie „Entzückend, Baby“. Und schließlich war auch das rot rotierende Alarmlicht unverkennbar, das er in ungezählten Notfällen auf sein Zivilfahrzeug (Buick Century Regal) pappte. Die Figur war also geradezu eine Ansammlung von Markenzeichen. Sie alle summierten sich zu einem Gesamtbild der „Coolness“, das damals ziemlich beispiellos war. Es ist keine geringe Leistung, dass Telly Savalas bei all dem auch ein glaubhafter Charakter blieb.

Einsatz bis zur Leistungsgrenze

Savalas stellte Kojak als einen Tag und Nacht hart arbeitenden, stets sprungbereiten Kraftkerl dar, der auch sein Team ständig bis an die Leistungsgrenze forderte. Zwar fällt auch vereinzelt das Wort „Computer“, aber seine Leute müssen noch mühsam Verdachtslisten abtelefonieren und zeitraubend Orte abklappern.

Es geht immer hektisch Schlag auf Schlag. Standard-Situation: „Kojak“ sitzt in seinem Büro mit den zwei Telefonen, nicht selten lässig mit beiden Beinen auf dem Schreibtisch oder auch schon mal in scheinbar „schläfriger“ Nachdenkhaltung, die nichts anderes ist als höchste Geistesgegenwart. Derweil entern – quasi im Halbminutentakt – immer wieder Mitarbeiter das Büro, weil sie einen neuen Stand der Dinge melden wollen. Da geht es zu wie im Taubenschlag.

Keine flache Hierarchie

Von „flacher Hierarchie“ kann in dieser Krimireihe keine Rede sein. Boss Kojak gibt alle wesentlichen Anstöße. Und alle Fäden der Ermittlungen laufen wieder bei ihm zusammen, der dann zum rechten Zeitpunkt beherzt eingreift – natürlich auch mit der Pistole, die er so eigenwillig trägt, dass sich bei echten US-Polizisten die Redensart durchgesetzt hat, jemand trage seine Waffe im „Kojak-Stil“.

Trotz allem der mitfühlende Blick

Ich habe mir jetzt noch einmal zwei Folgen (je 45 Minuten) angeschaut, darunter „Das Mädchen im Fluss“. Da geht es um einen Serienmörder, dessen Opfer junge, alleinstehende Frauen sind. Die Spuren führen in die – als reichlich zwielichtig geschilderte – Welt der New Yorker Single-Bars. Dort fahndet Kojak gezielt nach Leuten, die im Vietnamkrieg waren und seither psychisch gestört sind…

Bemerkenswert übrigens, dass dieser unbestechliche Mann trotz der brutalen Verbrecherwelt, in der er sich nun mal bewegen muss, kein purer Zyniker geworden ist. Wenn es sein muss, kann Kojak sehr mitfühlend oder sogar treuherzig dreinblicken und dementsprechend handeln. Bei einem solchen Typen bedeutet das ungleich mehr als bei anderen.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), „Stahlnetz“ (13)




Was wird hier gespielt? NRW-Theatertreffen 2014 in Dortmund

Der Dortmunder Theaterchef Kay Voges gibt sich bescheiden. Die zehn besten nordrhein-westfälischen Theaterproduktionen des Jahres 2014 herauszufinden, sei schlichtweg unmöglich. „Wer will das entscheiden?“ Stattdessen haben die Dortmunder ihre Kollegen in den anderen Städten um Vorschläge gebeten. Und die Vorschläge haben sie darauf hin geprüft, ob sie auf einer Dortmunder Bühne gespielt werden können.

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Szene aus „wohnen. unter glas“ von Ewald Palmetshofer. Foto: Christoph Meinschäfer/Theatertreffen

Die ausgesuchten Inszenierungen sind das Teilnehmerfeld des NRW-Theatertreffens, das vom 13. bis 20. Juni in Dortmund stattfindet. Und weil ein bißchen Superlativ eben doch sein muß, werden nun, wenn schon nicht die zehn besten, so doch die zehn bemerkenswertesten Produktionen präsentiert. Übrigens mit einer Ausnahme, der Oberhausener Beitrag ist nicht transportabel. Deshalb fährt am 19. Juni ein Shuttle-Bus.

Dies sind, chronologisch geordnet, die Teilnehmer:

„Das Mädchen aus der Streichholzfarbrik“, Schauspiel Bochum, 13. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Das Stück entstand nach dem Film von Aki Kaurismäki, Regie führt Bochums Hausherr David Bösch. Und in der Titelrolle ist die quirlige Maja Beckmann zu erleben.

„wohnen. unter glas“, Theater Paderborn, 14. Juni, 18 Uhr, Studio. Eins der zeitgenössischen Stücke im Wettbewerb. Geschrieben hat es der fleißige Österreicher Ewald Palmetshofer (Jahrgang 1978), der 2008 mit „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ am Mülheimer Stücke-Wettbewerb teilnahm und über den die Meinungen, wie man so sagt, auseinandergehen. Jedenfalls ist nach 60 Minuten alles vorbei und somit genug Zeit für eine weitere Aufführung am selben Tag, nämlich:

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Szene aus „Minna von Barnhelm“. Foto: Philipp Ottendörfer/Theatertreffen

„Minna von Barnhelm“, Theater Bielefeld, 14. Juni, 19.30 Uhr, Schauspielhaus. Die Bielefelder, ist zu hören, gehen den Stoff sehr komödiantisch an. Da werden die 160 Minuten (eine Pause) ganz fraglos wie im Flug vergehen.

„Der Prozess“, Schauspiel Essen, 15. Juni, 18 Uhr, Schauspielhaus. Natürlich besonders interessant für die, die den Dortmunder „Prozess“ mit dem Essener vergleichen wollen. Übrigens gibt es ein Wiedersehen mit Axel Holst, der früher in Dortmund spielte.

„JR“, Wuppertaler Bühnen, Montag, 16. Juni, 20.15 Uhr, Schauspielhaus. Nach dem Roman von William Gaddis, in einer Fassung von Tom Peuckert, vermerkt das Programm. Das Stück ist eine Uraufführung und erzählt die Geschichte von JR, einem elfjährigen „Rotzlöffel“ (O-Ton), der eine steile Karriere als Brachialkapitalist macht und dabei zum Systemrisiko wird.

„Kasimir und Karoline“, Düsseldorfer Schauspielhaus, 17. Juni, 20 Uhr, Opernhaus. Für die Aufführung im Opernhaus entschied sich das Dortmunder Theater wegen der dortigen Drehbühne. Sie bietet zwar nicht die Möglichkeiten der Düsseldorfer Maschinerie, erlaubt aber doch, einen Großteil der Bewegungseffekte zu zeigen. Bierbänke und –tische in atemberaubender Bewegung, und das gegebenenfalls sogar alkoholfrei. Regie führt Nurkan Erpulat, der mit der „Ehrenmord“-Tragödie „Verrücktes Blut“ ziemlich bekannt wurde.

„Der gute Mensch von Sezuan“, Schauspiel Köln, 18. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Moritz Sostmann inszenierte mit Menschen und Puppen, 180 Minuten mit Musik (von Paul Dessau).

„Die deutsche Ayse. Türkische Lebensbäume“, Theater Münster, 19. Juni, 18 Uhr, Studio. „Ein spitzzüngiges Sittenbild über die Anfänge der Migration in Deutschland“ schrieben die Westfälischen Nachrichten zur Premiere.

„Die Orestie“, Theater Oberhausen, 19. Juni, 21 Uhr. Simon Stone hat den Stoff von Aischylos in die Gegenwart gestellt. Und das Theater bleibt, wo es ist, weil der Dortmunder Schnürboden kaputt ist. Der Shuttle-Bus fährt um 19.30 Uhr.

„Das Himbeerreich“, Theater Aachen, Freitag, 20. Juni, 18 Uhr, Studio. Andreas Veiel schrieb seine entlarvende Kapitalismus-Kritik, nachdem er 25 Top-Banker und Manager interviewt hatte. Das Stück fand viel Beachtung, als es herauskam.

Am selben Tag um 20.30 Uhr ist auch die Preisverleihung vorgesehen. Ob dann jedoch eine Inszenierung oder eine Schauspielerin/ein Schauspieler oder eine Regie den Lorbeer erhält, steht ganz in der Entscheidung der Jury.

Neben dem traditionellen Theaterprogramm haben die Dortmunder diverse Diskussionsveranstaltungen („Panels“), Workshops, Konzerte und Performances in das Programm eingeflochten. Bei den letztgenannten scheint „The Smartphone Project“ besonders interessant zu sein; Hier kann sich das Publikum eine App herunterladen (die übrigens bei Android mehr kann als bei Apple) und mit ihr Tänzer im Schauspielhaus ähnlich beeinflussen wie Spielfiguren in einem Computerspiel. Von den eingeladenen Musikanten seinen die nicht gänzlich unbekannten „Tiger Lillies“ genannt, die hier mit „Support“ von Dortmunds Musikchef Paul Wallfisch auftreten.

Es gibt Jörg Buttgereits „Sexmonster“ als Film zu sehen, Kindertheater, Party und einen Theatervorplatz, den die Dortmunder „Urbanisten“ temporär in einen „selbstorganisierten und ungezwungenen Lieblingsort“ verzaubern wollen. Für Fußballfans wird im „Labor“ neben dem Theaterfoyer an allen Tagen der Fernseher laufen und von der Weltmeisterschaft berichten.

Und wer das alles genauer wissen will, nutze die nachfolgend aufgeführten Netzadressen.

www.nrw-theatertreffen.de

www.theaterdo.de

 




Vernarbte Seelen: Leoš Janáčeks „Jenufa“ am Musiktheater im Revier

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Eine Mühle ist weit und breit nicht in Sicht. Das Korn aber türmt sich zu Bergen, rieselt in alle Ritzen, seine Leben spendende Energie unter einer harten Schale verbergend. Aus ihm entspringt in Gelsenkirchens Musiktheater eine wilde Menschentragödie: „Jenufa“, die erste große Oper des Tschechen Leoš Janáček, von Intendant Michael Schulz jetzt neu in Szene gesetzt.

Auf die tragischen Ereignisse um die verbitterte Küsterin, die das uneheliche Kind ihrer Stieftochter Jenufa tötet, wirft Schulz mehr als nur einen nachdenklichen Blick. Analytisch und klar arbeitet er die Rahmenbedingungen heraus, die das Verbrechen begünstigen, aber auch die zwiespältige Natur der Menschen, in denen Gutes und Böses miteinander kämpft. Die Bühne (Kathrin-Susann Brose) ist dabei von stählernen Gerüsten eingefasst, die mit der unbarmherzigen Rigidität der Dorfgemeinschaft korrespondieren. Die enge Wohnküche der Küsterin, in der Jenufa heimlich ihr Kind zur Welt bringt, gleicht einer Kiste ohne schützendes Dach. Jenufa muss sich in einem Verschlag unter dem Küchenboden verstecken.

Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten im ersten Akt lässt Schulz uns im zweiten haarklein miterleben, wie es zur schrecklichen Kurzschlusshandlung der Küsterin kommt. Dabei gelingt ihm eine großartige, beklemmende Verdichtung. Diese abstoßend kalte Frau, die nach dem Kindsmord scheinbar seelenruhig eine Zigarette raucht und dann eine Gans ausnimmt, ist zugleich eine Mutter, die für ihre Ziehtochter eigentlich nur das Beste will. Jenufa, die das Verbrechen ahnt und der Küsterin noch hinterher stürzen will, rüttelt in voller Panik an der verschlossenen Haustür, bevor die Nachricht vom Tod des Kindes sie buchstäblich zu Boden schmettert. Es ist unsagbar jammervoll, ihr beim Zerbrechen zuzusehen.

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los  (Foto: Pedro Malinkowski)

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los (Foto: Pedro Malinkowski)

Wovon die Worte schweigen müssen, davon spricht Janáčeks Musik. Petra Schmidt ist eine wunderbare Jenufa, die darstellerisch große Wucht entwickelt. Ihre Stimme besitzt Wärme, Glut und Zärtlichkeit. Biegsame Koketterie und hochfahrende Spitzen weichen allmählich verschatteten Tönen, aus denen zuletzt nur mehr resignierte Wehmut leuchtet. Die Neue Philharmonie Westfalen, die unter der Leitung von Rasmus Baumann abermals zur Bestform aufläuft, breitet Janáčeks expressive Partitur mit vielen feinen Farben aus, steigert sich aber auch zu ruppiger Wucht.

Vokale Defizite im Ensemble können nicht verschwiegen werden. Lars-Oliver Rühl (Stewa) kämpft immer wieder mit Höhenproblemen, der Charaktertenor von William Saetre (Laca) klingt vom Forte aufwärts dünn und unflexibel. Gudrun Pelker, die sich mit großer Intensität in die Rolle der Küsterin wirft, hat Mühe, dem schneidenden und verhärmten Duktus dieser Frau auch einmal wärmere Farben beizumischen. Sie alle spielen aber mit einem Feuer, das viele Probleme ausglüht. Diese Hingabe bringt uns Menschen nahe, die qualvoll in ihrer Haut gefangen sind: vernarbte Seelen, die kaum mehr an die Liebe glauben, nach der sie sich sehnen. Keiner ist ohne Schuld, aber in allen schlummert der Keim zu einem freieren, besseren Leben.

Es ist Jenufa, in der diese Saat endlich aufgeht. Indem sie vergibt, wächst sie über sich selbst hinaus. An ihrer Seite ringt sich auch Laca zu einer anderen Zukunft durch: „Ich habe das Böse von mir abgetan, weil du mit mir bist.“ Die erschütternde Tragödie endet mit einem Hoffnungsschimmer.

Informationen zum Stück und zu den Terminen unter: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Jenufa/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Solistin und Instrument sind eins – die Cellistin Alisa Weilerstein in der Essener Philharmonie

„Alisa Weilersteins Cello macht ihre Identität aus“. Die Verschmelzung von Solistin und Instrument ist für die Los Angeles Times der Schlüssel zum Spiel der Musikerin. Es ist eine ziemlich genaue Beobachtung. Denn die Amerikanerin scheint nahezu symbiotisch verwachsen mit dem sonor klingenden Korpus. Hinzu aber kommt: Diese Verbindung führt unmittelbar zum Kern des zu interpretierenden Werkes. Das wiederum setzt Emotionen frei, die das Publikum geradewegs zu spüren bekommt.

Gleichwohl aber bleibt der Eindruck, dass sich die junge Solistin in einen Kokon spinnt, dadurch ein bisschen unnahbar wirkt, ohne wirklich introvertiert zu sein. Der Hörer (und Zuschauer) fühlt die Kraft der Musik, mag dabei aber Weilersteins Wirken eher unterschätzen. So geschehen in Essens Philharmonie, wo der Applaus herzlich und groß, nicht aber von jäher Wucht ist. Das wäre, der Vergleich sei hier einmal erlaubt, im Falle von Sol Gabetta wohl anders gewesen.

Alisa Weilersteins Gastspiel ist allerdings das erste überhaupt in Essen. International hat die in Rochester/New York geborene Künstlerin durchaus einen Namen, hier allerdings scheint sie vielfach (noch) die große Unbekannte. Sie spielt zudem Schumanns a-moll-Konzert, das nicht unbedingt an erster Stelle der Aufführungsstatistik steht. Das hochromantische Werk, das sich keine Kadenz erlaubt und im Eingangs- und Mittelsatz auf offen virtuosen Glanz verzichtet, wirkt bei aller Emotionalität doch ein wenig spröde.

Umso mehr beeindruckt, wie sich die Solistin als vehemente Fürsprecherin dieses Stückes aufschwingt. Wie sie ihrem Instrument samtene, blühende Töne entlockt, andererseits zur ingrimmigen Attacke fähig ist. Dann scheint sich Schumanns aufgewühlte Natur unmittelbar zu offenbaren. Weilerstein geht es dabei übrigens nicht um vordergründige Affekte. Auch ist ihr die große, selbstreferenzielle Geste fremd. Selbst im überbordenden Finale behält sie die Kontrolle, stellt ihr virtuoses Können in den Dienst der Musik. Weilerstein kann zupacken, ohne hemdsärmelige Attitüde.

Körperbetontes Dirigat: Der Brite Ivor Bolton. Foto: Ben Wright

Körperliches Dirigat: Ivor Bolton. Foto: Ben Wright

Ihr zur Seite steht im Schumann-Konzert das Mozarteumorchester Salzburg, am Pult der Brite Ivor Bolton. Er ist seit zehn Jahren Chef des Klangkörpers – eine lange Bindung, die sicherstellt, auf das bisweilen sehr körperliche Freistildirigat präzis zu reagieren. Scharfe Akzente, große Transparenz und eine in Verbindung mit dem Solocello ausgewogene dynamische Balance sind das Ergebnis. Noch stärker ist der Eindruck bei der Interpretation von Schumanns 4. Sinfonie, deren Erstfassung erklingt. Bolton und das hier etwa 40 Köpfe starke Orchester lassen eine oft atemlose, herbe Romantik aufblitzen, mit teils scharf gleißenden, teils schroff dunklen Bläserakzenten. Und der Kontrast zur Romanze, die hier schwüle Statik atmet, könnte größer kaum sein.

Dies alles hat sich indes schon bei zwei Mendelssohn-Konzertouvertüren angedeutet. „Die Hebriden“ als kantig ausgestaltetes Idyll, „Ruy Blas“ im Wechsel zwischen Bläserfanal und aufgeregtem Glanz, öffnen im Grunde die Tür zu Schumanns Welt. Ein ungewöhnlicher Abend voller Entdeckungen. Und eine davon ist die Cellistin Alisa Weilerstein.

 




Mit Geschmack und Sentiment: Klarinettenmusik von Iwan Müller

Naxos CD 8.572885Ein anderer hätte alles hingeworfen: Da verbessert ein Deutsch-Balte namens Iwan Müller die Klappentechnik der Klarinette, schafft so ein Instrument, das auch in entlegenen Tonarten spielbar ist. Er gründet eine Klarinettenfabrik, stellt seine „clarinette omnitonique“ dem Pariser Conservatoire vor. Doch die Kommission dieser so einflussreichen wie konservativen Musik-Institution lehnt es ab, das Instrument einzuführen. Man fürchtet, der Charakter der Tonarten könne beeinträchtigt werden. Die Firma Müllers geht in Konkurs.

Doch Müller gibt nicht auf. Seine Konzertreisen sind gleichzeitig Werbefeldzüge: Mit selbst geschriebener, virtuoser Musik offeriert er die Möglichkeiten seiner chromatischen Klarinette, kann in Kassel, Berlin, Wien und London überzeugen. 1825 veröffentlicht er eine Klarinettenschule; mit Georg Wilhelm Heckel, einem begabten Instrumentenbauer aus Wiesbaden, baut er eine Serie von Musterklarinetten. Die „Müllerklarinette“ ist die Urmutter der heutigen „deutschen“ Klarinette.

Den Komponisten – und Virtuosen – Iwan Müller stellt eine kurzweilig anzuhörende CD der Firma Naxos vor: Die Klarinettisten Friederike Roth und Wenzel Fuchs spielen, begleitet von der Pianistin Erika Le Roux oder im Verein mit dem Berolina Ensemble Kammermusik des erfinderischen Weber-Zeitgenossen. Im gleichen Jahr 1786 geboren, hört man bei Müller den empfindsam-kantablen Tonfall des Romantikers, mehr noch freilich die Einflüsse der Belcanto-Oper des beginnenden 19. Jahrhunderts. Müller war Solo-Klarinettist unter anderem an der Pariser Oper, bevor er seinen Lebensabend am Hof von Schaumburg-Lippe in Bückeburg, an der Ostgrenze zu Westfalen, verbrachte. Dort starb er 1854.

Müllers Musik gehört zu jener später verpönten Art von Virtuosenmusik, die – zu schwer für den Dilettanten – vor allem der anspruchsvollen Unterhaltung und der Präsentation der spieltechnischen Raffinesse eines Solisten diente. Einen Mozart oder gar Beethoven wird man in seinen beiden Klarinettenquartetten aus dem Jahr 1820 nicht entdecken – aber das macht auch nichts: Müller entwickelt seine Melodien mit einem aparten Charme, der auch heute noch mit Vergnügen zu hören ist.

Ein Werk wie die „Scène romantique“ erinnert in seinem ersten Satz, „Adagio con espressione“, an Leidens- und Traumszenen aus der Oper; eine Polonaise wie „Le château de Madrid“ gibt der Klarinette reichlich Gelegenheit, wie eine Primadonna aufzutreten. Verzierungen, Rouladen, Sprünge, chromatische Eintrübungen, weite Legatobögen: Der stets mit leuchtend-brillantem Ton spielenden Klarinettistin Friederike Roth wird nichts geschenkt.

Auch die Pianistin Erika le Roux pflegt die theatralische Geste, ohne sich allzu sehr vom Sentiment zu distanzieren oder es überbetont zu denunzieren. Solche Musik will mit Geschmack und Sensibilität gespielt sein – und die Musiker, einschließlich der Streicher des Berolina Ensembles (David Gorol, Andreas Mehne, Martin Smith), pflegen diese Tugenden.

Fast möchte man meinen, im „Souvenir de Dobbéran“ für zwei Klarinetten und Klavier höre man das rhythmische Stampfen der Dampf-Schmalspurbahn, die heute noch Bad Doberan mit der „großen Welt“ verbindet – aber von diesem modernen Verkehrsmittel hatte Müller noch keine Ahnung. Eine CD, die an einem dämmrigen Nachmittag oder zu einer Tasse Tee mit Vergnügen hören lässt – und die ein Fenster in eine musikalische Kultur öffnet, die uns heute nur noch in Bruchstücken bekannt ist.

 

Iwan Müller: Souvenir der Dobbéran. Clarinet Quartets Nos. 1 and 2, Naxos 8.572885




Zum Tod des Feuilletonisten Hans Jansen

Er war ein Feuilletonist vom alten Schlage, ein Kritiker, der die Gegenstände seines Schreibens spürbar liebte, auch wenn er mit den konkreten Ergebnissen des Kulturschaffens beileibe nicht immer einverstanden war. Der brachiale Verriss aber war seine Sache nie: Hans Jansen, langjähriger Kulturchef der Essener WAZ, ist jetzt mit 79 Jahren gestorben.

Die mit ihm gearbeitet haben (ob als Redakteure, Volontäre, Praktikanten), sprechen mit größter Achtung und Bewunderung von ihm. Der Mann mit der sonoren Stimme hatte gleichsam auch etwas Väterliches. Er besaß ein untrügliches Gespür für junge journalistische Talente, die er anzuregen und zu fördern wusste. Von einem wie ihm hätte auch ich gerne mehr gelernt, doch ich war nun mal bei einer anderen Zeitung. So blieb es bei gelegentlichen Begegnungen in Theaterfoyers und meist kurzen Gesprächen, vor allem aber bei der Lektüre seiner Theater- und Literaturkritiken.

Mit den Jahren des Schreibens lässt man längst nicht mehr alle gleichermaßen gelten, die ringsum das gleiche Metier ausüben, man wird da recht wählerisch, wenn nicht manchmal mürrisch. Doch bei Hans Jansen hat es mich noch stets interessiert, was und wie er geschrieben hat, besonders dann, wenn man denselben Theaterabend erlebt hatte. Das war eine Herausforderung, sich daran zu messen!

Unter den Kulturjournalisten des Ruhrgebiets gab es schwerlich jemanden, der dem promovierten Theaterwissenschaftler an Bildung, auch Herzensbildung, profundem Wissen und einfühlsamer Beschreibungskraft gleichkam. Kein Wunder, dass ihm manche Haltlosigkeit der „Spaßgesellschaft“ ein Graus war.

Seine Studienzeit in Wien hat ihn nicht nur literarisch geprägt, sondern wohl auch seine ganz spezifische Eleganz und seinen Charme inspiriert. Im kleinen Kreise hat er einmal geklagt, dass man sich im Revier doch vielfach von Hässlichkeit umgeben sehe. Es ist vielleicht die Mission dieses wahrhaftigen Kulturmenschen gewesen, die Schönheit(en) aufzuspüren und zu rühmen, die man dem entgegenstellen konnte.

Dem WAZ-Kulturteil hat Hans Jansen spürbar gefehlt, nachdem er in den Ruhestand gegangen war. Einen wie ihn kann es in diesen und den kommenden Zeiten nicht mehr geben.




Von Mittagsschläfchen und anderen Störungen – der neue Roman von Hans-Ulrich Treichel

Frühe Störung - Hans-Ulrich Treichel Es gibt Menschen, die haben Stimmen im Ohr und verstehen sie nicht. Franz Walter hört nur eine einzige Stimme und die versteht er sehr gut. Es ist die seiner Mutter. Nach halbwegs geglückter Psychotherapie hört er auch diese nicht mehr, dafür hält nun ein einziges Wort sein Ort besetzt. „Mutter, Mutter, Mutter“ – so kreist es unablässig in seinem Ohr. Und nicht nur dort.

Das Wort Mutter kreist in seinem Kopf, ach was: in seinem ganzen Leben. Da hilft es auch nichts, dass die biestige und zwanghaft besitzergreifende Mutter sich längst aus dem Leben verabschiedet hat. So wie auch schon der charmanteste Berliner Kiez nichts geholfen hat, wenn dieser auf ein Bett zusammenschrumpft, in dem der kleine Franz Walter mit seiner Mutter Mittagsschläfchen halten muss und dabei ihren Schweiß riecht. Es hilft erst recht nicht, wenn der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter mit seiner Mutter auf die kleine Insel Darß reist und zur Sicherheit das immer gleiche Fischrestaurant aufsucht. Über diese Insel und ihre Region schreibt der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter Reiseführer, die eher Gebrauchsanweisungen ähneln und so mutlos sind wie sein ganzes Leben.

Sonst noch was? Ach ja, die Mutter hatte Brustkrebs, der Sohn weilte während der OP in Rom. Die Mutter lag im Sterben, der Sohn weilte in Kalkutta. Nachsehen, ob man nicht vielleicht auch Mutter Teresa ein paar negative Seiten nachweisen kann. Sonst noch was? Nicht wirklich. Im Großen und Ganzen ist dies der Inhalt von Hans-Ulrich Treichels neuem Roman „Frühe Störung“.

Schade nur, dass man über diese Inhaltsfragmente schon nach gut einem Viertel des Romans Bescheid weiß. Noch bedauerlicher, wenn man danach auf knapp 190 Seiten bis auf eine Entblößung der zerstörten Mutterbrust und zwei ungelenke Beziehungsversuchen nichts Neues mehr erfährt. Der Rest ist Wiederholung, langweilende, irritierende, nervende Wiederholung ohne jede Variation. Die Speisekarte des Fischrestaurants kennt der Leser bald besser als die Mutter, der Mittagsschlaf schafft es gefühlt auf jede zweite Seite und was der arme Therapeut dazu zu sagen hatte, das können wir alsbald auch auswendig repetieren.

Vollkommen ratlos lässt einen dieses Buch zurück. Nicht ratlos ob der „frühen Störung“ des auf ewig in kindlichen Animositäten verharrenden Franz Walter. Dessen Störung reicht noch nicht mal für einen ordentlichen Ödipus-Komplex, sondern ist eher lapidar. (Vielleicht liegt darin das Problem des Romans. Hätte ein ordentlicher ausgewachsener Ödipus-Komplex mehr hergegeben?) Dazu kommt die leider gesicherte Existenz des ewigen Muttersöhnchens. Leider, denn müsste Franz Walter sich mit etwas so Profanem wie Existenzsicherung auseinandersetzen, wäre wohl weniger Zeit, derart episch und larmoyant sein Zivilisationsproblem einer überbehüteten Kindheit wieder und wieder durchzukauen. Nein, das Buch lässt einen ratlos mit der Frage zurück: Wer bitte, soll und will das lesen?

Es scheint, als ob sich jemand diese „frühe Störung“ von der Seele hat schreiben müssen. Das ganze Buch wirkt wie eine dringend benötigte Aufarbeitung frühkindlicher Traumata ohne Rücksicht auf den, der es lesen soll. Der Klappentext verkauft es als Literatur mit schmerzlich-ironischem Unterton. Ein bißchen Ironie fehlt in der Tat schmerzlich, aber das war wohl nicht gemeint. Wo jedenfalls der Autor und der Verlag diese Ironie gefunden haben wollen, bleibt ihr Geheimnis.

Ganz besonders irritierend ist das Buch auch deshalb, weil es formal und sprachlich außerordentlich gut geschrieben ist. Erzähltechniken wie das Einfügen von Rückblenden beherrscht Treichel perfekt. Seine Sätze sind elegant und kristallklar formuliert, man liest sie der Fomulierungen wegen mit Respekt und auch Freude an der Sprache. Das ist aber auch fast der einzige Grund, der einen zum Weiterlesen bewegt. Manches, etwa das Alltagsleben auf dem Darß, ist durchaus angenehm schrullig beschrieben und macht Freude beim Lesen. Aber eben nur einmal. Danach wird es – aber egal. Ich will mich jetzt nicht auch noch ständig wiederholen.

Noch irritierender wirkt der Roman, wenn man an das bisherige literarische Werk Hans-Ulrich Treichels denkt. Der promovierte Germanist und Mitglied des PEN-Zentrums begeisterte mit seinen bisherigen Werken Publikum wie Kritik gleichermaßen. Zwar setzt er sich auch in seinem wohl bekanntesten Roman „Der Verlorene“ mit Schuldgefühlen innerhalb einer Familie auseinander und der titelgebende „Verlorene“ ist auch in diesem Buch der Sohn, aber im Punkt erzählerischer Dichte sind es Welten, die diese Bücher trennen. So gesehen, erscheint „frühe Störung“ eher als eine späte Störung.

Zu autobiographischen Bezügen seiner Romane äußerte sich Hans-Ulrich Treichel bisher ambivalent. Angenommen, der Autor habe sich selbst die „Mutter, Mutter, Mutter“ von der Seele schreiben müssen, bleibt die Hoffnung, dass er sein unbestreitbar enormes schriftstellerisches Talent in seinen nächsten Werken störungsfreier entfalten möge.

Hans-Ulrich Treichel: „Frühe Störung“. Roman. Suhrkamp Verlag, 189 Seiten, €18,95




Gasometer Oberhausen – grandiose Lichtinstallation verformt die Riesendose

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Wolfgang Volz

Die Installation „320 Grad Licht“ der Künstlergruppe Urbanscreen sorgt im Gasometer für atemberaubende Formen. Foto: Wolfgang Volz/ GasometerOberhausen.

Zuletzt hing Christos Luftsack im Rund des Gasometers und akzentuierte grandios das atemberaubende Nichts. Jetzt ist hier nur noch Licht – eine Licht-Installation, genauer gesagt, die „320 Grad Licht“ heißt und den einzigartigen Raum auf kluge Weise nutzt. Da Licht aber nur bei Dunkelheit sichtbar wird, ist es im Gasometer insgesamt gesehen eher dunkel – bis Ende des Jahres, denn dann endet die Ausstellung mit dem Titel „Der schöne Schein“.

Doch weißes Licht, das die Wände verzaubert, auf ihnen herabrieselt, Wellen schlägt, Tiefendimensionen auf dem glattrunden Blech erscheinen lässt und noch eine Menge mehr vermag, ist nicht alles. Genau genommen ist die Installation ja nur eine Arbeit von rund 150, die derzeit zu sehen sind. Kurator Peter Pachnicke hat nämlich in den unteren beiden Etagen des Gasometers Reproduktionen von „ausgewählten Meisterwerken der Kunstgeschichte“ aufhängen lassen, und die gaben der Schau ihren Titel. Wiewohl es, wie könnte es anders sein, eine sinnfällige thematische Verkettung mit der Lichtkunst im Obergeschoß gibt. Dort nämlich könne man „die Schönheit des Gasometers“ erfahren, samt Schönheit der Lichtarbeit. Irgendwie hängt ja immer alles mit allem zusammen.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Thomas Wolf

Die Installation „320 Grad Licht“ arbeitet mit minilamilstischen Grundformen – Quadraten, Quadern, Linien – und ist ständig in Bewegung. Foto: Volz/Gasometer

Man wandert durch die von der Decke hängenden Bilder und wundert sich. Das Profil einer zarten, blonden Botticelli-Schönheit zum Beispiel füllt jetzt um die vier Quadratmeter und lässt an Werke der Pop-Art aus den 60er Jahren denken, zu deren wesentlichen Stilmitteln ja das „Blow Up“ gehörte, also das starke Vergrößern des vermeintlich Alltäglichen. Doch mag dieser Eindruck in Oberhausen zufällig sein, nicht alle Bilder wurden derartig stark vergrößert wie manche Renaissance-Portraits. Überhaupt scheint es keine festen Regeln für die Bestimmung des Vergrößerungsmaßstabs gegeben zu haben.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer OberhausenFoto: Wolfgang Volz

Blick zur Decke des Gasometers in über 100 Metern Höhe. Foto: Volz/Gasometer

Peter Pachnicke erzählt, er habe zeigen wollen, was Künstler im Lauf der Jahrhunderte an Schönheit empfanden. Er habe gleichsam „in sich selbst gegoogelt“ und geschaut, welche Bilder und Skulpturen ihm einfielen. 150 bis 200 Stück seien es gewesen, ein mehrheitsfähiger Kanon im europäischen Raum, Ausdruck eines kollektiven Bildgedächtnisses.

Nun hängen die meisten davon – ergänzt durch vorzügliche Gipsabdrücke vornehmlich antiker Plastik – im Halbdunkel des Gasometerrunds: Von Hieronymus Bosch das (etwas apokalyptische) Paradies, von Caspar David Friedrich ein Mondaufgang, von Edouard Manet die nackte Olympia, von Katshika Hokusai die Tsunami-Welle, und so weiter, und so weiter, mal mehr mal weniger größer als das Original. Ein „Best of Schönheit“, vierfarbig ausgedruckt und auf stabile Bildträger gezogen.

Doch ist dies ein ernstzunehmendes Konzept? Und trägt es, ist es attraktiv für das Publikum? Oder prägten vor allem ökonomische Überlegungen den Charakter der vergleichsweise preiswerten Sommerschau für das Jahr 2014, deren „Projektpartner“ übrigens ein bekannter Druckerhersteller ist?

Sommer

Eins von über 150 ausgedruckten Meisterwerken im Gasometer ist Arcimboldos kunstvolles Gemüsearrangement „Sommer“. Foto: Gasometer

Dieser „Schöne Schein“ hat ein Geschmäckle. Und das unvergleichliche Industriebauwerk hätte sicherlich eine bessere Bespielung verdient als die Ausstellung von Computerausdrucken. Der Besuch im Gasometer lohnt sich natürlich trotzdem, erstens sowieso und zweitens wegen der Lichtkunst der Bremer Künstlergruppe Urbanscreen. 21 Projektoren sind für ihre Realisation nötig, sie läuft in einer 20-Minuten-Endlosschleife („Loop“) und wird untermalt durch eine eigens geschaffene, dem einmaligen (Nach-) Hall der Riesenblechdose angepasste „minimalistische“ Musik. Und sie ist auch „schön“. Wenngleich Schönheit zu finden schon lange nicht mehr der Kunst vornehmstes Ziel ist.

Bis 30. Dezember 2014. Di-So 10-18 Uhr, in den NRW-Ferien auch mo. geöffnet. Eintritt 9 Euro. www.gasometer.de




Von Erfurt nach Westfalen: Bedeutsame Oper „Joseph Süss“ kommt 2015 ans Theater Münster

Szene aus Detlev Glanerts "Joseph Süß" in Erfurt, mit Marisca Mulder (Magdalena), Máté Sólyom-Nagy (Joseph Süß) und Robert Wörle (Weißensee). Foto: Lutz Edelhoff

Szene aus Detlev Glanerts „Joseph Süß“ in Erfurt, mit Marisca Mulder (Magdalena), Máté Sólyom-Nagy (Joseph Süß) und Robert Wörle (Weißensee). Foto: Lutz Edelhoff

Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer ist die eines Glücksritters des 18. Jahrhunderts: Aufstieg bei Hofe, Finanzrat des Herzogs von Württemberg, nach dessen plötzlichem Tod Schauprozess und Todesurteil. Ein Justizmord, wie man heute zweifelsfrei nachweisen kann. Doch Joseph Süß war Jude, und der Prozess gegen ihn ein Manifest des offenen Antisemitismus. Als „Jud Süß“ wurde sein Schicksal zum Material für judenfeindliche Propaganda, die in Veit Harlans berüchtigtem Film von 1940 gipfelte: ein sogenannter Vorbehaltsfilm, der bis heute in Deutschland aus gutem Grund nur eingeschränkt gezeigt werden darf. Harlan, ein Meister seines Fachs, hat wie kein anderer antisemitische Hetze so subtil wie perfide künstlerisch bemäntelt.

1999 vollendete Detlev Glanert seine Oper „Joseph Süss“, die nun am Theater in Erfurt Premiere hatte. Die Inszenierung von Hausherrn Guy Montavon war 2012 am Gärtnerplatztheater München zu sehen – und der damalige Gärtnerplatz-Intendant Ulrich Peters holt sie ab 7. Februar 2015 an sein neues Haus in Münster. Glanert hat mit dieser Oper ein bemerkenswertes Erfolgsstück geschrieben: Seit der Uraufführung in Bremen hat es Nachfolgeinszenierungen in Regensburg, Heidelberg, Trier, Krefeld-Mönchengladbach und Zwickau-Plauen gegeben. Glanerts Werk entkräftet die Ansicht, zeitgenössische Oper könne nicht erfolgreich sein und habe keine Chance im Repertoire. Man muss sie nur spielen wollen.

Guy Montavon lässt sein Inszenierung – unterstützt durch die Bühne Peter Sykoras – um den Kerker des „Hofjuden“ kreisen: Er bildet das Zentrum des Bühne, ein enger Raum mit Wänden aus Goldbarren. Der Zuschauer erlebt die Stunden vor der Hinrichtung. Immer wieder kehrt Süss zurück in die Vergangenheit. Seine Erinnerungen „materialisieren“ sich in den Szenen auf der Bühne, bevölkert von schwarz-grau-weißen Gespenstern, zum Teil in groteskem Barock überzeichnet, unter denen sich Süss in seinem roten Prachtrock wie der einzig lebende Mensch ausnimmt.

Detlev Glanert, "Joseph Süß", am Theater Erfurt: 2015 wird die Inszenierung Guy Montavons mit der Bühne Peter Sykoras in Münster gezeigt. Foto: Lutz Edelhoff

Detlev Glanert, „Joseph Süß“, am Theater Erfurt: 2015 wird die Inszenierung Guy Montavons mit der Bühne Peter Sykoras in Münster gezeigt. Foto: Lutz Edelhoff

Das Libretto von Werner Fritsch und Uta Ackermann bezieht den antisemitischen Hintergrund explizit mit ein, radikalisiert noch von Montavons Inszenierung: „Juden sind in unserem deutschen Wald unerwünscht“, liest man vor Beginn der eigentlichen Handlung; zwei biedere Familienväter erzählen sich geschmacklose Judenwitze. „Judas verrecke“ kreischt der Herzog (Stephen Bronk), vom Schlaganfall gelähmt, aus seinem Rollstuhl.

Doch die Perspektive ist nicht auf dieses einzige Thema verengt: Es geht um die Niedertracht der Ränkespiele bei Hofe, um Täuschung, Neid, sexuelle Gier und Geltungssucht, exemplarisch verkörpert im Sprecher der Landstände, Weissensee (mit passend schneidender Stimme: Robert Wörle). Seine tückische Intrige bringt den verhassten Finanzmann letztendlich an den Galgen. Joseph Süss ist in diesem Spiel eine ebenso ambivalente Figur wie die anderen Beteiligten: Er sucht „Ruhm und Ehre“ für sein Volk, vernachlässigt seine Tochter, steht der nach Genuss und Luxus süchtigen Gesellschaft ohne Skrupel mit seinem Geschick zur Verfügung.

Máté Sólyom-Nagy läuft als Darsteller wie als Sänger zu großer Form auf, macht auch die inneren Kämpfe des Joseph Süss deutlich, die am Ende in einer schmerzvollen Klage gegen Gott, den „Allmächtigen“, münden. Und in der Beteuerung der eigenen Unschuld, mit der er in den Tod geht. So wird Glanerts Oper am Ende auch zu einer Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und seiner Ohnmacht vor dem Wirken des Bösen in der Welt.

Im durchweg überzeugenden Erfurter Ensemble sind die Frauen auf beiden Seiten Opfer: Naemi (Henriette Gödde mit lyrischer Intensität) verliert ihr Leben, von einer gewaltbereiten Meute vergewaltigt. Magdalena, Tochter Weissensees, als „Judenhure“ denunziert, hat keine Chance, der entfesselten, unterdrückerischen Lüsternheit bei Hofe zu entgehen. Marisca Mulder singt diese traurige Frau mit bewegendem Ernst. Julia Neumann hat einen koloraturenreichen, ironisch durchtränkten Auftritt als Opernsängerin Graziella – ein Geschöpf, das sich widerstandslos in die Dekadenz ihrer Umgebung einfügt.

Samuel Bächli und das Erfurter Orchester geben jeder der dreizehn Szenen unverwechselbare Prägnanz, von den filigranen Momenten verlorener Holzbläser-Soli über tosend losbrechende schlagzeuggestützte Wucht bis hin zu choralartigen, geclusterten Melodiemotiven oder ariosem Klagegesang. Auch der Chor von Andreas Ketelhut bewährt sich zwischen skandierendem Geschrei und flüsterndem Sprechgesang.

Glanerts Musik ist dabei weder anbiedernd noch verflüchtigt sie sich in uneinholbare intellektuelle Höhenflüge. Sie zeichnet aus, was seit jeher für das Theater taugt: Fasslichkeit, dramatische Wirkung, einprägsame Faktur. Solche Musik ist ihm auch in anderen Opern gelungen: Von dem eindrucksvollen, leider bisher im deutschsprachigen Raum nicht wiederholten „Caligula“ (Köln/Frankfurt) bis hin zu „Der Spiegel des großen Kaisers“ (zuletzt 2005 in Gelsenkirchen und 2006 in Münster) oder zur Science-Fiction-Oper „Solaris“ (Uraufführung 2012 in Bregenz, deutsche Erstaufführung angekündigt am 2. November 2014 in Köln) hat sich stets die eminent bühnenwirksame Qualität seiner Kompositionen erwiesen. Fazit: Auch Musik des 21. Jahrhunderts hat eine realistische Chance, ein Publikum jenseits eklektischer Kreise anzusprechen. Die Oper lebt!




Eine Chance für junge Musiker: Orchesterakademie Essen vergibt Stipendien

Links, erste Geigen. Drittes Pult, vorne. Das ist er: Schlank, schwarze Haare, schwarze Augen. Nestor Luciano Casalino, einer der jungen Musiker aus der Orchesterakademie der Essener Philharmoniker. Einer aus 400 Bewerbern, der für ein Jahr eines der heißbegehrten Stipendien ergattert hat.

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Geige zu spielen hat der Argentinier schon mit vier Jahren begonnen: „Mein Onkel ist Pianist und arbeitet als Korrepetitor. Er hat mit die Geige gekauft und den ersten Unterricht bezahlt.“ Casalinos Geigenlehrer in Argentinien hatte in Köln studiert – und dem jungen Mann die Musikhochschule in Deutschland empfohlen.

2010 war er zum ersten Mal hier, ein Jahr später hat er in Köln die Aufnahmeprüfung bestanden, erzählt Casalino in flüssigem Deutsch. Nein, in der Schule hat er die Sprache nicht gelernt: „Erst fünf Monate vor Beginn des Studiums habe ich intensiv begonnen, mich mit Deutsch zu beschäftigen.“ Die Alternative, in der vertrauten Sprache Italienisch zu studieren, hat er ausgeschlagen: „Ich wollte nicht nach Italien, sondern etwas Neues kennenlernen.“

Fünf Monate Deutsch – dann von Córdoba nach Köln

Der junge Mann aus Córdoba weiß um die tolle Chance. Und er weiß, wem er sie zu verdanken hat. Die Orchesterakademie wird ausschließlich von Sponsoren und engagierten Musikfreunden getragen. Der Verein mit gut 100 Mitgliedern ermöglicht pro Jahr acht jungen Musikern, sich eine Spielzeit lang intensiv auf den Einsatz in einem Spitzenorchester vorzubereiten. „Seit Gründung 1999 haben wir mehr als 100 jungen Menschen ein Stipendium ermöglicht“, berichtet Vorsitzender Herbert Lütkestratkötter. 2014/15 sollen es sogar zehn sein. Bereits mit 80 Euro Jahresbeitrag kann man zu den Förderern gehören. Für Lütkestratkötter ist der Verein ein Beispiel bürgerschaftlichen Engagements: „Ich habe Interesse an Musik und möchte etwas für junge Menschen tun“, erklärt er seine Motivation.

Nestor Luciano Casalino wird von einem „anonymen Privatspender“ gefördert. Bei seiner Geigen-Kollegin Johanna Radoy kommen die Mittel von der Alfred und Cläre Pott Stiftung. Der finnische Cellist Christian Fagerström wird von Helene Mahnert-Lueg unterstützt. Und bei der Fagottistin Kaitlyn Grace Cameron trägt der frühere Essener Orchesterchef Stefan Soltesz bei: Er war im März 1999 einer der Gründerväter der Akademie und ist seit 2012 ihr Ehrenmitglied.

„Musiker ist ein emotionaler Beruf“

Der 23-jährige Geiger, der in Wuppertal studiert, freut sich, den Spielbetrieb eines Orchesters kennenzulernen: Proben, Arbeit mit verschiedenen Dirigenten, Austausch mit erfahrenen Musikern. Jeder Stipendiat hat einen persönlichen Mentor aus dem Orchester zur Seite. Für Casalino ist das die Geigerin Natalie Arnold: „Wir machen jede Woche eine Stunde Unterricht, gehen Opern durch, bereiten die Standardstücke vor, die bei Probespielen verlangt werden.“ Vor allem die Oper komme in der Hochschul-Ausbildung zu kurz. Da bringen die Erfahrungen am Aalto-Theater die jungen Musiker ein gutes Stück weiter. Alleine fünfzehn Opern lernt Casalino in der laufenden Spielzeit. Dazu kommen die Dienste bei einigen Konzerten.

Natalie Arnold weiß auch, dass die angehenden Orchestermusiker Tipps brauchen, wie sie die psychisch belastenden Probespiele und – bei Anstellung – das Probejahr bewältigen können: „Musiker ist ein emotionaler Beruf, man muss sich im Orchester aufeinander einstellen. Ein junger Kollege kann dabei viel falsch machen.“ So geben die Mentoren den jungen Berufsanfängern auch Informationen, wie man eine Bewerbung richtig angeht: „Sie wissen nicht, auf was Orchester bei Bewerbern achten. Nach welchen Kriterien Bewerbungen ausgewählt werden. Und wie man sich im Gespräch und Vorspiel richtig präsentiert.“

Casalino hat’s offenbar richtig gemacht: Der aufgeschlossene junge Mann hat einen Jahresvertrag bei den Essener Philharmonikern in der Tasche. Und ist damit so glücklich wie sein Mit-Stipendiat Francesc Saez: Der bekam nach erfolgreichem Probespiel die freie Hornistenstelle im Orchester. Kein Einzelfall ist, dass ehemalige Stipendiaten zu den Philharmonikern zurückkehren. Andere sind in namhaften Orchestern in der ganzen Welt tätig. Nestor Luciano Casalino freut sich jetzt erst einmal, dass er bald bei seiner Lieblingsoper, Giacomo Puccinis „Turandot“, im Graben dabei sein darf. Und er möchte gerne wieder Mozarts „Figaro“ spielen: „Das war die erste Oper, die ich noch als Geigenschüler im Orchester in Córdoba mitspielen durfte.“

(Der Bericht ist in kürzerer Form bereits in der WAZ Essen erschienen)




Im Trauerhaus: Uraufführung nach Thomas Hürlimann am Theater Oberhausen

Foto: Tanja Dorendorf/T+T Fotografie

Foto: Tanja Dorendorf/T+T Fotografie

„Das Gartenhaus“ – der Titel klingt eher nach einem beschwingten Sommerabend oder nach einem Tête-à-Tête im Grünen. Tatsächlich geht es in der gleichnamigen Uraufführung nach einer Novelle des Schweizer Autors Thomas Hürlimann am Theater Oberhausen um ein gewichtigeres Thema: Tod und Trauer.

Ein älteres Ehepaar hat den Sohn verloren, nun stellt sich die Frage: Rosenstrauch oder Grabstein? Lucienne (Margot Gödrös) setzt sich durch und lässt einen künstlerisch ansprechenden Gedenkstein anfertigen, aber sie brüskiert damit ihren Ehemann (Hartmut Stanke). Das führt zum ersten Zerwürfnis zwischen den Eheleuten, im Laufe der Inszenierung von Oberhausens Intendant Peter Carp vertieft sich dieser Graben. Eingekapselt in die je eigene Trauer verlieren die beiden Alten beinahe den Kontakt zueinander. Und schlimmer: Sie belauern sich, sie misstrauen sich, sie fügen sich Gemeinheiten zu.

Carp trifft genau den Ton und die Atmosphäre in diesem Seniorenhaushalt. Den Starrsinn, die Sturheit, das Verlieren in Erinnerungen, aber auch die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, mit dem Schmerz um den zu früh Dahingeschiedenen umzugehen. Doch die deprimierende Szenerie lässt auch komische Momente zu: Wie Hartmut Stanke in der Rolle des Oberst sich hinter dem Rücken seiner Frau um eine herrenlose Friedhofskatze kümmert und dazu Fleischbrocken im Kleiderschrank aufbewahrt, die leider angeschimmelt aufgefunden werden, weil er die Bevorratung vergessen hat. Wie der Militär a.D. die heimliche Versorgung der Katze wie einen Feldzug plant und sich dabei keine Geringeren zum Vorbild nimmt als Napoleon oder den Vietkong.

Nicht zuletzt überzeugt Hürlimanns präzise hochliterarische Sprache. Die Tatsache, dass es sich nicht um einen dramatischen, sondern um einen Prosa-Text handelt, kommt der Aufführung sogar zugute: So sprechen die Akteure in der dritten Person übereinander statt miteinander. Dies ruft eine eigentümliche Distanz hervor, die genau den Nerv dieser Beziehung trifft. Längst haben Lucienne und der Oberst aufgehört miteinander zu reden. In ihrer Hilflosigkeit wenden sie sich an Tochter (Susanne Burkhard) und Schwiegersohn (Klaus Zwick), doch Antworten bekommen sie hier nicht. Eher werden ihre Schrullen belächelt, ihre Problemchen nicht für voll genommen. So zeigt das Stück auch etwas über den Umgang mit dem Alter heute. Passend dazu bedeckt Herbstlaub das Bühnenbild von Kaspar Zwimpfer.

Margot Gödrös und Hartmut Stanke – beide selbst in vorgerücktem Alter – verkörpern Hürlimanns Paar extrem überzeugend und äußerst charmant. Und so macht sich auch im Publikum Erleichterung breit, als sie sich am Schluss doch wieder versöhnen. Ausgerechnet im Gartenhaus, wo noch die Modelleisenbahn das verstorbenen Sohnes aufgestellt ist, finden sie wieder zueinander. Indem sie sich mit der Miniaturwelt beschäftigen, schrumpft auch die Trauer auf ein erträgliches Maß. Die Züge rattern wieder durch die Schweizer Berge, das Leben geht (noch eine Weile) weiter.

www.theater-oberhausen.de




TV-Nostalgie (13): „Stahlnetz“ – der Krimi-Straßenfeger von damals

Ganz tiefer Griff in die Nostalgie-Kiste: Wer erinnert sich noch an Jürgen Rolands Krimiserie „Stahlnetz“, die von 1958 bis 1968 lief?

Und wer weiß noch, wer die Drehbücher dazu geschrieben hat? Richtig, es war Wolfgang Menge, der uns später historische TV-Stücke wie „Das Millionenspiel“ oder „Ein Herz und eine Seele“ („Ekel Alfred“) beschert hat.

„Dieser Fall ist wahr“

Die „Stahlnetz“-Macher betrieben geradezu einen Kult der Wirklichkeitsnähe. Hier wurden wahre Kriminalfälle nachgespielt und es sollte die echte Polizeiarbeit im Vordergrund stehen. Um die Präzision zu unterstreichen, nannte eine Erzählerstimme zwischendurch immer wieder die minutengenaue Uhrzeit. Im Vorspann der allerersten Folge stand „Dieser Fall ist wahr!… Er hat sich so zugetragen, wie wir es zeigen.“ Nun ja.

Ganz entspannt beim Aktenstudium:  der Düsseldorfer Kommissar (Heinz Engelmann, links) und sein Assistent (Wolfgang Völz) in der "Stahlnetz"-Folge "In der Nacht zum Dienstag" von 1961. (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=W4pGO99lwB8)

Ganz entspannt beim Aktenstudium: der Düsseldorfer Kommissar (Heinz Engelmann, links) und sein Assistent (Wolfgang Völz) in der „Stahlnetz“-Folge „In der Nacht zum Dienstag“ von 1961. (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=W4pGO99lwB8)

Doch bei allem Bemühen um Realitätstreue: Das war natürlich arg geflunkert. Selbstverständlich wurde hier zugespitzt und dramatisiert – anfangs noch ziemlich unbedarft, später deutlich geschickter und routinierter. 1961 gab man sich schon ungleich lockerer als zu Beginn, es gab hin und wieder launige Dialoge und nicht mehr so viel Laienspiel. Effekt: Das „Tam-Tataaa-Tamm“ der Titelmusik wurde alsbald berühmt, die „Stahlnetz“-Reihe entwickelte seinerzeit „Straßenfeger“-Qualitäten.

Gesucht wird ein „Schlägertyp“

Im ersten Fall (ARD-Ausstrahlung am 14. März 1958) geht es um mörderische Schüsse in einer Karlsruher Kneipe. Der smarte, aber ruppig-ungeduldige Kommissar (im klischeegerechten Trenchcoat: Hellmut Lange) ist ratlos, denn jeder der zahlreichen Zeugen will etwas anderes gesehen haben.

Die Spur führt dann ins Ruhrgebiet: In Oberhausen verdingt sich ein Kumpan des Mörders als betrügerischer Teppichhändler. Ein solcher „Schlägertyp“, wie es geradezu rührend naiv heißt, muss damals wohl etwas derart Besonderes gewesen sein, dass er unter Tausenden auffiel. Als die beiden bösen Buben sich dann noch neue Passbilder machen lassen und der Fotograf Verdacht schöpft, zieht sich das Stahlnetz zu.

Einübung in den Rechtsstaat

Nebenher werden Grundbegriffe der Polizeiarbeit, die uns allen längst geläufig sind, noch wie nach dem Lehrbuch erklärt, beispielsweise: Was ist überhaupt Spurensicherung? Was sind V-Leute? Gibt es einen Unterschied zwischen Fundort der Leiche und Tatort? Oft werden ganze Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch vorgelesen. Vielfach klingt das – nicht allzu lange nach der Nazizeit – auch wie eine Einübung in den Rechtsstaat, in dem eben stichhaltige Beweise beigebracht werden müssen.

Einfach einen Klaps auf den Po

Wie lange das alles her ist, zeigt sich auch an Details: Da fallen altbackene Sätze wie „Der Lümmel hat sich verkrümelt“. Da wird in jeder Lebenslage kräftig geraucht. In einem „Stahlnetz“-Fall von 1961 darf der Kommissar („Overstolz“-Werbeikone Heinz Engelmann) einer soeben festgenommenen Prostituierten ganz selbstverständlich und breit grinsend einen Klaps auf den Po geben. Man wagt sich gar nicht auszumalen, welch einen „Shitstorm“ eine solche Szene heute zur Folge hätte.

Und noch eine bemerkenswerte Einzelheit von vorgestern: In den beiden Folgen von 1958 und 1961, die ich mir jetzt angesehen habe, taucht – ausgesprochen aufdringlich – nur eine einzige Automarke auf, nämlich Opel. Sollte es damals schon vereinbarte Schleichwerbung gegeben haben, womöglich noch für die eine oder andere Gegenleistung? Heidewitzka, Herr Kapitän!

P.S.: Historisch weit entfernt auch der Umstand, dass der Oberhausener Kommissar 1958 gerade neue Dienstmöbel bekommen hatte und somit viel besser ausgestattet war als sein Kollege in Karlsruhe. Das waren noch Zeiten im damals prosperierenden Revier…

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), „Kir Royal“ (12)




Philharmonie Essen 2014/15: Programm mit Sahnehäubchen

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Mit Mozart als Schwerpunktthema und dem internationalen Star der Alte-Musik-Szene Jordi Savall als „Residence“-Künstler geht die Philharmonie Essen in ihre elfte Spielzeit 2014/15.

Mit 127 Veranstaltungen – vom großen Orchesterkonzert bis zur musikalischen Kennenlern-Stunde für die Allerkleinsten – hat Intendant Hein Mulders bei der Pressekonferenz zu neuen Saison ein ausgewogenes, sorgfältig geplantes Programm vorgestellt. Der Erfolg gibt ihm bisher Recht: Schon jetzt konnte die Philharmonie stolz eine Zahl von über 100.000 Besuchern in der laufenden Spielzeit vermelden. Das bedeutet eine Platzauslastung von 80 bis 90 Prozent. Gut für Abonnenten und Einzelkartenkäufer: Die Preise werden nicht steigen, erst 2015 rechnet TuP-Geschäftsführer Berger Bergmann – auf Drängen der Politik – mit einer Anhebung.

Intendant Hein Mulders. Foto: Philharmonie Essen

Intendant Hein Mulders. Foto: Philharmonie Essen

Große Orchester und namhafte Solisten fehlen nicht, aber die Sahnehäubchen im Programm sind Ideen wie die „Piano Lectures“, bei denen bekannte Pianisten spielen und über Musik sprechen. Oder das Festivals „NOW!“ für zeitgenössische Klänge, das zum vierten Mal stattfindet und im November unter dem Stichwort „Parallelwelten“ acht ungewöhnliche Konzerte und ein Symposion anbietet.

Nicht zu vergessen sind die Education-Angebote der Philharmonie. Sie sprechen nicht nur Schüler an – etwa mit Kompositionsprojekten oder Klassenbesuchen in Konzerten. Sondern auch mit Ferien-Workshops, Konzert-Einführungen für Kinder oder speziellen Gebäude- oder Orgelführungen. Auch Erwachsene schätzen vielleicht eine Führung durch den Bau oder das Konzert „Klassik für Einsteiger“ am 28. Oktober, bei dem man unkompliziert Schwellenangst überwinden oder eine alte – oder neue – Liebe (wieder)entdecken kann.

Kuhn-Orgel im Großen Saal wird zehn Jahre alt

Zehn Jahre alt wird die Kuhn-Orgel der Philharmonie: Anlass für einen Abend mit vier Organisten am 27. September. Das Orgel-Abo mit sechs Veranstaltungen beinhaltet ein Konzert mit Iveta Apkalna und den „Kreuzweg“ von Marcel Dupré mit Bischof Franz-Josef Overbeck als Sprecher. Weitergeführt werden Themenreihen wie die beliebte „Musik bei Kerzenschein“, etwa mit Bachs „Weihnachtsoratorium“, der „Matthäus-Passion“ und einem Konzert mit Magdalena Kožená.

Kommt in die Philharmonie zurück: Joyce DiDonato. Foto: TuP/Simon Pauly

Kommt in die Philharmonie zurück: Joyce DiDonato. Foto: TuP/Simon Pauly

Mit Joyce DiDonato, Klaus Florian Vogt, dem Counter Valer Sabadus oder dem phänomenalen Liedsänger Christian Gerhaher kehren führende Gesangssolisten in die Philharmonie zurück. Und für Jazz-Freunde bietet das Haus am Essener Stadtpark elf Konzerte an, unter anderem mit der spanisch-afrikanischen Soul-Legende Buika, mit Rebekka Bakkens‘ Tom-Waits-Songs oder mit Ensembles wie dem Michael Wollny Trio und dem Marius Neset Quartet.

Erfolgreich gestartet ist im Herbst 2013 die Klavier-Reihe „Piano Lectures“. Deshalb eröffnet am 14. September kein Geringerer als Rudolf Buchbinder mit dem Thema „Beethoven“ die Reihe von vier Sonntagvormittagen. Es folgen Kristian Bezuidenhout, ein Spezialist für Hammerklavier, der junge Boris Giltburg und der stets spannende Individualist Fazil Say.

„Hauptsache“ Mozart mit acht Konzerten

Acht Konzerte zählt die „Hauptsache Mozart“: In diesem Rahmen tritt Janine Jansen mit dem Chamber Orchestra of Europa mit einem Mozart-Violinkonzert auf.Alexandre Tharaud spielt das „Jeunehomme“-Klavierkonzert. Kammermusikfreunde werden einen Streichquintett-Abend schätzen, prominent besetzt etwa mit Baiba Skride (Violine) Nils Mönkemeyer (Viola) und Alban Gerhardt (Cello). Das „Requiem“ stellt Peter Dijkstra mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks so unvollendet vor, wie es Mozart hinterlassen hat, ergänzt es aber mit Kompositionen von Purcell bis Ligeti. Und für ein neues Forma, die „Happy Hour“ am 19. November, 19 Uhr, kommt das Sinfonieorchester des WDR mit Dan Ettinger nach Essen, um eine Stunde lang zwei Mozart-Sinfonien zu spielen. Danach trifft man sich auf ein Glas im Foyer.

Artist in Residence in der kommenden Saison: Jordi Savall. Foto: TuP/David Ignaszewski

Artist in Residence in der kommenden Saison: Jordi Savall. Foto: TuP/David Ignaszewski

Jordi Savall, der katalanische Gambist, wird in vier Konzerten ausgefallene Programme mit Alter Musik präsentieren: Einen Abend über das Leben von Erasmus von Rotterdam mit Renaissance-Musik und Texten der Epoche am 12. Oktober; einen Abend mit Meistern des Kontrapunkts von Bach bis Samuel Scheidt am 11. Dezember; einen wundervoll entdeckerfreudigen Abend mit Tänzen und Liedern aus dem alten und dem neu entdeckten Spanien jenseits des großen Ozeans am 16. Mai 2015. Und in der Basilika in Werden verbindet er Orient und Okzident in einem musikalischen Dialog.

Luxuriöse Abende versprechen die 22 auftretenden Gastorchester, unter ihnen die drei großen Londoner Orchester, das Concertgebouw Orkest aus Amsterdam und – letztmals unter Lorin Maazel – die Münchner Philharmoniker. Am Dirigentenpult stehen Stars wie Antonio Pappano oder John Eliot Gardiner, aber auch „Aufsteiger“ der letzten Jahre wie Daniel Harding oder Yannick Nézet-Séguin. Einen Höhepunkt verspricht das Konzert der Berliner Philharmoniker am 30. November: Unter Riccardo Chailly spielt Martha Argerich das Schumann-Klavierkonzert.

Andere Solisten sind Janine Jansen mit der deutschen Erstaufführung des Violinkonzerts von Michel van der Aa (8. November), Nikolai Lugansky mit dem unvermeidlichen b-Moll-Konzert Tschaikowskys (25. Januar), Lisa Batiashvili mit dem Sibelius-Violinkonzert (6. März), Tzimon Barto mit dem Klavierkonzert Wolfgang Rihms (6. September), Renaud Capuçon mit dem Violinkonzert (19. Oktober) und Lars Vogt mit dem zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms, und Patricia Kopatchinskaja mit dem „Offertorium“, Sofia Gubaildulinas tief spirituellem Violinkonzert Nr. 1.

Das Programmbuch liegt ab sofort in der Philharmonie, im Aalto-Theater und im Ticket-Center am II. Hagen aus.

Der Vorverkauf für die Abonnements und Eigenveranstaltungen der Philharmonie beginnt heute, 11. April: Tel. (0201) 81 22 200, www.philharmonie-essen.de.




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




Kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt: Rossinis „Diebische Elster“ in Frankfurt

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Das Unheimliche triumphiert. Von Gioacchino Rossini ist der Opernbesucher leichte Kost gewöhnt – auch weil deutsche Opernhäuser nicht bereit sind, anderes zu gewähren. Und nur, wenn man mit dem Regisseur Glück hat, werden die grotesken und die irritierenden Momente in Werken wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“ auch herausgearbeitet. Im Falle von „La gazza ladra“ stand das bisher nicht zur Debatte, denn „Die diebische Elster“ mit ihrer weithin bekannten Ouvertüre wurde einfach nicht gespielt. In dieser Spielzeit hat sich das geändert: In Würzburg und Frankfurt steht das Stück auf dem Spielplan, das ein Rossini-Kenner wie der Dirigent Alberto Zedda unter die drei bedeutsamsten Opern Rossinis einordnet.

Doch während in Würzburg die Regie von Andreas Beuermann an der Rossini-Konvention kleben bleibt und eine leicht skurrile Winzerdorf-Posse mit märchenhaften Zügen auf die Bühne stellt, betont David Alden in Frankfurt das Unheimliche, ja Brutale in dieser Kleine-Leute-Geschichte.

In einem spukhaften Bühnenbild von Charles Edwards löst Alden das Drama um den vermeintlichen Diebstahl durch eine Hausangestellte und ihre Verurteilung zum Tode unter Kriegsrecht aus dem historischen Zusammenhang des französischen Rührstücks und rückt es zeitgemäß zurecht: als kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt. Die von Bibi Abel erstellten Video-Projektionen lassen unheimliche schwarze Vögel über die Szene fliegen, die sich im ersten Finale zum bedrohlichem Schwarm ballen: der Verweis auf Hitchcocks Film passt zu der Bedrohung des Opfers, die auch unerklärbar aus dem Nichts erwächst.

"Spooky": Die Bühne Charles Edwards' zu Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

„Spooky“: Die Bühne Charles Edwards‘ zu Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Bühne, ein großmustrig tapeziertes Halbrund mit schweren, altmodischen Türrahmen, erinnert an Film-Spukhäuser, an Räume der „gothic novel“ oder an verloren-unheimliche Anwesen auf Bildern von Dennis Hopper oder des Fotografen Matthias Herrmann. In diesem Horizont wird ein trautes Heim herumgeschoben und je nach Bedarf zugerichtet. Rosige Tapeten zitieren das Muster des Halbrunds, die Einrichtung zeigt, dass sich hier kleine Leute nach dem Vorbild der Großen strecken. Dort erwartet man die Rückkehr des „eroe di guerra“, des Sohnes, der als Soldat den Interessen der Mächtigen dienen muss.

Zentrale Figur des Dramas ist der Podestá Gottardo, der in einer schwarzen Kutsche, von Menschen gezogen, vorfährt, als wolle Edwards Murnaus „Nosferatu“ zitieren. Er ist vom Ursprung her, wie viele in dieser Rossini-„Semiseria“, eine Komödienfigur: der lüsterne Alte, der gerne etwas junges Fleisch genießen würde.

Doch sein Verhalten sprengt nachdrücklich die Komödien-Konvention: Ein Provinz-Beamter, der übergeordneten Kontrolle entzogen, geriert sich als Tyrann. Er reagiert auf Ninettas selbstbewusste Ablehnung (in patriarchalischen Gefügen unangemessenes Beharren auf selbstbestimmter weiblicher Sexualität) mit der Wut des Gedemütigten und mit dem arglistigen Hintersinn eines juristisch versierten Rachsüchtigen. Der zufällig aufgeschnappte Vorwurf in einer eher familiären Auseinandersetzung, das Dienstmädchen habe einen Silberlöffel verschlampt, wird zum „Fall“.

Was folgt, ist ein Indizienprozess, in dem Menschen, die wohl kaum lesen und schreiben können, chancenlos einer vermeintlich zutreffenden Kette von Schlussfolgerungen ausgeliefert sind. Wer hinter die zeitgemäße, heute harmlos wirkende Einkleidung blickt, fragt sich: Wie weit weg ist da der Dorfrichter Adam aus Kleists „Zerbrochenem Krug“? Und wie nahe liegt diesen Menschen der Büchner’sche Seufzer: „Wir arme‘ Leut“?

Gefährlich groteske Figuren

David Alden misstraut dem „coup de théâtre“ mit der „diebischen Elster“: Im Libretto Giovanni Gherardinis wird Ninetta im letzten Moment vor der Hinrichtung gerettet, weil im Nest einer Elster das vermisste Besteck gefunden wird. In Frankfurt klaut nicht nur die hoffmanneske Figur des Hausierers Isacco (Nicky Spence gibt ihm gefährlich-groteske Züge), sondern auch der Bauernbursche Pippo (mit feiner Stimme: Alexandra Kadurina). Er zieht den Silberlöffel aus der Tasche, steckt ihn aber erschreckt zurück, als von „Todesstrafe“ die Rede ist.

Alden lässt die Geschichte so seltsam enden, wie uns heute der „glückliche“ Schluss vorkommt, zu dem Rossini durch Zensur und Konvention gezwungen war: keine Aufhellung, kein Schlussjubel, eher ein entkräftetes Zurücksinken. Ninetta und ihr Vater – das Schicksal dieses Deserteurs spitzt den Hauptstrang der Handlung zu – grüßen von der Kutsche des Podestá, der sich in einer Ecke als Verlierer krümmt. Wie so oft bei Alden gibt es freilich auch Momente, in denen die Regie übertreibt und sich verselbständigt: erst ein unmotiviertes Tänzchen, dann überflüssiges Gerenne des Chores und eine seltsame Orgie der „Gewalt gegen Sachen“ des Richterkollegiums bräuchte es nicht.

Keine einfache Aufgabe stellt Rossinis ausgefeilte Partitur an Henrik Nánási und das Frankfurter Opernorchester: lyrische Innerlichkeit, sanfte Traurigkeit, aber auch feurig-jugendliches Aufbegehren verbinden sich mit den hier beinahe zynisch wirkenden Crescendi und Repetitionen aus der koketten Opera buffa. Ungerührt wie der Lauf der Geschichte geht die Musik über die Schicksale hinweg: eine verstörende Wirkung. Doch im Vordergrund steht die moderne Expression, die Rossini in seinen neapolitanischen Opern nach 1817 kultivieren und perfektionieren sollte. Nicht umsonst wird der erhabene Ausdruck der Chöre und des Trauermarschs im zweiten Akt gerühmt.

Belcanto-Flexibilität und kühle Präzision

Nánási, Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, rückt die Ouvertüre noch zu sehr in die Nähe fröhlich-quadratischer Marschrhythmen, als sei Rossini ein mediterraner Paul Lincke. Doch im Verlauf des Stücks findet er zu einer überzeugenden Mischung aus belcantesker Flexibilität und kühler, rhythmisch-metrischer Präzision. Die Bläsersoli aus dem Frankfurter Orchester sind meist erstklassig; dass den Violinen im Lauf von mehr als drei Stunden das heikle, filigrane Fingerwerk nicht immer akkurat gelingt, ist kein Merkmal mangelnder Qualität.

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Sänger, wie stets bei Rossini erheblich gefordert, sind mal mehr, mal weniger mit dem spezifischen Idiom vertraut: Kihwan Sim ist als brutaler, unrührbarer Egozentriker der Macht eine auch vokal imponierende Figur; Sophie Bevan eine intensive Darstellerin der mädchenhaften Ninetta mit einem hübsch timbrierten, aber manchmal zu leichtgewichtigen und in der Höhe nicht ganz abgefederten Sopran.

Jonathan Lemalu macht aus dem untergetauchten Deserteur Fernando eine grob geschnittene, nicht sehr glaubwürdig agierende Gestalt mit ebenso grobem, nicht präzis vokalisierendem Bariton. Den unbedachten Anlass für die tragische Entwicklung gibt die Dienstherrin Ninettas mit ihrem kleinkarierten Genöle: Katarina Leoson zeichnet sie als eine bigotte, aufs Materielle bedachte Frau aus der bürgerlichen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts – die sorgfältig gestalteten Kostüme stammen von Jon Morrell. Ihr Mann ist lockerer eingestellt, kann sich aber gegen niemanden durchsetzen: Federico Sacchi singt ihn passend profillos. Francisco Brito jammert und protestiert als Giannetto vergeblich gegen die übermächtige, juristisch abgesicherte Willkür an.

In der Pause echauffierte sich ein älterer Besucher über die „aufgeblasene Dorfgeschichte“. Wer nichts verstehen will, versteht eben auch nichts. Zum Glück gibt es in Frankfurt – und anderswo – das Publikum, das sich dem Neuen und Ungewohnten öffnet, auch wenn es in scheinbar so konventioneller Umkleidung wie in dieser genialen Rossini-Oper auftritt.




Als Prügel für Kinder zum Alltag gehörten

Über evangelische Pfarrhaushalte ist schon so manches geschrieben worden. Der Schriftsteller Tilman Röhrig (Jahrgang 1945) kann seine besondere Geschichte aus solch einer Familie erzählen, die doch in den Grundzügen zugleich furchtbar zeittypisch anmutet: Er ist als Kind von seinem Vater windelweich geprügelt worden. Immer und immer wieder. Oft aus nichtigen Anlässen. Willkürlich. Manchmal nur, weil die Stiefmutter es eben so wollte. Eine Realität wie aus dem bösen Märchen.

Röhrigs erschütternder Bericht vom höllisch gottgleich strafenden Vater stand im Zentrum eines bewegenden Dokumentarfilms von Erika Fehse, den die ARD aus unerfindlichen Gründen am Montag erst um 23.30 Uhr ausgestrahlt hat. Warum nur?

Angstfrei oder gar glücklich wirken diese Schulkinder von 1952 nicht. Aber vermutlich ist keine Gewalt angewendet worden, weil ja eine Kamera zugegen war. So etwas nennt man dann "Symbolfoto". (© WDR/akg-images)

Angstfrei oder gar glücklich wirken diese Schulkinder von 1952 nicht. Aber vermutlich ist keine Gewalt angewendet worden, weil ja eine Kamera zugegen war. So etwas nennt man dann „Symbolfoto“. (© WDR/akg-images)

Das Thema von „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie…“ interessiert sicherlich sehr viele Leute, vor allem aus den älteren Generationen. Sie kennen beispielsweise noch solche bedrohlichen mütterlichen Sätze: „Warte nur, bis dein Vater heute Abend nach Hause kommt…“ Dann setzte es was. Und die Angst hatte sich schon den ganzen Tag über angestaut.

Vielfach ging es – etwa hinter der biederen Fassade des neu erbauten Einfamilienhauses – mit Ledergürtel, Teppichklopfer oder gar Reitpeitsche auf den blanken Hintern. Wie viel verdrehte Sexualität da wohl dem Treibstoff der Gewalt beigemischt war?

Nicht nur Tilman Röhrig, sondern auch einige andere Prügelopfer kamen in dem Film zu Wort. Einige von ihnen sind spürbar hart geworden, die Züge dauerhaft erstarrt, sie können wahrscheinlich nicht einmal mehr weinen. Bei anderen lässt die aufblitzende Erinnerung Dämme der Selbstbeherrschung brechen. Es ist wirklich zum Heulen. Heute noch. Für alle verbleibende Zeit.

Erinnert sich an schreckliche Prügel in der Kindheit: Schriftsteller Tilman Röhrig. (© WDR/doc.station GmbH)

Erinnert sich an schreckliche Prügel in der Kindheit: Schriftsteller Tilman Röhrig. (© WDR/doc.station GmbH)

Gewiss, es waren extreme Fälle darunter, in denen über viele Jahre hinweg Prügel und Schläge sozusagen die hauptsächliche elterliche Zuwendung waren. Doch wie schrecklich „normal“ körperliche Züchtigung damals generell gewesen ist! Auch ich kann mich noch gut erinnern, dass Eltern gern einen Pakt mit den Lehrern eingingen. Motto: „Wenn er nicht spurt, dann hauen Sie ihm ruhig mal eine runter…“ Rituelle Ergänzung aus dem unguten Zeitgeist: Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet.

In unserer damals noch so genannten Volksschule musste man bei „Verfehlungen“ vor die Klasse hintreten, die Hände mit der Innenseite nach oben drehen, vorstrecken – und bekam es dann nach Kräften mit einem schweren Holzlineal auf die Finger. Wie das brannte! Welch eine Demütigung das war… Und wie man es den Lehrern von damals am liebsten noch nachträglich heimzahlen möchte!

Auch auf dem Gymnasium gab es im Kollegium noch kriegsgewohnte Schlägertypen, die auch schon mal mit der Faust mitten ins Gesicht langten. Schmerzhaft zwirbelndes Ohrenlangziehen war bei diesen asozialen Kerlen das Mindeste.

Zurück zur TV-Doku, die einen folglich ziemlich mitnahm, weil sie auch eigene Erfahrungen aufrief: Bei kleinen Exkursen zeigte sich, dass die Wurzeln der tagtäglichen Nachkriegs-Gewalt nicht nur in die NS-Zeit zurückreichen, sondern tief in die preußische Geschichte von „Zucht und Ordnung“. Überdies erfuhr man, dass auch in der DDR der Rohrstock noch häufig niedersauste – entgegen allen offiziellen Verlautbarungen über den „neuen Menschen“ im Realsozialismus.

In der Bonner Republik wurde die Prügelstrafe in Schulen erst 1973 bundesweit verboten, ein ausdrückliches Recht auf gewaltfreie Erziehung ist erst seit dem Jahr 2000 gesetzlich verbrieft. Doch auch das entspricht leider nicht der Wirklichkeit. Auch heute noch werde jedes dritte Kind geschlagen, hieß es – ohne weiteren Beleg und Quellenangabe – am Schluss der Dokumentation. Doch wer will da um Prozentanteile streiten? Jeder Schlag, ja schon jedes Ausholen ist zu viel.




Auf den Spuren der Tiermafia – Heinrich Peuckmanns Krimi „Angonoka“

Den Kamener Schriftsteller Heinrich Peuckmann (65) kannte ich bisher nur vom Telefon. Der immens fleißige Mann rührt stets selbst die Trommel für seine Bücher, denn die kleineren Verlage können sich nicht allzu wirksam in die Bresche werfen.

Also ruft Peuckmann an oder mailt, wenn es etwas Neues aus seiner Werkstatt gibt. Jetzt kam mal wieder Post, denn er hat einen Krimi rund um die Tiermafia geschrieben, die weltweit illegal mit raren, bedrohten Tierarten handelt. Das Thema hatte sich aufgedrängt, als Peuckmanns Leipziger Verleger eine seltene Agame (Schuppenkriechtier) angedient wurde. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu…

Der Autor Heinrich Peuckmann (rechts) und Dortmunds Zoodirektor Dr. Frank Brandstätter mit Schildkröten und Krimi im Amazonashaus. (Foto: Bernd Berke)

Der Autor Heinrich Peuckmann (rechts) und Dortmunds Zoodirektor Dr. Frank Brandstätter mit Schildkröten und Krimi im Amazonashaus. (Foto: Bernd Berke)

Peuckmann stellte sein neues Buch mit dem zunächst rätselhaften Titel „Angonoka“ nun im Dortmunder Zoo vor. Nicht nur, weil der größte Zoo Nordrhein-Westfalens zu den vielen lokalen Schauplätzen der Kriminalstory gehört, sondern vor allem, weil dessen Direktor Dr. Frank Brandstätter als bildreich erzählender Fachberater und sozusagen auch als Korrektor fungierte. Brandstätter wurden schon öfter Tiere aus dubioser Herkunft angeboten. Von den üblen Machenschaften der Tiermafia erfährt er zudem oft genug, wenn der Zoll in Zweifelsfällen seinen Expertenrat einholt.

Termin im Amazonashaus des Zoos: Bei extremer Luftfeuchtigkeit posieren Autor Peuckmann und Zoochef Brandstätter mit exotischen Schildkröten fürs Foto. Natürlich ist das eine Anspielung auf die Krimihandlung. Im neuen Roman wird zu Beginn eine Leiche gefunden, Ort des Geschehens ist zunächst der Dortmunder Vorort Kurl. In der Nähe des Mordopfers kriecht just eine Schildkröte, die die Polizei anfangs nicht in Verbindung mit der Tat bringt. Deshalb soll ihr Ex-Kollege, der pensionierte Kommissar und Tierfreund Bernhard Völkel, dafür sorgen, dass das Tier gut untergebracht wird.

Schnell stellt sich freilich heraus, dass es sich bei der Schildkröte um eine ungemein seltene Angonoka (Schnabelbrustschildkröte) aus Madagaskar handelt. Es gibt nur noch rund 700 Exemplare dieser Art, für ein Tier werden auf dem Schwarzmarkt etwa 50000 Dollar hingeblättert. Wo es um so viel Geld geht, liegen kriminelle Hintergründe nah. Wir verraten vom Fortgang jetzt nur noch dies: Der Fall wird schließlich aufgeklärt.

Einige Facetten des Krimis verdankt Heinrich Peuckmann seinem jüngsten Sohn, der Theologie studiert und sich u. a. auf Tierethik verlegt hat. Da stellen sich auch Fragen wie: Haben Tiere eine Seele, eine „Biographie“ und eine Sprache? Worin besteht letztlich der Unterschied zum Menschen? Man ahnt schon, dass es auch im Roman nicht mit bloßer Kriminalistik getan ist.

Pikantes Handlungsdetail übrigens: Kommissar Völkel vermisst schmerzlich seine altvertraute Dortmunder Zeitung. 120 Journalisten wurden da kurzerhand auf die Straße gesetzt. Nur der Chefredakteur hat seinen Job behalten… Wieso Peuckmann wohl auf so etwas kommt? Bestimmt blühende schriftstellerische Phantasie, oder?

Apropos Krimi, apropos Dortmund: Was hält Peuckmann eigentlich vom Dortmunder „Tatort“ im ARD-Programm? „Nichts!“ Eine solche Negativwerbung mit durchgeknalltem Kommissar, so Peuckmann geradezu erbost, würde man sich in keiner anderen deutschen Großstadt gefallen lassen.

Heinrich Peuckmann: „Angonoka“. Kriminalroman. Lychatz Verlag, Leipzig. 238 Seiten (Taschenbuch). 9,95 Euro.




Ausflug nach Prag: Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker, halb geglückt

„Prag, goldene Stadt“ hieß das Motto des achten Sinfoniekonzerts der Essener Philharmoniker, und Tomáš Netopil nutzte die dramaturgische Steilvorlage kreativ. Die beiden der tschechischen Hauptstadt gewidmeten Werke zu Beginn und am Ende sind für deutsche Konzertbesucher ziemlich unerforschtes Terrain.

Karel Husa, der 92jährige in Prag geborene amerikanische Komponist, hatte 1968 unter dem Eindruck des sowjetischen Einmarschs seiner Heimatstadt ein tönendes Denkmal gesetzt. Dem Werk für ein Blasmusik-Orchester gab Husa eine sinfonische Fassung, die er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 selbst in Prag aufführte.

Die andere Reminiszenz an die Perle an der Moldau stammt von Josef Suk. Den Spätromantiker (1874-1935) kennen Musikliebhaber trotz seines reichen Schaffens kaum. Seine sinfonische Dichtung „Praga“ von 1904 beschwört die Atmosphäre zwischen Vyšehrad und Hradschin mit üppigen Klangfarben und prachtvoller Instrumentation.

Beiden Werken ist gemeinsam, was sie auch mit einem Teil von Bedřich Smetanas „Mein Vaterland“ verbindet: Sie verwenden als grundlegendes Motiv das historische Lied der Hussiten „Ktož sú boží bojovníci“. 600 Jahre alt ist diese Gotteskrieger-Hymne, doch bis heute steht sie für das tschechische Nationalbewusstsein. Bei Karel Husa taucht die unverwechselbare rhythmische Figur aus dem Hussiten-Choral wie von ferne in der Pauke auf, durchzieht in wechselnden Instrumenten die vier Sätze und bestätigt sich machtvoll im Finale.

Die Musik erzählt eine Geschichte

Husa legt den Keim seiner klanglich exquisiten Kombinationen zu Beginn in einem schüchternen Flötensolo, der Klarinette, einer langsam anschwellenden Klangfläche und einer Trompetenfanfare, die einen Wendepunkt markiert: Die Dynamik entwickelt sich zurück, bis nurmehr ein schwebender Laut der gestopften Trompete und ein dünner Pianissimo-Faden verklingen. Die Musik, auch wenn sie heftig aufschäumt, scheint auf der Stelle zu treten, findet keinen Ausweg zu einer Entwicklung, scheint nur weiterzukommen, wenn sie sich in feine Einzelstimmen verzweigt.

Die Hatz aus abgerissenen Tönen und Motiven im „Interlude“ genannten dritten Satz, der festtönige Widerstand der Hörner, das Auffahren des rhythmischen Hussiten-Motivs und ein dagegen gesetzter Wirbel zweier militärischer kleiner Trommeln, schließlich ein vielstimmiges, geräuschhaftes Miteinander der Streicher und der Triumph des Chorals: Man ist geneigt, sich von der Musik eine Geschichte erzählen zu lassen, die viel mit dem politischen Leidensweg der Tschechen zu tun hat.

Ähnlich manifestiert sich das bestimmende Motiv des Hussiten-Chorals in der spätromantisch üppigen sinfonischen Dichtung „Praga“ von Josef Suk: Mit triumphalem Fortissimo beendet das Motiv ein Stück voll kraftvoller Klangfarben. Da zeigen die Philharmoniker noch einmal, was in diesem Orchester steckt: In einer fast unhörbaren Eröffnung von Harfe und Kontrabässen, in wuchtigem Cello-Marsch, in edlen Klarinetten- und Trompeten-Soli. Suk scheut das Pathos nicht, aber auch nicht die düsteren Farben: Auch das unheimliche Prag der Alchemisten und der finsteren Fanatiker, des Golem und der kafkaesken Gespenster tritt uns vor das musikalisch interpretierende Gehör.

In zwei von Mozarts in Prag komponierten Werken gelingt es dagegen nicht, einen überzeugenden Kontrast zur Moderne aufzubauen. Die Programmidee war glänzend, die Ausführung enttäuschend: Die „Prager“ Symphonie (KV 504) beginnt eigentlich mit einem ausdrucksintensiven Adagio, das aber bei Netopil ohne Atmosphäre und inneres Leben abläuft. Es fehlt der Blick auf die expressiven Bläserstellen, auf den Spannungsaufbau der Phrasen, auf die lebendige Rhetorik, auch auf die dräuenden Anklänge an die Welt des „Don Giovanni“.

Und zu allem Überfluss liefert die Pianistin Lauma Skride mit dem C-Dur-Konzert (KV 503) das wohl langweiligste Klavierkonzert seit langem ab: Sie spurtet flüssig durch das Werk der Passagen, der galanten Melodiebildungen, meidet im Rondo jede Spur eines variierenden Zugriffs oder eines Blicks auf expressive Trübungen oder Übergänge. Mozart’sche Rhetorik, Charakterisierungskunst oder der Charme der „Klangrede“ scheinen sie nicht zu interessieren. Von Netopil am Pult kommt kein Impuls; die Pianistin richtet auch keinen Blick nach links, um den Dirigenten oder die Orchestermusiker in ihr Spiel einzubinden. Mozart, ein Freund starker Worte, hätte das glatte, uninspirierte Spiel wohl so kommentiert: „Heruntergehudelt“.




Es gibt etwas zu lachen – „Der nackte Wahnsinn“ in Dortmund

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Vicki (Merle Wasmuth) und Tramplemain (Frank Genser) haben Streß auf der Treppe (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nein, dass das Dortmunder Theater in der Intendanz von Kay Voges eine besonders trübselige Veranstaltung wäre, kann man wirklich nicht behaupten. Glücklicherweise gibt es hier immer wieder was zu lachen. Und jetzt erst recht!

„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, der hier am Samstag seine Premiere erlebte, ist ein Spaßstück erster Güte, ein Komödienstoff nach allen Regeln der Kunst, den ein hellwaches Ensemble mit Tempo und großem Körpereinsatz zum ungetrübten Vergnügen macht. Damit wäre fast schon alles gesagt. Aber warum sollte eine Bewertung erst am Schluß der Besprechung stehen, wenn sich der Rezensent so gut amüsiert hat?

„Der nackte Wahnsinn“ ist der Form nach eine klassische Türenkomödie, folgerichtig hat die Kulisse derer zehn, auf mehreren Ebenen (Bühne: Pia Maria Mackert). Außerdem dient das Fenster dem Einbrecher als Bühnenzugang. Allerdings beschränkt sich das Stück nicht auf die Mechanik der exakt gespielten Auf- und Abtritte durch die diversen Türen, sondern ist zudem ein „Theater auf dem Theater“ – in drei Akten.

Im ersten Akt erleben wir, wie eine eher unbekannte Theatertruppe das Stück „Spaß muß sein“ des (fiktiven) Stückeschreibers Robin Housemonger für die Premierentournee probt, im zweiten – der Drehbühne sei Dank – erleben wir staunend, daß die Vorstellung für uns fast unsichtbar irgendwie weiterläuft, während sich hinter den Kulissen die Mimen zanken und prügeln, Eifersuchtsgeschichten, Sinnkrisen und Alkoholismus den Fortgang der Tournee gefährden. Doch die Show muß bekanntlich weitergehen. Das dritte Bild schließlich zeigt die Bühne wider von vorn. Die Tournee ist fast zu Ende, Kulisse und Mimen sind verschlissen, die Hauptdarstellerin ist betrunken und außerdem ist ihr das auch völlig egal. Running Gag bei alledem ist von Beginn an ein Teller mit Sardinen, der mal da ist und mal nicht, was für Verwirrung sorgt.

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Das Ehepaar Brent (Ekkehard Freye und Eva Verena Müller) weilt inkognito im eigenen Hause (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Plot schließlich, um auch ihn kurz zu erwähnen, kreist wesentlich um zwei Liebespaare, die sich heimlich in das Haus schleichen, um es dort miteinander zu treiben. Das eine sind (mit ihren Rollennamen des Stücks im Stück) der Häusermakler Tramplemain (Frank Genser) und das blonde Dummchen Vicky (Merle Wasmuth) sowie der Dramatiker Philip Brent (Ekkehard Freye) und seine Gattin Falvia (Eva Verena Müller). Alle wähnten Haushälterin Clackett (Friederike Tiefenbacher) abwesend, doch die ist noch da, weil sie irgendeine Promi-Hochzeit im Farbfernseher sehen möchte, während sie selbst zu Haus nur Schwarzweiß hat. Und einen Teller mit Sardinen hat sie sich fertig gemacht. Den Brents gehört das Haus tatsächlich, doch sind sie inkognito hier. Die Steuerfahndung darf nicht wissen, daß sie in England weilen.

Schließlich gibt es noch einen Einbrecher, der von Uwe Schmieder gespielt wird. Er ist dem Whisky sehr zugetan, weshalb man nie weiß, ob er seinen Einsatz schafft. Und da das Stück ja im Stück spielt, sind auch noch drei Personen sozusagen ohne Rolle dabei: der fette Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck), der schwule Regieassistent Poppy (Peer Oscar Musinowski) und der Bühnenmeister Tim (Sebastian Graf).

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Vicki und Tramplemain mit ihrem Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viel zur Handlung, die, man ahnt es vielleicht schon, natürlich zu keinem glücklichen oder auch weniger glücklichen Ende führt, sondern sich im atemlosen Kampf gegen das Unheil in der Welt im allgemeinen und das Entdecktwerden im Besonderen, aber auch um verlorene und nicht wieder aufgefundene Kleider, Bettlaken, Kisten und Taschen dreht. Und natürlich um Teller mit Sardinen. Das Stück im Stück hat auch deshalb kein Ende, weil ja nie bis zum Ende gespielt wird. Wie aber sollte so ein Plot schon enden, wenn nicht im Chaos?

Urkomisch sind viele Handlungsdetails – wie Brents absehbar aussichtsloser Kampf gegen den Sekundenkleber, mit dem er sich unlösbar einen Mahnschreiben vom Finanzamt und einen Sardinenteller an die Hände klebt, weshalb er im Weiteren nicht mehr in der Lage ist, die Hose hochzuziehen und panisch durch das Bühnenbild hüpft, treppauf, treppab. Poppy wechselt jedes Mal Hemd und Hose, wenn er aus der Szene verschwinden darf, Regisseur Lloyd Dalls stiftet mit Blumengeschenken, die Inspizient Tim zuverlässig an die falschen Adressen leitet, Chaos und Haß. Ausgesprochen spaßig auch sind im dritten Akt die Kostüm-Tauschaktionen, um schnell Ensemblemitglieder zu ersetzen, die gerade irgendwie abhanden gekommen sind. Schließlich stehen gleich drei Einbrecher auf der Bühne, was den Regisseur nur noch „Vorhang“ flehen läßt.

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Mrs. Clackett (Friederike Tiefenbacher) findet sich zwischen der Doppelbesetzung für den Einbrecher wieder (Uwe Schmieder li., Sebastian Graf re.) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Entscheidender aber als die Vielzahl gelungener Einzelgags ist das rasende Tempo, das diese immerhin dreistündige Produktion von Anfang bis Ende durchhält. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die gemeinsam für die Regie zeichnen, verdeutlichen das durch einen Moment der Verlangsamung: Wenn dem Regisseur im ganzen Bachstage-Durcheinander ein Kaktus in den Allerwertesten gerammt wird, reduziert sich die Geschwindigkeit des Bühnengeschehens plötzlich wie in einer Zeitlupe. Die Töne dehnen sich, das Licht flackert wie bei einem langsam laufenden Filmprojektor, Schmerzverzerrt verzieht sich das Gesicht des fülligen Regisseurs im Schneckentempo, und ganz langsam beginnt Poppy, ihm die Nadeln einzeln wieder herauszuziehen. Und dann ist die Zeitlupe zu Ende und es geht so flott weiter wie vorher.

Die Damen nuttig, die Herren hasenfüßig, der Regisseur zynisch, der Schwule schwul: Natürlich ist das hier reinstes Chargenkino. Doch diese Überzeichnungen wirken nicht wirklich diskriminierend, weil ausnahmslos alle Personen auf der Bühne einen Schuß haben.

Und jetzt müßten noch ein paar wertende Zeilen folgen. Doch die stehen ja schon am Anfang. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß begeistert.

Termine: 9., 19., 25., 27. April, 8., 23. Mai, 1. Juni. www.theaterdo.de




Die Katastrophen sah sie kommen – „Kassandra“ in Dortmund

Die Rückwand eine Spiegelfläche, einige Scheinwerfer – mehr Bühnenbild braucht es nicht, um Kassandras Denken sinnfällig zu machen: Reflexion und Erhellung (vielleicht auch Erleuchtung) kennzeichnen es, ein Verstandesmensch ist sie, eine Analytikerin, ein Intellektuelle. Und eine Leidende unter eigener Erkenntnis.

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Bettina Lieder als Kassandra (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Im Studio des Dortmunder Theaters gibt die jugendliche Bettina Lieder Kassandra Gesicht und Stimme. In einem kräftezehrenden 80-Minuten-Monolog erzählt sie ihre – Kassandras – Lebensgeschichte, und sie wirft sich so bedingungslos in die Rolle, daß ein Schwächeanfall nach etwa einer Stunde den Fortgang der Aufführung für kurze Zeit fraglich macht. Doch nach wenigen Minuten ist Bettina Lieder wieder vorne. Und sie ist wieder Kassandra, die zornige Frau, die die Gabe der Weissagung haben soll und die darunter körperlich leidet.

Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe ist sie, doch die hohe Herkunft erspart ihr nicht das entwürdigende Deflorationsritual, das sie ganz selbstverständlich erkennt als Teil der politisch gewollten Frauendiskriminierung. Sie will Abstand halten zu den Widrigkeiten dieser Welt, strebt das Amt der Priesterin an und wird in der Folgezeit eine mehr oder weniger involvierte Beobachterin der Verhältnisse, insbesondere der Kriegstreiberei gegen die Griechen.

Den Trojanischen Krieg sieht sie ebenso kommen wie sie späterhin auch früh die List der Griechen erkennt, die den Trojanern ein viel zu großes Holzpferd zur Opfergabe machen. Und sie weiß auch, dass das Trojanische Pferd Symbol für ein besonders grausames Gemetzel und den Untergang Trojas sein wird. So viel Inhalt im Kurzdurchlauf. Der Text, den Bettina Lieder vorträgt, berichtet natürlich ungleich mehr. Und man kann ihm recht gut folgen, wenngleich auch er mit vielen Namen und langen Sätzen gewisse Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Publikums stellt.

Der Text nun stammt in seiner angewandten Form von Dirk Baumann und Lena Biresch und entstand „nach Christa Wolf“. Christa Wolf starb 2011 und kann sicherlich die bedeutendste Schriftstellerin der DDR genannt werden, hoch geschätzt und viel gelesen auf beiden Seiten der deutschen Grenze. Ihre „Erzählung“ (Untertitel) „Kassandra“ kam in Westdeutschland 1983 heraus, ein mit nicht einmal 160 Seiten recht schmales, also wichtiges Buch, in dem die Schriftstellerin eine antike Heldin frauenbewegt, soziologisch und mit kühlem Intellekt erforscht.

Wenn Christa Wolfs Kassandra im Rückblick ihr Leben erzählte, so vermeinte man bei der Lektüre immer auch die Schriftstellerin selbst zu vernehmen, seelisch und methodisch mit ihrer Heldin nahezu verschmolzen. Auch vom Alter her war der Rückblick eine plausible Form des Erzählens. Somit ist der Vortrag des Textes durch eine junge Frau zunächst einmal irritierend. Was Bettina Lieders Kassandra im Dortmunder Schauspiel zornig, traurig, aufgewühlt erzählt, kann sie ja noch gar nicht erlebt haben.

Doch andererseits ist alles schon angelegt, es gehört zur Menschheitstragik, daß man vieles kommen sehen könnte, wenn man es denn wollte. Und nicht den letztlich wohlfeilen Zorn der Götter zur Ursache allen Übels erklärte. So gesehen ist eine jugendliche Kassandra eine stimmige Besetzung, denn es war ja ihr Los, vorher schon Bescheid zu wissen. Und nicht gehört zu werden. Und so zum Sonderling zu werden.

Auf unerwartete Weise lädt die Einrichtung des Stoffes von Dirk Baumann und Lena Biresch (auch Regie) dazu ein, über göttliche Fügung, Tragödie, Erkenntnis oder auch Verantwortung nachzudenken, wie es das Bühnenbild (Ausstattung: Mareike Richter, Licht: Rolf Giese) beizeiten schon nahelegte. Und die Sympathie des Abends gehörte selbstverständlich der kämpferischen Darstellerin.

Die nächsten Termine: 9., 25. April, 23. Mai. www.theaterdo.de




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




Von der Lust am Werden: Schubert-Symphonien mit Pablo Heras-Casado

Zu den unseligen Traditionen in der Musikrezeption gehört, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der historische Belang zunehmend zum Qualitätskriterium erhoben wurde: Nur noch, was strukturell tiefgründig war, was als Fortschritt eingeschätzt wurde und was im hegelianischen Sinne den Zeitgeist voranbrachte, war es wert, dauerhaft zur Kenntnis genommen zu werden.

Vor diesem – tief im Unterbewusstsein der sich wahrhaft gebildet wähnenden Schicht weiter wirksamem – Kriterium musste vieles verblassen: vom „wälschen Tand“ angefangen über vermeintlich Epigonales und Kleinmeisterliches bis hin zu skurrilen Seitensträngen der Entwicklung. Und natürlich auch Erzeugnisse aus den Lehrjahren der wahrhaft Großen: Wagners für Bayreuth unwürdige Frühopern etwa schieben vor allem Wagnerianer immer noch halb geringschätzend, halb peinlich berührt zur Seite.

Auch für unbestrittene Meister wie Franz Schubert gilt das selektive Prinzip: Seine Opern? Fehlanzeige! Seine Lieder? Von den Hunderten, die er geschrieben hat, sind ein paar Dutzend bekannt. Und seine Symphonien? Von denen war schon der alte Brahms überzeugt, sie sollten besser „mit Pietät bewahrt“ als veröffentlicht werden. Der Konzertbetrieb schließt sich dieser Ansicht in der Praxis bis heute mehrheitlich an: Von der „Unvollendeten“ und der „großen“ C-Dur-Symphonie abgesehen sind sie selten auf den Programmen anzutreffen.

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Das könnte sich ändern: Schuberts frühe Symphonien sind in letzter Zeit mehrfach neu und aufregend frisch eingespielt worden – und eine der besten Platten neuen Datums ist die Aufnahme der Dritten und der Vierten mit dem Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado. Der spanische Dirigent, der sich bei Verdi ebenso zu Hause fühlt wie in der Barockmusik oder im 21. Jahrhundert, will nichts in diese Versuche des jugendlichen Komponisten hineingeheimnissen: Er bringt sie als frisch-pointierte Zeugnisse der Zeit. Die Dritte ist im Frühsommer 1815 entstanden, die Vierte im April 1816, beide für ein Orchester aus Liebhabern und Profis, das im privaten Rahmen spielte.

Haydn grüßt, Mozart hopst

So hört man in der „Adagio maestoso“-Einleitung der D-Dur-Symphonie (D 200) den erhabenen Stil von Schuberts Lehrer Antonio Salieri; das lebhafte Brio des Allegro könnte aus einer komischen Oper der Zeit stammen. Haydn grüßt von seinem Schreibtisch, wie er an einer seiner Ideen tüftelt; Mozart hopst mit tanzfreudigem Rhythmus und federnden Bläsern um die Ecke. Schließlich grüßen auch schon die Rouladen und Crescendi, mit denen Gioacchino Rossini die Wiener in einen süchtig machenden Taumel versetzte.

All diese musikalischen Zeitaspekte, die Schubert auf versierte und zum Teil schon sehr eigenwillige Weise verarbeitete, macht Heras-Casado mit dem phänomenalen Freiburger Barockorchester hörbar: mit vibrierender Energie zumal in den Vivace- und Presto-Sätzen, mit eleganter Leichtigkeit der Bläser, mit energischen, aber nicht überdrehten Tempi, mit exakter Artikulation, mit Pfiff im Rhythmus und mit klaren, schroffen Akzenten, Sforzato-Einwürfen oder vehement-kantigem Pauken-Donner. Eine tragfähige, aus dem Geist einer undogmatischen, „historisch informierten“ Aufführungspraxis belebte Alternative zur legendären Aufnahme von Schuberts Dritter (und Achter) unter Carlos Kleiber.

Pablo Heras-Casado war 2011 anlässlich seines Debüts bei den Essener Philharmonikern sogar als Nachfolger für Stefan Soltesz im Gespräch. Seine Karriere weist weiter steil nach oben: Am 2. April hatte er sein Debüt beim New York Philharmonic Orchestra; im März leitete er erstmals das Philharmonia Orchestra London. Erst am 16. März war er mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra zu Gast in der Essener Philharmonie. 2014/15 wird Heras-Casado an der Met Bizets „Carmen“ dirigieren; im Juli steht er beim Festival von Aix-en-Provence bei Mozarts „Zauberflöte“ am Pult.

In der Region gastiert Heras-Casado im Rahmen seiner Tournee mit dem Freiburger Barockorchester am 13. April in der Kölner Philharmonie. Auf dem Programm stehen die drei Konzerte für Klavier, Violine und Cello von Robert Schumann.

Franz Schubert, Symphonies Nos. 3 & 4, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado, Harmonia Mundi, HMC 902154




Knochenstaub für die Ruhrtriennale

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Szene aus dem Musiktheaterstück „Neither“ von Morton Feldman und Samuel Beckett (Foto: Ruhrtriennale)

Das Ballett „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky ist ja eigentlich ein etabliertes Stück Bühnenkunst. Deshalb erstaunt es auf den ersten Blick, daß sich der Titel unter den insgesamt vier Musiktheater-Produktionen findet, die Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels  für das Festival im Spätsommer ankündigt. 

Doch keine Angst! Dies ist keineswegs die reumütige Rückkehr zum Mainstream, wie immer der auch beschaffen sein mag. Vielmehr ist der italienische Theatermacher Romeo Castellucci, der diese Produktion zu verantworten hat, eines Tages zu der Erkenntnis gelangt, daß bei Strawinsky zweifelsfrei ein Tier geopfert werde und das Tieropfer somit auch den Kern der Handlung bilden müsse.

Über einige weitere gedankliche Kaskadensprünge gelangte Castellucci schließlich zu seiner inszenatorischen Idee: Nicht Menschen bevölkern die Bühne, sondern fein gemahlener tierischer Knochenstaub rieselt von der Decke herab, rhythmisch und motorisch ausgestoßen, herausgeblasen von einer machtvollen Maschinerie, die, wie Proben-Videos zeigten, auch dann noch in ihrer präzisen Verrichtung sichtbar bleibt, wenn der Rest des Bühnenraums im Knochenstaub versinkt. Kein Scherz, der 1. April ist schon durch. Zum Trost der zahlreichen Asthmatiker und Allergiker konnte Heiner Goebbels wenigstens verkünden, daß das Staubopfer hinter einer dichten Folie stattfinden wird, die den Bühnen- vom Zuschauerraum abtrennt. Willkommen bei der Ruhrtriennale!

Keiner seiner Vorgänger hat den Grenzbereichen der Kunst in seiner Arbeit, um es einmal mit einem letztlich unzulänglichen Begriff zu bezeichnen, so radikal und beharrlich nachgespürt wie Heiner Goebbels. Während sein Vorgänger Willy Decker sich drei Jahre lang an letzten Fragen der Religionen abarbeitete, inszeniert er die Werke vergessener Zeitgenossen, holt freakige Instrumentenbauer auf die Bühne, weitet mit beträchtlichem technischen Aufwand die Möglichkeiten der Rezeption. Feste Abgrenzungen der Bühne zur Bildenden Kunst ignoriert Goebbels, und was in den letzten beiden Jahren unter seiner Intendanz entstand, war mal atemberaubend und mal banal, manchmal auch beides. Und oft war man sich da gar nicht sicher. So mag es jetzt auch dem Tierknochenmehl ergehen. Vielleicht kommt es ja ganz groß raus, und die Menschen werden davon noch in Jahrzehnten reden, vielleicht aber auch wird es einfach weggefegt.

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Der Niederländer Louis Andriessen schrieb die monumentale Oper „De Materie“, die Heiner Goebbels jetzt für die Ruhrtriennale inszeniert hat (Foto: Ruhrtriennale)

Zu den vergleichsweise „sicheren Bänken“ des neuen Programms gehört sicherlich die Inszenierung der Oper „De Materie“ des Holländers Louis Andriessen (75) durch den Hausherrn selbst. Das Werk wurde zuvor nur ein einziges Mal auf die Bühne gebracht, Ende der 80er Jahre von Robert Wilson in Amsterdam. Somit erlebt Duisburg in der Kraftzentrale Duisburg Nord eine veritable deutsche Erstaufführung, in der es, der Titel deutet Grundlegendes ja bereits an, um Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft gehen soll. Die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581 ist ein Topos dieses Werks, religiös-erotische Visionen einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert ein anderer. Aber ebenso findet die Kunst Piet Mondrians Erwähnung, schließlich auch eine öffentliche Rede von Marie Curie. Die Musik zu dieser bunten philosophischen Mischung immerhin macht das renommierte Frankfurter Ensemble Modern.

Bei „Surrogate Cities Ruhr“ machen die Bochumer Symphoniker die Musik, Steven Sloane schwingt den Taktstock. Das Stück, erläutert Goebbels, sei eine „Bewegungsrecherche“ mit Menschen des Ruhrgebiets, mit Kindern wie auch mit Teilnehmern der Gruppe „50 plus“. Hier wird nicht Pas-de-deux gedrillt, hier lernen und integrieren Künstler die Bewegungsabläufe normaler Menschen. Für diese Produktion schrieb Goebbels die Musik, für den Fortgang des Bühnengeschehens mit seinen rund 250 Akteuren sorgt die Choreographin Mathilde Monnier.

Die Produktion „Neither“ (deutsch: weder) ist die Frucht einer gemeinsamen Antihaltung zur Oper, die Morton Feldman und Samuel Beckett pflegten. Diese hielt sie, nachdem sie sich 1976 in Berlin zum ersten Mal getroffen hatten, nicht davon ab, ein Werk zu verfassen. Beckett schrieb einen zehnzeiligen 87-Wörter-Text, den er – eben – „Neither“ nannte, Feldman die Musik dazu. Dieses Musiktheater, das sich angeblich an den „psychologischen Patterns des amerikanischen Film noir“ orientiert, hat zur Musik der Duisburger Philharmoniker wiederum Romeo Castellucci inszeniert – der mit dem Knochenmehl.

Viel schöne Musik steht auf dem Programm, auch ganz klassisch. Und natürlich bleibt vieles kryptisch, bis man es wirklich gesehen und gehört hat. Was beispielsweise tun Sarah Nicolls und Sam Beste mit den „20 Pianos“ von Matthew Herbert? „Konzert/Performance“ ist die Show überschrieben, das macht einen nicht automatisch klüger. Wer auf Nummer sicher gehen will, schaut nach bekannten Namen und findet sie auch. Es konzertieren das unvermeidliche ChorWerk Ruhr, das Royal Concertgebouw Orchestra und das hr-Sinfonieorchester, das im Vorjahr auch das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auf seinem schweren Weg begleitete.

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Immer etwas beängstigend: Installation von Gregor Schneider, der das Lehmbruck-Museum mit „Totlast“ ausstatten wird (Foto: Ruhrtriennale)

In der Abteilung Bildende Kunst/Film/Installation schließlich springt ein bekannter Name ins Auge: Gregor Schneider aus Rheydt, der ab etwa 1985 sein Elternhaus zum schauerlich beengenden, klaustrophobische Neigungen bestens befriedigenden „Toten Haus u r“ umbaute, der mit einer Art Kopie dieser Arbeit 2001 an der Biennale in Venedig teilnahm und dort auch prompt den Goldenen Löwen gewann. Er wird im Duisburger Lehmbruck-Museum das begehbare, teilweise unterirdische Röhrensystem „Totlast“ errichten, mit wie man sicher annehmen darf starken sinnlichen Valeurs.

Eine weitere Arbeit, die ganz bestimmt zum Publikumsliebling wird, haben die Urbanen Künste Ruhr für die eigentlich eher schlichte Straße unter den Hochöfen auf dem Duisburger Gelände geplant. „Melt“ ist 70 Meter lang, besteht aus 55 glänzenden Aluminiumplatten und kann begangen werden. Die Spiegelungen ändern sich durch das Nachgeben des Materials beständig, ein „Hingucker“ im wahrsten Sinn des Wortes.

Noch viel mehr könnte (und müßte!) man aufzählen aus dem Programm der Ruhrtriennale. Tanz bei PACT Zollverein und in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, das Jugendprogramm „No Education“ die Diskussionen „tumbletalks“ und „freitagsküche“. Genauere Programmrecherchen sind natürlich auf den Netzseiten der Ruhrtriennale möglich.

Auffällig an Heiner Goebbels’ letzter Spielzeit ist eine gewisse Verlagerung des Schwerpunkts nach Duisburg-Nord. Hier werden große Sachen wie „De Materie“ und „Le sacre du printemps“ gegeben, im Lehmbruck-Museum wühlt Gregor Schneider seine „Totlast“ ins Gelände. Bochum mit seiner Jahrhunderthalle, früher geradezu der zentrale Aufführungsort der Triennale, bleibt die Nummer zwei. In Essen findet einiges statt – so die klassische Kammermusikreihe in der Zeche Carl -, doch lediglich das Kino Lichtburg, in dem „River of Fundament – Ein sinfonischer Film von Matthew Barney und Jonathan Bepler“ gezeigt wird, ist nicht den kleineren Spielorten zuzurechen. Und Dortmund, überhaupt das östliche Revier ist gänzlich außen vor. Nun gut. Es gibt ja die B 1.

Man sollte die feingeistige Grenzgängerschaft des Heiner Goebbels noch ein letztes Mal genießen, auch wenn sie nicht immer – oder nicht sofort – ihren Zugang zu den Herzen der Menschen findet. Ab 2015 regiert Johan Siemons die Ruhrtriennale, hier seit seiner Produktion „Sentimenti“ ein alter Bekannter. Dann wird es laut und lustig und vielleicht auch etwas flach (das wissen wir natürlich nicht). Auf jeden Fall jedoch ganz anders.

Gebläsehalle

Die Duisburger Gebläsehalle ist einer der Spielorte der Ruhrtriennale (Foto: rp)

Informationen und Eintrittskarten www.ruhrtriennale.de

Karten-Telefon

+49 (0)221 / 280210)




Der Menschenfeind und das wahre Leben: „Molière auf dem Fahrrad“

Einst war Serge Tanneur (Fabrice Luchini) ein ebenso begnadeter wie berühmter Schauspieler. Doch dann hat er der Welt Lebewohl gesagt und sich auf eine Insel im Atlantik zurückgezogen.

Aus dem einstigen Liebling der Medien ist ein muffeliger Mann geworden, der Schmeichelei und Heuchelei hasst und nach Wahrheit und Aufrichtigkeit strebt. Er ist der lebendig gewordene „Menschenfeind“ und könnte aus Molière altem Stück direkt in die Gegenwart geschmuggelt worden sein. Wenn Serge noch einmal auf die Bühne zurückkehren würde, müsste es – wen wundert´s – allein die Rolle des Menschenfeindes Alceste sein.

Filmszene mit Fabrice Luchini (li.) und Lambert Wilson. (Bild: Alamode Film)

Filmszene mit Fabrice Luchini (li.) und Lambert Wilson. (Bild: Alamode Film)

Doch als sein alter Kollege Gauthier Valence (Lambert Wilson) Serge in seiner Einsiedelei besucht und ihn zu einer Theater-Tournee mit Molières Klassiker überreden will, bietet der dem Eigenbrötler nicht den Alceste, sondern die Rolle des menschenfreundlichen Gegenspielers Philinte an. Was für ein Affront! Also genau der richtige Anlass für eine aberwitzig komische und zugleich tieftraurige Hommage an die Schauspielkunst.

In „Molière auf dem Fahrrad“ lässt Regisseur Philippe Le Guay zwei Schauspieler der Extraklasse aufeinanderprallen. Denn natürlich verhaken sich Serge und Gauthier ineinander, jeder will der bessere Schauspieler und der einzig wahre Menschenfeind sein. Doch je öfter sie bei ihren Sprechproben die Rollen tauschen und mal in die Rolle des Alceste und mal in die des Philinte schlüpfen, desto häufiger kommt ihnen das wahre Leben dazwischen.

Um Liebe und Hass geht es dabei, um Eifersucht und Zukunftsangst, um praktische Vernunft und menschliche Schwächen. Während die beiden Mimen mit Molières Versen auf den Lippen über die Insel radeln und sich manche rhetorische Schlacht liefern, zeigt ihnen die hübsche Francesca (Maya Sansa), wie schön und rätselhaft das Leben ist. Am Ende dieser Reise ins Innere der Kunst des Sprechens und Spielens bekommen alle etwas, aber eigentlich keiner das, was er gern hätte.

(Kinostart am 3. April)