Schreckensklänge in der Idylle – Beatrice Rana debütiert beim Klavier-Festival Ruhr

Eine Entdeckung: Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana. Foto: KFR/Julien Faugere

Eine Entdeckung: Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana. Foto: KFR/Julien Faugere

Der Mann vom Rundfunk ist ganz aus dem Häuschen: Ein Wasserschloss, liebevoll restauriert, idyllisch gelegen, als Spielstätte fürs Klavier-Festival Ruhr. Ja, mancher mag noch immer staunen angesichts des Hauses Opherdicke, das so gar nicht ins Klischee vom düsteren Ruhrgebiet passen will, sich vielmehr harmonisch einfügt ins ländliche Westfalen. Das Festival jedenfalls hat das Schloss in Holzwickede, dessen bewegte Geschichte bis ins 12. Jahrhundert zurück reicht, schon vor etlichen Jahren als Kunst-Domizil für sich entdeckt.

Im Spiegelsaal gilt’s der Musik, ein lichter, hoher Raum, der Platz bietet für etwa 120 Besucher. Doch das hübsch anzusehende Kleinod hat seine Tücken, und die sind akustischer Art. Wer hier auftritt, darf den dynamischen Pegel nicht zu weit aufziehen. Andernfalls wird der Hörgenuss zur Gehörüberreizung. Ein Glück also, dass die junge italienische Pianistin Beatrice Rana, während ihres Debütkonzerts beim Festival, nur einen B-Flügel spielt und nicht das größere, voluminösere D-Modell.

Ranas Interpretationen sind auch so von ausreichend Kraft und Leidenschaft geprägt. Sodass sich die Klänge nicht im ungefähren verlieren. Verbunden ist ihr Spiel indes mit einer leicht angestrengt wirkenden Konzentration, die dazu führt, dass etwa in der 1. Partita Johann Sebastian Bachs die barocke Rhetorik nicht frei fließt. Zudem kleidet die Solistin alles in ein romantisches Gewand, das sich alsbald in Schumanns Symphonischen Etüden voll entfaltet.

Das Andante-Thema, das Rana düster-dramatisch zelebriert, um dann die Variationen ähnlich dunkel timbriert und wie im Rausch aneinander zu reihen, gibt gewissermaßen die Charakteristik dieses orchestral anmutenden Schumann-Werkes vor. Kaum einmal gönnt sich die Pianistin ein versonnenes Innehalten, liebt vielmehr die virtuose Geste und spielt durch Harmonik bedingte Stimmungswechsel so, als sei sie selbst davon überrascht.

Blick aufs Wasserschloss Haus Opherdicke, dessen Spiegelsaal Spielstätte des Klavier-Festivals ist. Foto: -n

Blick aufs Wasserschloss Haus Opherdicke, dessen Spiegelsaal Spielstätte des Klavier-Festivals ist. Foto: -n

Doch nach und nach, etwa mit Leopold Godowskys Elegie für die linke Hand, die Rana in aller Ruhe dynamisch differenziert aufklingen lässt, gewinnt ihr Spiel an Souveränität. Kulminierend in einer faszinierenden Deutung der 6. Sonate Sergej Prokofjews. 1940, also zu Kriegszeiten entstanden, gibt sie mit ihren Bruitismen, die an Maschinenmusik erinnern, beredtes Zeugnis von den Schrecken des massenhaften Mordens. Hier reizt Rana die Dynamik so weit als möglich aus. Trotzdem entsteht im Spiegelsaal nicht das Gefühl, einer Schlacht um den lautesten Ton beizuwohnen.

Und mag in den Mittelsätzen auch ein wenig der traurig-ironische Biss fehlen, gestaltet sie das Finale umso mehr in aller Unerbittlichkeit, nutzt eine kurze Legato-Passage zur Reflexion, um am Ende die harschen, gleißenden Klänge in einem Cluster zu kulminieren – größer kann der Kontrast zur idyllischen, friedvollen Umgebung wohl nicht sein.

 

 




Zur Abwechlung hier mal ein Gedicht

Sonne

und immer

wechselt das Wetter und

wir werden unsere

Trauer nicht los

bei Sonne

und anderem Wetter

warum sind die

Menschen in

Kalifornien

nicht immer nur

glücklich unter der

Sonne




Schwerkraft, nein danke – umjubelter Auftritt des Cirque Éloize bei den Ruhrfestspielen

Cirque_821fa74b50ba3f7cba1e6c53e8fa6845_CirqueEloize_iD__c__2012_Theatre_T_Cie_Patrick_Lazie__3__middle

Schwerkraft scheint an dieser Stange nicht zu existieren. Foto: Ruhrfestspiele (Valérie Remise)

Die Dinge, die sie für ihre Kunststücke brauchen, wirken schlicht: eine Stange, ein langes Tuch, einige Hüpfseilchen, einige Stühle. Ein Fahrrad leistet gute Dienste, der Jongleur braucht seine Kugeln, die Breakdancer kommen gänzlich ohne Werkzeug aus. Was die jungen Artisten vom kanadischen Cirque Éloise aber mit schlichtem Werkzeug auf der Bühne des Marler Theaters veranstalten, ist schier unglaublich.

Die Schwerkraft scheint nicht zu existieren, wenn ein leichtfüßiger Athlet die wackelige Stange erklimmt, als befände sie sich in der Horizontalen; wenn er an ihr hängt wie eine Fahne im Wind, sich nur mit seinen Beinen an ihr festhält, ungebremst an ihr herabgleitet und erst im letzten Moment abbremst, so daß man für Sekundenbruchteile sein sicheres Ende befürchtet.

Vor dem bühnenhohen Hintergrund (Bühne: Robert Massicotte) – ein bemerkenswertes Bauwerk mit zahlreichen Podesten und türgleichen Öffnungen – hüpft ein junger Mann mit seinem Mountainbike munter von Vorsprung zu Vorsprung, bis nach ganz oben. Die Gefahr des Umkippens scheint es für ihn nicht zu geben. Vergleichsweise konservativ mutet der Auftritt des Jongleurs mit seinen gelben Kugeln an. Sind es acht? Sind es zehn? Ihr Flug gleicht einem flirrenden Insektentanz, nicht dem virtuosen Wirken menschlicher Hände. Und so reiht sich eins ans andere. Auch die Schlangenfrau fehlt nicht, die sich verbiegt, daß man Angst um sie bekommt. Wie werden ihre Bandscheiben in 30 Jahren aussehen, fragt man sich als älterer Mensch. Doch vielleicht ist eine solche Frage ja im Zirkus unzulässig.

CirqueEloize_iD__c__2010_Theatre_T_Cie_Val_rie_Remise__8_

Jonglage in Rückenlage. „Partner“ des Artisten ist bei dieser Nummer eine Glasscheibe rechts im Bild.  Foto: Ruhrfestspiele (Valérie Remise)

Das Stück heißt „iD“, aber natürlich ist das hier Zirkus, in seiner Art – nur Akrobaten, keine Tiere – wahrscheinlich nicht zu übertreffen. Artistik in einer solchen Qualität kennt man möglicherweise von Roncalli, doch anders als der Cirque Éloize gibt sich Roncalli ja sehr konservativ, hegt und pflegt die altertümlich-glamouröse Anmutung, was auch sehr schön ist.

Diese junge kanadische Truppe um ihren Chef Jeannot Painchaud aber grenzt sich sehr absichtsvoll von der traditionellen „Artisten-in-der-Zirkuskuppel“-Anmutung ab, vom Idealbild der Akrobatenpärchen in ihren leuchtenden, straßglitzernden Trikots, vom dramatischen Trommelwirbel vor der Todesnummer und was der Eigentümlichkeiten von, wenn ich einmal so sagen darf, „Opas Zirkus“ mehr sein mag. Sie betten ihre artistischen Highlights in eine Art Handlung ein, und mit diesem Ansatz ähneln sie den Eiskunstläufern, die ihren doppelten Rittberger oft allerdings eher schlecht als recht ins dramatische Konzept packen. Der Cirque Éloize ist da ungleich geschmeidiger.

Ihre Rahmenhandlung finden die Kanadier auf der Straße, bei den jungen Leuten, die dort abhängen, dort Liebe und Gewalt erleben. Aus mehr oder weniger differenzierten Massenszenen entwickeln sich Mal um Mal die akrobatischen Nummern, an denen besonders bemerkenswert ist, daß sie auch ohne konzentriertes Scheinwerferlicht und dramatischen Trommelwirbel das Publikum vollständig in ihren Bann schlagen. Die Musik hämmert derweil ununterbrochen ihren Rhythmus und ist für ein Theaterpublikum vielleicht etwas zu laut.

821fa74b50ba3f7cba1e6c53e8fa6845_CirqueEloize_iD__c__2012_Theatre_T_Cie_Patrick_Lazie__12__middle

Der Biker weiß genau, wo er landet; ein Bißchen hat seine Nummer auch von der Kunst des zielgenauen Messerwerfens. Foto: Ruhrfestspiele/Valérie Remise

Jedenfalls hat die Show einen ausgesprochen souveränen Lauf, keine Längen, keine Peinlichkeiten, ein begeisterndes Stück Akrobatik, wie man es selten zu sehen bekommt. (Übrigens wird man in Deutschland auch lange warten müssen, bis der Cirque Éloize mal wieder hier ist. Auf seinen Internetseiten reihen sich Tourneestationen in aller Welt aneinander. Vielleicht aber hat Intendant Frank Hoffmann ja ein Einsehen und bucht die Truppe für die Ruhrfestspiele 2015…)

Die Schlußnummer ist auch der Höhepunkt des Abends. Hier springen die Männer aus der Kulissenwand metertief auf ein (hinter einer Verkleidung unsichtbar bleibendes) Trampolin und werden meterhoch wieder in die Luft geworfen – höher als sie starteten. Einmal mehr scheint die Schwerkraft gänzlich aufgehoben zu sein. Wie sie da so durch die Luft fliegen ähneln die Artisten Figuren eines Videospiels auf dem Bildschirm, sind bunte, hüpfende Flummibälle.

Der Saal, wie nicht anders zu erwarten, raste. Und zu den Standing Ovations erhob das Publikum sich wie ein Mann (sagt man so). Gehört ein solches artistisches Programm zu den Ruhrfestspielen? Natürlich, denn es ist Inszenierung und Illusion und Geschichtenerzählen und spielt außerdem notabene auf einer Theaterbühne. Außerdem ist dies angesichts all dessen, was heutzutage im Theater und drumherum geschieht, sowieso die falsche Frage.

Tja.

Vor einigen Tagen erinnerte sich das Recklinghäuser Publikum an den großen Schauspieler Otto Sander, der viele Jahre bei den Ruhrfestspielen umjubelte Auftritte hatte und im September 2013 mit 72 Jahren gestorben ist. Meret und Ben Becker, seine beiden (böses Wort!) Stiefkinder, waren in einer Produktion des St. Pauli-Theaters so etwas wie persönlich betroffene Laudatoren, die einige Kindheitserinnerungen beisteuerten, einige Balladen und Lieder vortrugen. Deutsche Balladen hat Otto Sander den Kindern nämlich früh beigebracht, ebenso hat er ihre Liebe zu diesen Texten geweckt. Zudem gab es viele Filmausschnitte zu sehen, „Sommergäste“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“ und mehr, auch lustige Sachen. Eine gleichermaßen würdige wie anrührende Veranstaltung war dies, die übrigens auch zeigte, was für ein treues Publikum die Ruhrfestspiele haben: es war restlos ausverkauft.

 

Cirque Éloize: „iD“. Weitere Termine: Samstag, 31.5., 15 Uhr und 20 Uhr, Sonntag, 1.6., 18 Uhr.

www.ruhrfestspiele.de

www.cirque-eloize.com

Fotos: © 2010 Theatre T&Cie/ Valérie Remise

 




Vattatach: International bekannt, in Deutschland bekanntlich besonders feucht

Zugegeben, alles zugegeben. Ich war allgemein wirklich nicht bekannt für meinen ausgeprägten Hang zur Totalabstinenz. Aber schon früher, als mir der gesellige Genuss wohlschmeckender Getränke mit prozentual messbaren alkoholischen Inhaltsstoffen noch näher stand als er es heute tut, schon damals neigte ich zum heiligen Schwur, es mir am Himmelfahrtstag zu untersagen, meine Lampe ausgiebig zu begießen. Bollerwagenumzüge waren mir schon immer zuwider.

Und wer trägt die Verantwortung für diesen durchfeuchteten Unfug, diesen Himmelfahrtstag eines jeden Jahres zum „Herrentag“, später etwas freundlicher beschrieben als „Vatertag“ zu proklamieren und in eine für Männer ansonsten anscheinend triste Welt zu setzen? Klar, die Berliner, wer sonst.

Dort, am schönen Strand der Spree, wurzelt diese Tradition, die es vorschrieb, einen Bollerwagen hinter sich her zu ziehen, der zu Beginn der festtäglichen Wanderschaft gefüllt mit Alkoholika unterschiedlicher Volumenprozente war, mit dem wachsenden Wankelgang sämtlicher Begleitpersonen immer leerer wurde (die Personen immer voller) und diese am Ende unter ebenso lautem wie misstönendem Absingen hohler Lieder heimkehrten, um wieder brave Familienväter zu sein und solide Räusche auszuschlafen.

Warum das alles ausgerechnet am Himmelfahrtstag und genau auf diese Weise zu geschehen hat, darüber gibt es keine urkundlichen Nachweise. Während der Muttertag seinen Ursprung in den USA hatte, und erst 1923, initiiert vom Verband der Blumenhändler, dem patriarchalischen Reichsdeutschland implantiert wurde, entstand die versoffene Tagestour bereits Ende des 19. Jahhrhunderts in der Reichshauptstadt, heute Bundeshauptstadt, Hauptsache Hauptstadt (weia, ich schweife ab). In Österreich (2. Sonntag im Juni) oder Italien (19. März) gibt es ihn auch, aber so wie den Muttertag an einem Sonntag, und da geht es wirklich um „Väter“. Die werden dann von der Familie beschenkt und gehen nicht saufen. In Dänemark wird er am Tag der Verfassung (5. Juni) begangen. Und in der Schweiz gibt’s gar keinen.

Seit 1909 haben auch die Amis ihren Vatertag, weil eine gewisse Sonora Smart Dodd ihrem Papa, einem Bürgerkriegsveteranen, was Gutes tun wollte. Seither versuchten Präsidenten sich gegenseitig zu übertreffen, was die Vatertagsanerkennung angeht. 1924 beförderte  Calvin Coolidge die Vatertags-Idee zur nationalen Sache. 1966 signierte Lyndon Johnson eine Proklamation, die den dritten Junisonntag zum Vatertag erklärte. Und Richard Nixon erhob 1974, mittels Public Law 92-278, den Vatertag in den Rang eines offiziellen Feiertages für den dritten Sonntag im Juni. Und natürlich musste auch der vermeidliche George W. Bush was tun: Er gab am 13. Juni 2003 eine „President’s Father’s Day Proclamation“ heraus.

Nun gut, zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass es den Vatertag auch in Finnland, Litauen, der Slowakei und, und, und gibt. Selbst in der Türkei begeht mensch ihn, am 3. Sonntag im Juni, und er trägt den hübschen Namen „babalar günü“.

Das zur Internationalität des Tages, über die je individuellen Traditionen will ich mich nicht detailliert auslassen. Ich bin mir aber relativ sicher, dass sie entweder das Beschenken im Familienkreise oder das Saufen im Freundeskreis zum Inhalt haben.

Nur, was hat in deutschen Landen Christi Himmelfahrt mit alledem zu tun? Der Herr war der Überlieferung nach Single, und nirgendwo habe ich was von Kindern im Zusammenhang mit seiner Person gelesen. Er hat mal aus Wasser Wein gepanscht, aber dass er demselben exzessiv zugesprochen hätte, wird auch nirgendwo überliefert.

Messerscharf schließe ich: Vattatach hat mit Himmelfahrt nix zu tun. Vielleicht weil es ein Feiertag ist, vielleicht heute auch, weil man die Brücke ins Wochenende schlagen kann und folglich die Rauschreste bei der Arbeit nicht gar so hinderlich werden. Mehr fällt mir aber nicht dazu ein. Mir fällt zum deutschen Vatertag eigentlich von jeher nichts Gescheites ein.

Und nun, da er fast beendet ist und manche komatös auf der Couch liegen oder andere an der alljährlichen Verdreifachnung von Schlägereien oder Verkehrsunfällen beteiligt sind, leere ich ein köstliches Glas Rotwein und sage meinen Freunden ein fröhliches „Wohlsein“!




Als auch Westfalen unter Napoleon litt – historische Ausstellung auf Schloss Cappenberg

Was hat der Flachkomiker Mario Barth mit einer seriösen Ausstellung über Napoleons Zeit zu tun? Nun, seine Produktionsfirma hat einen Hartschaum-Nachbau der Quadriga vom Brandenburger Tor zur Verfügung gestellt, den Barth einst als Deko bei seinen Auftritten im Olympiastadion verwendete. Und wo ist jetzt der Zusammenhang?

Es mag nicht direkt der Wahrheitsfindung dienen, ist aber ein machtvoller „Hingucker“: Die größenhalber auf mehrere Raumzonen des Cappenberger Schlosses verteilte Quadriga (hier zwei Pferde, da zwei Pferde, dort der Streitwagen) steht für die Demütigung, die Frankreichs Kaiser Napoleon 1806 den Preußen antat, als er das vierspännige Fahrzeug vom Brandenburger Tor abmontieren und nach Paris bringen ließ, um dort ein europäisches Museum einzurichten.

Unvollendetes Bild ohne ausgeführtes Zepter: "Kaiser Napoleon Bonaparte im Krönungsornat" (Sebastian Weygandt zugeschrieben, 1807/13) (© Museumslandschaft Hessen, Kassel)

Unvollendetes Bild ohne ausgeführtes Zepter: „Kaiser Napoleon Bonaparte im Krönungsornat“ (Sebastian Weygandt zugeschrieben, 1807/13) (© Museumslandschaft Hessen, Kassel)

Die Cappenberger Ausstellung „Wider Napoleon“, die zuvor ähnlich in Lüdenscheid (Konzeption Eckhard Trox, Susanne Conzen) zu sehen war, signalisiert schon im Titel innige Abneigung und Gegnerschaft. Zwar brachten der Kaiser und seine Truppen damals fortschrittliche bürgerliche Gesetze in die eroberten Gebiete. Beispielsweise wurde die Leibeigenschaft per „Revolution von oben“ abgeschafft. Doch Napoleons rigides, stets auf eigenen Vorteil ausgerichtetes Regime erzeugte zunehmend Widerwillen und dann auch militärischen Widerstand – vor rund 200 Jahren gipfelnd in den „Befreiungskriegen“ (1813 bis 1815), die als eine Keimzelle des späteren Deutschland gelten; mit allen lang nachwirkenden, teilweise fatalen Folgen.

Hochinteressant an jener Zeit ist überhaupt das Widerspiel zwischen europäischen und (prä)nationalen Aspekten. An den Befreiungskriegen nahmen nicht wenige Soldaten teil, die zuvor noch auf Seiten Napoleons gekämpft hatten. Die Übergänge waren zuweilen flackernd und fließend.

"Kaiser Naopleon im Krönungsornat

„Kaiser Naopleon im Krönungsornat“, Gemälde von François Gérard, 1810 (© Napoleonmuseum Thurgau, Schweiz)

Drückende Steuern und Zölle sowie die Praxis, junge Männer aus eroberten Territorien gegen deren Willen als Soldaten für Napoleons Armeen zu rekrutieren, kennzeichneten eine immer schwerer lastende Herrschaft, die auch im auf Napoleons Geheiß gebildeten Großherzogtum Berg zu spüren war, das sich quasi als „Satellitenstaat“ Frankreichs in ein Rhein- und ein Ruhrdepartement (Letzteres mit Teilen des Sauer- und Münsterlandes) gliederte. Wer will, kann darin schon einen Vorläufer großer Teile Nordrhein-Westfalens erblicken. Immerhin trugen sich hier keine Schlachten der napoleonischen Ära zu.

Eine zentrale These des üppigen, mit wissenschaftlicher Akribie verfassten Katalogs (Zeittafeln und mehr Kartenmaterial hätten freilich nicht geschadet) lautet, dass die Geschichte des Ruhrdepartements bislang sträflich vernachlässigt worden sei und zahlreiche Zeugnisse noch der Auswertung harrten.

Der preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein, Miniaturporträt von Joseph Lützenkirchen (Foto: Norbert Reimann)

Der preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein, Miniaturporträt von Joseph Lützenkirchen (Foto: Norbert Reimann)

Und so hat man etliche Dokumente mit Regionalbezug versammelt, die vielleicht einen neuen Zweig der historischen Forschung inspirieren könnten. Beim Kreis Unna ist man erfreut, dass jede Stadt im Kreisgebiet einschlägige Exponate beigesteuert hat. Eine Besonderheit, wenn nicht gar eine kleine Sensation sind die erstmals öffentlich gezeigten Briefe eines Kamener Apothekers, der 1815 vom Schlachtfeld aus Waterloo Briefe an seine Mutter geschrieben hat. Hinzu kommt etwa das Tagebuch eines einfachen Bürgers aus Hamm.

Beim Rundgang stößt man auf einige klangvolle Namen von regionalgeschichtlicher Bedeutung, beispielsweise Gisbert von Romberg (Präfekt des Ruhrdepartements in dessen Hauptstadt Dortmund), Harkort oder Mallinckrodt – und vor allem auf den Freiherrn vom Stein.

Das sozusagen größte Ausstellungsstück ist das Cappenberger Schloss selbst, denn hier hatte der namhafte preußische Verwaltungsreformer Freiherr vom Stein seinen Alterssitz – von 1816 bis zu seinem Tod 1831. Die Ausstellung umfasst nun auch sein Sterbezimmer. Der Geist des Ortes…

Passte gerade mal eben durch die Tür und in die Raumhöhe: der Streitwagen der nachgebauten Quadriga. (Foto: Bernd Berke)

Passte gerade mal eben durch die Tür und in die Raumhöhe: der Streitwagen der nachgebauten Quadriga. (Foto: Bernd Berke)

Die Ideen und preußisch-antinapoleonisch motivierten Handlungen des Freiherrn vom Stein veranlassten Napoleon 1809 gar, einen Erschießungsbefehl gegen ihn zu verhängen. Doch der Gesuchte wusste sich den Nachstellungen zu entziehen.

Trotz redlicher Bemühungen, die Schau sinnvoll sinnlich zu inszenieren (versierte Gestaltung: Michael Wienand), ist es schier unmöglich, sämtliche Exponate unmittelbar „zum Sprechen“ zu bringen. Die Porträts historischer Akteure sind künstlerisch nicht erste Wahl und vermitteln als Auftragswerke auch nur damals offiziell erwünschte Teilansichten des Zeitgeistes. Die Ausstellungsmacher behelfen sich u. a. damit, dass man ergänzend einige Blätter aus Goyas berühmter Bilderserie von den Schrecken des Krieges zeigt. Sie handeln von den Gräueltaten napoleonischer Soldaten gegen spanische Aufständische. Auf andere, fast nüchterne und doch horrible Weise kündet ein zeitgenössisches Amputationsbesteck vom Grauen der Schlachten.

Mitglied der politischen Deutungselite: Pastor Bährens aus Schwerte, Ölbildnis eines unbekannten Künstlers, 1798 (© Ruhrtalmuseum Schwerte)

Mitglied der politischen Deutungselite: Pastor Bährens aus Schwerte, Ölbildnis eines unbekannten Künstlers, 1798 (© Ruhrtalmuseum Schwerte)

Allerlei weitere Relikte wie etwa Karikaturen, Schriftstücke, Drucksachen, Urkunden, Gedenktafeln oder Objekte wie die Orden des Freiherrn vom Stein sind zu bestaunen, man wird aber meist nicht gleich schlau daraus. Besucher werden also nicht umhin kommen, viel Zeit mitzubringen und sich hernach in den Katalog zu vertiefen, wenn sie wirklich etwas davon haben wollen. Vielfach bleibt man auf Spekulationen angewiesen. Dass etwa ein unvollendetes Napoleon-Bildnis von Sebastian Weygandt auf allmähliches Desinteresse am Dargestellten zurückzuführen sei, ist bloße Mutmaßung und schwerlich zu belegen.

Das Thema wird jedenfalls hie und da breiter aufgefächert: Ein Kapitel der von Georg Eggenstein kuratierten Ausstellung widmet sich der Rolle des Klerus, dem eine gewisse politische Deutungshoheit verliehen bzw. aufgezwungen wurde. Die Pfarrer waren gehalten, jeden Erfolg Napoleons religiös zu überhöhen und liturgisch zu begehen. Eine weitere Abteilung befasst sich mit den Frauenvereinen, die nach dem Motto „Gold gab ich für Eisen“ Schmuck für die Befreiungskriege spendeten.

"Der Wunsch der Berliner" (Napoleon möge eigenhändig die Quadriga nach Berlin zurückbringen), Karikatur von 1814 (© Stiftung Stadtmuseum Berlin)

„Der Wunsch der Berliner“ (Napoleon möge eigenhändig die Quadriga nach Berlin zurückbringen), Karikatur von 1814 (© Stiftung Stadtmuseum Berlin)

Die besagte Quadriga wurde übrigens 1814 wieder nach Berlin zurückgebracht. Der Triumphzug, mit dem der Sieg über Napoleon gefeiert wurde, führte auch entlang des Hellwegs durch Westfalen. Bezeichnend: Die Skulptur der einstigen Friedensgöttin wurde nunmehr zur Siegesgöttin umgemodelt. In Preußen und anderswo begannen restaurative Zeiten, in denen alte Abhängigkeits-Verhältnisse wiederhergestellt wurden.

„Wider Napoleon“. Schloss Cappenberg in Selm, Schlossberg. 29. Mai bis 21. September 2014. Di-So 10-17:30 Uhr. Eintritt Erwachsene 4 Euro, ermäßigt 3 Euro, Familie 8 Euro. Katalog 25 Euro.




„Bochum“ in Bochum – ein wehmütiges Singspiel mit Liedern von Herbert Grönemeyer

BochumTief im Wehesten, wo die Sonne verstaubt„…gibt es Theateraufführungen, die sind noch viel besser, als man glaubt. Die Rede ist von „Bochum“ in Bochum, genauer gesagt im Schauspielhaus Bochum.

Das Bochumer Ensemble belebt seit einiger Zeit mit großen Erfolg das Genre Singspiel neu. Die Qualität der „Tribute to Johnny Cash„-Inszenierungen hat sich mittlerweile revierweit herumgesprochen, die Inszenierung „Heimat ist auch keine Lösung“ riss das Publikum im letzten Jahr zu Begeisterungsstürmen hin und rührte nicht nur mich zu Tränen.

Seit der Spielzeit 2013/2014 zeigt das Haus nun „Bochum“, ein Singspiel von Lutz Hübner mit Liedern von Herbert Grönemeyer. „Bochum“ ist weit mehr als eine Würdigung des berühmten Sohnes der Stadt, „Bochum“ ist auch eine Reminiszenz an die Vergangenheit der Stadt, ein wehmütiger Rückblick, ein Abschied. Abschied von „diesem Handy-Hersteller, dessen Namen nicht genannt werden darf„, von „diesem Auto-Hersteller, dessen Name bald nicht mehr genannt werden darf„, wohl auch der Abschied vom „Pulsschlag aus Stahl“. Was der Stadt nebem dem Namen der Currywurst, „der nicht genannt werden braucht, weil ihn ohnehin jeder kennt“ bleibt, ist ungewiss. „Bochum“ zeigt nur den Abschied, keine Lösung, keinen Ausblick, nur die Wehmut, keinen Protest. Den findet man dann wohl eher im ambitionierten Detroit-Projekt.

Im Theaterstück selbst ist es der Abschied von einer Eckkneipe. Die Band spielt ein letztes Lied. Lotte, die gute Seele der Kneipe, räumt die letzten Gläser zusammen, das Bierfass ist leer. Im Morgengrauen werden die Abrissbagger anrücken. Roger, Ralf, Peter und Sandra sind Stammgäste, seit sie vor fast 30 Jahren nach ihrer Abiturfeier mehr oder weniger zufällig in dieser Kneipe versackten. Unglücklich versuchen sie, den Moment des Abschieds noch hinaus zu zögern. Lotte spendiert ihnen schließlich die letzten Schnäpskes, für jedes Jahr einen.

Und so trinken sie „auf die alten Zeiten. (Denn worauf sonst sollte man in Bochum trinken können?)“. Der Alkohol entfaltet den „Fallschirm in der Not„, die Vier und Lotte beschwören Erinnerungen herauf, alte Träume, aber auch alte Gespenster. Worte alleine reichen nicht, ihre Gefühlslage zu beschreiben und so wird „das alte Liedgut“ rausgekramt und inbrünstig gesungen. Vom Mensch(en), vom Vollmond, von der Zeit, als sich was drehte, von Männern, von Flugzeugen im Bauch und natürlich von Bochum.

Die musikalische Leitung liegt wie oft in Bochum bei Torsten Kindermann, somit quasi beim legitimen Nachfolger Grönemeyers. Im Zusammenspiel mit der an jedem denkbaren Instrument versierten Band wirken die Lieder überraschend und eigenwillig arrangiert. Aber wenn man sich auf die ungewohnten Arrangements einlässt, sind sie großartig. Das Stück „Bochum“ als Ballade funktioniert wunderbar – wer hätte das gedacht? Ausgefallene Percussion, gelegentlicher A-cappella-Gesang – man entdeckt die altvertrauten Stücke neu, plötzlich findet man sogar an Liedern, die man nie mochte, großen Gefallen.

Regisseurin Barbara Hauck inszeniert behutsam, an keiner Stelle überfrachtet oder kitschig, den Schauspielern viel Raum lassend. Lächelnd entdeckt man kleine Würdigungen des dramaturgischen Aufbaus eines Grönemeyer-Konzerts – das Steiger-Lied vor „Bochum“, als letztes Lied „Halt mich“. Und wie so oft in Bochum möchte man die großartigen Schauspieler gar nicht mehr von der Bühne lassen. An und für sich möchte man gar keinen hervorheben aus dieser Riege, aber ich bin jedes Mal wieder begeistert von der Bühnenpräsenz des Michael Schütz und meine persönliche „Entdeckung“ des Abends war Günter Alt. Selten hat eine Bühnenfigur so viel Sympathie ausgelöst.

Verdiente standing ovations gab es nach der Aufführung, die Künstler revanchierten sich gerne. Unter anderem „Bochum“ gab es nochmal, diesmal als gewohnte rockige Version, die Zuschauer mitklatschend und singend. Es mag Einbildung gewesen sein, aber nach den jüngsten verbalen Entgleisungen des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt, hörte sich das gemeinsam gegröhlte „Wer wohnt schon in Düsseldorf“ noch einen Tick inniger und trotziger an als sonst.

Drei Zugaben und ungezählte Vorhänge später findet man sich wieder, draußen vor der Tür und kann Lotte nur zustimmen: „Realität ist nur die kleine häßliche Schwester der Kunst„. Aber wenigstens wissen wir jetzt, was Glückauf auf englisch heisst: Luck up. Gesprochen, Lack ab. Das mag im Moment (noch) für Teile des Reviers gelten, für das Schauspielhaus Bochum auf gar keinen Fall.

„Bochum“ wird auch in der Spielzeit 2014/2015 noch auf dem Spielplan stehen. Termine und Informationen auf der Homepage des Schauspielhauses Bochum.




Streit bei Plasberg: Wie rechts ist die AfD?

Nachbereitung oder auch Nachkarten zur Europawahl war heute überall angesagt. Frank Plasberg machte mit seiner ARD-Talkrunde „Hart aber fair“ keine Ausnahme. Der Themen-Anreißer hieß, marktschreierisch wie üblich: „Europas Wutbürger – Abschottung statt Toleranz?“

Während Günther Jauch am Sonntag zum ähnlichen Thema geradezu staatstragende Gäste aufbot (Wolfgang Schäuble für die CDU, Peer Steinbrück für die SPD), sorgte Plasbergs Gästeliste schon für etwas mehr Zuspitzung.

Wer die Ängste schürt…

Allein schon die Anwesenheit des Chefs der „Alternative für Deutschland“ (AfD), Bernd Lucke, polarisierte die Sendung. Die Fragestellung lautete also vorwiegend: Wie rechts ist diese AfD, die sich mit rund 7 Prozent der Stimmen bei der Europawahl bereits selbst als neue „Volkspartei“ mit Wählern in allen Schichten sieht?

"Hart aber fair": Moderator Frank Plasberg (Bild: © WDR/Klaus Görgen)

„Hart aber fair“: Moderator Frank Plasberg (Bild: © WDR/Klaus Görgen)

Da auch Claudia Roth (Grüne) und Michel Friedman (CDU-Mitglied) für kernige Worte gut sind, wurde streckenweise wild durcheinander geredet. Sie warfen Lucke vor, Ängste in der Bevölkerung zu schüren und damit nach Stimmen am rechten Rand zu fischen. Der gewohnt selbstbewusste bis selbstgefällige Moderator Frank Plasberg beschwichtigte hie und da, heizte aber auch schon mal nach, indem er beispielsweise an die Lebenswirklichkeit „in Duisburg neben dem Roma-Haus“ erinnerte…

„Halten Sie einfach mal die Klappe“

Bernd Lucke versuchte jeden Eindruck der Rechtslastigkeit wegzuwischen, Frau Roth hingegen meinte, Teile der AfD seien „völkisch angehaucht“. Die Verwandtschaft gewisser AfD-Wahlplakate zu Aussagen der NPD und der Gruppierung „Die Rechte“ war zumindest unverkennbar. Lucke wollte Haltung bewahren, doch einmal vergaß sich der Professor: „Herr Friedman, halten Sie einfach mal die Klappe…“ Oha! Kein besonders kultivierter Tonfall.

Während Lucke ansonsten die Genugtuung über das Wahlergebnis anzumerken war, machten sich andere Dikussionsteilnehmer Sorgen um Europa. Sogar das Gespenst vom politischen Zerfall des Kontinents stand im Raum, weil populistische Europagegner in anderen Ländern noch weitaus mehr Zustimmung fanden als bei uns die AfD. Denkt man an Frankreich in der Nacht, so ist man um den Schlaf gebracht.

Zerfällt Europa jetzt?

Nicht selten operieren die Gegner Europas – nach uraltem Muster – mit fremdenfeindlichen Vorurteilen. Die Kritik am Euro und an der wuchernden Brüsseler Bürokratie ist das Eine, eine Rückkehr zum Nationalismus das Andere. Tatsächlich kann man sich bang fragen, was aus dem freizügigen Europa werden soll, wenn seine Widersacher an so manche Schaltstellen gelangen und wenn sie den politischen Mainstream beeinflussen.

Der CSU-Altvordere Wilfried Scharnagl kam einem im Vergleich zu Lucke schon fast altersmilde und harmlos vor, seine Partei ist ja bei der Europawahl auch ziemlich gestutzt worden. Bedenkenswert jedenfalls die Anmerkung von Nikolaus Blome, Chef der Berliner „Spiegel“-Redaktion: Die vielleicht größte Gefahr seien die vielen Nichtwähler. Erst durch sie kämen die Extremisten aller Schattierungen zur Geltung.




Zwei machen auf Skandal: Alice Sara Ott und Francesco Tristano beim Klavier-Festival Ruhr

Alice Sara Ott und Francesco Tristano - zwei Pianisten, harmonisch vereint immerhin zum Schlussapplaus. Foto: Mohn/KFR

Alice Sara Ott und Francesco Tristano – zwei Pianisten, harmonisch vereint immerhin zum Schlussapplaus. Foto: Mohn/KFR

Neue Musik ist nicht gerade ein Publikumsrenner. Wenn sich die Klänge im Konzert avantgardistisch geben, nehmen viele Hörer Verteidigungsstellung ein. Oder schütteln erschrocken, verdrossen, fragend, vielleicht auch altersmilde lächelnd ihr Haupt. Atmen auf, wenn endlich, etwa mit einer Beethoven-Symphonie, wieder sicheres ästhetisches Fahrwasser erreicht ist. Doch eines ist selten geworden bei der Beurteilung tönender Moderne: der (handfeste) Skandal.

„Scandale“ rufen die Pianisten Alice Sara Ott und Francesco Tristano. Die französische Wortvariante ist bewusst gewählt, geht es ihnen doch darum, musikalische Eklats ins Gedächtnis zu rufen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der aufregenden Kulturmetropole Paris ereigneten. Die entsprechende CD soll im Herbst erscheinen, einen Vorgeschmack hat es nun beim Klavier-Festival Ruhr gegeben.

Fürs Plattencover – und das Festival-Programmheftchen – haben die beiden das elegante Konzertoutfit abgelegt und sich ganz existenzialistisch schwarz gekleidet. Alice Sara blickt uns in herausfordernder Gleichgültigkeit an, Francesco wiederum schaut auf seine Klavierpartnerin, als sei sie ein fleischgewordenes Rätsel. Man mag auch über die Botschaft dieser Ikonographie nachdenken – beider Auftritt in Duisburgs Gebläsehalle jedenfalls bedient eher das konventionelle Bild zweier junger Pianisten, die eben Werke für zwei Klaviere zu spielen gedenken.

Am Beginn steht Maurice Ravels „Bolero“, ein Stück, zu dem der Komponist selbst anmerkte, es sei eigentlich keine Musik. Sie wurde geschrieben für die Tänzerin und Mäzenin Ida Rubinstein, und war, wohl erst in Verbindung mit einer lasziven Choreographie, skandalträchtig. Die Fassung für zwei Klaviere stammt nun von Tristano. Er zupft zunächst im Klavierbauch an einer Saite den charakteristischen Trommelrhythmus, später verlagert sich die repetitive Dauerfigur auf die Tasten. Alice Sara Ott ist für die zweiteilige Melodie zuständig, die sich aus aller Zartheit ins Orgiastische steigert.

Das Paar in Aktion. Foto: Mohn/KFR

Das Paar in Aktion. Foto: Mohn/KFR

Das alles macht mächtig Effekt, ohne noch irgendwie verstörend zu wirken. Die Interpretation zeigt indes exemplarisch die Probleme, die dieser Abend mit sich bringt. Und die ergeben sich nicht zuletzt daraus, dass hier zwei stark verschiedene Pianistentypen am Werk sind. Wobei Tristano den Takt vorgibt, auf dass die Musik nur ordentlich groove. Handwerkliche Probleme, die sich etwa dadurch ergeben, dass beide auf Umblätterer verzichten, fallen auf, spielen aber bloß eine Nebenrolle.

Im „Bolero“ also tackert’s rhythmisch, gewinnt die Dynamik an Intensität, bevor Tristano (aus welchen Gründen auch immer) auf die Bremse tritt. Dann ertrinkt das Trommeln im Hall, wird die Lautstärke zwei Mal extrem zurückgeführt. Das Ergebnis hat mit Skandal wenig zu tun. Viel mehr aber mit Nivellierung und einem faden Groove, den der Pianist aus seinem eigenen Werk ableitet, hier aus einer impressionistisch, jazzig und minimalistisch angehauchten Lounge Music namens „A Soft Shell Groove Suite“.

Da ist nun alles auf Wellness gebürstet und so wundert es kaum, dass Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, 1913 das Skandalstück schlechthin, in dem der Komponist nicht zuletzt die Emanzipation des Rhythmus feiert, seine archaische Kraft nur bedingt entfalten kann. Tristano und Ott setzen auf Struktur, skelettieren beinahe das Werk. Feine Linien schimmern auf, in Kontrast gesetzt zur futuristischen Maschinenmusik der stampfenden Bässe. Doch Ekstase und harsche Dissonanzen kommen in dieser Interpretation recht harmlos daher.

Das ungleiche Paar findet nicht wirklich zusammen. Damit ist kein Skandal zu machen. Da hilft auch keine existenzialistische Pose.




Es gibt ein Leben nach Opel – das Bochumer Detroit-Projekt

Bild525

Das Motto der Ausstellung weist, auf den Asphalt gesprüht, den Weg – jedenfalls manchmal. Foto: rp

Der Bus steht. Auf der anderen Spur geht es auch nicht schneller. Unter normalen Verhältnissen wäre die Strecke vom Exzenterhaus nahe dem Schauspielhaus zum Bergbaumuseum in zehn, fünfzehn Minuten zu schaffen, im freitagnachmittäglichem Berufsverkehr jedoch nicht. Doch Bochum hat viele hübsche Fassaden. Das wäre einem sonst vielleicht nie aufgefallen.

Eingeladen zur Rundfahrt im Bochumer Stadtgebiet haben das Schauspielhaus und „Urbane Künste Ruhr“. Zusammen haben sie in diesem Jahr das „Detroit-Projekt“ aus der Taufe gehoben, das an etlichen Stellen der Stadt Kunst präsentiert. Und alles hat irgendwie mit Opel zu tun, der Traditions-Automarke, die bald schon in Bochum keine Autos mehr bauen wird. Das Kunstprojekt ist nach der Stadt benannt, wo Opels Mutterkonzern General Motors sitzt, außerdem steht der Name für den dramatischen Niedergang, den die Schließungen der Autofabriken dort für die US-Stadt bedeuteten. So schlimm soll es in Bochum natürlich nicht kommen, auch wenn das Schlagwort von der „postindustriellen Gesellschaft“ gern und häufig Verwendung findet. Nein, die Unterzeile des Projekts wie auch eine ihrer Internetanschriften pochen auf den eigenen Weg: „This Is Not Detroit“, beziehungsweise www.thisisnotdetroit.de.

love_3k

„HOW LOVE COULD BE“ steht in flammendem Rot auf dem Förderturm des Bergbaumuseums. Eine Lichtkunst-Intervention des Briten Tim Etchells. Foto: Schauspielhaus Bochum

Allerdings sollen die künstlerischen Arbeiten durchaus das Postindustrielle reflektieren. Künstlerinnen und Künstler kommen aus Ländern, in denen es noch General Motors-Standorte gibt, aus Großbritannien, Polen, Spanien, den USA und natürlich weiterhin auch Deutschland.

Bevor der Bus sich in den Dauerstau begab, hatten sich seine Insassen im Exzenterhaus, das wie eine gigantische Nockenwelle aussieht, die Videoinstallation „The Pigeon Project“ des Polen Michal Januszaniec angesehen. „Das Tauben-Projekt“, so die Übersetzung, zeigt uns deutsche, polnische, deutsch-türkische „Taubenväter“ und läßt sie ausgiebig zu Wort kommen, erzählt vom Abwicklungsstreß bei Opel, läßt uns einer Schauspielerin zusehen, die mühsam einen vor Selbstbewußtsein strotzenden Text einstudiert, und verweist mit solchen Elementen unaufdringlich, aber schlüssig auf eine Zukunft, der soziale wie kollektive Gewißheiten zunehmend fehlen werden.

Aber ist das wirklich die Zukunft? Wird es wirklich so trostlos, wie Januszaniec behutsam andeutet? Jedenfalls ist die Arbeit im 13. Stockwerk des asymmetrischen Hochhauses zu besichtigen, was zum einen zwar 8 Euro Eintritt kostet, zum anderen aber einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, die von hier oben aus überhaupt nicht hinfällig wirkt, sondern grün und vital und sehr ordentlich. Andererseits ist zu hören, daß sich die Vermarktung des Hauses schwierig gestalte – weshalb die 13. Etage für das Kunstprojekt noch zu haben war. Alles hat seine zwei Seiten.

Das Bergbaumuseum, endlich hat es der Bus geschafft, ziert eine Leuchtschrift. „How Love Could Be“ steht in roten (LED-befeuerten) Buchstaben oben am mächtigen Förderturm. Die Zeile, die der Brite Tim Etchells dort platziert hat, stammt aus dem ersten Song, der bei der legendären Detroiter Schallplattenfirma Motown 1961 herauskam: „Bad Girl“ von den Miracles. Denkanstoß: Bochum, Detroit, Liebe, Menschen… Die Museumsleute haben einen Rekorder mitgebracht und spielen den Song vor. Auf den Bänken vor dem Bergbaumuseum gucken die Leute irritiert.

Außerhalb der Bochumer City geht es zügiger voran. Im Viertel hinter der Jahrhunderthalle wurde eine ehemalige Schlecker-Filiale zum Kunstraum. Hier zelebrieren Chris Kondek, Christiane Kühl und Klaus Weddig mit grimmigem Humor das Scheitern einer Idee. Es ist ein Kunstwerk mit (erfundener) Geschichte: Das Hochglanz-Magazin „Reconquer“ beauftragte im Frühjahr 2014 eine renommierte Werbeagentur, die „sieben gelungenen Überlebensformen der geldlosen Gesellschaft (Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Jagen, Verzicht und Saufen)“ für eine fetzige Geschichte ins Bild zu setzen. Der Vesuch scheiterte völlig, das „Making of“ jedoch hinterließ Videos und Fotos, die nun hier, in der einstigen Schlecker-Filiale, gezeigt werden. Eine originelle und hintersinnige Idee, ganz ohne Frage; noch bemerkenswerter jedoch ist das Vorkommen von Humor, was in der zeitgenössischen Kunst ja sonst eher selten ist. Gleichzeitig aber wird im quasi ernsten Kern des Projekts auch viel Hilflosigkeit erkennbar angesichts des großen Rades, das diese Künstlergemeinschaft, das Elend der („postindustriellen“) Welt streng im Blick, gerne drehen würde. Wie kann man einer Gesellschaft noch helfen, in der wegen Streß immer weniger Schnaps getrunken wird?

keller_2k

Hier ist einem nicht recht geheuer:“Der Keller“ des Polen Robert Kusmirowski. Foto: Schauspielhaus Bochum

Weiter geht die Tour zu juvenilen künstlerischen Interventionen im Stadtgebiet, zur Thyssen-Industriebrache, auf der eine Ein-Mann-Sauna steht, zum Prinzregent-Theater, wo im Keller (von Robert Kusmirowski) ein Toter liegt… Und immer wieder vorbei an großformatigen Bochum-Fotos, die an markanten Punkten im Stadtgebiet hängen. Sie stellen eine Auswahl aus dem Material dar, das beim Projekt „Mein Bochum – unsere Zukunft“ zusammenkam. 29 Motive hat Hans-Günter Golinski vom Bochumer Kunstmuseum daraus ausgewählt.

Befindet Bochum sich also jetzt im Detroit-Fieber, vibriert die Stadt im Rhythmus des Motown-Sounds, pilgern Heerscharen von Kunstliebhabern zu den Ausstellungsstätten? Eher wohl nicht. Die Standorte liegen weit auseinander, über die Erreichbarkeit scheinen sich die Veranstalter wenig Gedanken gemacht zu haben, sieht man einmal vom kostenlos angebotenen zweistündigen Fußmarsch „durch ausgewählte Arbeiten des Projekts“ ab. Touren mit dem Reisebus sind, wie erlebt, Glückssache, eine ÖPNV-Tour (welches Ticket?) findet sich in den Unterlagen nicht. Geführte Fahrradtouren sind wegen hoher Sicherheitsauflagen angeblich kaum genehmigungsfähig.

Eine Ausstellung für Kunst-Flaneure ist das „Detroit-Projekt“ aber auch nicht, weil die Öffnungszeiten einiger Standorte recht eingeschränkt sind und man dort, wo sie sich befinden, einfach nicht flaniert. Die Kunstwerke wiederum, sieht man einmal von der Leuchtschrift am Förderturm des Bergbaumuseums ab, sind so unauffällig,  daß sie es kaum schaffen werden, aus sich heraus Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Doch freuen wir uns auf die Spanier, die eingeladen wurden! Ab dem 23. Mai führen Tänzerinnen und Tänzer von Trayectos „choreographische Vermessungen“ in der Stadt durch, gibt es „Saludos de Zaragoza“ (Grüße aus Zaragossa) von der Gruppe Asalto im Bochumer Hauptbahnhof, fördert basurama „kollektive Freizeit und Pflege“ auf einem ehemaligen Fabrikgelände. „Esto no es un solar“ schließlich kündigt die Ankunft des Küchenmobils an, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls klingt es recht vital. Am 29. Juni feiert das Detroit-Projekt sein Zukunftsfest, offizielles Ende ist am 5. Juli.

www.schauspielhausbochum.de

www.urbanekuensteruhr.de

www.thisisnotdetroit.de, Info-Hotline 0234 / 3333 5555




Rassismus im Reihenhaus: „Waisen“ bei den Ruhrfestspielen

Foto: Jim Rakete/Ruhrfestspiele

Foto: Jim Rakete/Ruhrfestspiele

Wer hiesiges Regietheater gewohnt ist, dem kommt das Szenario von „Waisen“ zunächst etwas boulevardesk vor: Man blickt in ein naturalistisch nachgebautes Reihenhauszimmer mit ikeaartigen Resopalmöbeln, in denen drei Leute wie du und ich sitzen: Spielzeug liegt herum, keiner hat überdimensionale Hasenmasken an oder ist nackt und auch die übliche Videoprojektion sucht man vergebens. Langweilig? Konventionell?

Nicht unbedingt. Denn das „wellmade play“ des britischen Dramatikers Dennis Kelley, in Szene gesetzt von Wilfried Minks für die Ruhrfestspiele in Koproduktion mit dem St. Pauli Theater Hamburg, überzeugte durch den spannenden und psychologisch ausgefeilten Plot und eine punktgenaue Dramaturgie.

Auch wenn von kunstvoller Sprache keine Rede sein kann, so birgt das Thema viel sozialen Konfliktstoff: Eine inzwischen wohl situierte Frau lässt sich von ihrem gewalttätigen, ausländerfeindlichen Bruder manipulieren, weil sie das schlechte Gewissen aus der Kindheit umtreibt. Beide waren Waisen und ohne den Bruder gelang Helen der Aufstieg aus dem verlotterten Milieu besser. Gleichzeitig zieht sie ihren brav-bürgerlichen Ehemann so tief in die üblen Machenschaften des Bruders hinein, dass man ihre „unterschichtige“ Sehnsucht nach einem Mann der Tat spürt: Nicht nur distinguiert daherschwätzen, sondern auf die Straße gehen und auch mal einem Araber aufs Maul hauen, wenn es sein muss – eigentlich hätte sie das insgeheim ganz gern und entlarvt so selbst, woher sie kommt. Judith Rosmair zeigt diese Charakterdeformation sehr authentisch. Im Cocktailkleidchen sitzt sie zunächst beim Abendbrot und nimmt Schlückchen vom exquisiten Weißwein. Doch je weiter sich die Situation zuspitzt, desto mehr entpuppt sie sich als Tussi, die kein Mitleid mit sozial Schwächeren empfindet, weil diese sie an ihre eigene Herkunft erinnern, der sie entkommen will.

Überhaupt sind die Schauspieler großartig. Neben Rosmair auch Uwe Bohm als Ehemann Danny, der seine moralischen Zweifel an der Straftat, die ihn bis in sein Haus verfolgt, so gequält über die Rampe bringt, dass man mit ihm leidet: „Schmeiß die Schlampe doch raus und den missratenen Bruder gleich mit, die wollen dich doch nur ausnutzen“, möchte man dem armen Kerl zurufen, aber er rafft’s nicht und lässt sich immer tiefer verwickeln, bis er selbst schuldig wird. Und natürlich Johann von Bülow als Liam: Wie er zwischen brutal und weinerlich schwankt, wie er lügt und betrügt und seiner Schwester und ihrem Ehemann ihr Leben neidet. Wie die Minderwertigkeitskomplexe des Underdogs in Aggressionen umschlagen. Diesem Typen kann man keinen Zentimeter über den Weg trauen. Wer ihm nachts im Dunkeln begegnet, hat nichts zu lachen – ein mieser Charakter in seiner reinsten Verkörperung.

So endet die Sache ganz und gar nicht gut, sondern in einem gemeinsamen, rassistischem Mord. Doch obwohl es auf der Bühne aussieht, wie bei uns zu Hause, so ist das zum Glück eine Theaterillusion und wir sind unschuldig: Erleichterter Schlussapplaus. Lasst uns lieber gepflegt ein Glas Weißwein trinken gehen.

www.ruhrfestspiele.de




Aufbruch ins Reich der Freiheit: Schostakowitschs Zehnte Symphonie in Krefeld

Das musikalische Porträt einer Epoche – geht das? Ein Charakterbild in Tönen – ist das möglich? Wer Dmitri Schostakowitschs Zehnte Symphonie hört, wird dem zustimmen, auch wenn er das „Programm“ des Komponisten nicht kennt: Der erste Satz exponiert ein Motiv, das gewalttätig und verzerrt wirkt, führt es auf eine extrem geschärfte Art durch. Im vierten Satz will dieses Motiv noch einmal die musikalische Dominanz übernehmen, doch es wird verdrängt: Ein anderes setzt sich durch, das der Hörer im zweiten Satz kennengelernt hatte.

Schostakowitsch hat von diesem 1953 uraufgeführten Werk in seinen Memoiren behauptet, es gehe um die Stalin-Ära, ja um den Menschenschlächter selbst. Biografische Hinweise legen sich nahe, wenn das zweite Thema aus den Noten d-es-c-h, den Anfangsbuchstaben des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet wird. Doch man muss die Symphonie nicht als musikalische Genugtuung über den Tod des Diktators und das Überleben des Komponisten lesen: Schostakowitsch verbindet die formalen Ansprüche der klassischen Symphonie grandios mit einer modernen Ausdruckssprache, die damals wie heute in ihren Bann zieht.

Gemessen an ihrer Qualität stehen Schostakowitschs Symphonien immer noch zu selten auf den Spielplänen. Denn sie führen selbst internationale Spitzenorchester an ihre Grenzen. In Krefeld und Mönchengladbach wagten sich die Niederrheinischen Sinfoniker dran – und triumphierten auf ganzer Linie. Unter seinem Generalmusikdirektor Mihkel Kütson stellte sich das Orchester nicht nur den spieltechnischen Herausforderungen: Die Musiker trafen Atmosphäre und spezifischen Tonfall der aus dunklem e-Moll erkeimenden Symphonie, die sich dann tonal ein Reich der Freiheit erkämpft.

Der düstere Beginn im verschatteten Piano der tiefen Streicher ist ein Bild der Erstarrung. Die Musik kommt nicht von der Stelle. Die grelle Solo-Trompete bringt den unverwechselbaren Schostakowitsch-Ton ins Spiel – mit seinen dissonanten Blöcken, seinen hochgetriebenen Violinen und den harten Bläserkontrasten. Im Seidenweberhaus in Krefeld klingen solche Momenten öfter verschwommen: Sie überfordern die Akustik, nicht aber das Orchester.

Kütson lässt Piani färben, dass sie kriechend lauern wie eine Schlange, bereit zum Zupacken. Er zündet die Tuttischläge scharf und heiß wie die Flamme eines Schweißgeräts. Er hält in den Bläser-Eruptionen und den katastrophischen Zusammenbrüchen die unverstellte Gewalttätigkeit und den nackten Bruitismus der Musik fest, mit der sie in der Tat ein klingendes Dokument der Stalin-Ära wird. Man kann sich an den vier Sätzen nicht satthören: Die Sinfoniker überraschen stets aufs Neue mit ihrer reaktionsschnellen Präzision, dem Sog einer kraftvollen Phrasierung, aber auch der klanglichen Palette in den Soli – von skurril gellenden Einwürfen bis hin zur weichen Resignation kantabler Linien.

Für das viel gespielte Violinkonzert Jean Sibelius‘ haben die Sinfoniker mit Carolin Widmann eine Solistin gewonnen, die sich nicht mit den Zugpferden des Repertoires, sondern mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Einsatz für zeitgenössische Musik einen Namen gemacht hat. Sie macht schon mit dem sanft vibrierenden, schlanken, leuchtend erfüllten Ton der Einleitung klar, dass sie den schmerzgebärenden Gestus des „romantischen“ Virtuosen nicht übernehmen will. Details wie die traumsicheren Akkordgriffe oder die perfekten Sprünge auf der G- und D-Saite, das plastische Herausarbeiten von Details, der auch in schwierigsten Momenten souverän geführte Bogen sprechen für eine Solistin, die technisch problemlos in der Spitzengruppe heutiger Geigerinnen mithält.

Was nachhaltig für Widmann einnimmt, ist die musikalische Durchdringung des Sibelius-Konzerts: Der bewusst gestaltete Ton ist in der Farbe oder dem Charakter des Vibratos nicht am Zauber des schönen Moments orientiert. Er steht im Dienst einer komplexen Entwicklung, die großräumig gedacht und über die eine oder andere Phrase hinaus konzipiert ist. Das weckt beim Zuhören Entdeckerfreude und Spannung; das viel gehörte Konzert wirkt frisch und unverbraucht. Widmann schenkt dem Zuhörer den Aha-Effekt des neu Entdeckens, nicht des wohligen Wiedererkennens. So trägt der feinherbe, schimmernde Klang des „Adagio di molto“ im zweiten Satz eine edle Kantilene, führen die energischen Non-Legati und die stets zielführend gebildeten Repetitionen des dritten zu Sinn und Tiefe. Die Abstimmung mit dem Orchester klingt vorzüglich, Kütson ist ein engagierter, zuhörender Partner.

Begonnen hatte das Konzert mit Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – in der schroffen, unangepassten Urfassung ein Zeugnis für die visionären, von seiner Zeit nicht verstandenen klanglichen und formalen Entwürfe des Russen. Kütson hatte anscheinend ein wenig Respekt vor der eigenen Schneid: Er legte temperamentvolle Tempi und dynamische Entwicklungen vor, entschied sich im Zweifelsfall aber eher für den kultivierten Klang eines technisch versierten Sinfonieorchesters als für das Ausstellen sich aneinander reibender Dissonanzen und klanglicher Extreme, etwa in den sehr schön, aber nicht abgründig offen intonierenden tiefen Holzbläsern. Dazu begünstigt die Akustik des Krefelder Saales die Detailschärfe des Klangs nicht: Die krachenden Fortissimo-Exzesse gerieten so neblig wie ein Wintertag auf dem Brocken. Dennoch: Die Begegnung mit diesem Orchester – jenseits der Oper – gab einen überzeugenden Eindruck mit, der auf einige auch programmatisch ansprechende Konzerte der nächsten Saison 2014/15 viel Appetit macht.




„Mutti“ bei den Ruhrfestspielen: Die Große Koalition in Gruppentherapie

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Auf den ersten Blick ist es eine seltsame Idee: ein Theaterstück über eine Koalitionskrise im Jahr 2014, mit den Protagonisten Merkel und Gabriel, Seehofer und Von der Leyen, im Hintergrund läuft das WM-Finale. Ein Stück, dermaßen in der Gegenwart verhaftet, dass man einen vielleicht kurzweiligen, jedoch nicht unbedingt nachhaltigen Abend erwartet. Doch dann kommt „Mutti“. Das Stück von Charlotte Roos und Juli Zeh wurde jetzt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt.

Roos und Zeh bringen Theater und Tagespolitik zusammen und haben damit bereits zum zweiten Mal ein Genre erwählt, das man eigentlich vor allem aus Film und Fernsehen kennt: „Mutti“ ist eine politische Komödie, grandios umgesetzt in der Inszenierung des Deutschen Nationaltheaters Weimar unter der Regie von Hasko Weber.

Stephan Grossmann (Hellmann), Nadja Robiné (Angela), Michael Wächter (Sigmar) / Foto: Kerstin Schomburg

Stephan Grossmann (Hellmann), Nadja Robiné (Angela), Michael Wächter (Sigmar) / Foto: Kerstin Schomburg

Die vier Politiker treffen sich zur „Systemaufstellung“, einer Art Gruppentherapie, um bei Therapeut Hellmann (Stephan Grossmann) „soziale Interaktionen effektiver“ und „Konflikte sichtbar“ zu machen. „Entweder, Angela unterzieht sich einer Behandlung, oder ich lasse die Koalition platzen“, tönt Sigmar (Michael Wächter) in arroganter Chauvi-Pose. Horst (Sebastian Kowski) hat die heftigsten Widerstände: „Ich spiele hier doch kein Theater.“ Doch da liegt er ganz falsch: „Wir befinden uns stets im Zustand der Performance“, erklärt Hellmann.

Los geht es mit einer Familienaufstellung, bei der jeder Politiker die Rolle eines Familienmitglieds einnehmen und seine Gefühle in dieser Rolle offenlegen muss. Schnell fallen alle Beteiligten in die bekannten Muster: Sigmar und Ulla giften sich an, Angela (Nadja Robiné) hört mit heruntergezogenen Mundwinkeln vor allem zu, Horst will zurück nach Bayern.

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Echte Kommunikation kommt erst in Gang, als es gilt, gemeinsam Gefahren abzuwenden: Während des laufenden WM-Finales in Rio (Deutschland gegen Spanien!) werden 70 Arbeiter auf Baustellen für die WM 2022 in Katar von Sicherheitskräften ermordet, was einen Aufstand vor dem brasilianischen Stadion provoziert. Bald herrscht Sicherheitsstufe rot. Zudem rücken Angela und Sigmar damit heraus, dass am Montag eine historische Rede ansteht: Griechenland ist endgültig zahlungsunfähig, Deutschland muss seine Milliarden-Bürgschaft einlösen. Angela braucht dringend den deutschen WM-Sieg, um die schlechte Nachricht im Siegerjubel untergehen zu lassen.

Nadja Robiné (Angela), Sebastian Kowski (Horst), Michael Wächter (Sigmar), Anna Windmüller (Ulla) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela), Sebastian Kowski (Horst), Michael Wächter (Sigmar), Anna Windmüller (Ulla) / Foto: Kerstin Schomburg

Also übt Angela ihre Rede, ballt zaghaft ihre Faust, spricht selbst in freier Rede steif von „Aggregatzuständen“ und „Parametern“ – ein hoffnungsloser Fall in den Augen von Sigmar und Ulla, die sich bei erstbester Gelegenheit in den Vordergrund drängen und zeigen, wie man „die Menschen da draußen“ wirklich begeistert.

Saukomisch, wie Sigmar dickbäuchig den Moonwalk tanzt und die nervtötend gut gelaunte Ulla (Anna Windmüller) mit schwarz-rot-goldenen Cheerleader-Pompons auftrumpft. Doch Angela bleibt dröge: „Für mich kommt Pathos nicht in Frage. Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden.“ Nur wenn es um Fußball geht, taut die Kanzlerin auf, reckt die Arme und bellt dem Bundestrainer energische Anweisungen in den Hörer.

Der Therapeut wechselt resigniert die Methode: Tango! Wer führt, wer lässt sich führen? Sigmar behält tanzend scheinbar die Oberhand, lässt Angela drehen und sich rückwärts neigen – und liegt plötzlich strauchelnd am Boden. Hat Angela ihm etwa ein Bein gestellt? Dieser Tangotanz, soviel sei verraten, nimmt das Ende des Stücks quasi vorweg.

Natürlich: Die vier Politiker sind so angelegt, dass der Zuschauer schmunzelnd bis laut lachend alle bekannten, weil medial vermittelten Klischees bestätigt findet. Ursula von der Leyen unterstützt Merkel allzu offensiv, sieht sich aber schon als Kanzlerin. Der ein wenig bräsige Seehofer hat vor allem den bayerischen Mittelstand und seine nächste Brotzeit im Sinn. Wie könnte es anders sein, wenn Personen der Zeitgeschichte als Theaterfiguren auf der Bühne stehen.

Doch die Schauspieler haben ihre Rollenvorbilder zu genau studiert und sind zu gut, um ihre Figuren zur Karikatur verkommen zu lassen. Den Autorinnen wiederum ging es offenkundig auch nicht darum, Psychografien der politischen Klasse auf die Bühne zu bringen. Es ging darum, (bekannte) Macht-Mechanismen geistreich, unterhaltsam und entlarvend in Szene zu setzen, mit den Mitteln der Komödie und am Theater – einem Ort, an dem politische und gesellschaftliche Realitäten ansonsten mit arger Verzögerung ankommen.

Details zum Stück und Termine hier




Herzig und zuversichtlich: Wie der Kulturkanal arte über Dortmund berichtet

Auf den Kulturkanal arte halte ich größere Stücke. Wenn man sich denn aufs Medium Fernsehen einlässt, finden sich hier und bei 3Sat Inseln im Meer der Verdummung. Also habe ich mich jetzt gefreut, dass dort ein Film über Dortmund auf dem Programm stand.

Tatsächlich wurde da gelobhudelt, dass es nur so seine Art hatte und dem Lokalpatrioten schmeichelte. Die hauptsächliche Botschaft des 25 Minuten langen Films: Es gebe in ganz Deutschland wohl keine andere Stadt, die nach Krisen und Katastrophen so oft wieder aufgestanden ist wie Dortmund. Ein idealer Ort also für den Fünfteiler „Eutopia“ über Zukunftsvisionen in Europa, der außerdem nach Krakau, Toulouse, Maastricht und Tallinn führt.

Sarah Schill spricht mit dem Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Sarah Schill spricht mit dem Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Gewiss, es wurden auch kurz ein paar Probleme benannt. Schwieriger Strukturwandel, hohe Arbeitslosenzahlen, gesellschaftliche Verwerfungen in der Nordstadt, rechtsradikale Umtriebe. Doch der Grundtenor des Films war ungemein zuversichtlich, so dass der seit jeher hier wohnende Filmemacher Adolf Winkelmann in diesem Rahmen schon als kritischste Stimme gelten musste. Er findet seine Heimatstadt spannend, weil man hier so viel Wirklichkeit spüre wie kaum anderswo im Land, er zweifelt aber am Erfolg der gängigen Zukunftskonzepte.

Der Oberbürgermeister – wer hätte das gedacht?

Geradezu herzig wurde der Film durch die immer und immer wieder ins Bild gerückte Protagonistin: Sarah Schill, in den arte-Pressetexten meist nur liebevoll beim Vornamen genannt, hat alle fünf erwähnten Städte bereist und erzählt in der Ich-Form. Sie wird nicht müde zu betonen, wie sehr Dortmund sie interessiert und wie sie sich auf alle neuen Eindrücke einlassen will. Gefühlte 10 von 25 Filmminuten sieht man ihr allzeit neugieriges und frohgemutes Gesicht.

Sarah Schill radelt mit Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau am Phoenix-See (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Sarah Schill radelt mit Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau am Phoenix-See. (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Kaum ist sie in der Stadt angekommen, begibt sich Sarah Schill schnurstracks zum Kulturzentrum „Dortmunder U“ und umarmt zur Begrüßung die Sprecherin des Hauses wie eine alte Freundin. Es ist eine Kronzeugin für Dortmunds Aufbruch zu neuen Ufern. Hingegen kommt kein Kritiker des finanziell ins Schlingern geratenen Großprojekts zu Wort. War’s etwa ein Bericht am Gängelband der Stadtpressestelle?

Nun gut, der Beitrag wurde im arte-Nachmittagsprogramm (Mittwoch ab 15.55 Uhr) versendet, da verlangt man vielleicht keine Höchstleistungen. Man möchte aber auch nicht für dumm verkauft werden. Sarah Schill begegnet beim Radeln rund um den neu angelegten Phoenix-See (der auch nicht nur Befürworter hat) einem Herrn in den mittleren Jahren, der offenbar recht kundig für das Renommier-Gewässer wirbt. Woher er sich denn so gut auskenne, möchte Sarah Schill wissen. Nun, er sei einmal Planungsdezernent gewesen und jetzt sei er Oberbürgermeister. Gestatten, Ullrich Sierau, SPD. Nein, wie überrascht sich Sarah Schill da zeigt. Der Oberbürgermeister! Ja, wer hätte das gedacht? Vielleicht die Redaktion, die das Radlertreffen doch wohl von langer Hand vorbereitet hat?

Übrigens: Am kommenden Sonntag ist in Dortmund nicht nur Europawahl, sondern es werden auch Kommunalwahlen abgehalten – und Ullrich Sierau bewirbt sich erneut um den OB-Posten. Ein Schelm, wer sich dabei was denkt.




Die Landkarte der wechselnden Launen – „Deutschlandreisen“ von Helmut Krausser

Was erwartet man, wenn ein Schriftsteller vier Lesetourneen absolviert hat und dann ein Buch „Deutschlandreisen“ nennt? Wahrscheinlich doch Anmerkungen über den oder jenen Landstrich und seine Bewohner, womöglich auch Sticheleien oder gar vernichtende Urteile über gewisse Gemeinden.

Diese Erwartungen enttäuscht Helmut Krausser gründlich. Die Städte, in denen der Autor zwischen 2006 und 2012 zu Gast war, stiften ihn nur selten zu substanziellen Bemerkungen an. Und so wird Augsburg kurz abgefertigt, gibt es einen Ulk über Ulm, wird Stuttgart achtlos gestreift, Heidelberg en passant behandelt, Freiburg kurzerhand als belanglos abgetan. Köln ist hässlich, die Leute dort sind aber freundlich und bei Lesungen allzeit lachbereit. In Nürnberg läuft nichts Vernünftiges im Kino, Dresden findet der Autor kulissenhaft, Flensburg zauberhaft, Lübeck ist recht schön, weckt aber den Unmut über Thomas Mann. Und so weiter. Die Schönheitstrophäe trägt übrigens Potsdam davon. Und auch Wismar ist schmuck.

8094_DEUTSCHLANDREISEN_CMYK-300

Oft fällt Krausser zu den Städten lediglich ein, ob sie mit seiner eigenen Publikations- oder Aufführungsgeschichte zu tun haben. Beispiel: „Eisenach: Hier wurde nie etwas von mir aufgeführt, und es regnet. Wartburg durcheilt, Bachhaus gegrüßt, Lutherhaus links liegengelassen…“ Ein passender Titel für weite Strecken des Textes wäre gewesen: „Auf Ego-Trip durch Deutschland“. Nach der Lektüre ließe sich eine Landkarte der wechselnden Launen zeichnen. Der Klappentext erweist sich jedenfalls als Geflunker: „Krausser charakterisiert Städte aufmerksamer und sensibler als andere Autoren ihre Romanfiguren.“ Es sei denn, wir redeten von Heftchenromanen.

Doch natürlich erschöpft sich das Buch nicht darin. Krausser streut Kapitel aus seinen Münchner Poetik-Vorlesungen ein, die vom Pathos-Begriff handeln. Arg verkürzt gesagt: Angesichts grassierender Ironie solle man ruhig wieder mehr Pathos riskieren. Nicht zu viel nachdenken, keine Angst vor Kitsch haben, in allen Künsten lieber tonal, narrativ und figürlich schaffen als abstrakt. Darüber ließe sich immerhin debattieren.

Zwischendurch gibt’s häufig wohlfeile Rezensentenschelte, vor allem gegen die – so Kraussers Sicht – Dilettanten der landläufigen Opernkritik. Oder gleich ganz pauschal: „Im Journalismus sucht man gereifte Menschen leider oft vergeblich. Man gerät an böse, frustrierte, tyrannische Kinder, die glauben, ihnen gehöre die Welt.“

Vor allem nimmt es Krausser der Kulturjournaille übel, dass sie von seinem Buch über den nahezu vergessenen Komponisten und Puccini-Zeitgenossen Alberto Franchetti kaum Notiz nimmt oder es nicht als Entdeckertat würdigt. Furor auch auf diesem Felde. Über „Florian I.“ (Illies) heißt es: „Wie winzig er ist. Ich könnte auf ihn treten und sagen, es war ein Versehen.“ Und die „Zeit“ gilt ihm sowieso in Bausch und Bogen als pesudointellektuelles Revolverblatt.

Krausser selbst erlaubt sich steile Thesen und grässlich ignorante Urteile etwa über Brahms, Claude Chabrol, Bob Dylan oder Thomas Bernhard („Kaum ein Satz von diesem Homunculus, der nicht nach Scheiße schmeckt. Ein unglaublich dummer, ekelhafter Proll.“) und versteigt sich zu einem derartigen Satz ohne jede historische Rücksicht: „Irgendwann wird dieses von Schönberg und Konsorten ausgehende Intermezzo der Musikkultur von der Zukunft als gewissermaßen geisteskranke Zeit bezeichnet werden.“ Gewissermaßen. Geisteskrank. Der Ton macht die Musik.

Wir müssen uns aber wohl nicht darüber grämen, dass Ernst Jünger und Céline zu Kraussers literarischen Leitsternen zählen. Das politisch gegen ihn zu wenden, wäre sicherlich ungerecht. Auch Hemingway, Bukowski, Fallada, Friedo Lampe und Robert Gernhardt gehören ja erklärtermaßen in diese Reihe. Dass Krausser im Faschismus eine revolutionäre Idee sieht, die „nicht einfach als Biertischhybris sadistischer Idioten abgetan werden kann“, könnte allerdings schon Widerworte auslösen. Über Grass’ „Blechtrommel“ und deren Hauptfigur Oskar heißt es sodann: „Unerträglich. Heute geht dieses Gör wohl jedem auf die Nerven in seinem angemaßten Gutmenschentum.“ Dieses diffamierende Wort hat noch gefehlt. Und nach all dem fragt sich Krausser: „Warum polarisiert mein Werk?“ Ja, warum nur?

Aber hören wir auf damit, bevor Krausser auch hier gleich wieder eine Gedankenpolizei am Werk sieht, die seine schöpferischen Energien verkennt. Sein Buch enthält – neben mancherlei Ressentiments – denn auch durchaus anregende Passagen und Gedanken, die einem nachgehen. Hier eines von etlichen Beispielen, in denen Wahrheit und Weisheit walten und bei denen er sich nicht auf der Klaviatur vergreift: „…jeder macht, sofern er kann, mehr aus sich, als er ist, das ist begreiflich vor dem Nichts, das uns erwartet.“ Wo Krausser so ruhig und abgeklärt spricht, überzeugt er mehr als mit allem Geschrei.

Helmut Krausser: „Deutschlandreisen“. DuMont Verlag, 302 Seiten, 19,99 Euro.




Massenet im Focus (II): „Thaïs“ in Bonn als Studie zu Hysterie, Begierde und Religion

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets "Thais" am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets „Thaïs“ am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Sexualität, Psychoanalyse, Religion: Die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts konnten diesem Spannungsfeld nicht entkommen. Faszination und Erschauern begleiteten es. Die katholische Kirche in Europa formulierte ihr tiefes Misstrauen gegen die gerade aufbrechenden Strömungen der Psychoanalyse, verschanzte sich hinter der Bekräftigung moralischer Konzepte und Urteile, die Jahrhunderte lang gegolten hatten. Die Moderne glaubte dagegen an einen Weg aus einer drückend empfundenen intellektuellen Erstarrung hin zu neuen Ufern der Erkenntnis und der geistigen Entwicklung.

1894, als der gläubige Katholik Jules Massenet seine Oper „Thaїs“ in Paris zur Uraufführung brachte, waren Sigmund Freuds „Traumdeutung“ und seine Studien zur Sexualtheorie noch nicht erschienen. Doch das Thema seines ersten Werks („Studien über Hysterie“, 1895) war allgegenwärtig. Wenn man so will, ist das Libretto zu „Thaїs“ eine theatralische Studie zum Thema Hysterie: Auf dem Roman von Anatole France fußend, spaltet es nicht eine einzelne Person, sondern die Welt in Heiligkeit und Verderbnis, in Sumpf und Glorie, in Erlösung und Verdammnis.

Die Repräsentanten dieser „hysterischen“ Spaltung sind die Kurtisane Thaїs, die mittels Schönheit und sexueller Raffinesse eine Großstadt wie Alexandrien in ihrem Bann hält, und der Mönch Athanaël, der die Wüste mit dem Geist der Askese und der Frömmigkeit erfüllt. Der eine macht sich auf, die andere zu bekehren. Das gelingt, aber anders als vorgesehen: Am Ende repräsentiert Thaїs das Keusche und Heilige, während sich Athanaël in den Fängen der sexuellen Begierde windet.

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von "Thais". Foto: Thilo Beu

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von „Thais“. Foto: Thilo Beu

Die berüchtigte „Méditation“, das Zwischenspiel mit Solo-Violine, einst vielgehört in Wunschkonzerten und von Kurorchestern, steht in der Oper am Wendepunkt dieses inneren Geschehens. Massenets betörende Melodie symbolisiert religiöse Verzückung, nicht etwa die wollüstige Sinnlichkeit, die sie aufs erste Hören zu verströmen scheint. Sie wird zum Leitmotiv einer sich in Glaubens-Inbrunst reuevoll verzehrenden Thaїs.

Was für ein Stoff – und was für eine Vertonung! Massenet streift die ästhetischen Kunstwelten der Symbolisten, führt sie aber nicht – wie Claude Debussy oder Erich Wolfgang Korngold – weiter. „Thaїs“ erinnert eher an den französischen Exotismus – und Massenet bedient sich auch der musikalischen Kennzeichen dieses Stils, etwa der Melismatik oder einer harmonisch prickelnden Chromatik.

In Thaїs begegnen uns die Odalisken der schwülen Malereien ebenso wieder wie die von Süße durchdrungenen Heiligen in den Kirchen der Jahrhundertwende. Hingabe unter jeweils anderen Vorzeichen, Leben an der Borderline: das zeichnet diese Kunstgestalten aus.

Der Augenmerk Massenets liegt dabei auf Thaїs: Ihre innere Wandlung ist ein dem Wort entzogener, allein der Musik anvertrauter Vorgang. Vorbereitet wird die Transformation allerdings in einer ausgedehnten Szene, in der die Venuspriesterin Thaїs – der religiöse Aspekt der Sexualität wird nicht ausgeblendet – ihre Maximen von Schönheit und Ewigkeit befragt. Athanaël liefert ihr das Stichwort: „vie éternelle“. Das ewige Leben, ist es, das die suchende Frau fasziniert, die „Glückseligkeit, die niemals enden wird“. Der Mönch zeigt sich gleichzeitig als wortgewaltiger, überzeugender Prediger, aber auch als moralischer Fundamentalist: Am liebsten würde er ganz Alexandrien vernichten. Und sein Begriff der Liebe ist ein idealistisch verbrämtes, supranaturalistisches Konstrukt: Nie habe er jemanden geliebt, erklärt er. Er liebe nur „die Liebe“.

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

So eine Vorlage müsste eigentlich jeden Regisseur Blut lecken lassen. Doch Francisco Negrin ist an der Oper Bonn, die Massenets Werk – nach dem Theater Lübeck – endlich einmal in Deutschland auf den Spielplan gesetzt hat, nicht in geistige Tiefenschichten vorgedrungen. Rifail Ajdarpasic hat ihm eine räumlich aufwändige Bühne gebaut, deren symbolische Anlagen nicht konsequent genutzt werden und im Lauf des Abends in die Schauplatz-Bebilderung abgleiten. Dabei wäre mit den geometrischen Formen von Kreis und Rechteck, mit der Wirkung des opulent eingesetzten Lichts (Thomas Roscher), auch mit den stilvollen Kostümen Ariane Isabell Unfrieds ein Potenzial visueller Deutung zu aktivieren gewesen. Aber wenn der auf Stelzen stehende Rechteck-Kasten im zweiten Bild – Kontrast zur runden Höhle des Eremiten Athanaël im ersten Bild – beliebig zurechtgerückt wird, wenn die runde Scheibe, in der Thaїs erscheint, zwar als Konkurrenz zur religiösen Sphäre der Mönche verstanden werden könnte, dann aber nicht ausgespielt wird, bleiben die Bilder inhaltlich unerfüllt.

Mit der Personenregie geht es ähnlich: Negrin lässt den Athanaël in der athletischen Gestalt von Evez Abdulla sich auf einem Kreuz winden, gibt ihm auch später heftige Gesten der Emotion. Wirklich glaubwürdig wird die Figur in ihrer Faszination und ihrem Furor damit nicht. Auch Thaїs soll mal mit statuenhaften Haltungen, mal mit dem üblichen schwülstigen Bewegungsrepertoire der exotischen Kurtisane ein Profil gewinnen, das der Figur versagt bleibt. Hat Negrin ein szenisch-gestisches Element – wie die kreuzförmig ausgebreiteten Arme des Athanaël –, dann fehlt ihm die szenische Konsequenz, die es zu einer über den Moment hinausgehenden Chiffre machen würde. Diese „Thaїs“ wirkt wie das schüchtern die Moderne antastende Bildertheater der siebziger Jahre.

Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn setzt gegen die zagende Szene eine höchst klangbewusste, atmosphärisch mutig ausgeleuchtete musikalische Interpretation: Wie schillerndes Öl verlaufen Töne ineinander, wie duftender Rauch ziehen exotische Farben durch tragende Säulen des Klangs. Und Konzertmeister Mikhail Ovrutsky gibt dem Violinsolo die verzückte Süße des Moments, ohne seinen feinen Ton an Kitsch zu verraten. Im Orchester stehen subtil ausgekostete Momente neben wenigen plump unkonzentrierten Holzbläserstellen, sanfter Streicherbrokat neben ein paar Webfehlern etwa in den Celli: Ein paar Kanten wären also noch abzuschleifen.

Die Besetzung hält das beachtliche Niveau des Abends: Nathalie Manfrino in der Titelpartie überzeugt durch präsenten, brillant gebildeten Ton und mit ihrer Kunst, die Facetten der Figur zwischen glamouröser Oberfläche, existenzieller Verunsicherung und verwandelnder Erfahrung der göttlichen Liebe stimmlich zu beglaubigen. Priit Volmer als mahnender alter Mönch Palémon und Mirko Roschkowski als junger Alexandriner Nicias zeigen ebenso wie Susanne Blattert als Wüstenkloster-Äbtissin Albine Stimmkultur und sichere Technik. Für die umfangreiche, herausfordernde Partie des Athanaël – eine Paraderolle für jeden Bariton mit dramatischer Anlage – bringt Evez Abdulla die kraftvolle Substanz und die souveräne Reserve mit. Stilistisch bleibt er der Sprache des Verismo verhaftet: Geschmeidiger Glanz ist seine Sache nicht, zumal ein kehligen Beiton und besonders zu Beginn ein gurgelndes Vibrato den freien Glanz des Tons beeinträchtigen.

Das Theater Bonn hat wieder einmal auf ein vernachlässigtes Werk aufmerksam gemacht. Die lange Reihe bemerkenswerter Aufführungen (erinnert sei an Eugen d’Alberts „Der Golem“, Franz Schrekers „Irrelohe“ und „Der ferne Klang“, ein Paul-Hindemith-Triptychon und jüngst Walter Braunfels‘ „Der Traum ein Leben“) setzt sich mit „Thaїs“ erfreulich fort. 2014/15 wird dieser konzeptionelle Faden mit Richard Strauss‘ „Salome“ mit einem Stück des eisernen Repertoires fortgesponnen; doch mit Verdis „Giovanna d’Arco“ und der deutschen Erstaufführung von Julian Andersons „Thebans“ – einer Nacherzählung von Sophokles‘ thebanischen Tragödien – dürfte der Oper Bonn wieder überregionales Interesse sicher sein. Bleibt zu hoffen, dass die Bonner Lokalpolitik auch nach den Kommunalwahlen des 25. Mai erkennt, welchen Schatz sie mit einem solch kreativen Opernhaus in ihren Mauern hütet.




TV-Nostalgie (17): „Wünsch Dir was“ – als Dietmar Schönherr für Skandale sorgte

Kandidat in unbequemer Haltung: Dietmar Schönherr befragt den Sohn einer Familie, Vivi Bach schaut zu. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Kandidat in unbequemer Haltung: Dietmar Schönherr befragt den Sohn einer Familie, Vivi Bach schaut zu. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Das waren noch Zeiten, in denen eine Show wie „Wünsch Dir was“ als „antiautoritär“ galt. Die Familienspiele mit Dietmar Schönherr und seiner Frau Vivi Bach liefen von Ende 1969 bis Ende 1972 im ZDF und produzierten damals mehrere Skandale.

Wenn man sich das heute noch einmal ansieht, staunt man über Fernsehen wie aus einer anderen Welt. Damals war es innovativ und gab sich „querdenkerisch“, heute wirkt es seltsam altbacken. Jeweils drei Familien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz traten gegeneinander an. Wie adrett und bieder das Publikum und die Kandidaten seinerzeit noch wirkten! Und worüber man sich damals noch empören konnte!

Empörung über eine rote Nelke

Beispiel: Am 27. März 1971 (Live-Übertragung aus der Wiener Stadthalle) wagte es Dietmar Schönherr, damals mit maßvoller „Pilzkopf“-Frisur, eine rote Nelke im Knopfloch zu tragen. Etliche Zuschauer riefen an und beschwerten sich über diesen „politischen Affront“. Sichtlich verärgert, legte Schönherr mit ein paar bissigen Bemerkungen die Blume weg. Er hatte nun einmal den Ruf, „links“ zu sein und war einigen Anfeindungen ausgesetzt.

Riskantes Wettspiel im Wasserbassin

In derselben Sendung gab es allerdings einen handfesten Aufreger, der in die bundesdeutsche Fernsehgeschichte eingegangen ist. Zwei je vierköpfige Familien wurden nacheinander in ein Auto verfrachtet und so in ein drei Meter tiefes Wasserbassin versenkt. Einer Frau gelang es nicht, aus eigener Kraft ihre Tür zu öffnen. Sie musste von einem der Rettungstaucher befreit werden. Das war nun wirklich ein riskantes Wettspiel. Es passte sozusagen in eine Zeit, in der nicht einmal Sicherheitsgurte üblich waren.

Wettspiel mit versenktem Auto... (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Wettspiel mit versenktem Auto… (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

In einer vorherigen Ausgabe der Show hatte sich im November 1970 eine 17jährige Kandidatin in durchsichtiger Bluse blicken lassen. Auch darüber erregten sich Millionen. Viele Jahre später hat Schönherr tatsächlich bekannt, dass er mit seiner Show die „heile Welt“ der Familie unterlaufen wollte. Ob er zu diesem Zweck immer die richtigen Mittel gewählt hat? In manchen Momenten (Spiel mit Riesenschlangen etc.) war „Wünsch Dir was“ fast ein früher Vorläufer der Ekelshows.

Abstimmung mit dem Lichtschalter

In der Show vom März 1971, die ich mir noch einmal ganz angeschaut habe, fällt aus heutiger Sicht auf, wie umständlich und manchmal sogar etwas ungelenk die neckischen Wettspiele (Ideen kamen u. a. von André Heller) umgesetzt wurden. Schönherr war nicht immer nur charmant, sondern würgte Kandidaten auch schon mal mitten im Satz ab.

Trotzdem überzog Dietmar Schönherr mit diesem „Straßenfeger“ (Quote bis zu 66%) meistens die Sendezeit. Für die eher niedlichen Momente war ja auch vor allem Vivi Bach zuständig, die sich ihm als Assistentin deutlich unterordnete. Geradezu putzig übrigens die Abstimmungstechnik: Zuschauer in einer bestimmten Stadt sollten daheim die Lichter an- oder ausschalten, ein Mann vom E-Werk verkündete dann am zugeschalteten Telefon, um wie viele Megawatt der Verbrauch sich verändert hatte.

Eine ganz zentrale Rolle in der Sendung, die unter Federführung des österreichischen Fernsehens (ORF) entstand, spielte das Wort „autoritär“. Immer wieder wollte Schönherr wissen, ob etwas autoritär sei oder nicht – ganz offensichtlich eine Nachwirkung des rebellischen Jahres 1968. Lang, lang ist’s her.

_____________________________________________

Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16)




„Paris um jeden Preis“: Kino-Komödie zum Konflikt der Kulturen

Maya stammt aus Marokko. Doch sie lebt schon 20 Jahren in Paris und ist mit ganzem Herzen Französin.

Die Sprache ihrer Heimat kann sie weder verstehen noch sprechen. Warum sollte sie auch, ist sie doch ständig mit ihren französischen Freunden unterwegs und in der Modebranche zuhause. Ihr ganzes Leben kreist um ausgefallene Stöckelschuhe und den neuesten Look. Wenn ihre Ideen für die aktuelle Kollektion ankommen, könnte sie endlich die lang erhoffte Festanstellung in einem bekannten Modezar bekommen.

Maya (Reem Kherici) muss sich unversehens in Marokko zurechtfinden. (Bild: © polyband Medien GmbH)

Maya (Reem Kherici) muss sich unversehens in Marokko zurechtfinden. (Bild: © polyband Medien GmbH)

Doch dann geschieht das für Maya völlig Unfassbare: Als sie nachts in eine Polizeikontrolle gerät, stellt sich heraus, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung längst abgelaufen ist. Schon am nächsten Tag, da kennen die Franzosen kein Pardon, wird sie abgeschoben und sitzt im Flieger gen Marokko.

Plötzlich lebt die schicke Mode-Zicke mitten unter verschleierten Frauen, läuft sich mit ihren High-Heels auf staubigen Straßen die Füße wund und muss sich ständig die Vorwürfe ihres Vaters anhören, der meint, sie habe sich dem westlichen Satan verschrieben und führe ein lasterhaftes Leben. Fortan kreisen Mayas Gedanken nur um eines: Wie kann ich so schnell wie möglich wieder nach Paris kommen?

„Paris um jeden Preis“ ist ein ebenso flotte wie oberflächliche Komödie über alle Klischees, die wir über den Konflikt der Kulturen so gern pflegen. Ob Europäer oder Araber, Modemenschen oder Muslimbrüder, sie alle bekommen ihr satirisches Fett weg und werden durch den Kakao gezogen.

Aber richtig ans Eingemachte gehen und wehtun soll das nicht. Alles dreht sich um Reem Kherici, sie hat das Drehbuch geschrieben, führt Regie und spielt die Hauptrolle. Wahrscheinlich hatte niemand am Set den Mut ihr zu sagen, dass auch andere gelegentlich Luft zum Atmen brauchen und mehr als nur Stichwortgeber für überkandidelte Gags sein wollen.

Die um Maya alias Reem Kherici kreisenden Figuren sind mithin etwas flach und flau geraten, dafür aber immer brüllkomisch. Kaum verwunderlich, dass am Schluss alles so kommt, wie man es erwartet hat: Maya schöpft aus der ihr zunächst so fremden Heimat emotionale Kraft und kreative (Mode-)Fantasie und kehrt – rundum geläutert – auf (illegalen) Pfaden zurück in ihre Wahlheimat. Aber um jeden Preis, wer hätte das gedacht, muss sie, die das Leben und die Liebe ganz neu begriffen hat, nicht mehr in Paris leben. Geht’s noch ein wenig einfacher?

(Kinostart 22. Mai)




Eine Inszenierung vernichtet sich selbst – „Purpurstaub“ bei den Ruhrfestspielen

Wer heutzutage ins Theater geht, braucht eine steife Oberlippe (wie die Briten sagen). Augen zu und durch und keine Schwäche zeigen! Auch wenn die Aufführung grauenvoll ist, wenn man sich für dumm verkauft fühlt und wenn man nicht ein Fitzelchen von dem bekommt, was man sich nach Kenntnis des Stücks (naiv, wie man ja immer wieder antritt) erhofft hatte. Und man erinnert sich an Horst Köhlers Forderung nach irgendwie „vorlagengerechter“ Inszenierung, die zwar von großer Ahnungslosigkeit getragen war, ihren Urheber aber sympathisch machte.

Purpurstaub_01_JU_OSTKREUZ_honorafrei

Noch sind sie alle fröhlich. Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

Die Rede ist von „Purpurstaub“, der abgründigen Komödie von Sean O’Casey, die ihren Honig aus dem schwierigen Verhältnis zwischen Engländern und Iren saugt, zwischen neureichen, kulturlosen Dummköpfen und Eingeborenen, die es ihnen gründlichst zeigen (und ihnen überdies, wir bitten die politisch unkorrekte Formulierung zu entschuldigen, aber genau das ist gemeint: die Weiber ausspannen).

Aus dem Stoff ließe sich viel machen. Regisseur Sebastian Hartmann macht daraus – in einer Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit den Ruhrfestspielen – eine Versammlung von sechs burlesken Gestalten, die mit wechselnden Rollenzuschreibungen eine Geschichte vermitteln sollen, die man aber kaum erkennt, wenn man sie nicht kennte.

Es müssen ja so viele originelle Inszenierungs-Ideen untergebracht werden! Da wird das wohlige Zusammensein im frisch erworbenen „Tudor-Schlößchen“ zur endlos währenden, theatervernebelten Versammlung rund um eine Wasserpfeife, reduziert sich die Exposition auf einen endlos langen, maskenhaft fröhlichen irischen Volkstanz vor zugezogenem Vorhang, verkommen einstmals geschliffene Dialoge zu plumpem Bauerntheater zum Zwecke des Handlungsfortschritts.

Und die besten Witze sind natürlich die, die man selber macht. So schwäbeln einige Darsteller bis zum Überdruß, was wohl ihre Fremdheit im fremden (Ir-)land betont und was sich schlaue, weltgewandte Dramaturgen bestimmt in Boomtown Berlin abgeguckt haben, wo die bösen Zuzügler, die die Einheimischen qua Gentrifizierung aus ihren Wohnung vertreiben, angeblich vor allem aus Schwaben stammen. Der Schwabe ist dort – Schwaben raus! – fast schon ein Schimpfwort. Und das im Schauspiel der Schwabenmetropole Stuttgart, lustig, lustig.

Purpurstaub_02_JU_OSTKREUZ_honorafrei

Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

All das, wie gesagt, wäre man letztlich ja bereit zu erleiden, wenn künstlerischer Mehrwert sich an irgendeiner Stelle des Geschehens zeigte. Hier allerdings ist Demontage von Anfang an das Grundprinzip. In der vierstündigen (!) Veranstaltung, verkünden Plakate wie auch die Damen an den Kassen, sei eine Pause nicht vorgesehen. Man solle den Theatersaal nach Belieben verlassen und aufsuchen, wenn einem später wieder danach sei. Super-Idee! Die Erosion der Handlung (wg. Dauerregen geht schließlich alles wortwörtlich den Bach runter) spiegelt sich in einer auf Erosion angelegten Inszenierung!

Das Publikum hat auch fleißig mitgespielt. Um die zwei Drittel verließen im Lauf der Zeit den Saal, das Parkett war zum Ende hin sehr luftig besetzt. Aber was soll das? Bringt das irgendwen zum Nachdenken? Und was für ein respektloser Umgang mit den Schauspielern ist dies, die trotz aller Zumutungen dieser Produktion doch gerne und vor großem Publikum gezeigt hätten, was sie drauf haben. (Und wir hätten es auch sehen wollen!)

Kritik geht aber auch an die Adresse der Ruhrfestspiele. Von ihnen hätte man erwarten können, daß sie einen warnen. Dies war nicht, wie im Programmheft verkündet, „Purpurstaub von Sean O’Casey““, dies war besten- resp. schlimmstenfalls ein Machwerk nach einigen Motiven der Vorlage. „In beißenden Dialogen schildert der Text den vergeblichen Versuch, das eigene Leben mit diffusen Wünschen zu versöhnen“, können wir im blauen Heftchen lesen, doch gesehen haben wir Klamauk. Die wenigen klugen Sätze, die es aus der Vorlage bis auf die Bühne schafften, starben hier einen schnellen, unbemerkten Tod. Dem Kollegen von der WAZ, der in dieser Produktion schlichtweg eine Katastrophe erblickte, ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Die nächste Produktion im Großen Haus ist Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“, ebenfalls Schauspiel Stuttgart, aber inszeniert immerhin vom jugendlichen Altmeister Jan Bosse. Der hat auch Becketts „Endspiel“ inszeniert, das vor wenigen Tagen als Veranstaltung der Ruhrfestspiele im Theater Marl mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch zu sehen war. Ganz großes Theater! Und deshalb hoffen wir, dass der Bergman auch schön wird.

www.ruhrfestspiele.de




„Simst“ du noch oder „whatsappst“ du schon?

Sprachen leben, sie werden von lebendigen Wesen zur Kommunikation genutzt. Und so verändern sie sich auch im Laufe der Lebenszeiten dieser lebendigen Wesen ständig, was manchem der Wesen sauer aufstößt. Andere sehen’s gelassen und machen mit. Bisweilen sind aber auch die Toleranz-Boliden unter den Sprachliebhabern vor arge Verständnisprüfungen gestellt.

„Moment, ich stumme mal eben mein Handy“, schnappte ich unlängst auf und begann spontan in eine Form des Grübelns zu geraten, die mit „Hirnzermarten“ treffender beschrieben wäre. Nach endlos erscheinenden Sekunden der Ratlosigkeit glimmte es erleuchtend auf: Der junge Mensch – und ich vermute mal sein gesamter Freundeskreis – hatte dieses mir bis dahin nicht geläufige Verb entwickelt, um seinen jeweiligen Gegenübern zu bedeuten, dass er sein Mobiltelefon „auf stumm“ schalten werde, damit dessen wie auch immer gearteter Klingelton die Unterhaltung nicht stört.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Ich verstummte lieber, als dass ich eine neugierige Frage an ihn richtete und mir einen verständnislosen Blick einhandelte. Okay, dass ich mal eben ein paar Informationen „google“, daran habe ich mich ja gewöhnt, nutze diese ganzneudeutsche Vokabel auch selbst gern, weil es keine bessere  und vor allem kürzere Kennzeichnung des dazugehörigen Tuns an PC, Tablet oder Cellphone (deutsch: Handy) gibt. Jeder Versuch einer umgangssprachlichen Verknappung mündete unweigerlich in eine bandwurmende Beschreibung der Handlung, was eigentlich niemand will.

Schon lange, so lange, dass ich kaum mehr Erinnerung habe, wann ich es nicht getan hätte, schon lange also „simse“ ich. Obwohl auch das ja an den höheren Blödsinn grenzt, denn allenfalls schreibe ich ja eine eine Nachricht über einen SMS (ShortMessageService), also nicht mal eine SMS schreibe ich. Und doch: Jede andere Form, es deutlich zu machen, wäre zu lang, also „simse“ ich auch.

Inzwischen ist das aber auch schon eine Handlung, die, wird sie verbalisiert, in deiner Umgebung sofort den Verdacht keimen lässt, du seist ein Gruftie, was ja auch der Wahrheit entspricht. Aber inzwischen würde das „Simsen“ einen Gruftie als nicht mehr auf der Höhe der modernen Zeit demaskieren. Schließlich „whatsappt“ mensch sich heute was. Die Community ist dauervernetzt und schier am Tropf eines Dienstes, dessen kryptischer Name (soll wortspielend die Frage „What ist up?“ – was geht – und App miteinander verbinden) in ein Verb umoperiert wurde.

Nun kann ich an dieser Stelle nur sagen, dass ich aus persönlichen Gründen gegenüber „WhatsApp“ phobisch reagiere und den Kommunikationsweg nur dann gezwungenermaßen beschreite, wenn er mir von der anderen Seite aufgenötigt wird. Daher „whatsappe“ ich auch nicht und werde mir das auch ganz sicher nicht angewöhnen. Aber die Angewohnheit, mich mit umgangssprachlichen Veränderungen konstruktiv auseinanderzusetzen, die werde ich mir bewahren. Schließlich habe ich mich ja auch an die Neue Rechtschreibung schon früh gewöhnt.

Ach ja, da erinnere ich mich gern dran. Ein Kunde kreidete mir damals, bei deren Einführung, einen Schreibfehler an. Ich solle doch „Litfaßsäule“ nach neudeutscher Weise mit drei „s“ schreiben. „Nöö“, antwortete ich, das bleibt bei „ßs“. Und naseweiste sogleich weiter, dass niemand gezwungen werden könne, einen Eigennamen anders zu schreiben als sein Träger. Zu spät bemerkte ich, dass der werte Kunde keine Ahnung hatte, dass Herr Litfaß ein findiger Berliner war und seine Werbesäule nix mit einem Fass zu tun hatte.




Kraftvolle „Hamletmaschine“ in Dortmund

Die Hamletmaschine

Hamlet (Sebastian Graf) salutiert vor Heiner Müllers Text. Foto: Birgit Hupfeld

Schwarz gewandete Totengräber weisen dem Publikum den Weg zu den Plätzen. „Willkommen in der Maschine“, raunt es bassig.

Im Vordergrund liegen schwarz gekleidete Menschen auf- und übereinander, im Hintergrund steht ein Totengräber am golden glitzernden DJ-Pult. Heiner Müller ist tot – aber was passiert mit seinem Text, seinen Ideen? Sie bleiben, werden aber neu gesampelt und mit neuen Unter- und Obertönen versehen – so die musikalische Umschreibung der Idee hinter der „Hamletmaschine“, die am Sonntag im Studio des Dortmunder Schauspiels Premiere hatte.

Man kann sich Heiner Müllers Stück aus dem Jahr 1977 vorstellen wie eine Collage aus Monolog-Fragmenten, gesprochen von zwei Figuren, die ebenso Hamlet und Ophelia sind wie die Schauspieler, die Hamlet und Ophelia spielen. Das neunseitige Stück ist trotz seiner Kürze eine gigantische Referenz-Maschine, ein hoch verdichteter Text über Kapitalismus und Sozialismus, Familie und Krieg, die kranke Gesellschaft und die Möglichkeiten des Theaters in ihr. Regisseur Uwe Schmieder, Ensemble-Mitglied am Dortmunder Schauspiel, mixt diesen Text nun neu zusammen, ergänzt ihn um weitere Texte Heiner Müllers und inszeniert diese Hamlet-Müller-Maschine mit dem und für den 50-köpfigen Dortmunder Sprechchor. Das Ergebnis ist Kraft, Rhythmus, pure Energie.

Der Dortmunder Sprechchor. Foto: Birgit Hupfeld

Der Dortmunder Sprechchor. Foto: Birgit Hupfeld

Das Publikum wolle „immer nur verstehen, nie eine Erfahrung machen“, ärgert sich Regisseur Schmieder im Programheft – eindeutig verstehen lässt sich Heiner Müllers Text allerdings auch nach eingehender Beschäftigung kaum, zumindest nicht endgültig. „Es gibt keine Lösung! Das ist die Lösung!“, ruft der Sprechchor den Zuschauern minutenlang eindringlich zu.

Die „Hamletmaschine“ ist die Wutrede eines Suchenden, so versteht sie Schmieder und so bringt er sie auf die Dortmunder Studiobühne. Die Regie setzt auf ein sinnliches Erlebnis, das einen durchrüttelt und involviert. Zwischen Bühne und Publikum gibt es keine klare Abgrenzung, kaum ein Entrinnen für die Zuschauer (Bühne: Jennifer Schulz, Udo Höderath, Birgit Rumpel). Der Musiker am DJ-Pult erzeugt live mit allerlei Gerätschaften Klänge, elektronisch und mechanisch: Es wirkt, als setze Ole Herbström mit seinen Obertönen und Vibrationen, Einspielern und Klangeffekten die Maschine immer wieder neu in Gang.

Ophelia (Merle Wasmuth) mit Mitgliedern des Sprechchors. Foto: Birgit Hupfeld

Ophelia (Merle Wasmuth) mit Mitgliedern des Sprechchors. Foto: Birgit Hupfeld

Dem Zuschauer bieten sich immer wieder Anknüpfungspunkte, in den Text und seine Themen einzutauchen – sei es die Kritik am Kapitalismus („Heil Coca Cola!“), seien es die Gedanken zu Aufständen und Revolutionen, die Heiner Müller mit Blick auf den ungarischen Volksaufstand 1956 schrieb und die Schmieder assoziativ mit der Ukraine heute verknüpft.

Packend Merle Wasmuth als Ophelia: Wie eine soeben dem Fluss entstiegene Wasserleiche, mit noch nassen Haaren und verlaufener Wimperntusche, ist sie bald die über-empfindsame, hysterische, vom Schmerz an der ewigen Wiederkehr des Bösen gepeinigte Welt-Mutter, um dann mit Hamlet-Darsteller Sebastian Graf nonchalant über das Theater heute zu scherzen: „Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand.“

Der Sprechchor, den das Schauspiel als „17. Ensemblemitglied“ bezeichnet, ist in der Tat genau das: ein elementarer Bestandteil dieser Inszenierung. Die pure Präsenz der 50 Mitglieder macht einen Gutteil dieses kraftvollen Theaterabends aus. Der Chor singt, schreit, weint und klagt, die Mitglieder kriechen und kauern auf dem Boden, sie tanzen im Stroboskop-Licht und marschieren im Rhythmus des Textes. Vor allem aber sprechen sie wie aus einem Mund, sorgfältig und exakt einstudiert – eine enorme Leistung mit enormer Wirkung.

Nächste Termine hier

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Rätsel des Alltags (2): Brezelschwund

In unserer losen kleinen Reihe über Rätsel des Alltags, die vor wenigen Wochen mit dem Stöpsel-Spuk begonnen hat, wenden wir uns heute der Brezel zu.

Die letzten beiden Bühnenveranstaltungen, die ich aufgesucht habe, waren eine groß angelegte Kindertheater-Produktion und ein Klassik-Konzert. Durchaus unterschiedliche Ereignisse also. Doch sie hatten eines gemeinsam: In der Pause gab es keine Brezeln mehr. Das sorgte – unabhängig von Stand oder Alter – jeweils für Murren und Unmut bei jenen, die sich in der Schlange endlich nach vorn gearbeitet hatten.

Wasser, Säfte, Sekt, Wein, Bier – alles kein Problem. Nur die Brezeln waren jeweils vorzeitig „alle“.

Gibt es denn keinerlei Erfahrungswerte über Vorräte, die man in derlei Fällen anzulegen hat? Noch dazu war das Kindertheater nur knapp zur Hälfte ausverkauft und auch im Publikum des Konzerts klafften noch deutliche Lücken. Trotzdem hat es mit dem Laugengebäck hinten und vorne nicht gereicht. Fast bin ich geneigt, von einer (bayerischen??) Brezel-Verschwörung zu sprechen. Oder wenigstens vom wundersamen Brezelschwund.

Gut. Kein Wort mehr davon. Wir lassen das jetzt mal so erratisch stehen und fremd in die Wirklichkeit ragen.




Grenzen in Europa zu Opas Jugendzeiten

Wir werden am kommenden Sonntag das Europa-Parlament wählen. Die Frankfurter Sonntagszeitung hat dazu heute eine Sammlung von Grenzerfahrungen veröffentlicht – aus Zeiten, in denen es noch Schlagbäume und Passkontrollen, Geldwechsel und blaue Postsparbücher gab. Zu dem Thema kann wohl jeder aus der Opa-Generation noch Geschichten beisteuern.

Ein ICE der Deutschen Bahn im Bahnhof Paris Gare du Nord.
(Foto: Hans H. Pöpsel)

Zum Beispiel 1980: Für einen dreitägigen Kurzurlaub in Holland fuhren wir mit unseren Kindern auf der Autobahn Richtung Arnheim, doch an der Grenzstation konnten wir den niederländischen Zöllnern keine Kinderausweise vorlegen – zu Hause vergessen. Also das Auto gewendet und nachgedacht. Mutig steuerten wir einen anderen, ländlichen Klein-Grenzübergang an, in der Hoffnung, dort nicht kontrolliert zu werden, und so war es auch. Doch in der folgenden Zeit am Meer blieb stets die Sorge im Hinterkopf, ob wir denn ungestraft wieder würden ausreisen dürfen oder ob man uns womöglich als Kinderschmuggler festsetzen würde. Zum Glück rutschten wir bei der Heimfahrt bei Emmerich unkontrolliert durch die Grenzanlage, aber eine solche Erfahrung kennen junge Menschen in Westeuropa seit mehr als zwei Jahrzehnten gar nicht mehr.

Ich erinnere mich auch noch an den Tag, als wir zum ersten Male auf dem Weg nach Frankreich zwischen Belgien und La France ohne Schranken und ohne Kontrollen einfach so durchrauschen konnten. Die Kontrollhäuschen standen noch, aber die Autobahn war frei. Inzwischen setzt man sich in Köln gemütlich in den Thalys und steigt nach gut drei Stunden entspannt in Paris-Nord aus dem Zug, hat Belgien und Nordfrankreich durchquert, als wäre es die Lüneburger Heide, man benutzt die selben Gelscheine und freut sich, dass wenigstens die Architektur und die Werbung dort anders aussehen als zu Hause.

Also: Europas Entwicklung hat im Alltag viel Gutes gebracht, ganz abgesehen von der Sicherung des Friedens und dem Schutz unserer Freiheitsrechte, wobei Letztere wohl noch deutlich besser geschützt werden könnten.

Freuen wir uns also, dass wir mal wieder die Wahl haben.




Alte Schlachten – junge Sprache: Raoul Schrotts grandiose Übertragung der „Ilias“ des Homer

raoul schrott by u.weier

Raoul Schrott
(Foto: U. Weier)

Deutsche litten unter Geständniszwang, heißt es, da mag man nicht nachstehen.

Ja, ich bekenne, ich habe als Abiturient eines neusprachlichen Duisburger Gymnasiums die „Ilias“ des Homer nie kennengelernt, habe als Schüler des Huckinger Reinhard-und-Max-Mannesmann-Gymnasiums in solchen Dingen in die Röhre schauen müssen, obgleich der Lateinlehrer vorrömische Ausblicke sicher hätte eröffnen können. Auch später im Studium lockte uns kein Professor in ureuropäisch-asiatische Gefilde (dazu unten mehr). Und noch viel später bin ich zwar als wilder Leser in die Literatur der Länder und Zeiten aufgebrochen, aber auch dabei habe ich die „Ilias“ weiträumig umgangen.

Und mich immer ein bisschen geschämt dafür, meine Unkenntnis völlig zu Recht als Mangel empfunden. Also kam mir die Gelegenheit gerade recht, vor einiger Zeit Raoul Schrott mit seiner Neubearbeitung der „Ilias“ zu einer Lesung nach Duisburg-Ruhrort einzuladen und im Vorfeld dieses Abends seine Übertragung des Homerschen Epos auch lesen zu müssen, besser: zu dürfen. Die in den Stoff, die Form und die zypriotischen Vor-Geschichten einführenden Kommentare Schrotts hätten mich fast erneut abgeschreckt, doch endlich begannen die 24 Helden-Gesänge selbst und ich war wie gebannt, habe in ein paar Tagen die ganzen gut 500 Seiten plus vieler Anmerkungen verschlungen, habe mit Grausen vom Hand-Werk des Tötens gelesen, habe über den zornig-trotzigen Achill und seine heroischen oder göttlichen Supporter und Widersacher auch manchmal gelacht: Alphamännchen auf dem Affenfelsen.

Erstaunt haben mich die Göttinnen und Götter, hat mich der Macho Zeus, der hinter den Kulissen aber längst durch ein Göttinnenkollektiv entmachtet scheint. Überhaupt die Göttinnen: Anders als die Frauen der Griechen und Troianer sind sie mehr als Heimchen, Schönheiten oder Kriegsbeute – diese Göttinnen, das sind selbstbewusste Frauen, die an Zeussens Patriarchat sägen, Vorbilder für Emanzipationsstreben einige Jahrhunderte vor Christi Geburt.

Erzählt wird im Kern von vier ausgewählten Tagen (und Nächten) des zehnjährigen Krieges und ihrem zeitlichen Umfeld. Mit diesem Kern verknüpft Homer eine Unzahl von zeitlich-räumlichen Aus- und Einblicken in Genealogie der Helden und Götter, in ihr Leben und ihren Alltag, sogar in den Alltag des Olymps.

Mit gründlicher Recherche, mit Respekt und Komik, mit Wortwitz, Spott und Menschenfreundlichkeit, mit Geschichts- und Menschenkenntnis hat Raoul Schrott die „Ilias“ des Homer neu übertragen – und damit wieder sichtbar gemacht, was für ein eminent politischer und gegenwärtiger Text die „Ilias“ ist – auch darüber, wie sich persönliche Motive und taktisch-strategische Absichten in Kriegen auf barbarische Weise verbinden.

Homers spannende Story erzählt vom Groll des Achilleús, dem sein Feldherr Agamemnon die schöne Briseis als Kriegsbeute streitig macht, und von den Abgründen der Schlachten um Troia. Sie schildert Blut, Schweiß und Tränen des Krieges zwischen Griechen und Troianern, einst ausgelöst von Paris’ Raub der Helena. Und dieser Kriegsausschnitt wird beobachtet  und kommentiert von den allzumenschlichen Göttern im Olymp, die es sich nie nehmen lassen, mit den Helden auch mal Marionettentheater zu spielen, Partei zu ergreifen oder selbst ordentlich dreinzuschlagen.

Raoul Schrotts großartige Fassung der „Ilias“ eröffnet so einen äußerst lebendigen Zugang zum Troia-Stoff, den viele nur verkürzt über den Film „Troja“ (mit Brad Pitt, Diane Kruger) kennen. Schrott befreit die 24 Gesänge der „Ilias“ in deutscher Sprache von jeder Patina und bringt darunter jenes Epos wieder zum Glänzen, dessen Lebendigkeit den Ruhm begründete. Dies in einem sinnlichen Deutsch, das ebenso direkt wie poetisch, ebenso musikalisch wie anschaulich spricht, das einem manchmal wie ein kunstvoller Rap erscheint, dann wie atemloses Erzählen oder wie Klagegesang, Trauerrede oder Zornesgeschrei – reich variiert in Vokabular, Rhythmen und Tonlagen.

Und auch dies sei noch erwähnt: Man kann Raoul Schrott getrost als einen großen Reisenden beschreiben. Er reist durch die Welt und die Zeit, also auch durch die Literatur, deren äußere und inneren Welten. So hat er denn neben der Arbeit an der Neuübertragung der „Ilias“ auch lange zur (Archäologie-)Geschichte Troias recherchiert. Seine nicht unumstrittenen Ergebnisse dazu präsentierte er in seinem Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“. Dabei führt er uns vor das – seiner Meinung nach – eigentliche Modell für Troia: die Bergfestung von Karatepe (heute Türkei), einst Blüte der kilikischen Hochkultur. Von dort nämlich sollen sie stammen: die Landschaften und sagenhaften Hintergründe, die Homer in den Troia-Stoff projizierte. Mehr dazu im Gespräch Denis Schecks mit Raoul Schrott unter: http://www.youtube.com/watch?v=T6HQ8idx13Q

Homer: „Ilias“. Übertragen von Raoul Schrott. Hanser Verlag, München 2008. 692 Seiten, 34,90 Euro.

Raoul Schrott: „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“. Hanser Verlag, München 2008. 432 Seiten, 24,90 Euro.

 




Auf Zeche Zollverein – als Touristin im eigenen Revier unterwegs

Es hatte mich schon lange geärgert. Man besucht Paris, London, Barcelona – latscht durch halb Europa von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, aber das Weltkulturerbe vor der Haustür? Das kannte ich gerade mal vom Besuch eines Weihnachts-Oratoriums und und als Aufdruck auf meinem „Ruhrpott-Mädchen“ Shirt. Geht eigentlich gar nicht.

Die uns in diesem Jahr begleitende Ruhrtop-Card gab den Ausschlag, wir buchten eine Führung auffe Zeche Zollverein. Oder besser gesagt: inne ehemalige Kokerei vonne Zeche. Das ist der Teil des Areals, den man durch die Bilder der winterlichen Eisbahn auf der gefluteten alten Kohlenstrasse vor Industriekulisse kennt.

Auf dem Dach der Kokerei Zollverein

Natürlich kann man auch sich auch so auf Zollverein umsehen, aber wenn man es gerne etwas detaillierter hätte und noch dazu sich Bereiche anschauen und erlaufen möchte, die ansonsten nicht zu den öffentlich zugänglichen gehören, muss man schon einen Platz in einer der angebotenen Führungen buchen.

Zuerst geht es auf das Dach der Kokerei, von dem man einen guten Überblick nicht nur über das Areal Zollverein hat, sondern auch über weite Teile des Ruhrgebiets. Die Arena auf Schalke kann man sehen, den Gasometer Oberhausen und sogar den Chemiepark Marl. Die Halden, den Tetraeder natürlich und nicht zuletzt die sich noch in Betrieb befindliche Bottroper Zeche Prosper Haniel samt Kokerei.

Es ist ein eigenartiges Gefühl. Auf dem Dach der einst großen Kokerei stehend kann man schon gut sehen, wo die Natur sich ihr Recht zurückerobert, man fühlt sich wie auf den Spuren einer verlorenen Vergangenheit. Doch nur wenige Kilometer weiter qualmt eine große weiße Wolke, wie sie auch die Kokerei auf Zollverein lange Jahre ausgestoßen hat. Dort drüben ist die Vergangenheit noch Gegenwart. Leider aber auch dort wohl ohne Zukunft. Sozusagen ein Überblick über das Dilemma des Ruhrgebiets.

der Kohlebaum Treppauf, treppab neben Kohlestrassen, über Trassen geht es weiter mit der Führung. Zunächst auf der schwarzen Seite – dort, wo die Kohle gebacken und durch diesen (mir bisher en detail nicht bekannten Prozess) zu Koks verarbeitet wird.

Wir wurden begleitet von einer ausgesprochen sachkundigen jungen Frau, der deutlich anzumerken war, dass sie sich für die Thematik weit über die eigentliche Führung hinaus interessierte und die dadurch auch auf keine Frage eine Antwort schuldig blieb. Der Rückweg führt über die weiße Seite, dort wo das als „Abfallprodukt“ aus der Kohleverarbeitung gewonnene Gas geführt und zur Stromversorgung auf das eigentliche Zechenareal geleitet wurde. Spannend auch der Raum, in dem man lernt, welche Produkte und Güter auf Koks in der einen oder anderen Form angewiesen sind.

Doch natürlich – so einfach ist das mit dem Tourismus im eigenen Land nicht. Klar, es sind tolle Motive, die sich dem Auge bieten, doch so einfach begeistert man sich nicht für das, was heute als Industriekultur schön geredet wird. Es beschleicht einen das gleiche Gefühl, das hochkommt, wenn man um das Areal des Centro Oberhausen herum fährt und unvermutet das Bild vor Augen hat, wie es noch in den 80ern zu Zeiten der Gute-Hoffnungs-Hütte dort aussah. Das gleiche Gefühl, wenn man das Bergbaumuseum Bochum besichtigt. Eine beklemmende Mischung aus Trauer um das Vergangene und Angst um die Zukunft im Revier. Man kann die Route der Industriekultur noch so lobenswert finden, letzten Endes zeugt sie von Vergangenem.

Vergangene Arbeitsplätze vor allem. Man steht auf dem Dach von Zollverein und sieht die weiße Wolke aus Bottrop. Sie scheint zu sagen: „Seht her, das ist alles, was geblieben ist und viel mehr kommt da auch nicht nach.“ Und egal, ob man in Bochum durch alte Schächte kriecht oder auf Zollverein rumklettert, eine Frage kommt immer: Wie kommt es, dass soviel Kohle benötigt wird, soviel Kohle bei uns liegt und nichts mehr gefördert wird? Die Antworten darauf sind mannigfach, die eine – womöglich entscheidende mag die sein, dass unsere Kohle so tief liegt und so schwer zu fördern ist. Andernorts auf der Erde braucht man sie quasi nur zu pflücken.

Dennoch, es kommt immer auch die Antwort: Wir in Deutschland, wir produzieren zu teuer. Wegen der Löhne, der Sozialabgaben, man kennt das. Der Weltmarkt verlange Kohle zu niedrigen Preisen und andernorts kann man dieses Verlangen bedienen. Besonders zu teuer eben auch immer: die hohen Sicherheitsstandards hierzulande. Man hört sich das alles also an auf Zollverein, nimmt es bedrückt mit nach Hause und wenige Tage später hört man bestürzt von dem verheerenden Grubenunglück in der Türkei und sieht verzweifelte Demonstranten, die mit Gewalt daran gehindert werden sollen, für bessere Sicherheit zu demonstrieren.

Ich lasse das jetzt einfach mal so stehen. Denn das mulmige Gefühl, es bleibt mir. Was wäre, wenn es global akzeptierte Sicherheitsstandards gäbe? Wären dann die türkischen Bergarbeiter nicht heute arbeitend im Schacht und gäbe es dann vielleicht noch andere Arbeitsplätze auf Zollverein als die der Touristenführer?

Einen Überblick über die Angebote des Weltkulturerbes Zeche Zollverein gibt die Homepage http://www.zollverein.de/ Auch die Führungen kann man dort unkompliziert buchen.




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




Kliniken unter Kostendruck: TV-Report über unser krankes Gesundheitswesen

Ganz neu waren diese Befunde übers deutsche Gesundheitswesen nicht, doch in dieser Fülle und Dichte trotzdem alarmierend. Die Patienten, so das zentrale Fazit, gelten den Kliniken zusehends als Geldbringer. Eine Besserung der Zustände ist einstweilen nicht in Sicht.

Lukrative Fälle werden viel zu oft operiert, chronische Krankheiten hingegen häufig vernachlässigt. In der Sendung „Krankenhaus-Report: Wo Medizin Kasse macht“ (3Sat) ging es vor allem um die unseligen Folgen der sogenannten Fallpauschale, nach der die Behandlung einer bestimmten Krankheit – ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände – stets mit der gleichen Summe vergolten wird.

Belohnt wird Quantität, nicht Qualität

Längst hat es sich erwiesen: Belohnt wird hierbei in erster Linie Quantität, also die Häufigkeit gewisser lohnender Eingriffe, nicht aber die medizinische Qualität. Auch sorgt das System dafür, dass Patienten nach Operationen oft zu früh aus den Krankenhäusern entlassen werden, um die (insgesamt immer noch viel zu vielen) Betten besser auszunutzen.

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken "OP-Weltmeister". (© ZDF/HR/3Sat)

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken „OP-Weltmeister“. (© ZDF/HR/3Sat)

So kommt es, dass Deutschland „OP-Weltmeister“ ist und das drittteuerste Gesundheitssystem auf dem Planeten betreibt. In Sachen Effizienz liegen wir allerdings nur auf Rang 14. Abgesehen von ein paar kleinen optischen Mätzchen, wurden diese Verhältnisse in der Reportage von Ulrike Bremer und Ulrike Gehring glasklar herausgearbeitet.

Die Kaufleute haben das Sagen

Inzwischen, so eine weitere These des Berichts, haben vielfach die kaufmännischen Direktionen in den Krankenhäusern das Sagen und nicht mehr in erster Linie die Ärzte. Es wird wirtschaftlicher Druck auf die Mediziner ausgeübt, es werden entsprechende Boni aufs Ärztegehalt gezahlt. Wer kann da widerstehen?

Die gnadenlose Konkurrenz zwischen den Kliniken treibt manche Häuser in den Ruin – keineswegs immer die fachlich Schlechteren. Davon profitieren nicht selten private Betreiber, die eine marode Klinik schon mal für einen symbolischen Euro erwerben und das Kostenregime anschließend noch verschärfen. Unterdessen streichen Politiker den öffentlichen Kliniken Zuschüsse und die Krankenkassen üben ihrerseits Kostendruck aus. Ein Teufelskreis.

Krise gehört auf die politische Agenda

Wie weit der Zynismus geht, zeigt sich darin, dass Krebs unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten als (wie es hinter vorgehaltener Hand manchmal heißt) „sexy“ gilt, weil diese schreckliche Krankheit viele kostspielige Untersuchungen nach sich zieht. Privatpatienten sind dabei nicht etwa besser dran, im Gegenteil: Bei ihnen lohnen sich unsinnige Eingriffe noch mehr – und sie werden deshalb vorgenommen.

Die missliche, rundum verkorkste Lage lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Der Themenkomplex „krankes Gesundheitswesen“ gehört dringend auf die politische Tagesordnung. Und zwar ganz weit nach oben.




Für ein Literaturhaus Ruhr – Dem Ruhrgebiet fehlt ein Mittelpunkt literarischen Lebens

Literaturhaus im Schnee oder doch nur Kurpark in Bad Oeynhausen

Literaturhaus-Fata Morgana oder doch nur Kurpark in Bad Oeynhausen?

„Vielleicht ist es das, was mich an Oberhausen herausfordert: Daß man die Stellen kennen muß. Die Plätze, an denen aus nichts ‚etwas‘ wird. Daß es Orte gibt, direkt in Oberhausen, die sind genau wie Frankreich, Berlin oder Neapel, ich schaue mich nur um und kann atmen, es gibt Stellen in Oberhausen, an denen kann man tatsächlich atmen.“
Martin Skoda in seiner Erzählung „Oberhausen“ (in: Dokumentation zum Oberhausener Literaturpreis 1999, Verlag Karl Maria Laufen, Oberhausen 1999)

Abseits aller „Masterpläne“:
Das Europäische Literaturhaus/Literaturnetz Ruhr (ELR)

Neben Verlagsförderung, Reisestipendien und Schreibaufträgen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller werbe ich vom Literaturbüro Ruhr e.V. aus (seit fast zwei Jahrzehnten!) beharrlich für die Gründung eines regional verankerten Europäischen Literaturhauses Ruhr (ELR) mit offenem Konzept. Dieses ELR könnte auch der Mittelpunkt eines möglichen Europäischen Literaturnetzes Ruhr sein, das literarische Initiativen aus der Region aufnähme und in sie hineinwirkte, sie förderte und weiterentwickelte.

Wäre eine solche Gründung kulturpolitisch gewollt, sie ließe sich zügig diskutieren und umsetzen. Ein EUROPÄISCHES LITERATURHAUS RUHR könnte bescheiden (aber bitte nicht zu bescheiden) starten, um dann nach und nach zu wachsen. Im Verhältnis etwa zu noch mehr Philharmonien und Kreativwirtschafts-Zentren benötigte ein ELR erheblich weniger Zuschüsse, wäre preiswerter und eine echte (überfällige) Bereicherung des kulturellen Lebens an der Ruhr.

Das Ruhrgebiet hat hier enormen Nachholbedarf, ist zurzeit schlicht abgekoppelt von vielen Strukturen literarischen Lebens im deutschsprachigen Raum. Literaturhäuser finden sich zwar nicht, wohin man schaut, aber wenn man erst einmal genauer schaut, dann sichtet man respektable Häuser z.B. in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart, Kiel, Köln, Leipzig, Dresden, Wien, Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Salzburg, Zürich und Basel. Insgesamt gibt es weit über 20 Einrichtungen, die Literaturhäuser sind – oder sich manchmal auch nur so nennen. Gemeinsam bilden elf von ihnen das ‚Netzwerk Literaturhäuser‘, www.literaturhaus.net/‎.

Daneben gedeihen zudem verwandte Einrichtungen: in Berlin etwa die LiteraturWERKstatt, das Literarische Colloquium (LCB) und das Literaturforum im Brecht-Haus, andernorts auch Künstlerhöfe wie in Schöppingen oder Edenkoben, dazu die Akademie Schloss Solitude …

Allein in Berlin also leistet man sich nicht nur mehrere Häuser für Literatur (mit unterschiedlichen Konzepten und Programmen), Berlin nutzt sie auch, um seine metropole Vorrangstellung im Literaturbetrieb auszubauen. Man sieht in prominenten Orten der Literatur die Facetten eines lebendigen ‚Kulturbetriebs‘, der auch vom Literaturmarkt lebt und ihn vice versa bereichert. Über 300 Verlage beherbergt Berlin und ist mit Milliarden-Umsatz die größte Stadt des Bucheinzelhandels. Anderswo weiß man also sehr gut um die Verbindung von geistigem Leben, lebendigen Orten und Geschäft.

Schaut man dagegen auf der Suche nach einem Literaturhaus im deutschsprachigen Raum ins fünf Millionen Einwohner starke Ruhrgebiet, dann heißt es: Fehlanzeige, kein solch ausstrahlender singulärer Ort, nirgends.

Ein Ort für die Lust am Text

Dabei könnte ein Europäisches Literaturhaus Ruhr als Knoten- und Kristallisationspunkt fürs literarisch-künstlerische Leben im Revier viel bewegen, sogar – aber eben nicht zuallererst –  unter kulturwirtschaftlichen Aspekten. Es böte endlich einen sichtbaren und begehbaren Ort für Literatur. Es könnte das Forum sein für die Begegnung mit Literatur in all ihren Schattierungen, ein Ort „für die Lust am Text“ (Roland Barthes), ein Ort der Literaturvermittlung, der Konzentration, des spielerischen Umgangs wie des Widerspruchs, ein Ort für Leser, Schriftsteller, Verleger und Kritiker im Gespräch und Ideenaustausch, ein Ort der Vorstellung vergessener und zu entdeckender Schriftsteller, ein Haus der Zusammenarbeit von Literaten mit anderen Künsten und Medien. Regional verwurzelt und weltoffen, wäre ein Europäisches Literaturhaus Ruhr (auch als Mittelpunkt eines Literaturnetzes Ruhr) ein Tor zur Welt der Sprache und Dichtung.

Tagtraum

Man stelle sich vor: In einem Europäischen Literaturhaus Ruhr träfen sich gute Autorinnen und Autoren aus aller Welt, also auch aus NRW und der Region. Gespräche über alles, was mit Literatur zu tun hätte, würden dort geführt, man stritte, äße und tränke, kaufte sich Bücher, läse, sähe Literatur-Ausstellungen, Literaturverfilmungen, hörte mit Freunden Lyrik & Jazz, mit den Kleinen die besten Kinderbuchautoren, wärmte sich gelegentlich Herz und Verstand an literarisch-politischer Kleinkunst, hörte eine Nacht lang Mülheimer oder Bochumer Schauspielern zu, die aus dem „Ulysses“ läsen, besuchte zum ersten Mal ein „poetry café“, griffe gelegentlich sogar in literarische, politische und philosophische Debatten ein, um nicht als Konsumenten-Narziss das Leben nur blöde zu vertrödeln.

Junge und ältere Autoren träfen sich zu Textdiskussionen und Werkstattgesprächen, lernten von versierten Kollegen in Meisterklassen auf Zeit etwas über das Handwerk des Schreibens. Schriftsteller lüden Musiker, Maler … ein, um an Libretti zu arbeiten, Texte und Grafik zu einem Buch zusammenzustellen oder gleich gemeinsam eine Graphic Novel zu gestalten, während nebenan Videokünstler ihren Clip zu einem Gedicht Barbara Köhlers aus Duisburg schnitten. Was für ein lebendiges Haus! Und die Wahrnehmung durch die Literatur-Community des deutschsprachigen Raumes ergäbe sich durch die Qualität der Projekte und teilnehmenden Autoren ganz nebenbei.

„Wo kämen wir denn da hin“, dichtete der Schweizer Kurt Marti, „wenn alle sagten, wo kämen wir denn da hin, und niemand ginge, um zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“

Nüchternheit und Mut zur Größe

Argumente gegen ein Literaturhaus gibt es natürlich genug. So einst auch rund um die Gründung der Literaturhäuser in Frankfurt, München und anderswo. In den Diskussionen um die Literaturhäuser in Berlin oder Hamburg hörte man einst vor deren Gründung ziemlich düstere Horrorvisionen eitler Vereitler. Zum Beispiel die von den Villen, in denen die Avantgarde ganz nebenbei zwischen Plüsch und Pomp erstickt würde. Oder die Vision vom Clubhaus für den Klüngel, von der Schwätzerbude für Hobby-Literaten, oder die von der subventionierten Sozialstation für alle, die ihre Tinte nicht halten könnten, von der Wärmestube für lokale Heimatdichter.

Ähnlich Überzogenes raunten aber auch die Befürworter von Literaturhäusern. In ihren Konzepten überfrachteten sie die Literaturhäuser so mit Hoffnung, dass die unter solcher Last als virtuelle Luft- und Lustschlösser schon einstürzten, bevor sie als Bau dastanden.

Ein Literaturhaus auf dem Papier bot und bietet tausendfach alles unter einem Dach: „die zeitgemäße Form des Salons der Rahel Varnhagen“ (Diepgen in Berlin), Caféhaus für Autoren und die demokratisch-literarische Öffentlichkeit, Schreibschule, Haus der Autorinnenförderung und Multi-Kulti-Austausch, Dokumentationszentrum, Medienwerkstatt, Autorenwohnung, Buchladen, Experimentierbühne und so weiter…

Auch dieses Statement hier steht in der Gefahr, einem Europäischen Literaturhaus Ruhr und seinen möglichen Befürwortern zu viel zuzumuten, doch andererseits: Das Literaturhaus wird hier präsentiert als ein Ort, an dem nichts weniger geschähe, als dass mit Hilfe der Literatur über Kunst, uns und unsere Gesellschaft nachgedacht würde.

Lernen am Modell: Hamburg und Berlin

Wer wirklich ein Europäisches Literaturhaus Ruhr will, sollte genauer z.B. nach Hamburg und Berlin schauen und von den dortigen Muster-Häusern gründlich lernen.

In Berlin erklärte einst Herbert Wiesner: „Wir verstehen uns als ein Haus der Literatur für Berlin, aber nicht als ein Haus der Berliner Literatur, nicht nur jedenfalls. Obwohl Berliner Autoren bei uns auftreten, sind wir sind kein Clubhaus für Berliner Schriftsteller. Wir arbeiten, um eine im Grunde zwar anerkannte, aber schwierigere, sich nicht von selbst schon vermittelnde Literatur vorzustellen. Ein Literaturhaus, das nur eine Aneinanderreihung von Lesungen böte, hätte keine Berechtigung“.

Ähnlich sah es auch Uwe Lucks, einer der ersten Geschäftsführer in Hamburg: „Also populistisch gehen wir nicht vor. Uns interessiert Qualität. Wir konzentrieren uns auf das, was uns wichtig erscheint. Das ist die Präsentation der aktuellen internationalen literarischen Szene.“
Im Hamburger Haus an der Innenalster präsentiert man noch heute ein anspruchsvolles, manchmal sperriges Programm, das Flagge zeigt, ohne zu vergessen, dass es viele verschiedene Leser gibt, mit vielen verschiedenen Lesebedürfnissen.

Ansteckend lebhaft

Beide Häuser öffnen anderen literarischen Vereinigungen ihr Haus als Forum und geben ihnen die Möglichkeit, kostenlos Veranstaltungen durchzuführen. So reicht man etwas von den eigenen Subventionen weiter. Unkenrufe von Kritikern, die glaubten, ein zentrales Literaturhaus veröde die literarische Szene einer Großstadtregion und nähme den anderen Initiativen Geld oder Publikum weg, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. „Es hat ja nur einen sehr kleinen Literaturetat gegeben, bevor wir überhaupt antraten. Wir haben die Kulturbehörde über unsere Existenz eher motiviert, viel mehr für Literatur in Hamburg insgesamt zu tun“, sagte Uwe Lucks in Hamburg, und Herbert Wiesner bilanzierte in Berlin: „Was kleinere Literaturinitiativen angeht, da gab´s sogar einen Schub von Neugründungen, seitdem unser Literaturhaus die Arbeit aufgenommen hat.“

Die Trägervereine beider Literaturhäuser bekamen ihre denkmalgeschützten Gebäude kostenlos renoviert und residier(t)en dort mietfrei. Beim Berliner Literaturhaus jedoch wurden (anders als in Hamburg) Programm und Haus noch stärker von der öffentlichen Hand gefördert. Aber auch die Berliner müssen dazuverdienen. Über Mitgliederbeiträge, Spenden, Eintrittspreise bei Veranstaltungen, die Verpachtung des Erdgeschosses ans Café „Wintergarten“ und des Souterrains an den Buchladen, über Vermietungen und wechselnde Sponsoren.

Ankommen und stiften gehen

Ich fasse einmal das Rezept für ein Literaturhaus zusammen:
Man nehme eine Handvoll Enthusiasten, die hoffentlich wenig Image- oder Ego-Probleme haben. Die tatkräftig sind, die konzeptionell denken können. Die Fortune haben, Ausdauer bei der Suche nach einem geeigneten Haus (gefördert aus Mitteln des Denkmalschutzes oder der Städtebauförderung des Landes), bei der Einbindung gediegener Mäzene und Stiftungen, souveräner Sponsoren, bei der Ansprache von Politikern und den Kulturbehörden.

Sicher jedenfalls ist: Ohne eine Stiftung geht wahrscheinlich gar nichts.

Vom Duisburger Lehmbruck Museum zum Beispiel und seinem engagierten Ex-Leiter, Dr. Christoph Brockhaus, wäre zu lernen, wie man sich über eine Stiftung finanziell unabhängiger macht und auf Teile von Dauer-Subventionen verzichten kann.

Warum überhaupt ein Literaturhaus?

Weil der Geist weht, wo er will, aber am liebsten dort, wo Intelligentes schon in der Luft liegt. Weil alle Künste im Ruhrgebiet feste Häuser haben, in denen Kunst gemacht und/oder dem Publikum präsentiert wird, die Literatur aber nicht.

Buchhandlungen und selbst (Stadt-)Bibliotheken bieten hier keine Alternative, auch weil es ihnen zurzeit in den Städten finanziell und auf dem Markt an den Kragen geht. Stadtbibliotheken bleiben vor allem Orte der Ausleihe, des Lesens, die daneben vielen anderen Zwecken dienen. Mit großer Anstrengung leisten es die besten unter ihnen, temporäre, flüchtige Veranstaltungsorte für zwei, drei Stunden zu sein, Mittelpunkte aber des literarischen Lebens in all seinen Facetten, Impulsgeber des literarischen Diskurses, der literarischen Produktion sind sie so nicht.

Insel der Phantasie

In einem Literaturhaus bestünde die Chance, die Begegnung mit Literatur und Schriftstellern tatsächlich zu kultivieren, abseits von bloßem Bestseller-Marketing oder Lesung-als-Gottesdienst-Kulisse. Literatur, Schreiben und Lesen, öffentliche Lektüre und Diskussion haben das Zeug dazu, „Kult“ zu werden. Literarische Geselligkeit erlebt seit längerer Zeit eine Renaissance, bietet genau den geistigen Luxus, den sich in einer offenen Gesellschaft alle die leisten, die kritisches Denken nicht nur simulieren, sondern auch stimulieren wollen.

Ein Literaturhaus wäre die Insel der hintergründigen Phantasie im Meer der vordergründigen Fun-Kultur. Der Literatur, den Gesprächen über Literatur täte es gut, etwas mehr als bisher um ihrer Inhalte willen ‚inszeniert‘ zu werden. Dazu bedarf es einer kultivierten Umgebung. Es wird Zeit, dass der Stil, den man von Autoren und ihren Texten fordert, endlich auch im Umgang mit Schriftstellern und ihren Werken geboten würde.

Warum ein E-u-r-o-p-ä-i-s-c-h-e-s  Literaturhaus?

Das wissen wir alle: Historisch ist das Ruhrgebiet geprägt von Zuwanderern, kulturellen Einflüssen aus ganz Europa und weltweitem Handel. In dieser Metropolregion, zentral gelegen in einem Europa der Regionen, lässt sich Literaturförderung gar nicht anders denken als im Spannungsfeld von lokaler Verwurzelung und internationalen Beziehungen, von Identitätssuche und Weltoffenheit. Ein Europäisches Literaturhaus Ruhr hätte die Vielfalt und Einzigartigkeit internationaler Literaturen und Sprachen zu präsentieren und zu vermitteln, das darin zu entdeckende Widerständige, Fremde und Neue. Das Literaturhaus hätte Leserinnen und Lesern Orientierungen in der Welt der Bücher zu ermöglichen und mit internationalen Projektpartnern Lesekultur zu gestalten.

Eine Adresse für die Präsentation von Weltliteratur

Die literarische Öffentlichkeit könnte vom regen „Import“ internationaler Literatur profitieren. Schon für das Literaturbüro Ruhr e.V., das ich leite, lasen und lesen von den frühen Nächten der Literatur bis zu den interkulturellen Literaturprojekten heute Österreicher, Schweizer, Spanier, Franzosen, Türken, Russen, US- und Süd-Amerikaner, Ungarn und Polen, Argentinier und Nicaraguaner, Marokkaner und Algerier. Endlich hätte die Vorstellung von Weltliteratur im Ruhrgebiet auch eine feste Adresse.

Daran wären nicht zuletzt die (großen) Verlage interessiert, für die erst in einem solchen Rahmen Kooperationen und Förderungen interessant werden. So unterstützte die Bertelsmann Buch AG im Literaturhaus Frankfurt z.B. das 1. Internationale Literaturgespräch; das Thema: die Rolle der deutschsprachigen Literatur im Ausland. Die Bertelsmann Stiftung veranstaltete im Literaturhaus München und im Europäischen Übersetzer Kollegium Straelen am linken Niederrhein Autorenweiterbildungen und internationale Übersetzer-Treffen.

Seit jeher beeinflussen sich Literaten und Literaturen über alle Grenzen und Zeiten hinweg in ihren Themen, Figuren, literarischen Mitteln. Jede Literaturvermittlung – auch in einem Literaturhaus – hat heute auf diese Intertextualität durch ein internationales Programm zu reagieren, das von der literaturwissenschaftlichen Komparatistik profitieren sollte, wo immer es ginge.

Dass ein Europäisches Literaturhaus Ruhr sich nicht als ein Haus versteht, das sich auf die Präsentation europäischer Literatur beschränkt, versteht sich so von selbst. Im Gegenteil: Im komparatistischen und intertextuellen Vergleich von Nationalliteraturen, europäischer Literatur und Literatur der Welt, im lebendigen Austausch mit Autorinnen und Autoren erst ergeben sich die neuen Perspektiven einer international-globalisierten Literatur, die ohne ihre jeweiligen Wurzeln nicht zu verstehen ist.

Warum ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r?

Das literarische Leben hat – wie beschrieben – kein wirklich adäquates Zuhause im Ruhrgebiet, kein Obdach, bestenfalls Unterstellplätze und Tagesherbergen. Ein Europäisches Literaturhaus Ruhr hätte auf die besonderen Gegebenheiten des Reviers zu reagieren (karge Verlagslandschaft, fehlende Feuilletonvielfalt, fehlende Medienpräsenz).

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r hätte die junge Literatur, die Verlage und Literaturzeitschriften aus dem Ruhrgebiet (etwa den Grafit und Klartext Verlag oder das ‚Schreibheft‘) in gelungenen Veranstaltungen sozusagen in einer Art „Schaufenster nach außen“ auch bundesweit zu präsentieren. Parallel dazu würde internationale Literatur gleichsam über ein „Schaufenster nach innen“ vorgestellt.

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r wäre kein Allheilmittel gegen alle Defizite des literarischen Lebens im Revier, aber es könnte genau die Initialzündungen auslösen, die nötig wären, um eine lebendigere literarische Szene im Ruhrgebiet entstehen zu lassen und damit vielleicht auf Dauer auch mehr Autoren, Verleger und Medien ans Revier zu binden. Zurzeit wandern viele große Talente noch nach Berlin und anderswo ab, kaum ein Autor von Rang läßt sich dagegen im Ruhrgebiet nieder.

Binden und fesseln durch Abenteuer für den Kopf

Zudem: Auch das Publikum will gepflegt werden. Nicht nur die Folkwang-Hochschule oder Schauspielhäuser wie das Bochumer Theater oder das Theater an der Ruhr, auch die Einrichtungen der soziokulturellen Szene haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, wie wichtig Treffpunkte, feste Einrichtungen für die Entwicklung der (klein-)künstlerischen Szene und die Herausbildung eines dazugehörenden Publikums sein können.

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r sollte zwar einen Sitz haben, ein Domizil mit angemessenen Veranstaltungs- und Büroräumen, gleich ob nun in einer Villa, einem Industriekultur-Gebäude oder im Rahmen eines attraktiven Innovations- oder Gründerzentrums, aber es dürfte als Europäisches Literaturhaus R-u-h-r keinesfalls nur dort tätig sein.

Das Ruhrgebiet braucht ein LITERATURHAUS als regionalen Veranstalter, als Agentur, als Markenzeichen, als Mittelpunkt eines Literaturnetzes Ruhr. Das Europäische Literaturhaus Ruhr hätte als Literaturhaus auch in der Region Veranstaltungen durchzuführen. Unter dem Titel „Das Europäische Literaturhaus Ruhr zu Gast in …“ könnten Autoren, Diskussionen, interdisziplinäre Kunst-Projekte (zum Beispiel) im Landschaftspark Duisburg-Nord, im Gasometer Oberhausen, in der Zeche Zollverein usw. durchgeführt werden. Nicht zuletzt deshalb, um das Publikum in der Region auf das Mutter-Literaturhaus aufmerksam zu machen und es fest daran zu binden.

Die leidigen Finanzen

Allerdings hätte ein solches Europäisches Literaturhaus Ruhr auch seinen Preis. Karge Zuschüsse, halbherzige personelle und materielle Förderung wie etwa die für das engagierte Literaturbüro Ruhr e.V. verweigern von vornherein die finanzielle Mindestausstattung für dauerhaften internationalen Literaturaustausch und ein professionelles Kulturmanagement, das nicht nur auf Kosten der Mitarbeiter ginge. Hohe Kompetenz der Mitarbeiter allein kann kein erfolgreiches Europäisches Literaturhaus Ruhr begründen. Der kulturpolitische Wille zu profilierter regionaler Literaturpolitik mit bundesweiter und internationaler Ausstrahlung, der Wille zur Bündelung der Kräfte ließe sich nur umsetzen, wenn endlich auf solider materieller Grundlage hochkarätige Literaturförderung in der Region betrieben werden könnte.

Wer ein Netz knüpfen will, darf die Knoten nicht vergessen

Noch einmal: Es gibt ein reges literarisches Feld im Ruhrgebiet, es gibt bereits ein Netz engagierter, aber oft isolierter Autoren, Vermittler, Förderer, Vereine und Institutionen. Was uns fehlt, sind belastbare Knotenpunkte. Ein Literaturhaus gäbe als ein solcher Knotenpunkt diesem oft noch zu wenig sichtbaren Literaturnetz mehr Halt. Sagen wir aber nichts gegen dieses Netz der Enthusiasten, fordern wir nur ein anderes, ein besseres, das in dieser „großen Großstadt Ruhr mit seiner immer stärker werdenden sozialen Polarisierung“ (Prof. Strohmeier, ZEFIR) das geistige Leben selbstbewusst weiterentwickeln hilft.

(Dieser aktualisierte Vorschlag zu einem Europäischen Literaturhaus Ruhr erscheint zeitgleich auch auf der Homepage des Literaturbüros Ruhr.)




Zwischen Wahn und Wirklichkeit – Pirandellos „Heinrich IV“ bei den Ruhrfestspielen

Ein Pferd macht den Anfang. Gelassen knabbert es in der Kulisse am Heu, bis es schließlich weggeführt wird. Es ist ein sinnfälliger Verweis. Mit einem Pferd, genauer gesagt mit dem Sturz vom Rücken eines solchen, begann die Tragödie, deren weiterer Verlauf das Thema dieses Abends ist. Intendant Frank Hoffmann inszeniert Luigi Pirandellos Stück „Heinrich IV“ als zweite große Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele im Festspielhaus.

Heinrich_5-14_4

Rudolf Kowalski als „Heinrich IV“ in Recklinghausen. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Heinrich IV ist in diesem Stück nur der Rollenname eines selber namenlos bleibenden Adeligen, der bei einem Maskenumzug als Kaiser auftrat, vom Pferde fiel und seitdem verwirrt ist. Rudolf Kowalski, den man aus dem Fernsehen möglicherweise als Düsseldorfer Serien-Kommissar Stolberg kennt, gibt ihn mit Verve und bemerkenswertem Pathos. Übeltäter bei dem Maskenumzug war übrigens Rivale Belcredi (Ulrich Kuhlmann), der „Heinrich IV“ vom Pferde stieß, weil beide die schöne Bertha liebten.

Wenn das Stück einsetzt, erfahren wir vom eigentlich lobenswerten Vorstoß des Neffen Marchese Carlo di Nolli (Marc Baum), dem armen Heinrich mit einer Art Schocktherapie sein Gedächtnis zurückzubringen. Er schafft Berthas (Anne Moll) bildhübsche Tochter Frida (Sinja Dieks) herbei, die ganz nach ihrer Mutter kommt und ihr verblüffend ähnelt.

Doch dann offenbart Heinrich seinen fassungslosen „geheimen Räten“ (Josiane Peiffer, Roger Seimetz, Nickel Bösenberg), dass seine Verwirrung nur gespielt ist, und auf dem Höhepunkt der dramatischen Selbstbekenntnisse erschießt er den alten Widersacher Belcredi (bei Pirandello verletzt er ihn mit dem Degen schwer). Das ganze endet mehr oder weniger diffus, weil Heinrich seine Rolle nach dem Mord nicht mehr verlassen kann und zudem seine Räte zu Komplizen gemacht hat. Im politischen Raum, so könnte eine These des Stücks formuliert werden, verschwinden die klaren Grenzen zwischen Erkenntnis und Gedächtnisverlust, durchdringen sich die Zustände wechselseitig und gebären Monströses. Und unversehens wird der scheinbar leichte Stoff zu einem schweren, komplexen Handlungsgefüge.

Heinrich_5-14_3

Rudolf Kowalski, Anne Moll. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Was nun macht Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann aus Pirandellos flirrendem Spiel? Bei ihm dauert es lange, bis der Titelheld erstmalig die Bühne betritt. Äußerst sorgfältig breitet die Inszenierung vordem aus, wie sich die Entourage formiert, um die Seele des Verwirrten in seiner Villa zu erreichen, wo und wie die alten Rivalitäten lauern. Doch bleibt die Frage unbeantwortet, warum gerade jetzt sich diese Intervention formiert, vor allem jedoch, warum „Heinrich IV“, wie er irgendwann gegen Ende des pausenlosen Hundertminüters seinen Räten gesteht, die Rolle des Verwirrten seit Jahren schon nur noch spielte.

Man gewinnt den Eindruck, dass Regisseur Hoffmann sich in Bezug auf die dramatischen Wendungen in der Handlung allzu sehr auf das Geschick seines Hauptdarstellers Rudolf Kowalski verlassen hat. Doch dessen intensives naturalistisches Spiel arbeitet die Handlungsstationen ab, ohne sie dramatisch zu verknüpfen. Hier hätte man sich mehr Inszenierung gewünscht, mehr als nur tiefe Bühnenhintergründe (Ben Willikens), die aufwendig kollabieren, wenn die Dramatik der Situation akzentuiert werden muss.

Im Umgang mit seiner krankhaft eifersüchtigen Frau, so ist im Programmheft zu lesen, fand Luigi Pirandello einen Zugang zu den unterschiedlichen Valeurs von Realität, wie sie in vielen seiner Stücke auftauchen. Und natürlich reflektiert er als politischer Schriftsteller auch die Verhältnisse im Italien des Risorgimento, der Umbruchzeit des 19. und 20. Jahrhunderts, die je nach Sichtweise bis zum Faschismus oder gar bis in die Jetztzeit reicht. Details wie die zackigen Uniformen und die todschicken Hosenanzüge (Ausstattung: Jasna Bosnjak) deuten die Mussolini-Zeit an. Jedoch verzichtet die Inszenierung darauf, hier eindeutige Bezüge des Wahnhaften zu konstruieren. Das ist sicherlich vernünftig, zumal „Heinrich IV“ bereits 1922 herauskam, als die Herrschaft des italienischen Faschismus erst begann.

Für manche Unzulänglichkeit dieser Inszenierung entschädigt der große, tragische Epilog. Rudolf Kowalski zeigt hier eine Schauspiel- und Vortragskunst, die selten geworden ist auf deutschsprachigen Bühnen. Und am Schluss kommt nochmal das Pferd.

Großer Beifall, vor allem für das engagiert aufspielende Ensemble.

___________________________

Keine weiteren Termine.

www.ruhrfestspiele.de

 




Jörg Albrecht kann Abu Dhabi verlassen

Aufatmen: Jörg Albrecht darf aus Abu Dhabi ausreisen. Der Schriftsteller war wegen angeblicher Spionage festgehalten worden.

Heute morgen kam die Nachricht von Holger Bergmann, künstlerische Leitung Ringlokschuppen, und Thorsten Ahrend, Wallstein Verlag, sowie weiteren Künstlern über Change.org, wo sie eine Online-Petition für die Ausreise des Autoren verfasst hatten: Demnach hat Jörg Albrecht gestern, am 13. Mai, nachmittags geschrieben, dass er die Vereinigten Arabischen Emirate verlassen dürfe. Auch die ZEIT berichtet, dass laut Informationen des Göttinger Wallstein-Verlages und des Auswärtigen Amtes die Ausreisesperre aufgehoben worden sei.

In Ihrer Mail schreiben Ahrend, Bergmann & Co., dass Jörg Albrecht sich schon darauf eingerichtet hatte, „dass alles viel länger dauern könnte. Hat es aber nicht. Und das ist auch euch allen zu verdanken“. Über 6000 Menschen hatten demnach den offenen Brief unterzeichnet.

Jörg Albrecht war am 1. Mai zur internationalen Buchmesse in die Hauptstadt der Arabischen Emirate gereist. Dort wurde er einige Tage inhaftiert und durfte danach nicht ausreisen. Er hatte in einer Straße Fotos gemacht, in der auch Botschaften ansässig sind, und wurde deshalb der Spionage verdächtigt – siehe auch den ersten Bericht auf Revierpassagen.

Die Verfasser der Online-Petition schreiben weiter: „Erstmal holen wir jetzt Jörg hoffentlich vom Flughafen ab. Dann atmen wir auf. Ihr wart großartig! Danke, danke, danke für alles!“

Gute Heimreise!

P.S. mit kurzem Update: Anne Levy, die die Online-Petition mitinitialisierte, hat einen Tweet mit den Worten „united! #joergalbrecht #friendshipisthenewlove“ veröffentlicht, der auf ein Instagram-Foto mit Jörg Albrecht und seinen Freunden verweist.




Klavier-Festival Ruhr beginnt mit Werken für die linke Hand – Gedenken an den 1. Weltkrieg

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies (r.) eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

In der Geschichte des Klavier-Festivals Ruhr, wurzelnd im Klaviersommer, den Jan Thürmer 1984 in Bochum ins Leben rief, ist die Nutzung großer Industriehallen als Spielstätte zunächst kein Thema gewesen. Erst 2002 gab es die Premiere auf Zollverein in Essen, mit einer sensationellen Doppelvorstellung von George Antheils skurriler Maschinenmusik namens „Ballet mécanique“. Ein Jahr später folgte die Bochumer Jahrhunderthalle, das Festival wurde hier Teil der „Extraschicht“.

Dabei ist es kein Zufall, dass die neuen Podien erst so spät ins pianistische Rampenlicht rückten. 2002 ist das Gründungsjahr der Triennale, die ihre Theaterbretter vornehmlich in eben jenen Werkshallen der Kohle- und Stahlindustrie aufbauen wollte. Dafür bedurfte es allerdings zunächst einer millionenschweren baulichen Aufhübschung. So bekam etwa die Bochumer Jahrhunderthalle ein gläsernes Foyer. Und das Dach wurde ausgebessert, um den Regen fernzuhalten.

In diesem Ambiente wurde nun das diesjährige Klavier-Festival Ruhr eröffnet. Es war zu erfahren, dass der Vertrag des seit 1996 amtierenden Intendanten Franz Xaver Ohnesorg um fünf weitere Jahre verlängert wurde. Es war zu erleben, dass prasselnder Regen ein akustischer Störfaktor sein kann. Denn es handelt sich hier nicht um einen isolierten Konzertsaal. Nur gut, dass der Hagelschauer vor Beginn der Aufführung niederdonnerte, sonst hätte es wohl eine Zwangspause geben müssen.

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der "Extraschicht" in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Das lockt durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der „Extraschicht“ in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Es lockt so durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Im Vorlauf des eigentlichen Aufführungs-Raumes durfte sich das Publikum übrigens einer erheblichen olfaktorischen Reizung stellen. Der Gestank gab durchaus Anlass zur Beschwerde. Wie denn auch das Imbissangebot im Foyer von der eher mageren Art war. Keine Frage, die Spielstätte mag ihren Reiz haben. Und das Ansinnen des Klavierfests, vor allem durch die „Extraschicht“ neues Publikum zu gewinnen, ist natürlich legitim. Doch die äußeren Bedingungen, der hauseigene Service zumal, sollten schon, soweit möglich, einen gewissen Standard erfüllen. Nun, für Herbst 2015 ist die Eröffnung der Bochumer Symphonie geplant – ein Konzertsaal als ernstzunehmende Alternative.

Musikalisch wurde die Jahrhunderthalle jetzt zum Schauplatz des Gedenkens an den 1. Weltkrieg. Diese „Urkatastrophe“ führte nicht zuletzt dazu, dass sich ein neues pianistisches Repertoire herausbildete, Klavierstücke für die linke Hand entstanden. Das war dem unglücklichen Umstand geschuldet, dass es Pianisten wie Paul Wittgenstein gab, die im Krieg den rechten Arm verloren hatten. Viele Komponisten schrieben für ihn Konzerte, aber auch Kammermusik. Manches davon gilt es neu zu entdecken. Eine Spurensuche, der sich das große Pianistentreffen nun annimmt. Zum Einstieg erklingen deshalb die Klavierkonzerte für die linke Hand von Sergej Prokofjew, mit Leon Fleisher als Solisten, und Maurice Ravel, gespielt von Nicholas Angelich.

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor der Bochumer Industriehalle. Foto: Wohlrab/KFR

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor dem Bochumer Industriedenkmal. Foto: Wohlrab/KFR

Fleisher geht das in seiner Struktur klassizistisch anmutende Werk Prokofjews behutsam an, in nuancierter Tongebung. Manches aber wirkt allzu zaghaft, der spöttische Biss fehlt, den diese Musik eben auch bietet. Schön ist dabei, dass die Neue Philharmonie Westfalen (in erweiterter Kammerbesetzung) mit Dirigent Dennis Russell Davies die Klangbalance hält, den Solisten trägt.

Düsterer, teils monumentaler, herber und fiebriger gibt sich das Ravel-Konzert. Die Jazzelemente mögen den Großstadtsound der wilden 20er wiederspiegeln, doch die vorangegangene Katastrophe wird nicht ausgeblendet. Solist Nicholas Angelich spielt entsprechend mit  packendem Zugriff, zudem elegant, teils rhythmisch pointiert.

Der Abend ist indes auch einer des Orchesters. Wie die Neue Philharmonie Westfalen Ravels „Rhapsodie Espagnole“ interpretiert, beseelt, leidenschaftlich, den Klangfarbenreichtum des Werks auf Schönste herausstellend, verdient allen Beifall. Und zu Beginn, mit Prokofjews Opern-Suite „Die Liebe zu den drei Orangen“, stürzen sich die Musiker mutig, manchmal allerdings allzu plakativ, ins Brachiale, Martialische.

Informationen: http://www.klavierfestival.de




Da kichert die Kamera

Dass ich es nur gleich zerknirscht gestehe: Ich habe wohl eine Ordnungswidrigkeit begangen. Doch die Sache ist glimpflich ausgegangen. Aber warum?

Der Reihe nach: Zumindest meine Kompaktkamera habe ich nahezu immer bei mir. Man weiß ja nie, was es zu sehen gibt. So auch neulich, als ich am Steuer saß. Da hat mich für Sekunden der Deibel geritten – und ich habe während der Fahrt (ca. 45 km/h) zum rechten Seitenfenster hinaus geknipst. Warum? Fragt mich nicht. Jedenfalls bin ich dabei behördlich beobachtet worden.

Corpus Delicti (©Bernd Berke)

Corpus Delicti (©Bernd Berke)

Etwa 500 Meter später hielten Polizisten mich an. Papiere zeigen, das Übliche. Schließlich die Frage: Was ich denn da in der Hand gehalten hätte? Die Kollegen hätten es nicht genau gesehen. Kleinlaut gab ich zu: „Es war diese Kamera.“ Die lag noch unübersehbar auf dem Beifahrersitz und kicherte. Sozusagen.

Der nächste Satz meines Gegenübers konnte ja wohl nur auf die Ausrufung eines namhaften Bußgelds hinauslaufen…

Aber nein! „Ach so, wir dachten schon, es wäre vielleicht ein Handy gewesen. Na, dann gute Fahrt.“

Seitdem rätsele ich, ob ich am Steuer auch künftig munter fotografieren darf, wenn’s nur mit einer vernünftigen Kamera geschieht – und nicht mit einem schnöden Smartphone. Soll ich demnächst die Spiegelreflex mit Stativ verwenden und zwischendurch das Objektiv wechseln?

P.S.: Aber natürlich will ich’s – so oder so – nicht wieder tun. Echt jetzt.




Der Schriftsteller Jörg Albrecht wird in Abu Dhabi festgehalten – ein Hilferuf

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Jörg Albrecht ist ein Sprachkünstler. Ein leiser, ein höflicher Mensch. Einer der zuhört, einer der viel überlegt. Einer, der voller spannender und bemerkenswerter Gedanken steckt. Und einer, der sich nicht im Eindimensionalen bewegt. Einer, der sich für andere Menschen, andere Kulturen interessiert, der neugierig und aufgeschlossen ist, reflektiert und respektvoll. So habe ich den mittlerweile in Berlin lebenden Jörg Albrecht in seiner Heimat Dortmund kennengelernt, bei Gesprächen und Interviews zu seinen Büchern und Theaterinszenierungen.

Jetzt sitzt Jörg Albrecht in Abu Dhabi fest. Der Vorwurf: Spionage. Eingereist war er als Gast der Internationalen Buchmesse. In einem Interview mit ZEIT Online berichtet er, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft am 1. Mai in der Nähe seines Hotels Bauten fotografierte, die ihn architektonisch interessierten. Daraufhin wurde er festgenommen und inhaftiert.

ZEIT und NZZ schreiben, man habe ihn der Spionage verdächtigt, da er in einer Straße fotografiert habe, in der auch Botschaften seien. Den Berichten zufolge ist Jörg Albrecht zwar wieder aus der Haft entlassen worden, dürfe das Land derzeit aber nicht verlassen. In dem ZEIT-Interview sagt Albrecht, er fürchte, „bald psychisch“ einzubrechen, „da ich hier nun erst mal auf mich gestellt bin“.

Ein Alptraum.

Holger Bergmann und Thorsten Ahrend haben eine Online-Petition für seine Ausreise ins Leben gerufen. Hoffentlich haben sie schnell Erfolg.

 




Massenet im Focus (I): „Werther“ nach Frankfurt und Essen nun in Düsseldorf

Seltsames Phänomen: Da gibt es Komponisten oder Werke, die jahrelang kaum auf den Spielplänen auftauchen. Und auf einmal bricht eine Welle los und schwappt reihum über die Bühnen weg. So geht es derzeit mit Jules Massenet.

„Werther“ in Essen, Gera, Frankfurt, Saarbrücken, Weimar; „Manon“ in Krefeld, das sonst kaum gespielte Spätwerk „Don Quichotte“ in Wuppertal, Gelsenkirchen und jetzt Hagen, „Esclarmonde“ als gefeierte Ausgrabung in Dessau, am 18. Mai das noch seltenere exotische Kurtisanendrama „Thaїs“ in Bonn. Und als jüngste Premiere an der Düsseldorfer Rheinoper wieder der Goethe’sche Held, gebettet in den exquisiten französischen Klang zwischen Wagner und Verismo.

Warum das so ist? Wahrscheinlich unerklärbar. Mag sein, dass in den Repertoire-Strichlisten in den Dramaturgiebüros unter „französisch“ eine Lücke war; mag sein, dass sich zufällig gerade jetzt Regisseure, Intendanten oder Kapellmeister – unter die GMD-Stücke zählen Massenets Opern ja nicht – für das Genre interessierten. Zeitgeistig ist jedenfalls nichts identifizierbar, was etwa „Werther“, das parabelhafte Endspiel einer entgrenzten, aber unmöglichen Liebe, ausgerechnet für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts qualifizieren würde. Selten war eine Jugend so weit entfernt vom verzweifelten Enthusiasmus eines Werthers wie heute.

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für "Werther" in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für „Werther“ in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Der andorranische Regisseur Joan Anton Rechi ist dank seiner „Csardasfürstin“ an der Rheinoper kein Unbekannter; unter anderem hat er 2011 in Mainz mit einem grandios durchleuchteten „König Roger“ von Karol Szymanowski auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Werther“ stellt er auf die sattfarbenen Bühne von Alfons Flores in das scharf geschnittene Licht von Volker Weinhart ein verhangenes Drama, das am Rand der Irrealität taumelt: Erinnerungen, Halluzinationen und bedrückende Bilder, materialisierte Seelenzustände, die trotz ihrer klaren Durchzeichnung nicht an Naturalismus rühren. Den Beginn markiert keine gemütliche Genreszene, sondern ein Schuss: Werther, in blutrotem Anzug – eines der ausdrucksvoll-beziehungsreichen Kostüme von Sebastian Ellrich –, schießt sich eine Kugel durch den Bauch. Was folgt, ist der „Film“ vor dem Tode, in dem Sterbende ihr Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen sehen.

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Auch in Frankfurt und Essen gab es Bilder, die das Drama des bürgerlichen Sturm und Drang in einen Raum eines Nach-Tristan-Gleichnisses rücken: Wolfgang Gussmann schuf für Willy Deckers sensible Personen-Balance kosmisch erweiterte Räume; Frank Philipp Schlößmann baute in Essen für Carlos Wagners manchmal ziemlich verquere Figuren-Zurichtung ein Puppenhaus, das zertrümmert und aufgebrochen wird.

Einsamkeit am Telefon. Massenets "Werther" in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

Einsamkeit am Telefon. Massenets „Werther“ in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

In Düsseldorf erschafft Flores dumpfe Räume in formlos fließenden Linien, in denen sich Zustände materialisieren: Die kahlen Bäume in schrillem Licht lassen schon zu Beginn keinen Zweifel, dass der schüchterne Traum vom Glück unter Alpdruck steht; das großbürgerliche Souper des zweiten Aktes macht mit seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur die brutale Seite von Alberts Charakter offenbar, sondern denunziert nachhaltig die familiäre Idylle als zwanghaft. Im letzten Akt lässt Rechi Werther und Charlotte nur mehr miteinander telefonieren: ein surreal angehauchtes Bild eines finalen Versuchs der Kommunikation, den Albert mit dem Druck auf die Fernsprechergabel endgültig unterbricht. Damit rückt Rechi Werther in die Richtung eines Depressiven: Neunzig Prozent der Menschen, die sich umzubringen gedenken, tätigen kurz zuvor einen Anruf, erklärt er seinen Einfall im Programmheft.

In Rechis Todesfilm quälen sich auch die Szenen unter depressiver Last, über denen noch ein Schimmer nie erreichten Glücks leuchten könnte. Doch Sergej Khomov ist als Werther nur ein Erinnerungsschatten seiner selbst, mit düster fixiertem Blick und dramatischer Schwere statt flexibler Leichtigkeit in der Stimme. Katarzyna Kuncio als Charlotte ist gefangen zwischen ihrem brutal seine Besitzrechte durchsetzenden Ehemann Albert und den kompromisslos vereinnahmenden Gefühlsstürmen Werthers: Kuncio agiert mit ihrem vollen, slawisch timbrierten Mezzosopran weniger mit finessenreichen Zwischentönen, eher mit dem lodernden Verismo der seelischen Qual. Der einzige Mensch, dem es gelingt, sich in diesem Drama „außen vor“ zu halten, ist Sophie, mit viel Licht in der Stimme gesungen von Alma Sadé.

Laimonas Pautienius reagiert als Albert auf den Schmerz, vernünftig geliebt, aber nicht leidenschaftlich begehrt zu werden, mit offener Aggression – und stimmlich mit einem festen, einfarbigen, für Massenets Musik zu groben Bariton. Auch die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedt entscheiden sich im Zweifel für einen handfesten Klang und gegen dynamisch-koloristisches Sfumato. Für den fiebrigen Ton der seelischen Raserei, für den offen brennenden Schmerz bleiben die Farben zu geradlinig kühl.

In der neuen Spielzeit 2014/15 lassen sich die Aalto- und die Rheinopern-Versionen des „Werther“ vergleichen: Die Wiederaufnahme am Theater Duisburg ist am 6. Dezember vorgesehen; ab 29. März 2015 läuft Massenets Oper dann wieder in Düsseldorf. In Essen steht die Wiederaufnahme ab 11. Dezember auf dem Spielplan – gefolgt von nur zwei weiteren Vorstellungen am 27. Dezember und am 7. Februar 2015.




TV-Nostalgie (16): Dieter Hildebrandt – die besten Jahrzehnte des Kabaretts

Heute bestreiten gewisse „Comedians“ ganze Abende mit dröhnenden Flachwitzchen darüber, dass Frauen auf Handtaschen und Schuhe versessen sind oder angeblich nicht einparken können. Welch ein himmelweiter Unterschied zum politischen Kabarett, das den Namen verdient! Da geht’s beim Lachen eben auch ums Nachdenken. Und wer hätte mehr dafür gestanden als Dieter Hildebrandt? Der Mann fehlt!

Sicher: Das parteipolitische Witzeln der 50er und 60er Jahre hatte sich irgendwann mal erledigt. Doch einer wie Hildebrandt lief zwar gewiss nicht jedem Trend hinterher, ging aber mit der Zeit und entwickelte gemeinsam mit jüngeren Begabungen das Kabarett weiter, so dass es in seinen besten Momenten auch gesellschaftliche Tiefenströmungen erfasste.

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären "Scheibenwischer"-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären „Scheibenwischer“-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Man schaue sich Ausschnitte seit den 80er Jahren an: Wie viele Talente er da mit untrüglichem Gespür für Qualität gefördert und selbst noch von ihnen gelernt hat! Bei ihm bekamen sie alle eine große Bühne – von Gerhard Polt bis Richard Rogler, von Konstantin Wecker bis Georg Schramm, dem wohl besten Kabarettisten der letzten Jahre, der sich jetzt leider aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Die Technik des Verhaspelns

Der gebürtiger Schlesier und Wahlmünchner Hildebrandt (übrigens Anhänger von 1860 München) war ein vorbildlicher, durch und durch uneitler Förderer, der andere gern neben sich gelten ließ und dafür sorgte, dass sie reifen konnten. Allein das war schon eine große Lebensleistung – ganz abgesehen natürlich von den eigenen Auftritten, bei denen er seine unvergleichliche Technik des (hellwachen) Verhaspelns kultivierte. Am Ende hatte er zwischen den Zeilen immer ungleich mehr gesagt, als Geradeaus-Sätze es vermocht hätten. Übrigens merkte man bei seinen Soli und im Ensemble auch immer wieder, dass er eine ordentliche Schauspieler-Ausbildung hatte.

Legendenstatus erlangten seine Fernsehreihen „Notizen aus der Provinz“ (1973 bis 1979 im ZDF) und „Scheibenwischer“ (1980 bis 2003 mit Hildebrandt in der ARD, danach noch bis 2008 ohne den Meister). Auch bei „Neues aus der Anstalt“ (ZDF) stand Hildebrandt noch Pate und war mit von der Partie, wenn auch nicht mehr in vorderster Linie.

Bei Konservativen oft „angeeckt“

Die „Notizen aus der Provinz“ waren ein vorproduziertes Magazin, beim „Scheibenwischer“ gab’s hingegen Live-Kabarett. Beiden Sendungen gemeinsam war allerdings, dass sie oft bei konservativen Politikern und Fernsehgewaltigen „aneckten“. Besonders heftig geführt wurde der Streit um die Ausgaben zum korruptionsträchtigen Wahnwitz des Rhein-Main-Donau-Kanals (1982) und zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986). Aus der Letzteren klinkte sich der Bayerische Rundfunk aus.

Millionenpublikum mit „Lach & Schieß“

Begonnen hatten all die ruhmreichen Jahrzehnte mit der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, die Hildebrandt 1956 gemeinsam mit dem Sportjournalisten Sammy Drechsel gegründet hatte. Zwischen 1963 und 1971 hatte die Truppe ein Millionenpublikum mit ihrem ARD-Silvesterprogramm „Schimpf vor zwölf“. Nie wieder hat deutsches Kabarett so viele Zuschauer versammelt wie damals.

Nur nicht unverbindlich sein

Ende 1972 löste sich die Lach- und Schießgesellschaft auf. Willy Brandt war 1969 Kanzler geworden und das linksliberal ausgerichtete Kabarett in eine Sinnkrise geraten. Es drohte staatstragend zu werden. Doch Dieter Hildebrandt hat niemals unverbindliche Scherze getrieben. Bezeichnend, dass er sich noch viel später mit Mathias Richling überwarf, der nach 2008 just auch Comedians zum „Scheibenwischer“ holen wollte. Solche Späße waren Hildebrandt zu läppisch und er untersagte die weitere Verwendung des Titels „Scheibenwischer“.

Seit Hildebrandts Tod im November 2013 vermisst man schmerzlich eine solch gewichtige Figur, die die Szene gleichsam väterlich zusammenhalten könnte. Was er wohl dort oben über den Wolken treibt? So ganz ohne klugen Spott dürfte es auch dort nicht abgehen…

________________________________________________________________________

Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), „Was bin ich?“ (15)




Bei „strg alt entf“ Mord – die Kurzkrimi-Anthologie „Online ins Jenseits“

online_ins_jenseitsGeschichten über Verbrechen gibt es seit Kain und Abel. Doch jede Zeit bringt ihre eigenen Waffen hervor. Was dem Kain sein Stein war, ist dem Kriminellen im world wide web seine Tastatur. Im Zeitalter des unbegrenzten Surfens ist das perfekte Verbrechen manchmal nur einen Mausklick entfernt.

Grund genug für den Dortmunder Grafit Verlag, eine seiner beliebten Kurzkrimi-Anthologien dem zwar reellen, aber im Virtuellen gestarteten Verbrechen zu widmen. Mit der neuen Sammlung „Online ins Jenseits“ serviert der Verlag 14 Krimihäppchen namhafter Krimi-Autoren – von A wie App bis Z wie .zip. Schnell wird klar, mögen sich auch die Waffen geändert haben, gleichbleibend auch im virtuellen Raum sind die Motive. Gekränkte Eitelkeit und Bloßstellung durch entlarvende Youtube-Videos, Kontrollverlust, bedrohtes Eigentum, enttäuschte Liebe – das war schon im Alten Testament so, das bleibt auch im Internet.

14 Autoren, etliche davon Mitglieder in der renommierten Krimi-Autoren-Vereinigung Syndikat, sind online gegangen und haben die heimtückischsten Fallen im Cyber-Space aufgespürt. Ganz ohne Frage ist es in Zeiten allgegenwärtiger digitaler Beobachtung, in denen sich Blogger berufen fühlen, eine Rede zur Lage zur Nation zu halten, gut und wichtig, auch im Unterhaltungssektor auf die Gefahren des Internet aufmerksam zu machen. Schließlich kann man nicht alles mit der Escape-Taste wieder rückgängig machen,

Leider wirken die meisten Krimihäppchen eigenartig fade und selten wirklich appetitanregend. Die Autoren verstehen ihr Handwerk, wie gewohnt sind einige Plots richtig spannend, andere eher augenzwinkernd amüsant. Aber es bleibt ein seltsam diffuses Gefühl von „Hier wird zusammengebracht, was (noch) nicht richtig zusammengehört“. Es scheint, als ob die Kreativität der schreibenden Zunft exakt diametral zur Kreativität der Computer-Nerds verläuft (und wahrscheinlich auch umgekehrt). So richtig versteht man einander nicht, zu fremd sind letztlich doch wohl die unterschiedlichen Lebenswelten, als dass eine Schnittstelle zu definieren wäre. Die geschilderten virtuellen Verbrechen kratzen nur an der Oberfläche, viele Protagonisten scheinen wie mit einer Schablone gezeichnet.

Dennoch sind die Geschichten professionell aufgebaut und reichen durchaus für ein paar spannende analoge Stunden. Und ganz sicher verhilft der Offline-Genuss dieser Krimihäppchen dazu, später beim Internet-Surfen die ein oder andere Klippe zu umschiffen, von der man sonst vielleicht gestürzt wäre. Dabei sind die den Kurzkrimis vorangestellten meist skurrilen webfacts ein willkommenes Amuse Geule, die den Krimis nachgestellten „heimlichen“ Online-Wünsche der Autoren ein nettes Dessert.

Von den 14 Geschichten gefielen mir zwei besonders: Zum einen Katzenauge 2.0. von Sabine Thomas, der damit die Ehre gebührt, dem im Netz so gleichermaßen beliebten wie nervigen Cat-Content eine ganz neue Bedeutung gegeben zu haben. Zum anderen interessanterweise die Geschichte von Sebastian Stammsen www.krimi-hexen.de, in der ausgerechnet bloggende Rezensentinnen zum Mordopfer wurden. Wahrscheinlich war ich einfach froh, dass es mich nicht getroffen hat und ich weiter unbehelligt meine unmaßgebliche Meinung in die Tasten hacken darf.

„Online ins Jenseits“. 14 Krimihäppchen. Grafit Verlag, Dortmund, 184 Seiten, 10 €




Das Absurde an der Straßenecke: Bohuslav Martinůs „Juliette“ in Bremen

Absurde Realität: Martinus "Juliette" in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Absurde Realität: Martinus „Juliette“ in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Ein Pariser Buchhändler reist in eine Kleinstadt am Meer, erkundigt sich nach einem Hotel, in dem er vor drei Jahren schon einmal abgestiegen ist. Damals hat ihn „das schönste Geschöpf der Erde“ fasziniert und er floh vor ihrer Anziehungskraft. Jetzt sucht er die Unbekannte wieder … Daraus könnte eine melodramatische Liebesgeschichte werden, doch der tschechische Komponist Bohuslav Martinů hatte in seiner Oper „Juliette“ anderes im Sinn.

Die Menschen, denen der reisende Michel begegnet, reagieren sonderbar: Sie können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Hinter der bühnenfüllenden Fassade eines alltäglichen französischen Hauses öffnet sich im Bremer Theater am Goetheplatz das Land des Surrealen, Unheimlichen. Es lugt hinter den Lamellen der Läden, es winkt aus den Fenstern: eine keifende Fischhändlerin, ein melancholischer Akkordeonspieler, ein schnarrender Kommissar. Und die faszinierende Frau, zunächst unsichtbar, nur durch ihr Lied präsent.

Das Treffen zwischen Michel und dem Objekt seines Begehrens an einer „Wegkreuzung“ könnte von Ionesco stammen, von Cocteau oder von dem tschechischen Schriftsteller Svatopluk Czech, dessen satirisch-surreale Novellen Leós Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ zugrunde liegen. Die Bühne erweitert sich zu einem Geviert, Menschen in Frack und Zylinder hetzen steif über den Platz. Das dunstig-schummrige Licht Joachim Grindels schafft in Johanna Pfaus Bühnen-Architektur eine unwirkliche, schwebende Atmosphäre.

Aus den Türen ins Unbestimmte kommen skurrile Figuren: Ein Schankwirt mit mächtigen Epauletten auf dem Mantel, der sein Klavier nebst Hocker und Pianist hinter sich herzieht. Ein Mann auf einem dreirädrigen Veloziped, der wie ein dämonischer Marktschreier Erinnerungsfotos verstreut. Eine Handleserin, die wie ein Kastenteufelchen hinter dem Klavier aufspringt, mit weißen, langen Haaren wie eine Norn.

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus "Juliette" in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus „Juliette“ in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Es sind Gestalten, die von René Magritte stammen könnten, oder aus dem unbehaglichen Alltag der Gemälde von Paul Delvaux. Manchmal erscheinen in leeren Fensterhöhlen flüchtige Projektionen (Videos: Ian William Galloway). Und das Spiel mit Vergessen und Erinnern, mit der scheinbar realen und einer – durch eine Lautsprecherstimme eingebrachten – mittelbaren Ebene schafft den Alpdruck eines Traumgespinstes, das uns entsetzt, weil mit der aufgehobenen Kausalität unsere Weltorientierung verfliegt; weil wir alles, mit dem wir rechnen, in einer teilnahmslos grotesken Welt als aufgelöst erleben. Auch der Text spielt mit surrealen Motiven: Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Juliette abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Im dritten Akt in einem „Traumamt“ finden wir einen Bürokraten, der die Träume verwaltet und zuteilt – eines jener Motive, die sich in der tschechischen Literatur gerne finden. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmende Hotelboy, ein trauriger Mechaniker, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Juliette“: Aus der einen, geliebten Juliette wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise, wieder in eine Stadt am Meer: Vor der Fassade eines französischen Hauses fragt er nach dem Hotel …

Dem Regisseur John Fulljames ist hoch anzurechnen, dass er keinen zwanghaften Transfer versucht, sondern sich auf die Atmosphäre des Surrealen einlässt: Er will nicht mit Gewalt deuten, sondern setzt auf die Kraft der Bilder: Das sinistre Kabinett der Figuren agiert dabei mit der mathematischen Präzision, die wir aus surrealistischen Gemälden kennen. So folgt Fulljames der Vorlage der Oper, dem Drama „Juliette ou la clé des songes“ von Georges Neveux, und bewahrt das Uneindeutige und Unheimliche des Stoffs.

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Fulljames, der vor allem in England und Frankreich arbeitet, hat in seiner zweiten Arbeit in Bremen auf das leise Verstörende in Martinůs surrealem Meisterwerk gesetzt und damit mehr Tiefe erschlossen, als es eine vordergründige Aktualisierung vermocht hätte. So kann sich die Bremer Inszenierung in der überschaubaren Reihe der „Juliette“-Produktionen der letzten Jahre (Bregenz, Paris, Genf) selbstbewusst behaupten. In Zürich und Frankfurt wird Martinůs Schlüsselwerk in der kommenden Spielzeit zu erleben sein: Man darf jetzt schon gespannt sein, welche Akzente die Regisseure Andreas Homoki und Florentine Klepper setzen werden.

Musikalisch muss sich die Bremer Aufführung ebenfalls nicht verstecken: Clemens Heil beschwört mit dem prächtig disponierten Orchester den lyrisch-schwebenden harmonischen Reichtum wie die perkussive Intensität oder die skurrilen Akzente in der elaborierten Partitur. Das tschechische Erbe Martinůs ist in einzelnen Wendungen hörbar, verdeckt aber den französischen Esprit der zwischen 1935 und 1937 entstandenen und 1938 in Prag uraufgeführten Oper nicht: Strawinskys brachiale Rhythmen lassen manchmal grüßen, Satie und Milhaud liefern den unsentimental-sachlichen Ton. Wenn im ersten Akt das „Quak-Quak“ einer mechanischen Ente auftaucht, fühlt man sich für einen Moment in Offenbachs groteske Operette „Die Insel Tulipatan“ ver-rückt.

Aber es gibt auch das lyrische Schweben, das schwer fassbare Funkeln apart gemischter Pianissimo-Klänge. Musikalisch ist „Juliette“ ein Meisterwerk, das sich hinter Martinůs bekanntester Oper „Griechische Passion“ nicht verstecken muss. Kein Wunder, dass ihm dieses Schmerzenskind, dem in der nazibesetzten Tschechoslowakei kein Überleben beschieden war, so sehr am Herzen lag.

Ausgefeilte Klangfarben – reaktionsschnelles Changieren

Das Bremer Sängerensemble ist in vielen nicht sehr umfangreichen Partien gefordert: Gefragt sind darstellerische Präzision und variable Expression – von der großbogigen Kantilene bis zum reaktionsschnellen Changieren zwischen Deklamation und rezitativischem Singen. Nadja Stefanoff als Juliette zeigt eine leuchtende Stimme, die ihre Stärke in den ausgefeilten Klangfarben hat. Hyojong Kim bringt die kindliche Ratlosigkeit, das irritierte Staunen, aber auch die aufbegehrende Hilflosigkeit des Michel mit einem präzise agierenden, scharf konturierten Tenor zum Ausdruck. Manche, wie Christian-Andreas Engelhardt als Kommissar, setzen zu einseitig auf Lautstärke, andere wie Tamara Klivadenko als „Alte“ treffen genau den richtigen, halb naturalistischen, halb stilisierten Tonfall. Eine Klasse für sich: Patrick Zielke als „Altvater ‚Jugend‘“.

Und wieder einmal wundert man sich, wie selig an vielen Opernhäusern die Aufmerksamkeit schlummert, eingelullt zwischen Wagner, Verdi, Mozart und Strauss. Zehn Jahre hat es gedauert, bis nach der denkwürdigen Bregenzer Inszenierung das Interesse an „Juliette“ erwacht ist. Unter uns sei gesagt: Es gibt noch weitere Opern von Martinů, die eine Aufführung lohnten, darunter die jetzt erst für Deutschland in Gießen entdeckte „Mirandolina“ oder die vor Jahren (2002) folgenlos in einer vorzüglichen Inszenierung in Augsburg vorgestellte Filmoper „Die drei Wünsche“. Dass auf solche Trouvaillen nicht geachtet wird, ist einfach absurd.

 




Zwischen Repertoire und Experiment – Theater Dortmund stellt Spielplan 2014/2015 vor

DO_0051a

Die Theater-Reihe „Das goldene Zeitalter“ – hier ein Bild aus der letzten Produktion – wird fortgesetzt: „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ kommt im Januar 2015 heraus. Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund

Spielzeit 2014/2015 – das Theater Dortmund mit den Abteilungen Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater hat seine Pläne vorgestellt. Ein einheitliches Bild ist nicht auszumachen, zu unterschiedlich sind die Fachabteilungen und die Menschen, die sie prägen. Hier eine erste kleine Übersicht, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.

Den französischen Friseur Arthur hat es auf eine Insel fern ab von aller Zivilisation verschlagen. Hier, die Welt ist ja voller verrückter Zufälle, lernt er die hübsche Häuptlingstochter Atala kennen, und alles könnte richtig schön werden. Leider aber kündigt Häuptling Biberhahn, Herrscher über die Nachbarinsel Papatutu, kurz darauf seinen Staatsbesuch bei Atalas Vater Abendwind an, und das verlangt nach einem Festmahl. Die Tragik nun liegt darin, daß man in dieser Gegend der Welt dem Kannibalismus zugetan ist, und daß der französische Friseur nach einhelliger Meinung ein wunderbares Schmorgericht abgeben dürfte. Was ihm naturgemäß gar nicht schmeckt, um im Bild zu bleiben. Und wie er aus der Nummer wieder herauskommt, erfährt man ab dem 24. Januar im Dortmunder Schauspielhaus. Dann hat dort nämlich das Stück „Häuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette“ Premiere.

Der Stücktitel verlangt nach Erklärungen. Zunächst „Die Kassierer“: Sie gelten, sagt Schauspielchef Kay Voges, seit 30 Jahren als die kultigste Punk-Band aus dem Ruhrgebiet. In Sonderheit sei die Revier-Lebensweisheit „Das schlimmste ist, wenn das Bier alles ist“ ihr Leib- und Lebensmotto. Den Spruch kann man ja etwas umrubeln auf „Das schlimmste ist, wenn das Fleisch alle ist“, womit man dann sozusagen schon beim Grundmotiv des hier zur Aufführung gelangenden Kannibalen-Stoffes wäre, welcher ursprünglich ein Opernlibretto war, geschrieben von Philippe Gille und Léon Battu zur Musik Jacques Offenbachs. „Vent du soir ou l’horrible festin“ hieß das Werk auf französisch, und Johann Nestroy machte daraus eine Burleske mit dem (annähernd exakt übersetzten) Titel „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“. Diese Burleske nun, der Anlauf hat etwas gedauert, wird von Den Kassierern mit Offenbachs Klängen zur Punk-Operette verwurstet. Es wird absehbar schräg und laut und lustig, zumal Die Kassierer auch auf Musikfeldern wie Country oder Jazz zu Hause sind.

DO_5162a

Die Oper „Carmen“ wird auch in der neuen Spielzeit gegeben. Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund

Das Projekt habe sich auch deshalb geradezu angeboten, weil Punk und Operette sich doch recht ähnlich seien, merkt Kay Voges treuherzig an. Doch, doch! Der hohe Mitsingfaktor sei durchaus vergleichbar. Jedenfalls ist diese Punk-Operette des Schauspielhauses in der Spielzeit 2014/2015 und in der Abteilung Originalität unangefochtener Spitzenreiter. Regie führt übrigens Andreas Beck, den man aus dem Ensemble und bislang vor allem „vor der Kamera“ kennt. Daneben, wir bleiben beim Schauspiel, wird ein bunte, anspruchsvolle Themenmischung geboten.

Schauspiel

Kay Voges selbst inszeniert für den Spielzeitauftakt am 12. September einen „Hamlet“, bei dem ihn Video-Artist Daniel Hengst („Tannhäuser“) und Musikchef Paul Wallfisch unterstützen werden. Jetzt, so Voges, fühle er sich alt genug für diesen Shakespeare-Stoff. Und man wüßte jetzt schon gerne, wie er wohl den Hamlet-Monolog anlegen wird. Oder ob er ihn einfach weglässt?

Der notorische Wenzel Storch, der durch seinen Film „Die Reise ins Glück“ einer größeren Zahl von Menschen bekannt wurde, führt Regie bei einer „Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“. „Komm in meinen Wigwam“ heißt die Produktion mit Premiere am 17. Oktober. Jörg Buttgereit ist wieder da und verkündet mit breitem gesellschaftlichen Bezug, daß „Nosferatu lebt!“. „Ein Mystery-Crime-Science-Fiction-Hospital-Theater-Web-Adventure in sieben Teilen“ steht auf dem Programm, das sich Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz und Kay Voges ausgedacht haben und das so eine Art Krankenhausserie ist. „The Madhouse of Ypsilantis“ heißt es. Fans des „Goldenen Zeitalters“, von denen es etliche gibt, dürfen sich auf eine weitere Folge freuen. Der neue Theaterabend mit unvorhersagbarem Verlauf hat im Februar 2015 das Motto „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Das kann einen schon nachdenklich machen.

In der nicht-experimentellen Abteilung, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, ist ebenfalls Leben: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Premiere 18. Oktober) gelangt zur Aufführung, ebenso eine Adaption von Ingmar Bermans „Szenen einer Ehe“ (Premiere 28. November). Für die „Elektra“ am 7. Februar 2015 werden Sophokles, Euripides und Hugo von Hoffmannsthal als Autoren genannt, doch zuvörderst plant Regisseur Paolo Magelli eine Beschäftigung mit Deutschland und Dortmund in den Zeiten nach den Weltkriegen. Paul Wallfisch steuert seine musikalischen Interpretationen von Richard Strauß’ „Elektra“ bei.

Schließlich ein Hinweis auf „Identity“. Mit diesem „Jugendclub-Projekt der Theaterpartisanen 16+“ will das (Erwachsenen-) Schauspiel auch Schulklassen besuchen und wildert damit scheinbar im Revier von Voges’ Kollegen Andreas Gruhn, dessen Kinder- und Jugendtheater (KJT) ja eigentlich zuständig für diese Altersklasse ist. Überhaupt fällt auf, daß das Schauspielhaus – beispielsweise auch mit dem „UNRUHR Festival“ im Juni 2015 – jugendliches Publikum umwirbt. Doch das ist vermutlich mit dem KJT abgesprochen.

Kinder- und Jugendtheater

Für die Theaterleute von der Sckellstraße bleibt genug zu tun, und auch sie überschreiten Grenzen. So wendet sich Lutz Hübners Klassiker „Frau Müller muß weg“ (Premiere 13.2.2015) eher an Eltern und Erzieher als an Kinder. „Sneewitte“ von Sophie Kassies und Jens Joneleit (Premiere 19. März 2015, Regie Antje Siebers) entsteht in Zusammenarbeit mit der Jungen Oper Dortmund und will Kinder ab sieben Jahren in musikalisches Neuland führen. „Industriegebietskinder“ – ein Arbeitstitel angeblich, den sie ruhig so lassen sollten – vergleicht als Projekt dreier Theater die Lebenssituationen an drei mehr oder weniger entindustrialisierten Orten. In Dortmund hat sich das KJT in den (neuerdings noblen) Stadtteil Hörde aufgemacht, das Berliner Theater Strahl blickt auf den ehemaligen DDR-Unterhaltungselektronik-Standort Oberschönweide, das Neue Theater Halle auf die streckenweise verwaiste Neustadt. Am Anfang des Projekts steht ein Camp in Berlin, geplant sind weiterhin Recherche-, Entwicklungs- und Produktionsphasen, und am 8. Mai 2015 soll das Ding zum ersten Mal über die Bühne gehen.

Ach ja: Das Weihnachtsmärchen heißt in diesem Jahr „Peters Reise zum Mond“. Andreas Gruhn hat Bassewitz’ langjähriges Erfolgsstück „Peterchens Mondfahrt“ gründlich überarbeitet und aktualisiert und zu einem „Weltraummärchen“ für Kinder ab sechs Jahren gemacht. Erster Mondstart von Peter und Anna ist am 13. November.

Oper

Sechs Premieren kündigt Opernchef Jens-Daniel Herzog an, was formal auch zutreffend sein dürfte. Aber Richard Strauss’ „Rosenkavalier“, Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis „Ein Maskenball“ halten sich landauf, landab, so hartnäckig in den Repertoires, daß es geradezu unglaubwürdig wirkt, ihren Wiedereinrichtungen das Etikett „neu“ aufzukleben. Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Dortmunder Produktionen aus, um die es so schlecht nicht bestellt sein kann. „Ein Maskenball“ zum Beispiel entsteht in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden in London.

„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber steht am 19. Oktober erstmals auf dem Programm des Opernhauses, das szenische Oratorium „Saul“ von Händel ist am 25. April 2015 die letzte Premiere der neuen Spielzeit. So weit, so gut.

Ein strahlendes Highlight hat die Oper aber doch im Programm: Die Vaudeville-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ von Paul Abraham, den die Theater seit einigen Jahren wiederentdecken. Der Plot klingt so herrlich doof, daß er fast in einem Satz erzählt werden kann: Fußball-Nationalmannschaft findet kein Quartier und wird notgedrungen im Mädchenpensionat untergebracht. Zum Finale treffen sich alle im Stadion.

Man darf gespannt sein, wie Regisseur Thomas Enzinger „Roxy und ihr Wunderteam“ umsetzen wird. Auch wenn der Stoff es nahezulegen scheint, muß die Inszenierung nicht zwangsläufig ein burlesker Schenkelklopfer werden. Die Verfilmung aus dem Jahr 1937, entstanden im damals noch nicht von den Nationalsozialisten regierten Österreich, wohin der jüdische Komponist Paul Abraham geflohen war, macht aus dem Stoff einen eleganten Tanzfilm, der an Fred Astaire, Ginger Rogers oder Gene Kelly denken läßt. 15 Termine zwischen dem 29. November 2014 und dem 15. März 2015 hat das Opernhaus schon angesetzt. Im fußballverrückten Dortmund hat man guten Grund, auf ausverkaufte Häuser zu hoffen (wenn nicht zeitgleich ein Pokalspiel läuft).

DO_HP1DouglasLee121

Streifen statt Farben: Der aktuelle Ballett-Dreiteiler heißt „Drei Farben: Tanz“ (Bild). In der nächsten Spielzeit ist „Drei Streifen: Tanz“ zu sehen… Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund

Ballett

Xin Peng Wang hat Motive aus Thomas Manns Roman „Zauberberg“ zu einem Ballett verarbeitet, dessen musikalische Leitung bei Motonori Kobayashi liegt (Premiere 8. November 2014). Zweite Premiere der kommenden Spielzeit ist wieder einmal ein Dreiteiler, der diesmal „Drei Streifen: Tanz“ heißt. Das Drittel mit dem Titel „Closer“ choreographiert Benjamin Millepied zur Musik von Philip Glass, jenes mit dem Titel „The Piano“ – eine Uraufführung – Jiri Bubenicek. Und die Uraufführung von Dennis Volpi hat noch gar keinen Titel. „Schwanensee“ wird wieder zu sehen sein, ebenso „Der Traum der roten Kammer“ in der Hongkonger Fassung von 2013. Außerdem gibt es etliche „kleinere“ Ballett-Aktionen: „Internationale Ballettgala XX & XXI“, Sommerakademie, NRW Juniorballett und so fort.

Konzerte

Bleibt, von der Musik zu künden, der konzertanten zumal. Die üppigen Spielpläne liegen detailliert vor, man findet sie im soeben erschienenen Spielzeitprogramm und auf dem Internetauftritt des Theaters Dortmund. Der Eindruck hier: Viel solide Arbeit im klassischen Repertoire, wenig Starkino. Zwei prominente Namen fallen ins Auge, zum einen der der Sopranistin Edita Gruberova, die den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Kulturstiftung Dortmund erhält und ihn sich am 5. Dezember im Konzerthaus abholen wird, zum andern der Sebastian Kochs, fernsehbekannter Schauspieler („Speer“), der, finanziert mit etwas Sponsorengeld, beim 5. Philharmonischen Konzert am 13. und 14. Januar in Beethovens Bühnenmusik zu Goethes „Egmont“ den Sprecher gibt.

Bei den Philharmonikern ist man übrigens auf die Idee gekommen, die Wörter, die die Titel der Reihen und Veranstaltungen bezeichnen, silbenweise zu zerhacken und dann mit so genannten Underlines zu verbinden. Deshalb heißt die philharmonische Reihe in diesem Jahr „helden_innen_leben“ und die Veranstaltung mit Herrn Koch im Januar „spiel_zeiten“. (Davor, nur als Fußnote, gibt es „gefühls_welten“, danach „helden_mut“.) Darf man in Blogs ungestraft das Wort Schwachsinn verwenden?

Fünf Konzerte der philharmonischen Reihe werden von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz dirigiert, fünf von Gästen, unter denen sich in dieser Spielzeit doch tatsächlich auch eine Frau befindet: Das 9. Konzert (12. und 13. Mai 2015) leitet die Amerikanerin Karen Kamensek, Generalmusikdirektorin in Hannover. Es gibt Kissenkonzerte und Kammerkonzerte und Babykonzerte (immer ganz schnell ausverkauft!) und „Konzerte für junge Leute“, deren Titel neugierig machen: „Groove Symphony“, „Superhelden der Filmmusik“, „Romeo und Julia in New York“. Und ganz am Schluß dieses Aufsatzes das schöne Gefühl, von der darstellenden Kunst geradezu umzingelt zu sein. Zumal seit kurzem auch das Programmbuch des Konzerthauses raus ist (grauenvoller Titel: „Stell dich der Klassik.“, mit dem Punkt). Es wiegt über ein Pfund und damit sogar noch etwas mehr als das von Oper und Theater.

http://www.theaterdo.de/startseite/

www.konzerthaus-dortmund.de




„Die Spiegel-Affäre“: Starker Politthriller um Augstein und Strauß

Das war ziemlich großes Kino, was uns die ARD (und ein paar Tage zuvor arte) heute geboten hat: „Die Spiegel-Affäre“ war eines jener raren Fernseh-Ereignisse, für die man denn doch gern seine Gebühren zahlt.

Die Älteren erinnern sich – und hoffentlich wissen auch einige Jüngere ein wenig Bescheid: Im Oktober 1962 berichtete das Hamburger Magazin „Der Spiegel“ unter der Schlagzeile „Bedingt abwehrbereit“ über die mangelnde Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr.

Kampf um die Pressefreiheit

Franz Josef Strauß, CSU-Verteidigungsminister im Kabinett Adenauer, witterte Landesverrat und erwirkte (durch mehr oder weniger direkte Weisungen) die Verhaftung des „Spiegel“-Chefs Rudolf Augstein, des Artikel-Autors Conrad Ahlers und weiterer Redaktionsmitglieder. Strauß belog den Bundestag über seinen aktiven Anteil an den Verhaftungen und musste zurücktreten. Die „Spiegel“-Leute kamen nach und nach frei.

Sebastian Rudolph als "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Sebastian Rudolph als „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Die perfide Razzia beim „Spiegel“ wurde zum Fanal. Erstmals in solcher Form wurde breiter Protest für die Pressefreiheit laut. Die Affäre hat ungeheuer nachgewirkt und damals viele Menschen in ihrem Demokratieverständnis geprägt. Sie führte überdies später indirekt zur ersten sozialliberalen Koalition und hat gewiss auch erste Keime für die Rebellion von 1968 gelegt.

Duell der selbstherrlichen Männer

Roland Suso Richters Spielfilm-Doku spitzt die Handlung auf den Zweikampf zweier selbstherrlicher und von ihren gegenläufigen Missionen besessenen Männern zu: Rudolf Augstein ( Sebastian Rudolph) und Franz Josef Strauß (Francis Fulton Smith), der die Bundesrepublik unbedingt atomar bewaffnen wollte. Mauerbau und Kuba-Krise schienen seiner harten antikommunistischen Linie in die Karten zu spielen.

Um eine pralle Geschichte zu erzählen, muss man wohl auf diese Weise personalisieren. Gespielt wird das jedenfalls – bis in die Nebenrollen hinein – ganz exzellent. Wir erleben einen fesselnden Politthriller, wie man ihn sonst eher US-Regisseuren zutraut.

Saufen, rauchen, Frauen verachten

Trefflich auch das Zeitkolorit der späten 50er und frühen 60er Jahre. Geradezu bewundernswert, wie eine ganze Welt zwischen historischen Autotypen, Paternostern und stimmigen Interieurs herbeigezaubert wird. Fast möchte man in Nostalgie verfallen, hätte das Ganze nicht einen so ernsten politischen Hintergrund.

Francis Fulton Smith als Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Francis Fulton Smith als Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Das ungebremst saufselige und frauenverachtende Gockelgehabe der männlichen Akteure entfaltet sich gleichsam in einer gründlich verrauchten Sektkelch- und Bierkrug-Republik – mit Ausflügen in den Weinbrandsuff: „Darauf einen Dujardin – peng!“

Lockere Sprüche in der Redaktion

Mag sein, dass die Sprücheklopfer-Atmosphäre in der „Spiegel“-Redaktion etwas zu locker gezeichnet wird, im Sinne der Spannung und Unterhaltsamkeit funktioniert das alles jedenfalls prächtig. Einige Portionen geschichtlicher Aufklärung fallen dabei allemal ab.

Mag auch das eine oder andere historische Detail etwas verrutscht sein, so stimmen doch insgesamt wohl die Gewichtungen. Man ertappt sich gelegentlich sogar dabei, die Antriebe eines Franz Josef Strauß ansatzweise nachvollziehen (allerdings nicht billigen) zu können. Und das will wirklich etwas heißen.




Demokratie und Peitsche: „Manderlay“ nach Lars von Trier am Schauspiel Essen

Foto; Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Foto; Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Wenn ein Mensch ausgepeitscht wird, ist das ein barbarischer Akt. Dabei zuzusehen und vor allem zuzuhören, wie das Folterwerkzeug auf die nackte Haut klatscht, das Opfer schreit und sich rote Striemen auf dem Rücken bilden, löst Scham aus. Darüber, dass man nicht eingreift und so die Züchtigung stillschweigend billigt. Darüber, dass man sich den Schmerz vorstellen kann, er aber jemand anderem zugefügt wird.

Als Auftakt für die Dramatisierung von Lars von Triers Film „Manderlay“, die Hermann Schmidt-Rahmer für das Schauspiel Essen inszeniert hat, setzt diese Szene einen starken Akzent und führt mitten in das Herz des Stückes: Kann man ein autoritäres System in ein gewaltfreies, demokratisches Miteinander überführen?

Manderlay ist eine Plantage und sie liegt im Süden der USA. Obwohl die Sklaverei eigentlich schon seit Jahrzehnten abgeschafft ist, herrscht dort noch das alte Unterdrückungssystem. Die eigenen Gesetze und Regeln der Farm sind in einem Buch von Mam, der ehemaligen Besitzerin, niedergeschrieben. Dort hat sie ihre Sklaven auch klassifiziert und je nach Charakter in Kategorien eingeteilt. Grace, die neue „Chefin“ auf Manderlay will die Sklaverei abschaffen und die Demokratie einführen. Sie hasst dieses „rassistische“ Buch zutiefst.

Doch aus abhängigen Menschen freie, selbstbestimmte Wesen zu machen, gestaltet sich als schwierig: Sie sind es nicht gewohnt, selbst zu entscheiden oder sich für eigene Ziele einzusetzen. So bleibt die Arbeit ungetan, die Felder liegen brach und die wirtschaftliche Existenz aller ist plötzlich gefährdet. „Gutmensch“ Grace (Floriane Kleinpaß) gerät in ein Dilemma, das auch in der globalen Politik zu beobachten ist: Kann bzw. soll man die Menschen zu Freiheit und Demokratie zwingen, obwohl ihnen selbst diese Lebensform total fremd ist? Ist der Zwang zur Freiheit nicht per se unfrei? Sind demokratische Werte absolut zu setzen und in jeder Gesellschaft einzuführen, wenn nötig mit Gewalt? Der aktuelle politische Bezug könnte nicht offensichtlicher sein.

Ästhetisch haben Hermann Schmidt-Rahmer und sein Bühnen- und Kostümbildner, der Künstler Thomas Goerge, der auch mit Christoph Schlingensief am Operndorf in Burkina Faso gearbeitet hat, die Geschichte nach Afrika verlegt. Aus Benzinkanistern und Wohlstandsmüll gebaute Puppen repräsentieren die Figuren und nur an diesen kann man erkennen, wer schwarz oder weiß ist.

So erhält die Inszenierung neben einem gewissen Multikulti-Lokalkolorit zugleich den Charakter eines sozialen Experiments: Es geht um Macht in einer Gruppe, wer sie ausübt und mit welchen Mitteln er das tut. Die Hautfarbe ist dabei nur das Vehikel der Unterdrückung. Genauso gut könnte es Armut oder ein irgendwie anders bestimmter Makel sein – nichtsdestotrotz vermischen sich in der Realität Rassismus, soziale Benachteiligung und Gewalt auf unheilvolle Weise.

Foto: Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Foto: Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Die Realität ist es denn auch, die Graces Utopie scheitern lässt: Obwohl das Schicksal der Farm schon (völlig untypisch für Lars von Trier) auf ein Happy End zusteuert, weil trotz aller Widrigkeiten die Ernte eingebracht, die Schule geründet und das demokratische Abstimmungswesen verstanden ist, geht zum Schluss noch alles schief. Graces Liebhaber Timothy verspielt den Gewinn der Ernte beim Poker und beweist damit, dass Mam in ihrem rassistischen Buch doch recht hatte, ihn als unzuverlässigen Sklaven einzustufen.

Die aufgeklärte Chefin im ökologisch korrekten weißen Leinenkleid greift selbst zur Peitsche, um Timothy zu bestrafen. Und so kommt es, dass der Schauspieler Daniel Christensen an diesem Abend zum zweiten Mal öffentlich gezüchtigt wird. Aua.

Karten und Termine: www.schauspiel-essen.de




Alte Griechen 2014: „Orestie“ In Oberhausen

Foto: Thomas Aurin/Theater Oberhausen

Foto: Thomas Aurin/Theater Oberhausen

Eigentlich wollte Orest seinen Stiefvater gar nicht töten. Aber der Typ hat einfach so viel gelabert, immer bla bla bla, und nicht aufgehört. Das war voll Stress. Und dann hat Pylades, der Honk, der Idiot ihn ins Knie geschossen und der hat geschrien und das Blut ist gespritzt und der hat immer noch weiter gelabert, bla bla bla, holt mir einen Arzt, ihr müsst mich ins Krankenhaus fahren, Hilfe, ich verblute. Und das war zu anstrengend und auch zu laut und damit das Gequatsche endlich aufhört hat Orest ihn dann abgeknallt, richtig in den Kopf und nicht nur ins Knie und dann war game over.

Überhaupt: Verdient hat er es auf jeden Fall, Aigisth, dieser Arsch. Ich meine, er hat Orests Mutter gefickt und seinen Vater getötet, wie Scheiße ist das denn? Das hat er alles verdient wie er es gekriegt hat und eigentlich noch viel mehr wegen Elektra und Iphigenie, aber man kann ja nicht alle gleichzeitig rächen. Die müssen sich auch mal selber rächen. Orest ist damit jetzt fertig und die sollen sehen wie sie klarkommen. Nicht sein Problem.

Wenn es eine richtig üble Familie gibt, so mit Hass und Mord und Fremdgehen und Kinder vernachlässigen und Ehemann betrügen und Saufen, Drogen, Krieg und Verrat, dann sind es wohl die Atriden. Eigentlich alte Griechen, aber der 30-jährige australische Regisseur Simon Stone hat die ganze verkorkste Familiengeschichte, die „Orestie“ nach Aischylos, in die heutige Zeit übersetzt und auf die Bühne des Theater Oberhausen gebracht.

Nicht, dass nicht schon andere versucht hätten, den antiken Stoff in die Gegenwart zu verpflanzen. Doch Simon Stones Ansatz ist radikaler: Er wirft jede antike Sprache komplett über den Haufen und formuliert alles neu. Dabei lautet zwar jedes fünfte Wort „fuck“, aber eigentümlicherweise funktioniert es trotzdem. Denn Stone trifft ins Herz dieser Geschichte und macht sie plausibel. Als Zuschauer erlebt man die Figuren endlich einmal nicht entrückt durch die historische Distanz, sondern als nervige Patchwork-Familie von jetzt und nebenan. (Also, als die Nachbarn, denen man lieber aus dem Weg geht, wenn sie im Jogginganzug zum Mülleimer schlurfen und sich in der Nachbarwohnung so laut streiten, dass man leider jedes Wort verstehen kann, was man eigentlich gar nicht will.)

Auf jeden Fall: Endlich versteht man den Schmerz, den Klytaimnestra über die Opferung Iphigenies empfindet und den Groll, den sie ihrem Mann Agamemnon gegenüber hegt. Denn er ist in den Krieg um Troja gezogen und hat sie jahrelang alleingelassen, mit Kassandra betrogen. So ließ sie Männer in ihr Haus und wählte Aigisth als Liebhaber. Eine schlechte Wahl, denn der Mann hat offensichtlich einen verdorbenen Charakter und will nur an die Macht. Die Kinder Elektra, Iphigenie und Orest werden derweil von den abwesenden oder überforderten Eltern abgeschoben und instrumentalisiert, wobei Iphigenies Schicksal besonders krass ist. Stone hat allerdings aus der Opferung Iphigenies um des Kriegsglücks in Troja willen eine unheilbare Krankheit gemacht, bei der Agamemnon Sterbehilfe leistet.

Die Schauspieler, die in der Mitte der Zuschauer auf einem quadratischen Podest spielen, sind allesamt großartig: Sie agieren zum Greifen nah und echt. Die Handlung hat Stone filmisch aufbereitet, in Vor- und Rückblenden zerhackt und Pulp-Fiction-artig durcheinandergewirbelt. So dauert der ganze Fluch auch nur zwei Stunden. So lange ungefähr wie man heute nach Athen fliegt. Nach Troja segeln muss keiner mehr und auf Wind warten auch nicht. Doch die unglücklichen Familien, die gibt’s irgendwie immer noch.

Infos und Karten:
www.theater-oberhausen.de