Pierre-Laurent Aimard verortet György Ligetis Klavieretüden in ihrem historischen Kontext

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Er zählt zu den Intellektuellen unter den Pianisten. Zu denen, die sich erst einmal Gedanken über die Programmgestaltung machen, bevor ein Konzert beginnt. Um dann zwischen einzelnen Werken sinnfällige Beziehungen aufzuzeigen, zu verdeutlichen, dass Komponisten nicht im luftleeren Raum agieren, sondern stets in die Musikgeschichte eingebunden sind.

Von Pierre-Laurent Aimard ist hier die Rede, dessen analytischer Zugriff – als Interpret und indirekt ja auch als des Publikums Lehrer – uns Anregungen, zudem ästhetische Sinneserweiterung schenkt. Das hat er nun beim Klavier-Festival Ruhr erneut aufs Schönste bewiesen. Ihm zu folgen, staunend, anerkennend und mitdenkend, bedeutet Genuss und Herausforderung zugleich. Und am Ende eines solchen Konzeptkonzertes applaudiert das Publikum sowohl für Aimards nie zur Schau gestellte Virtuosität als auch, diesen Abend im Essener Haus Fuhr, für die Erkenntnis, dass Neue Musik mitreißend und sinnlich sein kann.

Der französische Pianist verknüpft zwei Stränge, die das Festival in diesem Jahr als Schwerpunkte ausgegeben hat. Vieles dreht sich dabei um das Thema Etüden, manches um den Ungarn György Ligeti. Der gilt, in Nachfolge Bartóks, gewiss als bedeutendster Komponist seines Landes im 20. Jahrhundert. Und schrieb zwischen 1985 und 2001 ein Konvolut von 18 Klavieretüden. Eine rhythmisch vertrackte, fingerakrobatische, teils klanglich aufreizende Musik, die sich so wahnwitzig wie vermeintlich unspielbar anhört. Dann müssen zehn Finger raschest quirlige Figurationen die Tastatur rauf und runter treiben, und dabei noch die Illusion ungleicher Geschwindigkeiten wecken.

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne bei seinen Konzeptkonzerten geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Ligeti hat sich als Vorbild die Musik für Player Pianos des Amerikaners Conlon Nancarrow genommen. Nur dass der Ungar einen lebendigen Pianisten als Interpreten vorsah, und nicht ein Selbstspielklavier – also eine Maschine. Doch abseits davon hat Ligeti die Etüden Chopins genauso intensiv studiert wie jene Claude Debussys oder eben Béla Bartóks. Und dem Solisten Aimard gelingt es nun, diese Beziehungen ohrenfällig zu illustrieren. Indem er seinem Programm einen Kunstgriff verordnet: Die Etüden, die erklingen, werden gemischt – auf Debussy folgt Ligeti, folgt Chopin, wieder Ligeti, dann Bartók…

Und es ist schon erstaunlich, dass wir plötzlich die Umspielungen einer Chopin-Etüde im Lichte der Moderne ganz neu hören. Dass die rauschhafte Sturm-und-Drang-Musik der frühen Bartók-Etüden problemlos als eine von Ligetis Wurzeln zu erkennen ist. Oder dass Alexander Skrjabins Beitrag zu Gattung, in ihrer Farbenpracht und orchestralen Wucht, klar auf Zukünftiges verweist. Nehmen wir nur das letzte Werk des Abends, Ligetis 13. Etüde, „Die Teufelstreppe“. In aberwitziger Geschwindigkeit, die der Komponist bis zum Exzess treibt, rast Satan umher. Um letztlich dort zu landen, wo er hergekommen ist: in der vom Clusterklang dominierten bassschwarzen Hölle.

Ein Finale furioso, das Pierre-Laurent Aimard bravourös inszeniert. Mancher mag danach Ligeti, den Modernen, für sich entdeckt haben.




Familienfreuden auf Reisen: Der Engel im Clownskostüm

 

Die Versuchung ist groß - der Wille auch. (Bild: Albach)

Die Versuchung ist groß – der Wille auch. (Bild: Albach)

Sommer, Sonne, Strand – diesmal kein Klischee, sondern Realität: Wir sind auf Menorca! Und Fi gewöhnt sich langsam an die hiesige Lebensart.

Wir waren bewaffnet. Für den Flieger meine ich. Gefühlte 20 Pixi-Bücher, Handpuppen, Fruchtriegel, Windeln, Feuchttücher. Für jede Eventualiät gerüstet. Und was geschah? Fi ließ fröhlich die Beine in ihrem Sitz baumeln, kaute ihr Sandwich, lugte durch die Sitze zu dem Jungen vor ihr und schlief sogar irgendwann ein. Kind, wer hat Dich erfunden?

Vielleicht hat Fi geahnt, dass ein kleines Paradies auf sie warten würde. Der Eingang dazu entpuppte sich als Strandbar mit selbst hergestelltem Eis. Auch mit der Sorte SchokoLADE im Sortiment. Kleine Hände können eine Eiswaffel sehr fest umklammern. Und jeder der Strandspaziergänger, denen wir anschließend begegneten, musste grinsen angesichts dieses schokobärtigen Kindes, das aussah, als sei es kopfüber in flüssige Schokolade gefallen. Mal anders ausgedrückt: Der elterliche Wille, das Kind gesund und vielseitig zu ernähren und nicht mit Konsum zu überschütten, wird arg angekratzt, wenn einem nonstop andere Nachwüchse über den Weg laufen, die Eis schlecken, Pommes essen oder sonstwie von der Fast food Industrie als Werbeträger angeheuert wurden.

Auch der Gang in den Pool wird zur Abwehrschlacht: Wir haben einen Schwimmring und einen Eimer dabei. Fi sieht: Schwimmende Fische, Krokodile, Boote. Und lernt das Wort „kaufen“! „Auch Boot kaufen, auch Fisch kaufen“, lautet der Sirenengesang, dem man sich kaum entziehen kann. Hart bleiben kommt einem plötzlich grausam und so spielverderberisch puritanisch vor.

Fi jedenfalls passt sich schnell an die Umgebung an. Die spanischen Damen begrüßt sie schon mit „Hola“! Und erntete dass aufgeregte Gekreische und wilde Geküsse der Kellnerinnen anfangs noch einen entsetzten Gesichtsausdruck und einen Fluchtimpuls in den elterlichen Arm, streckt Fi jetzt bereits ihre Wange hin und verteilt selbst schmatzende Luftküsse.

Das größte aber ist eine Einrichtung, die wir wahrscheinlich sträflich missachtet hätten, wären unsere Nachbarn mit Tochter im gleichen Alter nicht so freundlich gewesen, uns darauf aufmerksam zu machen: die Mini-Disco! Menschen ohne Kinder dürften sich eher mit Grausen abwenden, wenn das kleine Animatoren-Team mit seinem Lautsprecher anrückt, die grellen Töne erklingen und die Kinder loshüpfen.Für Fi ist es der Himmel. Und der Engel darin ist in Form einer ansehnlichen Dame auf die Erde gekommen, die sich allabendlich in ein neues Clownskostüm wirft, die Lippen rot schminkt und einen Glitzerhut aufsetzt. Fiona kann den Blick nicht von ihr lassen, während ihre kleinen Beinchen auf und ab hüpfen. Und die Eltern? Die klatschen verzückt mit, das Eis für später in der Hand, das Gummiboot im Supermarkt nebenan in Gedanken schon gekauft.

Glück hat eben viele Gesichter.

 

Mehr über Nadine Albach unter www.medienwiese.tv




Begeisterndes Panorama des Ausdrucks: Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Seine Auftritte sind nicht häufig, aber die Verknappung ist kein Programm zur Förderung einer Aura, sondern schlicht künstlerischer Verantwortung geschuldet: Evgheny Igorewitsch Kissin gehört zu den ganz Großen seiner Zunft, nicht weil er anderen technisch etwas vorzumachen hätte, sondern weil er in seinem Spiel den einfühlenden, gestaltenden, souveränen Geist erkennen lässt. Weil es ihm gelingt, das innere Erleben, das ihm nach eigener Aussage wichtiger ist als das äußere, in seinem Spiel zu kommunizieren. Weil er, der Distanzierte, Scheue, ein bisschen aus der Welt Gefallene, in diesen Momenten sich mit seinem Publikum tief verbindet.

Und die Menschen in den Sälen merken das: Der Beifall bei Kissins Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund war nicht nur der Überwältigung durch ein makelloses Spiel geschuldet – das können viele andere Pianisten ja auch –, sondern drückte etwas aus von der „Begeisterung“ im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn Kissin sich in Schubert, in Skrjabin versenkt, dann be-geistert er, dann nimmt er mit in die unergründlichen Welten, die Musik aufschließen kann. Vor wenigen Tagen wies Claus Leggewie beim Festkonzert zu zehn Jahren Philharmonie Essen auf die immense Kraftquelle hin, die Orte wie ein Konzerthaus für eine Stadt und ihre Gesellschaft bedeuten. Nach dem Kissin-Konzert möchte man mit Wotan sagen: „Heut hast Du’s erlebt“.

Man erlebt’s, selbst wenn nicht alles wie aus einem Guss gelingt: Warum Kissin in Schuberts „Gasteiner Sonate“ D 850 den einleitenden, später formal so bedeutenden rhythmischen Ruf so hastig zusammenzieht, wird nicht verständlich. Seine Artikulation wirkt unwirsch und verschwommen, sein Akkordspiel beruhigt sich erst im klar formulierten Seitenthema. Will man bei den oft strapazierten Naturbildern gerade für diese, in Schuberts Ferien in Bad Gastein entstandenen Sonate bleiben, könnte man für den ersten Satz sagen: ein Sturm im Gebirge. Allerdings einer, in dem sich mehr und mehr die Nebel lichten und im Wüten rauschender Triolen die vollgriffige Harmonik deutlich fassbar wird. Wie er das Signal des Beginns durch die harmonische Entwicklung immer wieder aufleuchten lässt, zeigt: Kissin ist ganz bei sich.

Im zweiten Satz bringt Kissin die harmonischen Wendungen zum Leuchten, sentimentalisiert sie aber nicht. Auch wenn er verzögert, mit der Agogik spielt, will er nicht verzücken, sondern vertiefen. Wie differenziert er die Wiederholungen färbt, ist ein Beispiel großer Kunst für sich. Das Scherzo lässt er aus der heftigen Bewegung und den scharfen Kontrasten Kraft gewinnen: Hier selbstbewusster Rhythmus, scharf konturiert; dort silbern filigranes melodisches Gespinst. Und im letzten Satz schaut Kissin weniger auf die humorigen Momente – die trockenen Staccatio empfand Schumann als Satire auf den „Schlafmützenstil“ von Pianisten wie Pleyer oder Vanhal –, sondern auf die einfache, unverkünstelte Poesie, mit der die Sonate endet.

Bei seinem Landsmann Alexander Skrjabin bewegt sich Kissin dann auch manuell auf Gipfeln, auf denen die Luft für andere sehr dünn wird: Das polymetrische Gewirk im zweite Satz der Sonate-Fantaisie gis-Moll (op.19) muss erst einmal jemand so präzis und souverän entflechten. Die Presto-Kaskaden muss erst einmal jemand so hindernisfrei abrauschen lassen. Und wem das nicht genug ist, dessen Blick stellt Kissin in all dem Trubel noch scharf auf die motivischen Bezüge zum Andante; denn die Sonate vergisst im Finale nicht die Ostinato-Glockenschläge des Beginns.

Auch in der Auswahl der sieben Etüden aus dem Zyklus Opus 8 von 1894 erweist sich das dramaturgische Geschick, mit dem Kissin seine Programme gestaltet. Nie verrät er die technisch anspruchsvollen Stücke an das bloß Triumphal-Zupackende. Nie umwölkt er die leisen Töne, das nachdenkliche Innehalten mit dem Parfüm, das Skrjabin noch vor dreißig Jahren in Westeuropa gerne nachgesagt wurde. Das „tempo rubato“ etwa in der Nummer acht ist kein sensualistischer Effekt, sondern unterstreicht die poetische Note des Stücks. Und das „Andante cantabile“ der Nummer elf wird herb, fast schmerzlich formuliert und endet in einem fragenden Dunkel, auf das in der abschließenden dis-Moll-Etüde Nummer 12 eine heroisch aufbegehrende Antwort gegeben wird.

Kissin entrollt ein unglaubliches Panorama pianistischer Ausdruckskunst – und seine Zugaben sind keine netten Schmankerln, um das Publikum noch einmal „Ah“ und „Oh“ rufen zu lassen, sondern erweitern den Blick um weitere Aspekte: von Skrjabin zu Chopin und von den Meistern des 19. Jahrhunderts zurück zum Meister aller Meister, Johann Sebastian Bach, gesehen durch die Bearbeiter-Brille eines der signifikanten Ausdrucksmusiker der verebbenden Romantik, Wilhelm Kempff.




Ein Ort kultureller Öffentlichkeit: Die Philharmonie Essen feierte Zehnjähriges

99 gold'ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

99 gold’ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

Vor 110 Jahren hat Richard Strauss höchstpersönlich den alten Essener Saalbau eröffnet. Mit einem neuen Stück, seiner „Sinfonia domestica“ als europäischer Erstaufführung. Vor zehn Jahren, am 5. Juni 2004, erklang das erste Konzert im neuen Saalbau unter Leitung von Stefan Soltesz. Auch jetzt spielte das heimische Orchester, dirigierte Tomáš Netopil die Strauss’sche Tondichtung. Und davor sein „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ aus dem Jahr 1913, als die Welt des alten Europa noch in Ordnung schien.

Beziehungsreicher hätte das Programm des Festkonzerts zum Zehnjährigen der Philharmonie Essen nicht zusammengestellt sein können. Es rückt den Saalbau und die Institution in den Blick, die ihn mit musikalischem Leben füllt. Es würdigt mit Richard Strauss einen der wichtigen Musik-Jubilare des Jahres 2014. Und es verweigert sich nicht der Zeitgenossenschaft. Dem selbstgewissen Dauerlärm von Richard Strauss` bombastischer Ouvertüre widersetzt sich ein sensibles, leises, suchendes Stück: Wolfgang Rihms „Verwandlung 6“. Geschrieben hat es der wohl bekannteste unter den deutschen Komponisten der Gegenwart im Auftrag der Philharmonie Essen. Und finanziert hat diese „Musik für Orchester“ die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Das muss erwähnt werden. Denn bei aller Festlaune im Saalbau: Das finanzielle Korsett sitzt knapp. Ohne die Stiftung als Sponsor hätte es wohl keinen Rihm zum Jubiläum gegeben. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, bediente in seiner Rede nicht nur den berechtigten Stolz und die Zufriedenheit über das Erreichte. Sein Plädoyer für Einrichtungen wie die Philharmonie als Orte kultureller Öffentlichkeit verband er mit dem „Ausdruck echter Sorge“: Auch an einem Feiertag sei es unmöglich, von Bedrohungen kultureller Autonomie nicht zu sprechen.

Leggewie erhofft sich „eine Debatte über den Wert öffentlicher Kultur und kultureller Öffentlichkeit“. In Häusern der Kultur – Theatern, Philharmonien, Opernhäusern, Museen, Lichtspielhäusern – kommen Menschen ins Gespräch und reden sich bisweilen die Köpfe heiß. Es sind Orte, an denen sich gesellschaftliche Erfahrung verdichtet. An denen sich, wie im Theater im alten Griechenland, die Bürger ihrer selbst bewusst werden. Originalton Leggewie: „Glücklich ist das Land, das solche Ressourcen ererbt hat, pflegt und auf den neuesten Stand bringt, das Kultur nicht als Luxus oder Spektakel abtut, sondern als moralische Bildung ernst nimmt, Kinder und Jugendliche sehr früh einbezieht und sich bewusst ist, dass eine Gesellschaft ohne diese sinnstiftende, oft auch verstörende und aufrüttelnde Grundlage arm dran ist.“

Die Philharmonie im Saalbau zu Essen sei ein herausragendes Beispiel für einen solchen Ort bürgerlichen Gemeinsinns, der kulturelle Höhepunkte, soziale Geselligkeit und demokratischen Diskurs verbindet. „Der Saalbau hat Essen das urbane Flair einer Großstadt gegeben.“ Hannelore Kraft hat es gehört – die Ministerpräsidentin saß in der ersten Reihe –, OB Reinhard Paß auch.

Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen". Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“. Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Noch weiter vorne, auf dem Podium, gaben die Essener Philharmoniker ihr Bestes, um dem eröffnenden Strauss-Schinken mehr als „kolossalen“ Festesglanz abzugewinnen. Das Gebräu, angesetzt durch Roland Maria Stangier mit bedeutungsschweren Orgelakkorden, verkocht zum Glück, bevor es gänzlich ungenießbar wird.

Anders die „Sinfonia domestica“, mit der vor 110 Jahren Richard Strauss persönlich den alten Saalbau eröffnet hatte. Das ungenierte Selbstporträt seiner Familie zeigt Strauss als Perfektionisten der Farben, als Zauberer einer kaum zu bremsenden Orchester-Virtuosität. Der ausgiebige Einsatz aller Instrumente gibt den Philharmonikern Raum, sich zu entfalten. Dazu feuert sie ihr Chef Tomáš Netopil mit Elan an. Trillernde Fanfaren des Blechs stürmen die heitere Ruhe der Familienidylle wie eine Horde tobender Kinder; Hörner und Trompeten spielen sich Echos zu; Flöte und Klarinette tanzen miteinander wie in einem Ländler. In solchen Momenten spiegelt die häusliche Sinfonie etwas von der geordneten, behaglichen Ruhe, auf die Strauss so bedacht war. Aber auch die burleske Bewegungsfreude kommt zum Zug, wie wir sie zum Beispiel aus „Till Eulenspiegel“ kennen. Fugen spielen Fangen; Holzbläser in hoher Lage erinnern an Gustav Mahlers verzerrten Volkslied-Ton. Und die Uhr, die auch im „Rosenkavalier“ schlägt, erinnert behutsam an den unerbittlichen Gang der Zeit.

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Wolfgang Rihm fordert das Orchester anders, weil das feine Gespinst seiner Klänge höchste Konzentration verlangt. „Verwandlung“ hat mit Stillstand und Fortgang von Zeit zu tun, wenn eine Rassel den ersten Rhythmus anklingen lässt, der sich bis zum Einsatz von vier Schlagzeugern steigert. Dazwischen tasten sich schüchtern-gebrochene melodische Motive durch die Stille, verbinden sich vorsichtig, wachsen zusammen und stützen sich gegenseitig. Wie Rihm das kreisförmige Schema des Stücks klangsinnlich neu füllt, hat nichts mit dem strotzend selbstsicheren Souveränität des Bayern zu tun: Der badische Meister aus Karlsruhe äußert sich nicht weniger selbstbewusst, aber er zeigt, wie er sich auch der Brüchigkeit seiner Welt stellt.

Die Feier in der Philharmonie hat viele Menschen aus der Essener Bürgerschaft versammelt, die sich des Wertes der Musik, der Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen bewusst sind. Es wird sich zeigen, wie weit die Entschlossenheit reicht, wenn sich der finanzielle Horizont wieder verdüstert. Auch Hans Schippmann, scheidender Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie Essen, scheint da seine Zweifel zu haben, wenn er den Entscheidungsträgern mit geradezu flehenden Worten ans Herz legt, die Zukunft der TuP zu sichern. Essen wäre gut beraten, die Philharmonie als Zeichen kultureller Bewusstheit und gelingenden Strukturwandels auch künftig leuchten zu lassen.