Kunst statt Krieg – großartiger Auftritt der Sopranistin Anna Prohaska in Dortmund

Prohaska 2_2014(c)Holger Hage_DGIm Trailer der „Junge Wilde“-Reihe des Dortmunder Konzerthauses reißt sich Anna Prohaska wutschnaubend die Perlenkette vom Hals. Als wolle sie, sagen wir, in der Gestalt der Donna Elvira dem so geliebten wie verhassten Don Giovanni den Schmuck vor die Füße werfen. Eine Episode, die voller Symbolkraft steckt: Da ist eine Sängerin der unkonventionellen Art, jung und wild eben, die sich in musikalischen Gefilden auch auf abseitigen Pfaden bewegt.

„Das Ende der klassischen Klassik“ propagiert das Konzerthaus damit, und nichts scheint dem besser zu entsprechen, als Anna Prohaskas jüngster Auftritt, ein Liederabend. Denn die Sängerin bricht mit manchen Gesetzen der Aufführungspraxis, findet den Weg heraus aus kammermusikalischer Intimität oder nach innen gerichteter Emotionalität. Sie und ihr großartiger Klavierpartner Eric Schneider beherrschen das Podium gewissermaßen mit offenem Visier und fechten einen Kampf wider den Wahnsinn des Krieges, mit den Mitteln der Kunst.

„Behind the Lines“ ist dieses Konzeptkonzert zum Jahresgedenken an den Ersten Weltkrieg überschrieben, mit ausgewählten Liedern des Barock, der Klassik, Romantik und Moderne. Dabei wird indes nicht nur das Leben und Fühlen abseits der Front (Hinter den Linien) beleuchtet, besser gesagt messerscharf analysiert, vielmehr fällt der Blick oft genug aufs Schlachtfeld selbst. Es wird jubelnd in den Kampf gezogen, herrschen Stolz und Freude wie Schmerz und allertiefster Jammer. Aus Helden werden Gefangene, Vermisste, Begrabene. Der Tod ist immer und überall.

Schneider(c)Peter Adamik

Der Pianist Eric Schneider, Anna Prohaskas fulminanter Mitstreiter. Foto: Peter Adamik

Und Anna Prohaska, deren Stimme stets als Koloratursopran geführt wird, schafft es, jede Nuance wirkungsvoll zu artikulieren, seien es fahle Töne in tiefer Lage, sei es leuchtend hohes Jubeln. Und wenn sie in Hanns Eislers bitterbösem Spottlied „Meine Mutter wird Soldat“ ins glasklirrende Spitzentonregister wechselt, dürfte sich mancher Gänsehauteffekt unmittelbar einstellen. Auf der anderen Seite der Ausdrucksskala steht etwa Gustav Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“: komponierte Leere, ein sanfter Balladenton, der in weltverlorene Lyrik mündet. Prohaska singt mit weitem Atem und wirkt in diesem Moment wie die personifizierte Einsamkeit.

Wie sich bei dieser Sängerin sowieso alle Emotion in ihrem Gesicht und Habitus wiederfindet. Die Haare hochgesteckt, in eine Art Uniformjacke gekleidet, setzt sie gleichsam das optische Signal, wie sehr ihr diese Dinge am Herzen liegen. Es geht nicht nur um schönen Gesang, sondern um eine Botschaft. Dass sie dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlt, changierend etwa zwischen Soldat und daheim gebliebener Geliebter, ist eine weitere, wohl bewusst gesetzte Note. Das hat, nicht zuletzt, auch etwas mit Authentizität zu tun.

Prohaska hütet sich vor Überzeichnung und findet instinktiv in die jeweils geforderte Stilistik. Von sanfter Schönheit ist etwa das Lamento „Ich irre umher wie in der Wildnis“ von Michael Cavendish, im Tonfall eines Madrigals gehalten. Franz Schuberts „Ellens Gesang I“  interpretiert die Sopranistin mit feinem Legato, in höchster Sensibilität, mit aufbrausender Kraft und zuletzt mit fahler Stimme, langsamer werdend, ersterbend. Wolfgang Rihms „Untergang“ wiederum macht deutlich, über welche Vielfalt betörender Farben die Künstlerin verfügt.

Eric Schneider ist ihr in allem ein kongenialer Klavierpartner. Einer, der mit jedem Marschrhythmus, jeder dissonanten Wendung, mit jedem Klagegesang und jeder Modulation als treuer Verbündeter Anna Prohaskas gelten kann. So wird dieses Konzert zu einem der spannendsten Beiträge des Weltkriegsgedenkens, weil hier in uns Kunstempfinden und Intellekt geweckt werden. „Das Ende der klassischen Klassik“ heißt im übrigen auch: keine Zugabe. Weil mit diesem Liederabend in dieser Form alles gesagt ist.




Sahnelinien, Türsteher, Trinkpausen – eine kleine Zwischenbilanz zur Fußball-WM

Was machen wir bloß morgen; am Freitag, wenn keine WM-Spiele sind? Seit dem 12. Juni werden wir tagtäglich mit Höhen und Tiefen des Ballsports versorgt. Da droht ein Horror vacui.

Nun gut. Da müssen wir durch. Ich brauche eh ein wenig Zeit, um mir eine neue Strategie für die Facebook-Tipprunde zu überlegen, bei der ich nur im Mittelfeld liege. Ordentlich getippt – chaotisch gekickt. So sieht’s bislang aus!

Was ich mir diesmal gar nicht mehr antue, ist das gesamte Vor-, Zwischen- und Nachgeplänkel im Fernsehen. 90 Minuten Spiel plus etwaige Dreingabe – das reicht! Sogar in der Halbzeit schalte ich ab. Bloß keine sogenannten „Analysen“.

Mexikanischer Jubel in Brasilien (v. li.): Torwart, Trainer und Betreuer. (Foto: abgeknipst vom ARD-Bildschirm)

Mexikanischer Jubel in Brasilien (v. li.): Torwart, Trainer und Betreuer. (Foto: abgeknipst vom ARD-Bildschirm)

Schon vom Hörensagen sehe ich mich bestätigt. Es muss ja unfassbar sein, was insonderheit die Anbiederfrau Katrin Müller-Hohenstein (ZDF) abliefert. Immerhin habe ich zwei bis drei Statements des ARD-Experten Mehmet Scholl vernommen. Der ist allerdings ziemlich gut.

Während der Spiele die Kommentatoren gänzlich stummzuschalten, das getraue ich mich noch nicht. Immerhin bleibt die Lautstärke minimal. Ein fauler Kompromiss, gewiss.

Man hört von kultivierten Menschen, die den Ton ganz abdrehen und zum Match Musik von Ligeti oder Luigi Nono laufen lassen. Das finde ich, wie soll ich sagen, ein klein wenig snobistisch. Aber bitte. Jeder nach seinem Gusto. Bevor man sich von Wortspechten wie Béla Réthy oder Tom Bartels gnadenlos zutexten lässt, ist so manches Mittel erlaubt, ja geboten. In den ersten Tagen der WM war ich in Holland und habe den halbfremden Zungenschlag genossen. Da fallen eventuelle Dummheiten nicht so sehr auf, die wahrscheinlich in allen Sprachen der Welt anliegen.

2010 in Südafrika hat – beispielsweise – die Endlosdebatte über den Vuvuzela-Krach die Journalisten nebenher beschäftigt. In den ersten Tagen des jetzigen Turniers haben u. a. die Spraydöschen der Schiedsrichter Spalten und Sendezeiten gefüllt. Es ist ja auch allerliebst, wie sie den Kickern bei Freistößen „Sahnelinien“ vor die Füße sprühen. „Bis hierher und nicht weiter!“ Ob man demnächst seinen Rasierschaum mit zum Bolzplatz nehmen soll?

Von abenteuerlichen Haartrachten, wüsten Tattoos, knatschbunten Schuhen und dergleichen Stilvergehen wollen wir hier nicht weiter reden, erst recht nicht vom beißwütigen Señor Suárez. Da ist jeder denkbare Witz gemacht.

Auffällig ist die zunehmend muskelbepackte Athletik vieler Spieler. Etliche Ballbehandler imponieren mit der Physis von Türstehern – allen voran der Brasilianer Hulk, der laut TV-Reporter einen „Schuss wie ein Pferd“ hat. (Bei Gelegenheit mal gucken, wie Pferde so schießen).

Deutsche TV-Präsenz am Zuckerhut: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl (hinten links), Kommentator Tom Bartels (eingeblendetes Bild rechts). (Bild: abgeknipst vom ARD-Bildschirm)

Deutsche TV-Präsenz am Zuckerhut: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl (hinten links), Kommentator Tom Bartels (eingeblendetes Bild rechts). (Bild: abgeknipst vom ARD-Bildschirm)

Doch auch vielen anderen sprengt die Muskelmasse schier die Trikots. Es ist nicht zuletzt eine bullige und wuchtige WM. Dazu passen nach dem frühen Ausscheiden Spaniens auch die zahllosen Abgesänge auf das Tiki-Taka-Ballgeschiebe, das bis gestern noch als Wundermittel galt. Geht das so weiter, wird man demnächst den Ballbesitz als Teufelswerk ablehnen. Nehmt ihr die Kugel doch. Wir machen lieber die Tore. Aber womit?

Puh. Trinkpause.

Gewagt sei folgende, nicht allzu kühne Prophezeiung: Falls das deutsche Team heute Abend nicht ausscheidet, so werden unsere wackeren Sportjournalisten den guten alten, vielfach bewährten Satz wieder hervorholen, dass nun – nach dem Ende der Vorrunde – das Turnier erst richtig anfange. Es ist ja auch was dran. Das Geplänkel mancher Punktspiele in der Gruppenphase ist nicht vergleichbar mit den Fährnissen der K.o.-Runden. Ach so, ja, auch diese unverwüstliche Mitteilung wird unter Garantie wieder aufgewärmt: Deutschland hat eine „Turniermannschaft“. Immer schon und immerdar.

Dass ausgerechnet die Nationalmannschaften aus den Ländern mit den teuersten Ligen (also England, Spanien und Italien) schon „draußen“ sind, darf uns nicht allzu sehr verwundern. So sehr verlässt man sich dort auf Stars aus allen Weltwinkeln, dass der eigene Nachwuchs offenbar deutlich weniger Chancen hat. So die gängige Erklärung. Und warum hat Spanien dann in den letzten Jahren die wichtigsten Titel errungen? Je nun. Äh.

Dass im übrigen die lateinamerikanischen Teams in Brasilien nicht nur einen geographischen und klimatischen Vorteil haben, sondern hie und da auch von Schiedsrichtern begünstigt werden (siehe nicht nur Uruguay – Italien), hat sich rasch herumgesprochen. Es wäre ja auch finanziell fatal, in erster Linie auf Stadionpublikum aus Europa setzen zu müssen. Ein frühzeitiges Ausscheiden Brasiliens wäre zudem auch politisch riskant. Das wissen sie auch bei der FIFA.

Apropos Zuschauer: Seit jeher frage ich mich, was das eigentlich für Leute sind, die über viele Wochen in die Ferne (diesmal eben nach Brasilien) reisen und sich alle Eintrittskarten leisten können. Doch halt! Solche Gedanken können geradewegs in den Sozialismus führen.

Nachspielzeit 5 Minuten. Wie neuerdings üblich.

Aber nicht hier.

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