Kreativ aus der Krise: Eine ziemlich verrückte Theatertour durch Ruhrstadt

2014-09-13 11.29.37Vier Jahre nach Ende der Kulturhauptstadt reflektieren vier Künstlergruppen, was nach RUHR.2010 geworden ist. Der gemeinsame, sechseinhalbstündige Abend heißt „54. Stadt“, spielt in Mülheim und Oberhausen, und er gerät zu einer General-Abrechnung mit dem Konzept der Kulturhauptstadt, die Kreativwirtschaft als Identitätslückenfüller zu installieren. Produziert wurde die Tour von „Urbane Künste Ruhr“ – also ausgerechnet jener Organisation, die das Erbe von RUHR.2010 pflegen und die Kreativwirtschaft weiter befeuern soll.

So weit, so subversiv – und nicht nur das. Es ist ein ziemlich verrückter Abend, eine gezielte und produktive Überforderung der Zuschauer. Ich habe mit fremden Menschen getanzt, einen „Transgender-Cocktail“ kreiert, in einer Privatwohnung Dehnungsübungen absolviert, phasenweise nur einsilbig gesprochen, mir einen Schnurrbart malen lassen und in einem Waschsalon über mein Verhältnis zu Eigentum und Besitz diskutiert. Es ist ein Abend ohne lineare Erzählstruktur oder Abfolge; jeder Teilnehmer erlebt zwangsläufig etwas anderes.

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Diskussion über Eigentum und Besitz im Waschsalon. Foto: Katrin Pinetzki

Der Beginn versetzt zunächst alle in die gleiche Ausgangslage: Wir befinden uns im Jahr 2044, lauschen im Mülheimer Ringlokschuppen einem Live-Konzert der Frauenband „Die Planung“. Vor 30 Jahren, 2014, seien sie zum letzten Mal aufgetreten. Dann schaltet sich eine Nachrichtensprecherin zu. Offenbar gibt es Unruhen da draußen. Nach und nach wird klar: Im Jahr 2014 wurde aus den 53 Städten des Ruhrgebiets die „Ruhrstadt“, die 54. Stadt, eine zentral verwaltete Metropole des Kreativsozialismus. Jeder musste plötzlich Künstler sein, und jede Stadt eine Sparte: Dortmund wurde Modestadt, in Wesel lebten nun Literaten, in Oberhausen Transvestiten. Doch jetzt haben die Menschen genug. Es brodelt, Anarchie bricht aus.

Den ersten Teil des Abends konzipierte „kainkollektiv“ (Fabian Lettow, Mirjam Schmuck). Sie inszenierten eine „performative Installation“, eine von Chor- und Soprangesang (Kerstin Pohle) begleitete Reflexion übers Fallen, Verfallen, Zerbrechen: Häufig offenbart sich erst im Moment des Verlustes der Wert. „Was, wenn das Beste an den Dingen die Reste wären?“ In der Ruhrstadt leben wir, „wo die Reste sich versammeln“. Aber: „Alles, was gut ist, kommt wieder – und alles, was gut vermarktbar ist, kommt immer immer immer wieder.“ Heute sind die Körper der Kreativen die Ressource, die abgebaut wird wie früher die Kohle, so die These – Bewältigung der Krise mit Kreativität? Oder nur auf Kosten der Kreativen?

Einige Denkanstöße für die Besucher, die sich im Saal des Ringlokschuppens frei bewegen und das multimediale Geschehen aus Foto und Film, Performance, Gesang und Percussion-Klängen verfolgen, mit den Augen ständig verwirrt nach Halt suchend.

Doch wie geht es weiter? Wie wollen wir in Zukunft leben? Darüber nachzudenken werden die Teilnehmer an „54. Stadt“ nicht nur aufgefordert, sie werden selbst zu Anarchisten, die auf den Straße und in den Häusern um die Zukunft der Stadt kämpfen müssen. Darum geht es im zweiten Teil. Man entscheidet vorab, ob man mit der Gruppe „LIGNA“ in Mülheim einen „Audiowalk“ unternehmen oder mit „Invisible Playground“ an einem interaktiven Spiel in Oberhausen teilnehmen will.

Wer nach Oberhausen fährt, sucht sich vier anarchische Mitstreiter, bekommt eine Spielkarte, Energieriegel und die Aufgabe, die fünf „Säulen der Demokratie“ zu retten. Dazu müssen die Anarchisten wie bei einer Schnitzeljagd (oder einem Computerspiel?) skurrile Aufgaben in Wohnungen, Bars und, Geschäften erledigen, während herumlungernde Banden versuchen, sie daran zu hindern. Ein großer Spaß, der die Sicht auf die Stadt erweitert und einen eigenen Abend verdient und getragen hätte.

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Doch es ging noch weiter, zum Finale im kooperierenden Theater Oberhausen. Dort zeigten „copy & waste“, eine Gruppe um Autor Jörg Albrecht und Regisseur Steffen Klewar mit dem Oberhausener Ensemble, den Showdown zwischen Kreativarbeitern und „echten Menschen“ ganz konventionell auf der Bühne, erzählt als Liebesgeschichte, verpackt in eine schrille Reality Show: Julieta und Rick wurden schon als Kinder im Namen der Kreativität missbraucht, wollen gemeinsam aus Ruhrstadt fliehen und setzen dabei auf Authentizität.

Jörg Albrechts gerade erschienener Roman „Anarchie in Ruhrstadt“ liefert die gemeinsame Erzählung, die Matrix für alle vier Produktionen. So gibt es zwar ein erkennbares Konzept, doch den roten Faden müssen die Zuschauer immer wieder selbst suchen. Das  ist anstrengend, an- und aufregend.

Der Text entstand für den Westfälischen Anzeiger, Hamm




Wum und Wendelin machen jetzt politisches Theater: „Hamlet“ in Dortmund

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Unten körperlich, oben auf der Videowand: Eva Verena Müller als Hamlet (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Am Schluß, und man vergibt sich nichts, wenn man es am Anfang schon erzählt, tanzen Wum und Wendelin auf der Bühne herum und wiederholen ungezählte Male aufgeregt und euphorisch den Satz „Wir machen jetzt politisches Theater“. Sie tun es, bis die ersten den Saal verlassen, sie tun es während des bald folgenden Massenexodus’, und ob sie es tun, bis der letzte Zuschauer den Raum verlassen hat, weiß ich nicht. Aber es ist ziemlich wahrscheinlich.

Es ist dies offenbar ein Akt der Zuschauervergrämung, lieblos wie respektlos, der für die Inszenierung allerdings den Vorteil birgt, daß eine echte Zuschauerreaktion unterbleibt. Diese Reaktion wäre vermutlich unerfreulich gewesen. Die Produktion heißt „Hamlet nach William Shakespeare“ und ist eine Regiearbeit des Intendanten Kay Voges, mit der das Dortmunder Schauspiel in die neue Spielzeit startet.

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Bettina Lieder als Ophelia auf der Videowand (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Indes fällt es schwer, das Wort Schauspielproduktion zu gebrauchen. Meistens ist nämlich niemand auf der Bühne, läuft die Handlung als Video mit einer Vielzahl gleichzeitig gezeigter Bilder ab. Ob diese Videosequenzen live hinter der Bühne gespielt und gefilmt werden oder ob sie vorgefertigte Konserven sind, darüber gingen die Meinungen im Publikum auseinander.

Jedenfalls erzeugt diese Form der Stoffpräsentation große Distanz, man ertappt sich wiederholt beim unwillkürlichen Weggucken, beim quasi mechanischen Ignorieren des lästigen Geflimmers. Im Wechsel mit angemessen intensiver personalisierter Bühnenaktion wäre es gewiß sehr eindrucksvoll, aber so?

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Video mit (v.l.): Friederike Tiefenbacher (Gertrud), Carlos Lobo (König Claudius), Christoph Jöde (Laertes) (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Immerhin erzählt (vorwiegend) das Video so etwas wie eine Geschichte. Mindestens eine, eher zwei. Die eine hat noch viel mit dem Shakespeare-Stoff zu tun, in dem Dänenprinz Hamlet (Eva Verena Müller) im Traum sein dahingeschiedener Vater und König (Sebastian Kuschmann) erscheint und seinen Nachfolger Claudius (Carlos Lobo) des heimtückischen Giftmordes an ihm bezichtigt.

Hamlet, ich mache es ganz kurz, sinnt auf Rache, scheitert tragisch und am Schluß sind die meisten Hauptpersonen tot. Trotzdem ist Hamlet in aller Regel der Sympathieträger und sein Stiefvater Claudius das leibhaftige Böse; auch sein Mordmotiv wird gemeinhin gutgeheißen, wenngleich es recht unchristlich-unerbittlich dem alttestamentarischen „Auge um Auge“ folgt. Daß Vatermord sich nicht gehört, verdeutlichen dann höhere Kräfte.

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Auf der Bühne: Bettina Lieder als Ophelia (Bild: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Der Dortmunder Inszenierung aber reichen die eher klassischen Motive nicht, auch Handlungsum- und –weiterdeutungen im Sinne politisch-gesellschaftlicher Paradigmenwechsel – im Sinne von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ vielleicht – interessieren sie nicht nachhaltig. Nein, mehr als alles andere ist der neue böse König Polonius das Gesicht des Überwachungsstaates, der rastlos herausforschen muß, was andere von seinen bösen Taten wissen. Er ist der Rasterfahnder, der mißtrauische Algorithmenprüfer, der Erzfeind alles Privaten. Er ist der Zyniker, der seine Feinde als Kollateralschäden entsorgt.

Nun gut. Es ist es ja nicht so, daß solche Denkfiguren Shakespeare gänzlich fremd gewesen wären, auch wenn er das Internet noch nicht kannte. Mit feinem Humor hat er bekanntlich Rosenkranz und Güldenstern (Frank Genser, Uwe Schmieder) zur Truppe fürs Grobe gekürt. In Dortmund enden sie (bzw. nicht) in den Strampler-Kostümen von Wum und Wendelin, und zumindest in diesem Punkt könnte man fast so etwas wie eine augenzwinkernde Annäherung an den großen Elisabethaner erkennen.

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Doppelpack: Hamlet (Eva Verena Müller) und Totenschädel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Das Theater verläßt man letztlich unzufrieden. Was wollte uns diese Produktion erzählen, was hat uns berührt, wo ist ein Mehrwert an Erkenntnis, der uns Unzulänglichkeiten freudig erleiden ließe?

Paul Wallfischs Sound-Design bringt sich ebenso unauffällig in Erinnerung wie die Bühne (Pia Maria Mackert). Das heftig agitierte Video, das Bilder und Szenen in häufig wechselnder Zahl und Einstellung abspult (Daniel Hengst, Lars Ullrich), läßt trotz durchgängiger HD-Qualität manchmal an die Ästhetik alter „Raumschiff Orion“-Folgen denken.

Auch über die Schauspieler ist nicht viel zu sagen. Hinter der Bühne (Live-Video oder Konserve?) chargieren sie nach Kräften, körperlich auf der Bühne bleiben sie darstellerisch eher blaß. Nach etwa der Hälfte der Spielzeit befinden sich die Darsteller, Hamlet vorneweg, zudem in einem Zustand der Dauererregung, der für das Publikum ermüdend ist, das Textverständnis (trotz Mikroport) nicht eben erleichtert und dramatische Wendungen kaum mehr nachvollziehbar macht. Es ist dies nicht die Schuld der Darsteller. Neben den bereits Genannten handeln Friederike Tiefenbacher (Gertrud), Michael Witte (Polonius), Christoph Jöde (Laertes) und last not least Bettina Lieder (Ophelia) halt, wie ihnen geheißen.

Und das politische Theater? Vielleicht war der Spruch von Wum und Wendelin (alias Rosenkranz und Güldenstern) ja auf die Zukunft gemünzt. Sonst müßte man unterstellen, daß dieser „Hamlet“ politisches Theater gewesen sein soll, politisches Theater auf Kinderzimmerniveau. Die Reaktionäre, wie man früher vielleicht gesagt hätte, müssen auf absehbare Zeit nichts befürchten.

Weitere Termine: 21.9., 1.10. www.theaterdo.de




Sie hat es wirklich nötig – heute ist der Tag der deutschen Sprache

Heute haben wir mal wieder einen wichtigen Tag. Der 13. September ist nicht nur der spezielle Tag der Ersten Hilfe (ja, wirklich), es ist auch der Tag der Deutschen Sprache. Die hat es aber auch wirklich extrem nötig.

Nein, ich bejammere jetzt an dieser Stelle und zu dieser Gelegenheit nicht, dass immer mehr undeutschlich sprechende Menschen was vom Whatsappen brabbeln, oder (statt miteinander zu sprechen) sich was simsen. Nein, ich will ich keineswegs bekritteln, dass der deutschsprachige Zeitgenosse gern mit einem Handy telefoniert oder biked statt Fahrrad oder Motorrad zu fahren. Das ist nun mal so und der Jööte hätte sich auch nicht vorstellen können, dass manches heute völlig anders und dennoch korrekt geschrieben würde, als die Vorschriften seiner Zeit es erlaubten.

Kaum zu glauben, was aus diesen Elementen entstehen kann... (Foto: Bernd Berke)

Kaum zu glauben, was aus diesen Elementen entstehen kann… (Foto: Bernd Berke)

Aber: Ich kann getrost bejammern, dass es Journalisten gibt, die mit Dativ und Genitiv auf Kriegsfuß stehen, dass es Eliten in der Wirtschaft gibt, die außerhalb ihres Volkswirtskauderwelschs nichts mehr korrekt zu formulieren in der Lage sind und der bisweilen eleganten Satzstellung deutscher Sprache mit denglischem Unfug entgegentreten, weil sie des festen Glaubens sind, dass nur sie sich untereinander verständigen können; was übrigens stimmt, aber mir relativ gleichgültig ist. Ich will die ja auch nicht begreifen.

Ich kann auch beklagen, dass es Politiker(innen) gibt, die den Blödsinn mitmachen und so verquastes Zeugs von sich geben, dass sie sich selbst kaum mehr verstehen, was aber auch nicht weiter stört, allenfalls in der Form, dass sie uns die Zeit klauen.

Es ist auch durchaus ein Seufzen wert, dass junge Menschen den Kindergärten entwachsen und ganz erstaunt darüber sind, dass an den anschließend besuchten Schulen streng darauf geachtet wird, dass jeder und jede sich des sprachlichen Kommunikationsmittels bedient, das hierzulande die Regel darstellt.

Und ich darf schwerst kritisieren, dass es Menschenrechtsorganisationen gibt, die sich darüber beklagen, dass unmenschliche und selbstgefällige „Gläubige“ sich durch „ethnische Säuberungen“ an ihren Mitmenschen mit anderem Glauben schuldig machen. Ja wissen die denn, was sie da reden oder schreiben?

So gesehen hat die deutsche Sprache sehr wohl einen gesonderten Tag nötig. Deutsche, also solche, die dieser Sprache mächtig sein sollten, beherrschen diese immer weniger korrekt. Sie ludern entweder aus Fahrlässigkeit oder aus Flachwissenheit mit dem wichtigsten Kommunikationsmittel herum, als sei es ein Fußabtreter.




Später Ruhm eines großen Meisters: Vor 250 Jahren starb Jean-Philippe Rameau

In Sachen Karriere war Jean-Philippe Rameau ein Spätzünder. Seine erste Oper stellte er in einem Alter vor, in dem andere längst die Feder aus der Hand gelegt hatten: Mit fünfzig Jahren wurde er mit „Hippolyte et Aricie“ auf einen Schlag berühmt.

Da hatte Rameau schon ein Leben als Kirchenmusiker, Organist, Musiktheoretiker und Leiter eines Privatorchesters hinter sich. Vor ihm lagen noch dreißig Jahre, in denen er rund dreißig Werke für die Bühne schaffen sollte. Mitten in den Proben für sein letztes, die Tragödie „Les Boréades“, ist Jean-Philippe Rameau vor 250 Jahren, am 12. September 1764, in Paris gestorben.

Bei seinem Tod zählte er zu den am weitesten bekannten und am meisten geehrten französischen Musikern. Dennoch senkte sich über sein Werk allmählich tiefes Vergessen. Selbst sein Grab auf dem Friedhof von St. Eustache in Paris ist nicht mehr bekannt.

Erst die Rückbesinnung auf historische Spieltradition und Aufführungspraxis weckte das Interesse an seinem Schaffen über die gelegentliche, museale Reanimation hinaus. Ein Jahr vor seinem 300. Geburtstag – Rameau kam 1683 in Dijon zur Welt – wurde in Aix-en-Provence sein letztes Werk „Les Boréades“ uraufgeführt. In Deutschland sorgte eine opulente, viel gerühmte Neuinszenierung von „Castor und Pollux“ 1980 in Frankfurt für Aufsehen: In einem fantasievollen, technisch raffinierten Bühnenbild von Erich Wonder inszenierte Horst Zankl; Nikolaus Harnoncourt leitete das Orchester.

Seither ist das Interesse an Jean-Philippe Rameaus Bühnenwerken nicht mehr abgebrochen. So gab es etwa in Düsseldorf in den letzten Jahren eine Serie von Aufführungen, begonnen mit der deutschen Erstaufführung der turbulenten Komödie „Les Paladins“ in der Spielzeit 2009/10. Auf zahlreichen Aufnahmen ist inzwischen das erhaltene dramatische Werk Rameaus greifbar. Sie geben auch einen Überblick, wie sich die Art, seine Musik zu spielen, seit den ersten Schallplatten der siebziger Jahre verändert hat. In diesen Tagen erscheint etwa bei Erato eine Box mit Gesamtaufnahmen von neun seiner Opern, ergänzt durch Musik aus vier weiteren Bühnenwerken, Dirigenten wie William Christie, Nikolaus Harnoncourt, Marc Minkowski und Nicholas McGegan entfalten den Zauber und die Kraft der harmonischen Erfindungsgabe und der orchestralen Intuition Rameaus.

Als Kirchenmusiker ist der Franzose weit weniger greifbar, obwohl seine Jugend und die erste Phase seiner Musikerkarriere eng mit der Orgel verbunden sind. Erhalten sind lediglich vier zwischen 1713 und 1723 geschriebene, groß angelegte Motetten. Rameaus Vater war Organist an mehreren Kirchen in Dijon, unter anderem an der Kathedrale St. Bénigne.

An der Jesuitenschule, so wird berichtet, habe der junge Jean-Philippe mehr komponiert und gesungen als studiert. Seine Eltern schickten den Schulabbrecher 1702 auf eine Italienreise, auf der er in Mailand steckenblieb. Wieder zurück übernahm er mit Achtzehn eine Organistenstelle an der Kathedrale von Clermont. Ein Intermezzo in Paris bestritt er mit mehreren Orgelposten an kleineren Kirchen. Das erste seiner vier Bücher mit Cembalowerken, die „Pièces de Clavecin“ erschien dort 1706 und verhalf ihm zu einer gewissen Bekanntheit. Bis er sich 1722 endgültig in Paris niederließ, wirkte Rameau an mehreren Kathedralen, so in seiner Heimatstadt Dijon, in Lyon und in Clermont.

Es ist schwer zu entscheiden, wer wichtiger ist: der Komponist oder der Musiktheoretiker Rameau. Seit 1722 sein epochemachendes Werk „Traité de l’harmonie reduite à ses principes naturels“ erschienen ist, stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der gelehrten musikalischen Welt.

In weiteren Publikationen zur Harmonielehre entwickelte Rameau sein System weiter. Er stand in Kontakt mit internationalen musikalischen Größen wie Johann Mattheson oder dem Bologneser Musiktheoretiker und Franziskanerpater Giovanni Battista Martini, einer der prägenden Figuren der italienischen Musik des 18. Jahrhunderts.

Jean Jacques Rousseau wurde Rameaus Gegner im sogenannten Buffonistenstreit, in dem das Ringen um die Vorherrschaft der italienischen oder französischen Oper einen weit tieferen Streit um die künftige Ausrichtung der Kunstgattung überdeckte. Rousseau plädierte für die „natürliche“ Einfachheit der melodiebetonten italienischen Musik gegen die komplex instrumentierte, harmonisch ausgearbeitete und kompliziert polyphone französische Musik – ein direkter Affront gegen den gelehrten Harmoniker Rameau.

Dabei war Rameau bestrebt, seinerseits mit der „Natur“ zu argumentieren: Als aufgeklärter Denker wollte er die Musik als exakte Wissenschaft erfassen und universelle harmonische Prinzipien aus natürlichen Gegebenheiten ableiten. Rameau sah in der Harmonie die Basis jeder Musik, abgeleitet aus der Physik schwingender Körper. Die Harmonie entdeckte er als Quelle der Melodie und als Grundlage des musikalischen Ausdrucks. Musik sollte expressiv sein, dem Ohr gefallen, die Gefühle bewegen. Der tiefe Grund für die Wirkung der Musik lag für Rameau in ihrer Verbindung mit universalen, kosmischen Prinzipien, letztlich herrührend von Gott. Hier trifft er sich mit Bach, dessen „Wohltemperiertes Klavier“ ebenfalls 1722 zum ersten Mal erschienen ist.

Kaum ein späterer musikalischer Denker konnte sich dem Einfluss von Rameaus Konzepten entziehen; die Spuren verfolgen Fachleute bis in Paul Hindemiths Tonsatz- und Musiktheorie. Für die Entwicklung des musikalischen Denkens der abendländischen Musik hat Jean-Philippe Rameau eine Schlüsselposition inne. Seine Kunst des Komponierens hat nicht erst in jüngster Zeit wieder Anerkennung erfahren. Hector Berlioz verehrte ihn; Claude Debussy schrieb über „Castor et Pollux“, diese Musik habe „eine feine Anmut bewahrt, ohne jemals affektiert zu werden oder sich mit verdächtiger Grazie zu winden.“ Und Nikolaus Harnoncourt zählt die Opern Rameaus „zu den Höhepunkten der französischen Musik überhaupt“.