„Minority Report“ in Dortmund: Wie ein Blockbuster auf die Bühne kommt

Björn Gabriel als John Anderton (Foto: Birgit Hupfeld)

Björn Gabriel als John Anderton (Foto: Birgit Hupfeld)

„Wo ist mein Minority Report?“ Diese Frage reicht aus, damit Kinogänger Tom Cruise vor ihrem geistigen Auge sehen, verbissen anrennend gegen ein aus den Fugen geratenes Kontrollsystem, atemberaubend verfilmt von Steven Spielberg, basierend auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Das Schauspiel Dortmund aber findet: „Das wahre Kino der Zukunft und das wahre Theater der Zukunft sind eins“ – und schon kann auch ein Blockbuster zu einem Bühnenexperiment (mit App!) werden, wie Regisseur Klaus Gehre jetzt im Studio bewiesen hat.

Eine Zeitreise ohne großes Budget? Geht! Man nehme einfach die riesige Jahreszahl 2014, lasse die Schauspieler die Ziffern tauschen – und schon ist man im Jahr 2041 gelandet und die Phantasie wirft den Science-Fiction-Blick an. Womit auch schon ziemlich genau beschrieben ist, wie Klaus Gehre – der übrigens auch schon „Fluch der Karibik“ auf die Theaterbühne gebracht hat – es schafft, einem millionenschweren Actionfilm die Stirn zu bieten: mit der Gabe, selbst einfachste Mittel so (bestenfalls) anarchistisch zu nutzen, dass sich eine neue Erlebniswelt auftut.

Mörderisches Barbie-Drama

Eine wilde Flucht per Auto etwa – in Hollywood teure Bewährungsprobe für Special-Effects-Könner – braucht hier nicht mehr als einen Spielzeugwagen in einer Glasröhre, von einer Taschenlampe beleuchtet und vielfach vergrößert auf die Leinwand projiziert. Und ein mörderisches Ehe-Drama wird kurzerhand mit harmlosen Barbie-Puppen inszeniert.

Atemlose Spannung

So schafft es der Regisseur tatsächlich, die in dem Plot angelegte, atemlose Spannung zu erzeugen – schließlich geht es um ein echtes Science-Fiction-Drama: In dieser Zukunft nämlich werden Mörder festgenommen, bevor sie überhaupt morden können – dank des Frühwarnsystems „Precrime“. Das funktioniert mit Hilfe eines fast gottähnlichen Wesens, dem Precoq Agatha, das in einer Mischung aus Hellseherei und geschickter Auswertung allumfassender Daten die Delikte voraussagt.

Polizist John Anderton (Björn Gabriel) nimmt die zukünftigen Mörder fest, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie eigentlich noch nichts verbrochen haben. Das ändert sich, als Agatha erneut einen Mord voraussagt – und Anderton der Täter sein soll. Auf seiner Flucht erlebt er nicht nur, wie gnadenlos der Überwachungsstaat mit seinen gefallenen Bürgern umgeht, sondern findet auch heraus, dass „Precrime“ längst nicht so zweifelsfrei funktioniert wie angenommen.

Julia Schubert in Minority Report (Foto: Birgit Hupfeld)

Julia Schubert in Minority Report (Foto: Birgit Hupfeld)

Die Schauspieler sind alles

Es ist dem ungeheuren Einsatz der Schauspieler – Björn Gabriel, Julia Schubert, Merle Wasmuth und Ekkehard Freye – zu verdanken, dass sich vor und in den Zuschauern tatsächlich so etwas wie ein Live-Film abspielt. Denn sie sind alles auf einmal, und das voller Energie: Puppenspieler, Lichtkünstler, Kamerakinder, Bühnenbauer, Soundmeister und eben auch Schauspieler, natürlich in jeweils multiplen Rollen. Ihr Tun ist perfekt wie ein Uhrwerk aufeinander abgestimmt und wird, dank des Live-Schnitts von Mario Simon, auf drei große Leinwände übertragen.

Über mangelnde Sinneseindrücke also kann sich hier wahrlich keiner beschweren. Alles findet vor den Augen des Publikums statt, die Illusion wird live erzeugt und zugleich gebrochen, Bild ist Wahrheit und doch nicht. Regisseur Gehre geht sogar so weit, den Zuschauer mit in das Geschehen eingreifen zu lassen – dank einer Abstimmungs-App! Das alles ist schrill und frech und anders und an vielen Stellen inspirierend.

Das Gewürz fehlt

Nur eines kommt zu kurz – die Tiefe. Das Stück ist wie ein exotisches Gericht, das vor bunten Zutaten nur so schillert– und dem doch das entscheidende Gewürz fehlt. Individuelle Freiheit versus staatliche Überwachung, gläserner Mensch und Big Data, freie Wahl oder determiniertes Sein… das Stück streift die vielen Angebote der Geschichte maximal. Da hilft es auch nicht viel, dass eine Figur einmal kurz mittendrin darüber sinniert, wie es um behinderte Kinder bei den heutigen Möglichkeiten prenataler Diagnostik steht. Gehre bietet keine Neuinterpretation des Stoffs auf inhaltlicher Ebene – er erzählt den Film nur mit anderen, zugegeben sehr vergnüglichen Mitteln nach.

Im Grunde also bietet er nichts anderes als ein Hollywoodfilm: gute Unterhaltung.

http://www.theaterdo.de/detail/event/minority-report-oder-moerder-der-zukunft/




Heldenleben und Geigenlyrik – Start der Konzertsaison in Düsseldorf und Duisburg

Spielzeitauftakt in Düsseldorf und Duisburg. Zwei Mal „Heldenleben“, zwei Violinkonzerte: Der Vergleich zwischen den Düsseldorfer Symphonikern und den Duisburger Philharmonikern liegt nahe.

Die Düsseldorfer feiern nach dem Abschied von Andrey Boreyko den zweiten Teil ihres 150-Jahre-Jubiläums ohne Generalmusikdirektor; bei den Duisburger Philharmonikern wirkt GMD Giordano Bellincampi, der 2012 den Posten von Jonathan Darlington übernommen hatte, inzwischen prima etabliert. Sorgen hat das Orchester aber wegen seiner Spielstätte: Die Mercatorhalle wird erst Ende 2015 wieder zu bespielen sein. Bis dahin hat der Klangkörper seine Heimstatt im Theater am Marientor gefunden.

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Dieses ist als Musicaltheater nicht optimal, aber „wir haben mit unseren Technikern eine tragbare Lösung gefunden“, berichtet Intendant Alfred Wendel. Bei Strauss‘ „Heldenleben“ konnte man sich davon überzeugen: Die komplexe Struktur der Tondichtung war einwandfrei durchhörbar, der Klang des Orchesters kam rund und detailreich auch bei den hinteren Plätzen an. Zudem sind die Sessel sehr bequem: Kein Grund also, die Duisburger wegen ihrer Spielstätte zu meiden.

Auch künstlerisch animierte das Eröffnungskonzert der Abo-Reihe zum Wiederkommen: Bellincampi lässt einen Strauss mit deutlich mehr Konturen, mehr Trennschärfe in den Registern, delikateren dynamischen Abstufungen spielen als zwei Tage zuvor Gastdirigent Alexandre Bloch bei den Düsseldorfer Symphonikern in der traditionsreichen Tonhalle.

Bellincampi staffelt Streicher und Bläser klanglich, ohne den Reiz der Mischung durch zu harte Reibungen zu beeinträchtigen, sorgt für treffsicher gesetzte Akzente, für herrlich weit ausgezogene Linien, für ätherische Pianissimo-Stimmungen und filigrane Geflechte etwa zwischen Bläsern, Streichern und Harfen in „des Helden Weltflucht“.

In Düsseldorf stand das „Heldenleben“ auf den Tag genau 66 Jahre nach dem Tod Richard Strauss‘ auf dem Programm des ersten Sinfoniekonzerts „Sternzeichen 01“. Alexandre Bloch geht mit etwas mehr auffahrender Energie als sein Duisburger Kollege an die Herkules-Aufgabe heran, lässt das Pathos kalkuliert und damit noch frappanter wirken. Die skurrilen Einwürfe der Holzbläser im zweiten Satz – wenn „des Helden Widersacher“ zu Wort kommen – lässt er nicht so vornehm gerundet gellen, krächzen und furzen wie Bellincampi in Duisburg.

Bloch schärft das Zärtliche und das Burleske. Aber vor allem im vierten Satz erschlägt er die Konturen und die dynamischen Zwischenstufen in dröhnendem Klang. Findet er im dritten Satz den typisch leuchtenden Strauss-Ton („Rosenkavalier“!), hat er im vierten keinen Sensus für das Wechselspiel von Steigern und Entspannen. Ungeniertes Pathos auch am Ende: Das „Heldenleben“ endet in brachialen Choralmassen – vielleicht angemessen für Strauss, der sich selbst ja stets als den „Helden“ seines Daseins empfunden hat und von Selbstzweifeln, so weit wir das wissen können, nicht angekränkelt war.

Strauss schrieb in seine Tondichtung dankbare Aufgaben für den Konzertmeister des Orchesters ein: Dragos Manza erfüllte die Soli in Düsseldorf mit leuchtendem, substanzvollem Ton, feierlich und flink, zärtlich und zurückgenommen, im letzten Satz mit einer bezaubernd beruhigten Kantilene, die wiederum an den „Rosenkavalier“ erinnert.

In Duisburg wählte Siegfried Rivinius einen leichten, filigranen, locker geführten Klang, der sich im dritten Satz gefühlvoll, aber bestimmt gegen die dunkel grundierten Piano-Akkorde des Blechs und der tiefen Streicher durchsetzt. Diese Strauss-Gattin – man sieht in der Solovioline ein Porträt von Pauline de Ahna – bezirzt ihren Richard schmeichelnder und lyrischer als die saftig-erotischere Version in Düsseldorf.

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Doch nicht genug des Geigen-Genusses: In beiden Konzerten spielten Solistinnen Höhepunkte des Violinrepertoires: Midori brillierte in Düsseldorf mit Alban Bergs Konzert; Chloë Hanslip empfahl sich in Duisburg mit Brahms. Midori – im Gegensatz zu den glatten Mädchenfotos der Werbung eine zierliche, elegante Dame – nimmt den Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ zur Richtschnur ihrer Interpretation: Vom sanften, aus kaum hörbarem Pianissimo ansteigenden Beginn bis zum verklärt ätherischen Verklingen bleibt sie in der Sphäre einer lyrischen Innerlichkeit; auch der intensivierte, mit schönem Vibrato geadelte Ton führt selbst am Rand des Todesabgrunds nicht über die gefassten Grenzen hinaus: Hier kämpft kein Mensch mit dem Tod – Berg hat sein Werk im Andenken an die erst 18jährige Manon Gropius geschrieben, die an Kinderlähmung starb –, hier geht eine schöne Seele von einer Existenzebene in die andere. Das Aufbegehren, die fahle Resignation, der Schrecken und das Ergeben sind stets gekleidet in einen entschärften, unendlich delikat geformten Ton.

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Auch Chloë Hanslip hütet sich in Duisburg davor, das Brahms’sche Violinkonzert dramatisch aufzuladen. Den „pastoralen Charakter“ führt die 1987 geborene englische Geigerin konsequent durch, trotz – oder sogar gegen – die markanten Rhythmisierungen des Seitenthemas. Hanslips Ton ist so gekonnt kontrolliert, dass er stets locker und frei bleibt: Es gibt keine forcierten Figurationen, keinen angestrengt aufgeladenen Klang. Hier nimmt sich jemand bewusst zurück, um der Musik Johannes Brahms‘ zu dienen: Bedacht eher auf die Integration in die formvollendeten Verläufe des Dialogs von Solist und Orchester als bestrebt, sich mit Expression in der Vordergrund zu spielen.

Doch diese Art, die etwa in Hanslips Aufnahme zweier Violinkonzerte von Max Bruch jedem fetten Sentiment entgegenwirkt, führt bei Brahms auf Dauer zu reizlosem Ablauf. Technisch makellos, strukturell durchdacht, aber entvitalisiert und langatmig. Etwas mehr Temperament statt englischer Contenance, und Hanslip könnte mit Brahms voll überzeugen.

Ausblicke auf die Konzertsaison 2014/15

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Mit der Violine geht es bei den Duisburger Philharmonikern im Januar 2015 weiter, wenn Frank Peter Zimmermann – berühmter „Sohn der Stadt“ – das Sibelius-Konzert spielt. Und mit Kolja Blacher hat das Orchester auch einen geigenden „Artist in Residence“ für diese Spielzeit: Blacher spielt Robert Schumanns und Carl Nielsens Violinkonzerte, einen Solo- und einen Kammermusik-Abend, unter anderem mit Dimitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 in einer Bearbeitung für Kammerensemble. Im nächsten Sinfoniekonzert am 1. und 2. Oktober dirigiert Bellincampi, dessen Vertrag bis 2017 verlängert wurde, unter anderem Mahlers Vierte.

Die Düsseldorfer Symphoniker feiern ihr 150jähriges Bestehen im Oktober mit einem Festkonzert am 29. Oktober, bei dem drei ehemalige Generalmusikdirektoren am Pult stehen. Das nächste Sinfoniekonzert unter dem Titel „Sternzeichen 02“ bringt am 26., 28. und 29. September Sir Neville Marriner zurück nach Düsseldorf. Auf dem Programm; Richard Strauss‘ „Metamorphosen“ und Joseph Haydns „Paukenmesse“, unter anderem mit einem der besten jungen deutschen Tenöre, Uwe Stickert.

Im Oktober spielt Herbert Schuch eine Rarität des Repertoires: Viktor Ullmanns Konzert für Klavier und Orchester, 1939/40 vor der Deportation des Komponisten nach Theresienstadt geschrieben. Im November präsentieren die Symphoniker eine weitere Seltenheit im Konzertsaal: Hans Pfitzners C-Dur-Sinfonie op. 46, kombiniert mit der unverwüstlichen Neunten Ludwig van Beethovens. Einmal nicht den Wiener Titanen, sondern Georges Gershwin spielt Rudolf Buchbinder dann im Dezember. Programme also, die Neugierige in die Tonhalle locken werden.




Vom Weiterleben nach einem Todesfall: Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“

Mit den ersten Sätzen in Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ mag man als Leser zunächst Schwierigkeiten haben. Doch bald werden sie klar als Widerhall einer Traumsequenz Mariannes, die sich alsbald als erste wichtige, vielleicht wichtigste Figur dieses Romans herausstellt.

Die Ausgangssituation ist interessant. Die vielverzweigte Mehr-oder-minder-Patchwork-Familie Mariannes hat gerade in großer Anzahl Weihnachten miteinander gefeiert bzw. begangen. Nun stirbt kurz danach – wie nebenbei – die „Familien“-Matriarchin Jutta, die Großmutter Mariannes. Die zumeist gerade Abgereisten aus dem großen Kreis der Verwandten, Bekannten, Verschwägerten und Freunde (unter ihnen auch Mariannes Sohn Lukas) werden nun wieder zurückgerufen. Die Beerdigung steht an und bald danach auch der Erbfall.

reitzer_wir_erbenMit dem Tod einer Hauptperson beginnen so manche Romane, in der deutschen Literatur zum Beispiel Jean Pauls „Flegeljahre“ und Wilhelm Raabes „Im alten Eisen“ sowie Hans Erich Nossacks „Der jüngere Bruder“. So werden Vergleiche interessant: Wie unterschiedlich gehen die jeweils Hinterbliebenen mit einem solchen Todesfall um und wie prägt ein derartiger Beginn ein ganzes Buch?

Eines der Hauptthemen des Romans von Angelika Reitzer ist ganz konkret: Wie kommen wir Menschen, insbesondere wir mitteleuropäischen Menschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit unter diesen ganz bestimmten Bedingungen im jeweiligen Einzelfall mit unserem Leben zurecht? Dabei steht das Leben der Frauen vor allem im Blick, auch wenn Männer durchaus vorkommen und gelegentlich auch eine Rolle spielen.

Das Leben dreier, wenn nicht vierer Frauengenerationen wird – ab und an bruchstückhaft sichtbar gemacht – der Gegenwartsebene unterlegt. Dieses Wichtignehmen der Generationen macht das Buch zu einem Dialogpartner und Gegenstück zum nun schon eine ganze Generation älteren, verdienstvollen Roman Ingeborg Drewitz‘ „Hundert Jahre Gegenwart“.

Liest man das Buch der österreichischen Autorin nicht zügig durch, wird man die genauen Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse vielleicht nicht immer ganz genau im Gedächtnis behalten. Vielleicht wollte Angelika Reitzer mit dieser Figurenfülle gerade das charakteristisch Patchwortartige der Lebensverhältnisse in unserer Zeit zu betonen? Und das Zurückgeworfensein einer jeden einzelnen Person auf ihr eigenes, ureigenes Leben?

Ich habe ja dieses Buch bis zu Ende gelesen, habe nicht ein einziges Wort, geschweige denn eine ihrer Passagen ungelesen gelassen, obwohl ich nach einigen Seiten nicht mehr ganz so interessiert wie zu Anfang gewesen bin. Aber wenn ich in der Nacht, aus Träumen gerissen oder aus anderen Gründen wach geworden, wieder auf andere Gedanken kommen wollte, habe ich jeweils zu diesem Buch gegriffen, an genau der Stelle, an der ich am Vortag zu lesen aufgehört hatte, weitergelesen und danach wieder weiter gut geschlafen.

Indes: Ein Spannungsmoment gab es in diesem Roman für mich nach wie vor. Erzeugt wurde dies merkwürdigerweise durch die Vorgriffe auf dem Buchumschlag. Zum ersten Mal durfte ich erleben, dass ein Klappentext durch seine Vorankündigungen nicht etwa schon zuviel verrät und damit Spannung im Voraus wegnimmt, sondern dass er gerade durch seine vorwegnehmenden Vorankündigungen eine Spannung und Neugier aufrechterhält, die der Roman selbst (in seinem ersten Teil) aufrechtzuerhalten nicht in der Lage war. Im „Waschzettel“ nämlich ist die Rede von einer zweiten nicht aus Österreich, sondern aus der ehemaligen DDR stammenden Frau, die zur Freundin der Österreicherin, also Mariannes, wird bzw. geworden ist.

Und so habe ich gewartet, bis diese zweite Person mit ihrer wahrscheinlich (und dann auch tatsächlich) ganz anderen Vorgeschichte in diesem Roman auftritt. Und das geschieht erst im zweiten Teil des Romans, einem Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtromans umfasst. Und ehe diese zweite zentrale Hauptfigur des Romans vollends in den Blick rückt, schiebt sich die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihrer Eltern, in den Vordergrund. Kurz vor dem Fall der Mauer flüchtet diese Familie über das „freundliche sozialistische Ausland“ aus der DDR in die Bundesrepublik und kehrt nach einigen dort verlebten Jahren wieder an ihren Ursprungsort zurück, um dort von neuem Fuß zu fassen, was nicht sehr leicht fällt.

Diese Geschichte aus dem zunächst noch getrennten, dann vereinten Deutschland ist recht interessant, hat aber auf den ersten Blick mit dem ersten weit umfangreicheren, vorwiegend in Österreich in der Nähe Wiens auf dem Lande spielenden Romanteil nicht allzuviel zu tun. Wie also wird es der Autorin gelingen, eine glaubhafte Verknüpfung beider Lebensgeschichten herzustellen, habe ich mich bei der Lektüre des zweiten Teils fortlaufend gefragt und dabei die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass durch eine überzeugende Verknüpfung auch der erste Romanteil nachträglich noch aufgewertet werden würde.

Es dauert lange, fast bis zum Ende des Romans, bis sich die beiden Frauen, Marianne und Siri, zufällig zum ersten Mal begegnen, auf der Toilette, in der Pause eines Konzertes in Wien. Daraus entwickelt sich nun nach und nach eine Freundschaft. Eine Liebe auf den ersten Blick, wie sie sich – fast gleichzeitig mit Siris zunächst nur flüchtiger Erstbegegnung mit Marianne – zwischen Siri und „Hans dem Bauer“ spontan ergibt, läuft, obschon zunächst auf scheinbar gutem Wege, ins Leere.

Der zweite Romanteil endet chronometerzeitlich früher als der erste. Umso stärker beschäftigt mich immer noch die Frage, wieso nicht schon im ersten Romanteil wenigstens andeutungsweise von der Freundschaft zwischen Marianne und Siri die Rede gewesen ist, wo doch andere Freundschaften und unproblematische wie problematische Zuneigungen durchaus ausführlich vorgekommen sind. Diese Aussparung kommt zwar romantechnisch der Spannung zugute, hat aber die Logik bzw. die Psychologik nicht so ganz auf ihrer Seite. (Indessen: ein blindes Motiv und eine indirekte Vorausdeutung ist mir aus dem ersten Teil durchaus noch in Erinnerung. Es soll da einmal eine junge Frau, die ursprünglich aus der DDR stammt, von Jutta, ihrer Großmutter empfohlen, bei Marianne als Hilfe eingestellt werden, wozu es aber nicht kommt.)

Was mich jetzt noch an diesem beobachtungssicheren, zeitsymptomatischen Roman interessiert, ist dies: Wie anders lesen (diese oder jene) Frauen diesen Roman als (manche) Männer? Oder sind die Leseunterschiede gar nicht so groß, wie man immer meint?

Zugegeben: Um dem Roman Angelika Reitzers angemessen gerecht zu werden, müsste ich ihn zuvor mindestens noch einmal lesen.

Auf der Seite 322 dieses Romans wird ein Gespräch zwischen Marianne und Siri über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wiedergegeben. Dort findet man u. a. diese Sätze: „Sie klappte das Buch zu, schaute Siri an. ‚Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?‘ Sie stellte ein anderes Buch ins Regal, auch die anderen, dann schloss sie die Glastür.“

„Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?“, solch eine Frage in ihrem eigenen Roman zu stellen bzw. stellen zu lassen, ist von der Autorin mutig. Auf den ersten Blick. Denn: Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass auch dieser Roman bei abermaliger Lektüre gewinnt.

Angelika Reitzer: „Wir Erben“. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 343 Seiten, 22,90 €