Warum das Zigeunerleben gar nicht lustig ist – eine moralische „Odyssee“ in Essen

Vorn auf der Bühne sitzt eine Gruppe übermütiger, weiß gekleideter Männer und Frauen um den Tisch herum, isst, trinkt und schwadroniert – stets im Chor – über ihre Reise, die andauert, weil sie sich ziemlich verpeilt haben. Die Gruppe ist in ihrer Gesamtheit offenbar Odysseus, nämlicher Held der Odyssee, der auf seiner zehn Jahre währenden Rückreise von Troja nach Ithaka einer Menge verstörender Wesen und Gesellschaften begegnete.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: Axel Holst, Ines Krug, Jan Jaroszek, Thomas Meczele, Stephanie Schönfeld, David Simon (Foto: Theater Essen/Thilo Beu)

Weiter hinten auf der Bühne finden im Verlauf des Stücks die Begegnungen mit den Fremden statt. Hier kommen die Zigeuner ins Spiel, die der Titel ankündigte. „Die Odyssee oder: Lustig ist das Zigeunerleben“ heißt die Produktion, die jetzt im Essener Grillo-Theater ihre Uraufführung erlebte und für die Regisseur Volker Lösch („nach Homer mit Texten von Roma, Sinti und Gadsche“) auch die Textfassung erstellte.

Man sieht: Dem Projekt liegt ein konzeptioneller Gedanke zugrunde, nämlich der, dass Homers Begegnungen mit dem Fremden in unseren Begegnungen mit den „Zigeunern“ eine Analogie haben. Lustig ist das Zigeunerleben bei den Lotophagen, gefährlich aber sind diese Leute, wenn sie als menschenfressende Zyklopen daherkommen. Und ihr skandalöser Umgang mit Frauen – aber auch das skandalöse Verhalten der Frauen selbst – findet Entsprechungen in den Episoden mit Circe, Calypso oder den Sirenen.

Die exotischen Völker und Figuren spielt eine sechsköpfige Roma-und-Sinti-Gruppe, die ihre Rollen in jeder Episode jedoch zügig verlässt, um mit trotziger Attitüde vorzutragen, wo und wie sie benachteiligt werden – in der Schule, bei der Arbeit, bei der Wohnungssuche und so fort. Insbesondere die Behandlung der Sinti und Roma in südosteuroäischen Ländern wird gegeißelt, und die just am Tag der Uraufführung beschlossene Änderung des Asylrechts, die Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina per Gesetz zu „sicheren Herkunftsstaaten“ macht, wird als Ungeheuerlichkeit geschmäht.

Die politischen Mißstände sollen nicht bestritten werden, doch das macht die Inszenierung nicht besser. Leider gilt wie oft auch hier, daß gut gemeint nicht immer gut gemacht ist. Die Verknüpfung von Odyssee und Roma-und-Sinti-Problematik wirkt weit hergeholt, Aha-Erlebnisse bleiben aus; der Duktus der Aufführung ist trotz der munteren weißen Partytruppe hölzern, der ermüdende Textvortrag ausschließlich im Chor hat daran erheblichen Anteil. Zudem monologisieren die jungen Roma und Sinti fast ausnahmslos von der Rampe in das Publikum hinein. Auch wenn sich „Schwarz“ und „Weiß“ auf der Bühne manchmal ziemlich nahe kommen, Rollen und Kostüme zum immer besseren Verständnis in einer Szene gar getauscht sind, finden Dialoge praktisch nicht statt.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: Faton Mistele, David Simon, Axel Holst, Sandra Selimović, Slaviša Marković, Melanie Joschla Weiß, Thomas Meczele, Ines Krug, Nebojša Marković, Stephanie Schönfeld (Foto: Thilo Beu/Schauspiel Essen)

Die zornige Selbststilisierung der jungen Roma-und-Sinti-Darsteller als Opfer von Ausgrenzung, Ausbeutung, Rassismus und so weiter in Vergangenheit und Gegenwart wirkt selbstgefällig und wenig produktiv. Dem Regisseur sollte zu denken geben, dass die Jugend mit ihrem manchmal recht feinen Gespür für Richtig und Falsch das Wort „Opfer“ vor Jahren schon zu einem Schimpfwort gemacht hat, wahrscheinlich nicht zuletzt wegen seines inflationären Gebrauchs. Eine stanzenhafte Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter, wie Lösch sie unterschwellig vornimmt, ist auch aus diesem Grund geradezu kontraproduktiv. Überdies bestätigte sie übelwollenden Teilen des Publikums (falls vorhanden) auf perfide Weise, dass Zigeuner eben anders sind.

In späteren Szenen erzählen die sechs Sinti-und-Roma-Schauspieler von sich persönlich, ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem Selbstverständnis in einer Welt der „Weißen“ (Nicht-Sinti-und-Roma), von ihren Berufswünschen (Filmemacher, Musiker, Schauspieler…), vom Stress untereinander und in archaischen Familienstrukturen. Unübersehbar besteht hier die inszenatorische Absicht, Vorstellungen von grundlegender Andersartigkeit ad absurdum zu führen. Nur war die Andersartigkeit bis dahin lediglich eine Behauptung, der man folge konnte oder auch nicht. Und mit der Odyssee hat das alles gar nichts zu tun, eher mit dem brachialen Welterklärungsdrang dieser Inszenierung.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Die Odyssee oder 'Lustig ist das Zigeunerlebe

Von links: David Simon, Thomas Meczele, Axel Holst, Ines Krug, Jan Jaroszek, Stephanie Schönfeld (Foto: Thilo Beu/Schauspiel Essen)

Ein Lob verdient die Ausstattung von Carola Reuther (Bühne, Kostüme, Projektionen), die ein halb offenes, auf einer Drehbühne installiertes weißes Haus in hübscher dialektischer Manier zur Spielstätte der Fremden wie auch zur Projektionsfläche spießbürgerlicher Sehnsüchte wie auch Überfremdungsängste macht. Erst ganz am Schluss werden hier statt bunter Hintergrundbeleuchtungen richtige Farben auf die Wand geworfen. Wenn Odysseus und seine Mannen sich anschicken, Penelope von ihren „Freiern“ zu befreien und ein gnadenloses Blutbad anrichten, zerplatzen blutrote Farbbeutel auf der weißen Wand. Eine feinsinnige Klimax, immerhin.

Die nächsten Termine: 26. Sept., 10. und 19. Okt.

Telefon: 02 01 / 81 22-200
Info-Hotline: 02 01 / 81 22-600
E-Mail: tickets@theater-essen.de
Infos: http://www.schauspiel-essen.de/stuecke/die-odyssee.htm




„Zeitgenössische Programmierung“: Rückblick auf die Triennale-Ära von Heiner Goebbels

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Die Triennale geht zu Ende, in die Bochumer Jahrhunderthalle kehrt Ruhe ein Bis 2015 Johan Siemons kommt (Foto: Ruhrtriennale/Jahrhunderthalle Bochum)

Es ist – das Ende. Der Platz vor der Jahrhunderthalle wirkt verlassen, hinten bei den Kühlbecken werden letzte Kulissen von „Neither“ in Container verladen. Man kann das Rund des Dampflokkessels erkennen, das in Wirklichkeit eben doch bloß schwarz angestrichenes Sperrholz war. Die Ruhrtriennale 2014 geht zu Ende.

Am Sonntag (28. September) ist in Bochum Schluß mit dem Royal Concertgebouw Orkest. Auch endet, was noch wichtiger ist, die Drei-Jahre-Intendanz von Heiner Goebbels. Er wird sich wieder seiner Professur für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen widmen und komponieren. Johan Siemons ist, wie berichtet, sein Nachfolger. Und deshalb war die Abschluß-Pressekonferenz am Mittwoch nicht nur eine Spielzeit-Bilanz, sondern eine der Ära Goebbels, die von 2012 bis 2014 währte.

Drei Jahre Heiner Goebbels. Als sein Vorgänger Willy Decker das Zepter übergab, viele werden sich noch erinnern, fragte man Goebbels natürlich nach einem Konzept. Decker hatte da ja wuchtig vorgelegt und in seinen drei Jahren drei Weltreligionen zu den Zentralthemen gemacht, Judentum, Islam und Buddhismus. Goebbels jedoch schien kein Thema zu haben und wurde am konkretesten stets mit dem, was er nicht vorhatte: Keine religiös-philosophisch grundierten Rekonstruktionen des Welt- und Kunstgeschehens, keine systematischen Begrenzungen der Kunstformen, keine Imperative. Stattdessen: Kunst am äußersten Rand, Kunst, von der nicht alle glaubten, daß sie noch rezipierbar sei. Das gar nicht so erwartungsfrohe Publikum drückte sich bisweilen auch bösartiger aus: Minderheitenprogramm, esoterischer Firlefanz, viel heiße Luft in sündhaft teuren Produktionen.

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Die Intendanz von Heiner Goebbels ist zu Ende (Foto: Ruhrtriennale)

Heute muß man sagen: Goebbels hat tolle Programme gemacht. Unvergeßlich bleibt in seinem ersten Jahr John Cages „Europera“, ein Theaterguckkasten mit Schiebekulissen, wie man ihn sich in früheren Zeiten vor die Augen hielt, um die Tiefe eines Raumes im Modell zu erfahren, eine frühe 3D-Animation. In Bochum hatte der Guckkasten Hallendimension bekommen, hunderte Helfer schoben und zogen die scherenschnitthaften Elemente auf den verschiedenen Tiefenebenen ins Bild und wieder hinaus, und dem Publikum gab man noch die Botschaft mit auf den Weg, daß dies keineswegs eine Opernadaption darstellte. Es sei sinnlos, eine bekannte Handlung wiedererkennen zu wollen, hier erfahre das europäische Opernwesen zu den sparsamen Klängen von John Cage in Gänze seine Zerlegung.

Provokation? Ja, auch. Doch der Abend war grandios. Es war grandios, eine radikale Idee so hemmungslos materialisiert auf der Bühne zu sehen.

Keine Bange, jetzt werden nicht alle Produktionen durchgehechelt, die der Erwähnung würdig wären. Erinnert sei auf jeden Fall aber doch an die hoch emotionale, tief zu Herzen gehende Einrichtung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im Jahr darauf. Robert Wilson führte Regie und spielte selbst mit. Partnerin und „Mädchen“ war Angela Winkler, das ganze fand vor eigens gezimmerten Zuschauerrängen statt, die eine Art vierseitigen Trichter bildeten und an deren oberem Rand sich rundherum die Musiker positioniert hatten. Dolby surround war nichts dagegen. Aber war das alles nötig für dieses kleine Zweipersonenstück?

Und was für ein wunderbarer Wahnsinn war Harry Partchs Glasschlaginstrumentenladen, in dem uns sein (tschuldigung) Kitschstück „Delusion of the Fury“ mit ziemlich voraussehbarem Soundtrack vorgespielt wurde! Zweimal teuer, zweimal ganz großes Theater.

Kommen wir zum Jahr 2014. Die beste Inszenierung der Jahrhunderthalle, also des Gebäudes selbst, war bisher wohl 2006, in der Ära Flimm, Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ in der Regie von David Pountney. Hier war die Bühne (je nach Blickwinkel) wenige Meter tief und einige hundert Meter lang oder umgekehrt, und das Publikum fuhr auf schienengebundenen Zuschauerrängen an dieser Bühne hin und her, immer dorthin, wo gerade etwas los war. Hier wurde das Stilmittel Kamerafahrt für die Bühne auf atemberaubende Art zur „Publikumsfahrt“ adaptiert. Und man „er-fuhr“ die riesige Halle.

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Furchterregend, jetzt im Container: die Lokomotive aus „Neither“. (Foto: Ruhrtriennale)

Wie gesagt: Überzeugender hat bisher keine Inszenierung die Riesendimensionen der Jahrhunderthalle zelebriert als nämliche „Solaten“. In dieser Triennale-Spielzeit jedoch ist ihnen Konkurrenz erwachsen. „Neither“ mit der Musik von Morton Feldman und dem extrem sparsamen Text von Samuel Beckett kann mit Fug für sich beanspruchen, es mindestens ebenso gut gemacht zu haben. Hier durchleuchten starke Scheinwerfer an einem Autokran das glasdurchwirkte nächtlich-schwarze Dach der Jahrhunderthalle und machen so deren schiere Größe ebenso sichtbar wie ihre Architektur, die zwischen industrieller Zweckmäßigkeit und schönem Gleichmaß Charakter zeigt. Da sich die Außenstrahler am Autokran mitunter auch heftig – choreographisch – bewegen, haben sie einen großen Anteil am Spielgeschehen. Überhaupt muß man „Neither“ eine der bedeutendsten Produktionen dieses Jahres nennen, allein schon wegen des (wiederum) erheblichen materiellen Aufwands inklusive fahrender Dampflok und fahrbarer Tribüne.

Nicht weniger grandios war der opulente Opener „De Materie“ in der Rege des Intendanten, alles vom Feinsten, aus dem Vollen geschöpft, teuer und schön. Als Komponist schließlich brachte Goebbels sich noch mit den 1994 uraufgeführten „Surrogate Cities“ in Erinnerung, in Duisburg naheliegenderweise mit der „Ruhr“-Version. Steven Sloane dirigierte die Bochumer Symphoniker, die Sängerin Jocelyn B. Smith und vor allem der „virtuose Vokalist“ David Moss bleiben in dankbarer Erinnerung. (Weniger die wuselige Chreographie von Mathilde Monnier, die mit der Aufbietung von 140 Freiwilligen aus der Region zwar unbedingt eine Fleißleistung ist, aber zu keinem Zeitpunkt mit der Musik kraftschlüssig zusammenwuchs.)

Endlos könnte man aufzählen, doch was nützte es? Unbestreitbar waren die Stücke, deren Auswahl Heiner Goebbels sehr nüchtern „Zeitgenössische Programmierung“ nennt, die wichtigsten Produktionen seiner Intendanz. Sie erbrachten einen unerwarteten Strauß von Kunsterlebnissen, unvergeßlich in seiner Einmaligkeit. Und in einer solchen Qualität wahrscheinlich nicht wiederholbar. Glücklich, wer dabeigewesen.

Nachklapp

Bei Bilanzpressekonferenzen wird in der Regel eine Erfolgsbilanz gezogen. Festivals und Spielzeiten sind immer erfolgreich, wenn nicht größte Katastrophen dies verhinderten. So war auch diesmal nur Gutes zu vernehmen, beginnend bei über 90-prozentiger Auslastung der Plätze und sich fortsetzend bei formidablem Echo der Medien und der Fachwelt.

Deutlich wird aber auch wieder, daß Triennale-Kunst teuer ist. 14 Millionen betrug der Jahresetat, Goebbels konnte in seinen drei Jahren mithin 42 Millionen ausgeben. Das ist viel Geld, vor allem auch mit Blick auf das allgegenwärtige deprimierende Geknappse bei anderen Kultureinrichtungen. Aber Kunst muß nicht billig sein, und der Versuch, gute Kunst abseits der ausgetretenen Pfade zu machen, kann noch teurer werden.

Warum also eine Triennale? Weil wir es uns – als Gesellschaft – wert sind, könnte man vielleicht sagen. Und erst im zweiten Satz auf die positiven wirtschaftlichen Wirkungen eines Festivals wie der Ruhrtriennale für die Region hinweisen, auf internationale Strahlkraft und Imageverbesserung.

www.ruhrtriennale.de