Getanzte Lebensläufe – persönliche Eindrücke zwischen Litauen und Dortmund

Vom 8. Bis 12. Oktober fand in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, das internationale Tanzfestival AURA24 statt. Die Dortmunder Produktionsgruppe artscenico war dabei. Zusammen mit der Tanzcompagnie Aura wurde die Koproduktion „CVs – Curricula vitarum“ realisiert. Der Tänzer und Choreograph Paul Hess hat das Vorhaben mit einem internationalen Ensemble umgesetzt, das dort neu zusammengestellt wurde. Als verantwortlicher Koproduzent bin ich zum Festival und zur Premiere nach Kaunas gereist. Hier einige persönliche Eindrücke:

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas (Foto: Rūta Taraškevičiūtė)

Die Zusammenarbeit mit Aura begann 2013 mit der Produktion „Heimat surreal“, die in Dortmund als Dreiteiler in der Schalthalle Phoenix-West, dem Rombergpark und am Kanal gezeigt wurde. Daraufhin wurde Paul Hess als Choreograph angefragt und eine Koproduktion vereinbart. Das Festival ist das renommierteste der freien Tanzszene in Litauen.

Thema in diesem Jahr war die Frage nach der Rolle des Maskulinen in der postmodernen Gesellschaft. „Unser“ Stück behandelt diese Frage quasi en passant. Das Rollenspiel beginnt in der Kindheit und zieht sich durchs Leben. Dazu ist die Sprache des Tanzes ein Mittel, das international barrierefrei verständlich ist. Neun Tänzerinnen und Tänzer aus Mexiko, Japan, Litauen, Brasilien und Italien bilden das neue Ensemble.

Ich besuche die Generalprobe und versuche, eine neutrale Haltung einzunehmen. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wie weit greift die Befangenheit des Produzenten, die naturgemäß dazugehört? Ich nehme mir vor, nur zehn Minuten zu bleiben, um ein Premierenbesucher zu sein wie alle anderen: Offen und erwartungsvoll auf das Kommende harrend. Nach 40 Minuten sitze ich immer noch im Theatersaal der Universität Magnus. Der Theatersitz wird zum Sessel.

„Ich schaue sehr gerne zu“, merke ich. „Also wird es dem Publikum gefallen“, ist meine Schlussfolgerung. Ich stecke nicht in der Haut der Tänzer und des Choreographen, die an einem solchen Abend hypersensibilisiert sind und voll konzentriert. Das Werk ist vollbracht und doch wird es sich in Zukunft immer verändern. Das ist das Spannende an der darstellenden Kunst. Der Augenblick ist nicht wiederholbar, aber die Nuancen.

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Premiere: Das Haus ist mit rund 400 Personen besetzt. Junges Publikum bildet die Mehrheit. Fast alles klappt. Man spürt die Anspannung. Die neun jungen Tänzer zeigen eine enthusiastische Performance mit vielen unterhaltsamen wie auch besinnlichen Sequenzen. Das Publikum applaudiert, Blumen werden gereicht, Gesichter und Körper entspannen sich bei Tänzern und Team.

Ich gebe die Zurückhaltung des professionellen Beobachters auf und freue mich bis drei Uhr morgens in der Bar der Galerie Urbana. Im nächsten Jahr kommt die Produktion ins Ruhrgebiet. Bis dahin ist für alle wieder ein weiteres Stück Lebenslauf vergangen, neue Erfahrungen kommen hinzu und wirken ins Stück hinein.

Entspannt schaue ich mir den Rest des Festivals an und finde es schade, dass es eine solche Veranstaltung zum Beispiel in Dortmund nicht mehr gibt. Ich erlebe ein abwechslungsreiches Programm mit unterschiedlichen Tanzkonzepten aus Schweden, Italien, Frankreich, Polen, Israel, Mexiko und Korea.

Es war ein guter Coup, zum Thema „Männer“ erstmals Gruppen aus Mexiko und Korea einzuladen. Es war erfrischend zu sehen, wie die Mexikaner mit dem Klischee der Machos spielten; eine geradezu umwerfend lebhafte Vorstellung der drei „Grouchos“ von Jaciel Neri & die Moving Borders mit Nosotros, die selbstironisch und witzig die Rolle des Mannes variieren. Das Publikum kam in Scharen und blieb anschließend in scharfer Partylaune mit Tequila und Tabasco-Snacks.

Internationaler kann es kaum sein. Hier zeigt sich die gelungene Umsetzung des artscenico-Konzeptes, internationale Kooperationen zu kreieren, die zwar die Welt nicht schöner machen, aber zumindest das Leben dort und die zeigen, dass abseits der unfassbaren Konfliktherde kreatives Miteinander nicht verloren geht.

„Welch ein salbungsvolles Fazit“, denke ich, während ich im Billigflieger sitze, der gleich in Dortmund landen wird. Back in reality, wieder ein Stück Lebensweg sinnvoll hinter mir lassend.




Geschälte Bäume – David Chipperfields „Sticks and Stones“ in der Berliner Nationalgalerie

Was für ein Kontrast: Ein Wald aus geschälten Bäumen, ein Heer aus 144 verletzt und doch standhaft wirkenden, acht Meter hohen Fichtenstämmen in einem riesigen Kasten aus Glas und Stahl.

„Sticks and Stones“ nennt der britische Star-Architekt David Chipperfield (nach dessen Plänen u. a. auch das Essener Museum Folkwang umgebaut wurde) seine beeindruckende „Intervention“, mit der er das gläserne Foyer der Berliner Nationalgalerie in einen Denk- und Erlebnisraum verwandelt und die komplizierten Wechselwirkungen von Architektur und Kunst, Material und Mensch anschaulich macht.

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation "Sticks and Stone" in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation „Sticks and Stone“ in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Die Verwandlung der Glashalle in einen Säulenpark ist der Prolog zur Sanierung des von Mies van der Rohe entworfenen Kunsttempels, der 1968 eröffnet wurde und längst ein Klassiker der Moderne ist. Der Zahn der Zeit hat unbarmherzig genagt und den spektakulären Museumsbau, bei dem acht schlanke Stahlstützen das monumentale, nachgerade frei schwebende Dach tragen, arg in Mitleidenschaft gezogen. Ende des Jahres wird das Haus für unbestimmte Zeit geschlossen und vom Büro David Chipperfields von Grund auf für 50 Millionen Euro saniert.

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Dass Chipperfield es kann, hat er beim behutsamen Wiederaufbau des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel bewiesen. Nicht von ungefähr leiht sich Chipperfield für seine „Intervention“ den Titel bei einem ironisch zitierten englischen Kinderreim: „Sticks and Stones (may break my bones, but words will never hurt me).“

Chipperfield verweist damit auf zwei Grundelemente der Neuen Nationalgalerie: Stütze/Säule und Stein. Denn der Bau aus Glas und Stahl ruht auf einer gigantischen Marmorplatte, und das Dach, jetzt scheinbar von den Fichtenstämmen getragen, wird in Wahrheit von acht außerhalb der Glashalle stehenden Stahlträgern in seiner schwebenden Eleganz gehalten.

Chipperfield verbindet mit seinen entrindeten, 100 Jahre alten Fichten die freie Natur mit dem technischen Kunstraum, er holt das Außen ins Innere und entwirft ein Assoziationsfeld, bei dem Vergangenheit und Gegenwart sich durchdringen.

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße - im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße – im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Inmitten des zwischen antiker Säulenhalle und provisorischem Baustellenchaos angesiedelten Fichtenwaldes gibt es eine kleine Lichtung. Vielleicht der passende Ort, um über die Zukunft von Kunst und Architektur zu sinnieren. Oder darüber zu streiten, wie Berlin es verkraften will, dass der Kunst-Tourist demnächst gleich vor zwei verrammelten Türen stehen wird: Denn neben der Neue Nationalgalerie schließt auch das Pergamonmuseum für Jahre seine Pforten. Schlechtes Timing.

David Chipperfield: Sticks and Stones, eine Intervention. Berlin, Neue Nationalgalerie (Kulturforum, Potsdamer Str. 50). Bis 31. Dezember 2014. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen.