TV-Nostalgie (29): Das Ohnsorg-Theater – gut geölte Lachlust aus dem Norden

Ihre Komik war oft ziemlich hausbacken, doch sie waren keineswegs Dilettanten: Über Jahrzehnte hinweg unterhielt das Ohnsorg-Theater nicht nur Touristen im Hamburger Kiez, sondern auch Millionen Fernsehzuschauer.

Die Vorläuferbühne hatte Richard Ohnsorg bereits 1902 in Hamburg gegründet. An wechselnden Spielstätten gab man fortan niederdeutsche Stücke. Die meisten Schwänke wurden eigens „op Platt“ geschrieben, andere wurden aus dem Hochdeutschen oder anderen Sprachen übersetzt.

Dialekt ist kein Tüddelkram

Und siehe da: Weil das Niederdeutsche etwa mit dem Englischen so eng verwandt ist, zeigten die Übertragungen ungeahnte Qualitäten der Anverwandlung; ganz abgesehen davon, dass die Mundart ohnehin ihren speziellen Humor mit sich bringt. Dialekt ist eben kein Tüddelkram.

Heidi Kabel und Henry Vahl in "Tratsch im Treppenhaus" (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Heidi Kabel und Henry Vahl in „Tratsch im Treppenhaus“ (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Ab 1954 zeigte das ARD-Fernsehen Aufführungen aus dem Ohnsorg-Theater, wobei die norddeutsche Einfärbung dem Hochdeutschen behutsam angepasst wurde (sogenanntes „Missingsch“), damit auch Landsleute aus dem Westen und dem Süden mithalten konnten.

Mit Heidi Kabel und Henry Vahl

Legendär wurden vor allem die Sendungen in den 60er und 70er Jahren, als z. B. die überaus populären Schauspieler Heidi Kabel und Henry Vahl (meist als „komischer Opa“) zum Ensemble gehörten. Sie sind unvergessen: Seit Sommer 2011 residiert die Ohnsorg-Bühne im „Bieberhaus“ am Heidi-Kabel-Platz 1 in Hamburg. Einen Henry-Vahl-Park gibt es ebenfalls in der Stadt.

Gewiss: Die unter Live-Bedingungen im Theater aufgezeichneten Stücke erinnern manches Mal an derben Schenkelklopferhumor oder an unbedarftes Boulevardtheater – oft saubermännisch und doppelmoralisch garniert mit neckisch-frivolen Anspielungen. Doch da gab es auch durchaus feinsinnige und anrührende Töne. Und die Schauspieler verstanden ihr überwiegend komisches Fach. Die Komödien-Maschinerie war sozusagen bestens geölt. Andernfalls hätte man nicht diesen überwältigenden Erfolg gehabt.

Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“

Gern gebe ich zu, dass ich jetzt beim Wiedersehen mit dem Ohnsorg-Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“ an etlichen Stellen schallend gelacht habe. Das gesamte Stück spielt tatsächlich nur im Treppenhaus einer sehr einfachen Mietskaserne. Welch ein munteres Türenschlagen, welch ein aberwitziger Streit zwischen den Mietparteien! Und wie Heidi Kabel die ewige Lästerzunge Frau Boldt verkörpert, das hat schon sehr ordentliches Format.

Gipfeltreffen von 1968

Zeitgeschichtlich interessant: Die 1962 erstmals gesendete Produktion spielt noch vor dem Hintergrund äußerst schlichter Wohnverhältnisse in der Nachkriegsrepublik. Die komplette Fassung, die im Internet noch greifbar ist, stammt vom Silvesterabend 1966. Wer an einem solch herausgehobenen Tag die beste Sendezeit bestreiten durfte, zählte wahrlich zu den Quotenkönigen des Fernsehens.

1968 kam es übrigens zum Gipfeltreffen der damals beliebtesten Volksschauspieler: In „Die Kartenlegerin“ schaukelten sich Heidi Kabel und Willy Millowitsch gegenseitig hoch. Es war zum Schreien!

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), „Der goldene Schuß“ mit Lou van Burg (28)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Streng, schwarzweiß und einfühlsam – Fotografien von Barbara Klemm und Stefan Moses in der Küppersmühle

Neo Rauch hat sich beim Malen schmutzig gemacht und läuft, warum auch immer, aus dem Bild; und Willy Brandt steht im Wald. Den Leipziger Maler Neo Rauch hat Barbara Klemm 2011 fotografiert, den Altbundeskanzler Willy Brandt 1984 Stefan Moses. Auf den ersten Blick haben die beiden Fotografien wenig gemein. Doch beide eint, dass sie Portraits sind, dass berühmte Pressefotografen sie machten und dass sie jetzt in der Duisburger Küppersmühle in der selben Ausstellung hängen.

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Ikonen unter sich (wenn man so will): 1981 fotografierte Barbara Klemm Pop-Art-Ikone Andy Warhol vor Tischbeins berühmtem Goethe-Portrait. (Bild: Barbara Klemm/MKM)

Barbara Klemm, Jahrgang 1939, war viel Jahre lang Bildjournalistin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und sie machte Pressebilder, von denen einige zu Ikonen wurden. Neben dem tagesaktuellen Geschäft bearbeitete sie – und tut es zum Teil noch heute – Dauerthemen wie ihre Künstlerportraits oder Besucher in Kunstausstellungen. Arbeiten aus diesen beiden Serien sind nun in Duisburg zu sehen, ergänzt unter anderem mit einer kleinen Bildfolge über das Gesamt-Lichtkunstwerk Roden Crater, das der Lichtkünstler James Turrell in Arizona schuf. Stefan Moses, Jahrgang 1928, war unter anderem für den „Stern“ und die Fotoagentur Magnum unterwegs und portraitierte ebenfalls.

Formal zeigen die Arbeiten der beiden Fotoschaffenden Ähnlichkeit, zumal so, wie sie jetzt in Duisburg präsentiert werden. Bild hängt dicht neben Bild, und das ist an Strenge kaum zu überbieten. Durchgängig sind sie schwarzweiß, die Abzüge haben einheitliche, mittlere Größe, nichts wurde um des Effekts willen „aufgeblasen“. Doch davon abgesehen könnten die Unterschiede in der fotografischen Handschrift größer kaum sein.

Barbara Klemm, die es dank mehrerer Ausstellungen in den letzten Jahren zu einer gewissen Berühmtheit brachte, ist bekannt für ihren zurückhaltenden Stil, der die Totale dem engen Ausschnitt meistens vorzieht. Mit Distanziertheit sollte das nicht verwechselt werden. Mal um Mal arbeiten ihre Künstlerportraits die Individualität der Abgebildeten schlüssig heraus, manchmal geradezu auratisch. Einige blicken in die Kamera, andere wirken wie unbemerkt beobachtet. Eine Nadine Gordimer füllt fast das ganze Bildformat, während ein Umberto Eco in seinem Sessel im unteren Bilddrittel wegzusacken scheint. Natürlich ist die immer wieder wechselnde Proportionierung kein Ausdruck von Wertschätzung, sondern kluge, empathische fotografische Charakterisierung. Auch die eher dunkle Grundstimmung der Abzüge trägt zu dieser gleichsam analytischen Haltung bei, die nicht mit dem Neutralitätsstreben der Becher-Schule gleichgesetzt werden sollte.

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Bundeskanzler Willy Brandt steht im Wald; Stefan Moses lichtete ihn dort – im Siebengebirge – 1984 ab. (Foto: Stefan Moses/MKM)

Stefan Moses‘ Portraits sind demgegenüber kontrastreicher, knalliger, näher dran. In der Wald-Serie, in der auch Willy Brandt seinen Platz fand, stellte er Mitte der 80er Jahre deutsche Prominenz aus Politik und Kultur zwischen die Bäume und lichtete sie ab. In einer späteren, in Duisburg breit präsentierten Serie stellte er im Wendejahr 1989 gleichsam typische Vertreter der DDR-Werktätigen in die Hohlkehle und drückte drauf. Anscheinend strebte er danach, ähnlich wie in den 20er Jahren August Sander, die „typischen“ Vertreter einer Gesellschaft zu konservieren. Aus heutiger Sicht scheint der Versuch gelungen, wirkt diese Serie doch wie das Dokument einer versunkenen Welt. Denn Werktätige wie die „Facharbeiter für Tierproduktion“, die lachend und mit kleinen Schweinchen im Arm posieren, gibt es wahrscheinlich nicht mehr. Ebenso wenig die furchteinflößenden „Empfangsdamen“ aus Jena und etliche andere mehr.

Das bildjournalistische Schaffen, vor allem aus den Jahren nach der Wende im Osten Deutschlands, nimmt bei Stefan Moses vergleichsweise mehr Platz ein als bei Barbara Klemm. Das mag damit zu tun haben, dass deren beste Pressebilder in einer eigenen Ausstellung versammelt sind, die zuletzt im Berliner Gropius-Bau zu sehen war. An der Qualität jedoch liegt es nicht. Zwar ist Moses’ Portraitfotografie im Ansatz konventioneller, schwankt stärker zwischen Schnappschuss und Inszenierung, doch das hat immer wieder zu überzeugenden Resultaten geführt. Berühmt ist sein Bild des Staatsanwalts Fritz Bauer, der Mitte der 60er Jahre den ersten Auschwitz-Prozess initiierte; doch auch die Fotos aus der Familie Mann, von Marcel Reich-Ranicki und dessen Frau Teofila auf einem Bahnsteig oder, ganz stark, vom Theaterregisseur Fritz Kortner, sind von zeitloser Intensität.

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Besonders sehenswert sind in der Duisburger Ausstellung die Schwarzweißfotos, die Barbara Klemm 2004 vom Landschaftskunstwerk „Roden Crater“ des amerikanischen Lichtkünstlers James Turrell in Arizona machte. (Foto: Barbara Klemm/MKM)

In einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren entstanden die jeweils rund 200 Fotografien, die jetzt in der Küppersmühle zu sehen sind, und für einen so großen Zeitraum sind sie erstaunlich homogen. Man sieht: Hier haben Zwei der Besten früh ihren Stil gefunden und gepflegt. Zudem lassen ihre Arbeiten die Disziplin erahnen, die den professionellen Pressefotografen frommt und unerbittlich von ihm fordert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und einen Film in der Kamera zu haben, hätte man früher noch gesagt. Heute reicht etwas Platz auf der Speicherkarte.

Barbara Klemm/Stefan Moses. Fotografien. Museum Küppersmühle MKM, Duisburg, Philosophenweg 55. Bis 18. Januar 2015. Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, gesamtes Haus 9 €. Katalog (272 S., 238 Abbildungen) 29 €.

www.museum-kueppersmuehle.de

 




Bei Immobilien muss man halt richtig zulangen – ein kleines Lehrstück für Dortmund und NRW

Gestern habe ich mich bei Lektüre der Regionalzeitung aufgeregt, heute schon wieder. Das kommt öfter vor; nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen der Machart. Aber darum geht’s jetzt mal nicht.

Es war also im vermeintlichen WAZ-Lokalteil (der ja von den Ruhrnachrichten kommt) zu lesen, erneut habe ein Großinvestor (diesmal die Gagfah aus Luxemburg) auf einen Schlag gleich 1700 Wohnungen in Dortmund erworben, davon allein 650 im Stadtteil Westerfilde, der in den letzten Jahren derbe heruntergekommen ist und zu Teilen als sozialer Brennpunkt gilt.

Unterwegs zur Verwahrlosung

Die betrübliche Entwicklung Westerfildes wiederum lag nicht zuletzt an den bisherigen Investoren, die große Wohnungsbestände finanziell ausgeweidet haben, hingegen nicht gerade sanierungsfreudig gewesen sind, um es ganz vorsichtig zu sagen. Wo derart dem Verfall und der Verwahrlosung Vorschub geleistet wird, da geht es im Kern auch um die Kultur des Zusammenlebens.

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte...

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte…

Binnen zehn Jahren werden damit die Wohnungen in Westerfilde zum sechsten Male (!) weitergereicht. Es gibt offensichtlich nicht nur die vom Privatfernsehen penetrant vorgeführten Mietnomaden, die vermüllte Wohnungen hinterlassen, sondern vor allem – im Effekt noch ungleich verheerender – Investorennomaden, die auf breiter Front Sanierungsstau und Chaos stiften. Hat da jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gesagt? Nicht doch!

Der Trick mit den Firmenanteilen

Um das Maß zu füllen, gibt’s beim Riesengeschäft (Euro-Millionenvolumen einstweilen unbekannt) freilich noch einen staunenswerten Aspekt: Laut Mieterverein entfällt für den Kauf die Grunderwerbssteuer, die sonst für jeden privaten Wohnungs- und Hauserwerb 5 Prozent vom Kaufpreis beträgt und jeweils schnellstens fällig wird.

Haben wir richtig gelesen? Warum ist der Reibach steuerfrei? Nun, wegen eines gesetzlich erlaubten Tricks im Rahmen eines so genannten „Share Deal“: Demzufolge wurden nominell keine Immobilien, sondern Firmenanteile verhökert. Man glaubt es nicht, was wirtschaftsdienliche Winkeljuristen manchmal so aushecken. Hat da schon wieder jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gerufen? Ach.

Diese unwichtigen Leute

Das alles ist schon ärgerlich genug. Doch mit der Titelseite der heutigen WAZ-Ausgabe folgt die Krönung. Demnach wird – entgegen allen vorherigen Beteuerungen aus der rot-grünen Landesregierung – zum 1. Januar 2015 just die Grunderwerbssteuer von 5 auf 6,5 Prozent angehoben, um den NRW-Haushalt zu entlasten. Die kleinen Krauter, die sich nur eine einzige mickrige Immobilie leisten können, werden mithin noch kostspieliger zur Kasse geschubst. Übrigens liegt das Land NRW, sonst in vielen Statistiken zu Bildung und Wohlstand jeweils am unteren Ende, mit dem künftigen Steuersatz neben Schleswig-Holstein bundesweit vorn. Wir haben die Kraft.

Bevor jemand argwöhnt: Nein, weder ich noch nähere Bekannte oder Verwandte sind von der deftigen Steuererhöhung persönlich betroffen. Es geht nur um so ein paar unwichtige Leute, für die jeder Hunderter zählt.




Die Generation Handy verschont mich nicht

Heute bleibt das Handy kalt... (Foto: Bernd Berke)

Heute bleibt das Handy kalt… (Foto: Bernd Berke)

Ja, ich weiß, das ist nicht richtig was Neues, das ist längst richtiger Alltag: Aber heute fiel es mir nicht nur besonders auf, sondern auch gehörig auf die Nerven. Das öffentliche Dauertelefonieren, die allerörtliche Erreichbarkeit und das hemmungslos vorgetragene Mitteilungbedürfnis via Handy. Ätzend!

Beginnen wir mit einer Klarstellung: Ich habe selbst ein Handy, ich weiß selbst, dass „Handy“ total falsch ist, weil Handy klein geschrieben wird, handlich bedeutet und damit eigentlich ein mobile phone oder auch cellular oder cell phone gemeint ist. Ich leiste mir auch gern ein High End-Gerät (Google Nexus 5, 32 Gigabyte). Und ich nutze mein Handy (bleiben wir beim falschen Ausdruck, weil den schließlich jeder versteht) exzessiv. Ich weiß eigentlich nicht mehr, warum ich noch einen Festnetzanschluss habe, dessen Nummer ich völlig vergessen habe.

Damit glaube ich hinreichend dargestellt zu haben, dass ich weder Fortschrittsungläubiger noch ein heimlicher Maschinenstürmer bin oder gar an fortgeschrittener Rückständigkeit leide. Nee!

Aber als ich heute hinaus in den heiteren Herbsttag schritt, meinen grünen Rucksack (Vaude – bin auch da markentreu) festzurrte und für einige Besorgungen Richtung Innenstadt eilte, da begann es schon nach 100 Metern. Eine junge Frau schob ihren Kinderwagen vor sich her und parlierte in einem sympathischen multikulturell-deutschem Wortgemisch mit wem auch immer. Ihre Kommunikation begleitete mich bis zu einer Ampelkreuzung, wo sie nach rechts abbog – und weiter plauderte. Ich hörte sie noch während meiner Wartezeit (bis es grün leuchtete) durch den Verkehrslärm.

Kaum in den Räumen des Discounters, der selbstgefällig behauptet, dass er sich lohne, höre ich das aufgeregte Plappern einer jungen Dame, die sich vermutlich mit einer anderen jungen Dame darüber austauscht, was am Abend zuvor geschehen sei, wie es wohl weiter gehen könnte und was sich am Arbeitsplatz so zugetragen habe. Meine Versuche scheiterten hilflos, den Durchzugsmodus in der Eustachi’schen Röhre (auch Ohrtrompete) anzuwerfen.

Unser Einkaufsweg war anscheinend identisch, in der Kassenschlange begeisterte sie die nähere Umgebung weiter mit ihrer ausgelassenen Unterhaltung, und erst als die Bezahlprozedur beidhändigen Einsatz beim Einpacken und Geldzählen erforderte, wurde das Gespräch unterbrochen. Als ich auch meine Einkäufe artig bezahlt hatte und nach draußen schritt, stand die junge Dame wieder da und unterhielt sich. Zu meinem Entzücken vis à vis, mit einer Bekannten.

Weiter rollte ich mit einer gleichnamigen Treppe aufs Parterre, um durch eine kleine Halle den Weg ins Stadtzentrum zu nehmen. Da wähnte ich mich von einen Unbekannten von hinten angesprochen… Nein, ich war nicht gemeint. Der Fremde sprach mit, ja, mit wem wohl? Er presste, während er mich hurtigen Hufes überholte, fast als fürchte er, dass mitgehört werden könnte, sein Handy ans Ohr und rief schallend seine Beiträge zur fernübermittelten Kommunikation ins Gerät, als müsse er die Kilometer Entfernung zum anderen Teilnehmer ohne elektronische Hilfe überbrücken.

Kaum hatte ich mich von diesem leisen Schrecken erholt, da keimte in mir das Mitleid – ich bin halt schnell mal gerührt. Ein junger Mensch schien mir doch arg einsam. Er trabte mir entgegen, den Kopf gesenkt, Hoody darüber gezogen. Und erzählte sich selbst irgendetwas in sich hinein. Ach, nee. Kaum war er mit mir auf selber Höhe, da erkannte ich, dass sein Handy nicht ans Ohr gehalten wurde, sondern er kabelverbunden war und ein wenig atemarm seine Silben in ein Mikro hustete, während der Ohrstöpsel die Laute des Gesprächspartners übermittelte.

Dann aber schon wieder das gewohnte Bild mit den gewohnten Geräuschen: Heerscharen von Menschen jeden Alters, jeder Herkunft, jeden betuchten Portemonnaies oder jeder betuchten Konfession marschierten entweder schneller als ich oder trollten sich mir entgegen und waren versunken im Palaver eines Daueraustauschs von Alltäglichkeiten.

„Du, und die Mutter kommt auch“, schnappe ich wehrlos auf. „Er kann sich ja benehmen wie er will, aber nicht mit mir!“ macht da jemand im Vorübergehen eine Kante klar. „Hast du gesehen, hast du die gesehen?“ oh Gott, schaue ich verwirrt umher, wo denn nur. „Das werde ich jetzt aber schnell verkaufen.“ Wurde ich etwa unfreiwilliger Ohrenzeuge einer wichtigen, einträglichen Transaktion?

Ich hockte mich verzagend in eine Außengastronomie, um kurz Ruhe zu finden, bei einem Eis. Sonne schien ja und trocken war’s. Ich hatte längst aufgehört wahrzunehmen, wie viele Menschen wie laut an mir vorüber zogen, um Büro, Haushalt, Freundeskreis und mehr plaudernd auf die Straße zu tragen. Auch die Wartezeit auf den überfüllten Bus verstrich nicht, ohne dass mir unfreiwillig alle möglichen Familiengeschichten oder was auch immer um die Ohre flogen. Ich verstand zwar kein Wort, weil die Muttersprache mir fremd war und ohne eingestreutes deutsches Vokabular auskam. Aber das war auch gut so.

Auf den letzten Metern bis daheim ereilte mich schon wieder ein angeregtes Gespräch in meinem Rücken. Kaum seufzte ich stumm meine Missachtung der ungezügelten Freiluft-Fernkommunikation in mich hinein, da marschierten zwei Schüler an mir vorbei. Ja, die unterhielten sich wirklich miteinander, von Angesicht zu Angesicht. Und sie beschwerten sich energisch über jemanden, der wohl ihr Lehrer war.

Sie sahen nicht mehr, wie ich vergnügt grinsend die Haustüre aufschloss. Es gibt sie also noch, die Kommunikation ohne Handy.




Gescheiterter Kraftkerl – „Tod eines Handlungsreisenden“ überzeugt in Dortmund

Tod eines Handlungsreisenden

Andreas Beck in der Titelrolle (rechts) und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Tod eines Handlungsreisen“ – das klingt so schön abgehoben, so zeitlos; und der Reisende ist in Religion oder Literatur ja sowieso oft mit quasi mythologischer Aufladung unterwegs, ins Totenreich oder ins Paradies, seiner alten Liebe hinterher oder wohin auch immer. Und möglicherweise ist gar der Weg schon sein Ziel. Auch Arthur Miller wird Gedanken wie diese gehabt haben, als er seinen dramatischen Welterfolg so abgehoben betitelte.

Seit das Stück wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in New York uraufgeführt wurde, mußte es in der Folgezeit, da fraglos auch ein Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse, wieder und wieder die Vorlage für wohlfeile Reflexionen und Ausdeutungen amerikanisch-kapitalistischer Verhältnisse abgeben. Nicht nur Pennäler wissen davon ihr Klagelied zu singen. Und es stellt sich die Frage, ob man dieses ausgequetschte, fast zu Tode interpretierte Stück heute überhaupt noch guten Gewissens auf die Theaterbühne stellen kann. Sagen wir’s ruhig vorneweg: Doch, man kann, wie jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen ist.

Vertreter Willy Loman, wir erinnern uns, ist mit seinen 63 Jahren ausgebrannt und erfolglos. Die Söhne Biff und Happy sind, wenngleich anscheinend begabt, nichts Ordentliches geworden, der Lebensabend im abgestotterten Häuschen ist unsicher. Größenphantasien, die Handelsvertetern offenbar in besonderem Maße eigen sind, weichen zunehmend der bedrückenden Erkenntnis des eigenen Versagens im Job und als Vater. Letztlich sieht Loman keinen anderen Ausweg mehr als den lebensversicherten Suizid.

Tod eines Handlungsreisenden

Familienaufstellung (von links): Linda Loman (Carolin Wirth), Willy Loman (Andreas Beck) und Biff Loman (Peer Oscar Musinowski). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Viele Inszenierungen haben den Handelsvertreter als kleines, schwaches Männchen besetzt, dem die Last der Welt rein körperlich schon zu viel ist – Dustin Hoffman beispielsweise in Schlöndorffs Kinoinszenierung, ältere Fernsehzuschauer werden sich an Heinz Rühmann in dieser „Paraderolle“ erinnern.

In der Dortmunder Inszenierung von Liesbeth Coltof hingegen ist Andreas Beck der abgehalfterte Handelsvertreter, ein großer, schwerer Mann, ein Bühnenberserker, einer, der kämpft. Einer, der der Welt jederzeit zeigen könnte, wo der Hammer hängt, unfähig, unwillig zur Selbstkritik. Viele Jahre ging es gut so, hat der Mann seine persönlichen Defizite mit Professionalität und Power weggedrängt, hat seinen Söhnen gesagt, was gut für sie ist.

Natürlich hat er es gut gemeint mit ihnen, besonders mit Biff (Peer Oscar Musinowski). Nur geholfen hat das dem Jungen nicht, weder ist er ein erfolgreicher Fußballer geworden, noch hat er die entscheidende Mathe-Prüfung gepackt. Auch mit Mitte 30 hängt er noch zu Hause ab, findet keinen Job, der ihn interessiert, liegt dem Vater auf der Tasche.

Und wie Andreas Beck in dieser Dortmunder Inszenierung nun pendelt, switcht, oszilliert zwischen illusionsloser Wahrnehmung der grauen Wirklichkeit und grandiosen Phantasien, wie ein Häufchen Elend sich in kurzer Zeit zum Kraftkerl wandelt und gleich darauf in furchterregende Dissoziation treibt, wie er voll Liebe und Opferbereitschaft für seine Familie ist, ohne doch selber die Liebe annehmen zu können, die vor allem seine Frau Lina (Carolin Wirth) ihm schenken möchte – das ist grandios herausgespielt.

Tod eines Handlungsreisenden

Willy und Linda (Andreas Beck und Carolin Wirth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Regisseurin Coltof rückt die Beziehung zwischen Vater und Biff in den Vordergrund, macht sie gleichsam exemplarisch und demonstriert an ihr die kommunikativen, empathischen Defizite von Titelfigur und Familie. Dies weist als Interpretation doch erheblich über die schnell geäußerte „Kapitalismuskritik“ des Stoffs hinaus und reizt zu weiterer Befassung. So könnte man beispielsweise fragen, ob den Lomans therapeutische Hilfe guttäte, um in den Verhältnissen, wie sie eben sind, zu überleben.

Was ja nicht heißen muß, das die Verhältnisse gut wären. Guus van Geffen (Bühne) hat alles mit zum Teil verpackten Haushaltsgeräten vollgestellt, Kühlschränke, Waschmaschinen, Handelsware des Handlungsreisen, wie man vermuten könnte. Fraglos ist dies eins der ungemütlichsten Bühnenbilder seit langem. „Weiße Ware“ (so nennt die Branche Küchengeräte gern) ist wirklich Trost-los – besonders dann, wenn sie zum (Erwerbs-) Lebensinhalt geworden ist.

Den übergewichtigen Handlungsreisenden Willy Loman hat Carly Everaert (Kostüme) in einen etwas engen grauen Straßenanzug gesteckt, ansonsten bewegt man sich auf der Bühne vorwiegend in gewöhnlicher Alltagskleidung. Sebastian Graf gibt den etwas undurchsichtigen zweiten Sohn Happy, ist zudem noch Ekel-Chef Howard und Onkel Ben aus der Nachbarschaft. Auch der immer so fragil wirkende Uwe Rohbeck gibt den (älteren) Onkel Ben, ist Charley und Stanley. Die Inszenierung kommt mit fünf trefflich besetzten Darstellern aus.

Vor dem „Tod eines Handlungsreisenden“ inszenierte Liesbeth Coltof in Dortmund erfolgreich schon Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ und „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad, und jedes Mal war in ihrer Arbeit viel Respekt für Autoren und Stücke erkennbar, ohne deshalb in den Ruch der Altbackenheit zu kommen. Man kann Theater auch anders spielen, als sie es tut. Viele Regisseure reklamieren mehr gestalterischen Raum für sich selbst, und entscheidend ist, was hinten rauskommt. Auch in Dortmund. Doch wird gerade hier das Nebeneinander unterschiedlicher Auffassungen gepflegt, was die Arbeit des Schauspielhauses in seiner Gänze besonders interessant macht.

Für den „Handlungsreisenden“ gab es herzlichen Applaus.

Die nächsten Termine: 8., 23. November, 3., 19., 26., 28. Dezember

Infos: www.theaterdo.de

 




Romantik und Alltag: Tanzabend b.21 an der Düsseldorfer Rheinoper

„Alle meine Schwänlein schwimmen auf dem See“: Eine Reihe kleiner weißer Gummi-Schwänchen sitzt an der Rampe und schaut ins Publikum. Doch das eigentliche Geschehen spielt sich hinter ihnen auf der großen Bühne des Düsseldorfer Opernhauses ab. Als Hommage an das romantische Ballett – allen voran Schwanensee – hat Düsseldorfs Ballettchef Martin Schläpfer eine neue Choreographie zur Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms kreiert.

Symphonie Nr. 2, Foto: Gert Weigelt/Deutsche Oper am Rhein

„Symphonie Nr. 2“, Foto: Gert Weigelt/Deutsche Oper am Rhein

Heiter und sonnig klingt die Musik und lässt an einen sommerlichen Tag am See denken. Die Tänzerinnen tragen blaue und grüne Anzüge und sind Wellen, Wassernixen, Strudel oder windgepeitschte Wogen. Es plätschert und gurgelt, es glitzert und unter Wasser umhüllt einen grünes Licht. Wie Luftgeister treiben männliche Tänzer in silbrigen Suits nun die grünen und blauen Damen vor sich her: Sie bewegen das Wasser, sie entfachen einen Sturm, sie wehen ganz sanft.

In wechselnden Formationen zeigt das Ballett der Deutschen Oper am Rhein eine schier unerschöpfliche Bewegungsvielfalt. Dabei bleibt der Bühnenraum von Keso Dekker abstrakt: Das Tableau im Hintergrund ist erdfarben, kräftige Striche sind auf eine Art Leinwand gezeichnet, die von Anselm Kiefer stammen könnte. Das Design wiederholt sich in den Kostümen und die Wasserbilder entstehen allein im Kopf –hervorgerufen durch die expressive Bewegungssprache des Ensembles.

Ein Solo von höchster Anmut und zugleich individuellster Ausdruckskraft zeigt Marlúcia do Amaral im Allegro grazioso: Hier erweitert der Tanz die Musik (gespielt von den Düsseldorfer Symphonikern) um eine weitere Dimension, doch der Körper bleibt zugleich auf dem Boden der Tatsachen.

"Alltag", Foto: Gert Weigelt/Deutsche Oper am Rhein

„Alltag“, Foto: Gert Weigelt/Deutsche Oper am Rhein

Als inspirierende Muse für den Künstler überzeugt do Amaral auch im zweiten Teil des Abends, der Uraufführung „Alltag“. Der 82jährige Hans van Manen schuf erstmals ein neues Werk für das Ballett am Rhein, im Besonderen für dessen Leiter Martin Schläpfer. Denn es thematisiert den Schaffensprozess des Choreographen. Schläpfer tanzt diesen Part selbst und man meint, einen exklusiven Einblick in die Entstehung einer Choreographie zu gewinnen, indem man auf eine Art Probebühne mitgenommen wird, angedeutet durch einen Stuhl im Hintergrund.

Umfangen von Musik probiert Schläpfer ein paar Schritte, hält inne, beginnt von vorne, hat eine zündende Idee, folgt mit seinem Körper begeistert den Bildern in seinem Kopf. Zum Pas de deux erscheint do Amaral und der Schöpfer findet den Weg heraus aus der kreativen Einsamkeit zum Du. So wird sein Werk Realität und kann auch von anderen getanzt werden, in diesem Fall von Doris Becker und Alexandre Simoes. Sie setzen auf der Bühne um, was Schläpfer im Kopf hatte und eine neue Choreographie ist geboren.

"Serenade": © The George Balanchine Trust, Foto © Gert Weigelt

„Serenade“, © The George Balanchine Trust, Foto © Gert Weigelt

Es wäre falsch zu sagen, der dreiteilige Abend b.21 endete mit der „Serenade“ von Peter I. Tschaikowsky, choreographiert von George Balanchine, denn tatsächlich begann er mit ihr. Doch dieser Part scheint ästhetisch aus einer anderen Zeit zu stammen: Der Bühnenhintergrund ist lichtblau, die Tänzerinnen tragen weiße, wadenlange Tutus und die wechselnden Formationen folgen der strengen Sprache des neoklassischen Balletts – von heute aus betrachtet.

Zu seiner Entstehungszeit 1934 wies Balanchines Tanzstück, das er für seine neugegründete School of American Ballett in New York City entwickelte, in die Moderne. Denn es dient nicht nur dazu, dass die Schüler die richtigen Schritte, Sprünge und Armhaltungen lernen, sondern bricht diese strengen Formen auch auf: Plötzlich fällt eine Tänzerin hin (Ann-Kathrin Adam) und ist wie verwandelt. Sie löst ihr Haar vom strengen Dutt und wirkt wie befreit. Ihre Kollegin tut es ihr nach und der Bann ist gebrochen, die Tänzer sind freigelassen. Zu was sie in Freiheit fähig sind, zeigt der weitere Abend eindrücklich.

Karten und Termine: http://www.ballettamrhein.de




Freies Theaterfestival „Favoriten 2014“ in Dortmund – Chaos, Krise, Kreativität

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Es riecht erdig im ehemaligen Museum am Ostwall: Die große, lichte Eingangshalle ist mit Rasen ausgelegt. Picknickdecken liegen bereit. In der Mitte: ein schwarzer, begehbarer Kubus. Wer neugierig die Tür öffnet, stößt einen überraschten Schrei aus: Innen blendet gleißend weißes Licht, auch Wände, Boden, Decken: weiß. Ein Stuhl in der Mitte lädt ein, der extremen Sinneserfahrung nachzuspüren – und das umgebende Nichts mit Bedeutung zu füllen.

Im 29. Jahr seines Bestehens bricht das Festival „Favoriten“ gleich mit mehreren Traditionen. Das freie Theaterfestival, eines der wichtigsten in NRW, ist unter der jungen künstlerischen Leitung von Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs erstmals kein Wettbewerb. Die Künstler konkurrieren nicht, sondern wohnen, arbeiten, feiern zusammen und sorgen für Begegnungen mit den Besuchern – in der ganzen Stadt, vor allem aber im ehemaligen Museum am Ostwall, das nach dem Umzug des Kunstmuseums ins Dortmunder U derzeit (noch) leer steht. Eine Zukunft des Gebäudes als Baukunstarchiv NRW ist dank des bürgerschaftlichen Engagements inzwischen so gut wie sicher.

Dieses ehemalige Museum also ist Festivalzentrum, und dort wird in diesem Jahr weniger Theater gespielt als vielmehr mit theatralen Mitteln darüber reflektiert. Das ganze Gebäude mutiert zur Performance-Bühne und zum Erfahrungsfeld, es ist eine Woche lang (bis 1. November) kaum wiederzuerkennen. Schon vor der Eingangstür die erste Installation, ein Tunnel mit Sitzgelegenheiten aus Sperrholz, ein DJ legt auf und lädt Besucher wie Passanten ein, eine Weile zu bleiben. „Titel: In Arbeit. Ein Festivalumbau“ heißt diese Arbeit von David Rauer und Joshua Sassmannshausen. Weitere Werke der beiden finden sich im Haus – sie sind Recyclingkünstler und haben mit jeder Menge Witz kleine und große Skulpturen eingeschleust, materielle wie immaterielle. Ziel eigentlich aller Festivalkünstler ist es, mit Besuchern ins Gespräch zu kommen, sei es durch eine Partie Backgammon, eine kleine Massage, Maniküre oder eine waghalsige Kletterpartie auf einem raumfüllenden Sperrholzsteg.

Einige Dortmunder wurden im Vorfeld des Festivals über ihr Verhältnis zu Theater interviewt, die Antworten laufen als Endlosschleife in der Galerie im Erdgeschoss. „Woran denken Sie bei modernem oder freiem Theater?“, wird da eine junge Frau gefragt, die sich als „klassisch angehaucht“ bezeichnet. „Chaos!“, antwortet sie prompt.

Tatsächlich: Bei einem Rundgang durchs Haus geraten Besucher leicht in Verwirrung. Wer ist hier Besucher, wer Künstler? Welcher Raum ist wem zuzuordnen? Bei dieser 16. Auflage des Festivals ist das eigentlich egal, einzelne Arbeiten ordnen sich dem Gesamt-Eindruck unter. Das kreative Chaos entsteht durch den höchst produktiven Mix der Kunstformen. Traditionelle Theater-Erfahrungen werden unterlaufen – etwa von der Düsseldorfer Ben J. Riepe Kompanie, die an jedem Tag des Festivals vier Räume neu und anders bespielt. Zur Eröffnung am Samstag waberten Kunstnebel und Obertöne durch die weißen Räume; die Darsteller standen, hockten, lagen oder gingen, einzelne Töne singend, umher. Während sich die Klänge vereinten und mal traumhaft-melancholische, mal schrille Mehrstimmigkeit produzierten, stromerte ein Dutzend gut erzogener Hunde neugierig schnuppernd zwischen Besuchern und Performern umher – eine Einladung, Augen und Ohren zu öffnen und den Kopf ganz frei zu machen von Erwartungen.

Raum-Klang-Skulptur "Exuviae" von Yoshi Shibahara. Foto: Katrin Pinetzki

Raum-Klang-Skulptur „Exuviae“ von Yoshi Shibahara.
Foto: Katrin Pinetzki

Auch die einzige Produktion mit festen Beginn und festem Ende hatte keinen definierten Bühnen- und Zuschauerraum. Die Kölner Choreografinnen „SEE!“ setzten in „Ok, Panik“ einen wie gewohnt kapitalismuskritischen Text des Musikers und Autors PeterLicht in Szene. Während ein Musiker versuchte, den Klang des kapitalistischen Grundrauschens festzuhalten (brummend, bassig, rhythmisch, penetrant präsent), tanzten zwei Darsteller durchs Publikum, zunächst wie von unsichtbaren Fäden gezogen, später zunehmend selbstbewusst mit der Erkenntnis: Auch die Krise ist ein Produkt! Sie ist käuflich!

Die neue Generation der Festivalleitung hat zumindest am Eröffnungsabend ein neues, junges Festivalpublikum angezogen. Krise? Kaum.

Bis 1. November in Dortmund, Infos und Programm hier




Tanzte man sur oder sous le Pont d’Avignon? – Was aus Hörfehlern entstehen kann

Zumindest in Europa kennt fast jede und jeder das Lied von der Brücke in Avignon, und sei es nur aus dem Vortrag der kleinen Mireille Mathieu. Dort auf der halben Brücke über die Rhône – in Frankreich ist dieser Fluss männlichen Geschlechts (Le Rhône) – wurde angeblich so gern getanzt, nämlich „sur le Pont“. In Wahrheit handelte es sich aber wohl um einen Hörfehler, der sich irgendwann eingeschlichen hat.

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Getanzt wurde nämlich ursprünglich unter den Bögen der Brücke, also nicht „sur“, sondern „sous le Pont d’Avignon“. Für die touristische Vermarktung ist das aber gleichgültig – und das Eintrittsgeld zum Betreten der Tanzfläche (auf der Brücke) kann sich sehen lassen. Solche veränderten Schreibweisen durch Hörfehler sind gar nicht so selten. Nehmen wir das Beispiel Japan: Die Japaner nennen ihr eigenes Land in lateinischer Schrift „Nippon“. Die Engländer aber als die ersten europäischen „Entdecker“ verstanden nicht „Nippon“, sondern (in Lautschrift) „Jeppen“, sie schrieben dementsprechend „Japan“, und die Franzosen machten daraus „Japon“.

Ähnlich erging es dem asiatischen Lande Mianmar. Weil der Name von den Einheimischen schnell gesprochen wurde, verstanden die Engländer nicht Mianmar, sondern Burma, aus dem später Birma wurde. Heute ist aus der britischen Schreibweise wieder in lateinischer Schrift die korrekte Bezeichnung Mianmar geworden.

Auch in Westfalen gibt es zahlreiche solcher Umdeutungen. Im Namen meiner münsterländischen Heimatgemeinde „Herzebrock“ zum Beispiel vermutete ich als Kind ganz selbstverständlich die romantische Geschichte von einem gebrochenen Herzen. Tatsächlich aber geht das Wort auf das althochdeutsche „horsabroich“ zurück, und Englischkundige sehen sofort, dass hier etwas vom Pferd erzählt wird, dem „Horse“ – eine sumpfige Pferdeweide war nämlich gemeint. Entsprechend entstand der Stadtname Essen natürlich nicht aus der Nahrungsaufnahme, ebenso wie Dortmund nicht der Ort war, in dem das Essen verschwand, obwohl sich die Restaurantszene heute sehen lassen kann.




Frage des Alters: Michael Gruner inszeniert „Die Gerechten“ von Camus in Düsseldorf

Eigentlich seltsam, dass eine Gruppe von Schauspielern im Rentenalter auf der Stadttheaterbühne so ungewöhnlich wirkt. Schließlich ist im Publikum diese Altersgruppe ebenfalls überdurchschnittlich vertreten – mal abgesehen von den Studenten, die auch viel Zeit haben, ins Theater zu gehen. Wer meistens fehlt, sind die 35-50jährigen: Karriere und Kinder vertragen sich mit Kunst am Abend organisatorisch weniger gut.

Sicher gibt’s im Klassiker den alten König Lear oder die gestandene Mutter Courage, die auch schon alles gesehen hat. Aber Camus „Gerechte“ als revolutionäre Alt-68er? Diesen Ansatz bringt Regisseur Michael Gruner (selbst Jahrgang 1944) nun in der neusten Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses auf die Bühne, das zurzeit vom Interimsintendanten Günther Beelitz (75) geleitet wird. „Wir kennen uns seit den sechziger Jahren“, benennt Beelitz die alte Seilschaft ganz munter bei der Premierenfeier. Ruhrgebietsbewohnern sind beide aus Gruners Zeit als Schauspieldirektor am Theater Dortmund (1999-2010) bekannt, wo auch Beelitz inszenierte.

Kurioserweise trifft Gruner mit seinem Ansatz mitten ins Herz der aktuellen Demographie-Diskussion – von der alternden Gesellschaft bis zur Rente mit 63. Lässt man mal beiseite, dass sich für das Thema von Camus „Die Gerechten“ – Terrorismus und Tyrannenmord – vielfältige Aktualisierungsmöglichkeiten anbieten würden, man denke nur an den IS-Terror und dergleichen, verfolgt Gruner seine Idee pur und konsequent. Tatsächlich liegt der Gedanke im Text verborgen: „Das Traurigste ist, dass all das uns alt macht, Janek“, sagt Revolutionärin Dora, „Wir werden nie mehr, nie mehr Kinder sein. Von nun an können wir sterben, wir haben das Menschsein durchlaufen. Der Mord ist die Grenze.“

Camus Stück von 1949 bezieht sich auf eine wahre Begebenheit: 1905 planen russische Revolutionäre einen Mordanschlag auf den Großfürsten Sergei Romanow auf seinem Weg ins Theater. Doch der Attentäter zögert, denn es sind Kinder in der Kutsche. Bei Gruner sitzen die fünf Revolutionäre in einer Art Probensituation im leeren, schwarz abgehängten Bühnenraum auf einfachen Stühlen (Ausstattung: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Sie besprechen die Revolution eher, als dass sie sie rocken. Manchmal werfen sie sich auf den Boden, was aufgrund geschwundener Gelenkigkeit zuweilen etwas unbeholfen wirkt. Einzig Dora (Marianne Hoika) zeigt Gefühl, wenn sie den Galgentod des geliebten Janek romantisiert und mit ihm sterben will.

Unweigerlich überlegt man, wie Andreas Baader, Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin heute aussehen würden, wenn sie noch lebten. Minirock, Knarre und Sonnenbrille: Wirkt das mit über 70 noch hipp? Obwohl Hippness in diesen Zusammenhang wohl eine historisch verfälschende Kategorie ist, wahrscheinlich beeinflusst von Eichingers Film-Adaption „Der Baader Meinhof Komplex“.

Tempo nimmt die Inszenierung auf, als Attentäter Janek (Michael Abendroth) in Gewahrsam des (jungen) Polizeichefs Skuratow (Dirk Ossig) gerät. Smart und geschäftsmäßig macht der dem „revolutionären Träumer“ ein reelles Angebot. Doch Janek verrät weder seine Ideale noch verpfeift er die Terrorzelle. Skuratow kann gar nicht verstehen, weshalb so ein abstrakter Begriff wie „Gerechtigkeit“ jemandem so wichtig sein kann: Gruners ironischer Blick auf das Verhältnis von 68er Eltern zu ihren Kindern, die sie als total „unpolitisch“ und „materialistisch“ empfinden. Dann folgt ein gewollt melodramatischer Auftritt von Louisa Stroux (der Enkelin des Düsseldorfer Intendanten von 1955-1972, Karl-Heinz Stroux) als Großfürstin im Witwenkleid aus schwarzer Spitze, die die ganze Weltrevolution am liebsten wegbeten möchte.

Insgesamt ein selbstironischer Abend nach dem Motto: Wenns die Jungen nicht mehr packen, müssen eben die Alten (Meister) wieder ran – als Intendanten und beim Inszenieren.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Reales Drama: „Die Kinder von Opel“ am Schauspielhaus Bochum

OpoelEnde des Jahres schließt das Opel-Werk in Bochum für immer. Der Automobilhersteller kam Anfang der 1960er Jahre und läutete den Strukturwandel ein: Die ersten Zechen in Bochum hatten damals längst dicht gemacht, Opel war der Hoffnungsträger. Sein Ende hinterlässt ein Trauma.

Das Schauspiel Bochum, traditionell stark verwurzelt im Alltagsleben der Stadt, leistet schon seit einem Jahr kreative Traumatherapie mit seinem „Detroit-Projekt“. Einen Abschluss-Beitrag lieferte nun die Künstlergruppe „kainkollektiv“: Im Theater unter Tage, der kleinsten Spielstätte des Schauspielhauses, hatte „Die Kinder von Opel“ Premiere.

„kainkollektiv“, das sind Mirjam Schmuck und Fabian Lettow. Konzept, Regie und Text stammen von ihnen, und sie benötigen für ihren Abend keinen einzigen professionellen Schauspieler. Mit Mitteln des Theaters, der Performance, der Recherche holen sie das reale Drama auf die Bühne – und lassen keine „Typen“ zu Wort kommen – sondern echte Menschen. Den Großteil des 75-minütigen Abends verbringen die Zuschauer damit, sich die acht Stationen der Bühne zu erlaufen, in denen diese „Kinder von Opel“ ihre Geschichten erzählen.

Da ist die 12-Jährige, deren Opa Opelaner war. Sie sagt, dass sie sich einen Park auf der freiwerdenden Industriefläche wünscht, und dass sie den Anblick der schmutzigen Arbeiter beim Essen im Schnellrestaurant manchmal auch etwas ekelig fand.

Da ist der gelernte Zerspanungsmechaniker, der noch immer bei Opel am Band arbeitet. Im Live-Interview erzählt er, was in seinem Zwei-Minuten-Takt alles zu tun ist, berichtet von der Isolierung im Kotflügel, von Leitungen und Schläuchen, die im Motorraum verbunden werden müssen, von der Gasleitung im hinteren Radkasten rechts. Er braucht länger als zwei Minuten, um seine Arbeit zu beschreiben.

Da ist die Osteopathin, die die körperlichen und emotionalen Blockaden der Opelaner behandelt, und der Mann, der in Herne mit Leidenschaft ein Opel-Museum führt.

Eingebunden sind ihre Geschichten in eine aus dem Off gesprochene Erzählung, die Illustratorin Julia Zejn mit animierten, an die Wand projizierten Zeichnungen lebendig werden lässt: Kurz vor Ende der letzten Schicht ist das Opel-Werk einfach aus „Botown“ verschwunden. „Es war unser Werk, also haben wir es eingepackt und mitgenommen“, heißt es am Ende – „unsere eigene Transfergesellschaft“. Wieder aufgebaut wurde es bei General Motors im Zentrum von „Motown“ (Detroit), also „dort, wo es herkommt“.

Dass diese Verbindung einzelner Erzählungen kein ganz rundes Bild ergeben – geschenkt. Der Abend leistet einiges, bietet unbekannte Perspektiven auf ein zuende gehendes Stück Industriegeschichte, holt einmal mehr die Stadt ins Theater und bringt das Theater in die Stadt. Er bespielt eine künftige Leerstelle, und er holt ein Thema ganz nah heran, das für einen Gutteil des Theaterpublikums sonst ziemlich weit weg ist.

Die nächsten Termine stehen hier.




Heldentenor, streichelweich: Klaus Florian Vogt in der Philharmonie Essen

Klaus Florian Vogt und die Staatskapelle Weimar unter Stefan Solyom (Foto: Sven Lorenz)

Klaus Florian Vogt und die Staatskapelle Weimar unter ihrem Chefdirigenten Stefan Solyom (Foto: Sven Lorenz)

Hach, diese Stimme. So heiter, so silberhell, fast wie ein nach unten oktavierter Knabensopran. Sie singt von Liebe und Lenz, schwärmt von süßer Empfindung und edler Ritterschaft. Das klingt so gutgläubig, so jugendlich optimistisch, als töne sie aus einem Märchenreich in unsere wirre Welt herüber.

Der diesen lichten Zauber ausübt, ist ein Mittvierziger aus Schleswig-Holstein: Klaus Florian Vogt, Sohn einer Medizinerfamilie, entwickelte sich vom Hornisten des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg zu einem der gefragtesten Heldentenöre unserer Tage. In der Konzertreihe „Große Stimmen“ stellt er sich in der Philharmonie Essen mit einem Programm vor, das sich liest wie ein gewagter Spagat: Führt es doch vom Schweren zum (vermeintlich) Leichten, von Wagners stimmgewaltigen Helden über die Bildnisarie aus Mozarts „Zauberflöte“ zu Operetten-Partien von Franz Lehár.

Aber die vermeintlichen Gegensätze sind gar keine, jedenfalls nicht bei Klaus Florian Vogt. Er vertraut fast durchweg auf einen nahezu liedhaften Schubert-Ton, auf die Kraft der Lyrik statt auf die des Fortissimo. Statt vor virilem Selbstvertrauen zu strotzen, sind Wagners Helden bei ihm verwundbare, vom Zweifel begleitete Wesen.

Vogt liebt das fragile Piano, aber das milde Leuchten seines Tenors klingt auf Dauer fast zu schmeichlerisch und nett. Die Arie des Siegmund aus Wagners „Walküre“ kommt so lieblich daher, als sei sie mit Kuschelweich gespült. Nichts erzählt da vom drohenden Kampf mit Hunding, von Siegmunds bedrängter Lage und vom Skandal einer inzestuösen Liebe. Walther von Stolzing klingt, als sei er aus Schuberts „Schöner Müllerin“ entlaufen. Schwer zu glauben, dass dieser schmalbrüstige Schwärmer eine Bedrohung für die gesamte Meistergilde darstellen soll.

Ein Heldentenor sei nicht nur ein Brüllaffe, sondern könne auch viel lyrischere Farben singen, sagt Vogt. In Essen folgt er diesem Credo so sehr, dass der Abend monochrom zu werden droht. Sein schimmernd helles Timbre ist verführerisch, aber gleichbleibend. Als charmanter Moderator führt der Sänger durch den Abend, erzählt von amüsanten Pannen auf der Opernbühne. Er bringt die Zuhörer zum Lächeln, treibt sie aber nie auf die Stuhlkante.

Nur selten lässt Vogt aufblitzen, welche Strahlkraft sein Tenor tatsächlich besitzt. Das erste Mal geschieht es in der Gralserzählung des „Lohengrin“, Vogts Paraderolle, in der er von der New Yorker Met bis zur Mailänder Scala gefragt ist. Bei der Erwähnung des Grals dreht Vogt die Dynamik auf: Jetzt singt er ein Fortissimo, das seiner Stimme plötzlich andere Farben verleiht. Sein Tenor rundet sich, gewinnt Tiefe und Wärme, nimmt rot und golden klingende Nuancen an. Das ist ein Erlebnis, vielleicht auch ein Versprechen für die Zukunft.

Schade, dass es nach der Pause sofort wieder harmlos wird. Bekannte Melodien von Lehár („Dein ist mein ganzes Herz“) und Hans May („Ein Lied geht um die Welt“) sind so recht dazu angetan, versonnen mit dem Kopf zu nicken. Alles schön, alles leicht, alles seicht.

Warum einige Gesangsfans die Staatskapelle Weimar gleich mit bejubeln, bleibt unverständlich. Chefdirigent Stefan Solyom kann das Orchester nicht zu einem Niveau animieren, das der Wagner-Tradition der Kulturstadt an der Ilm gerecht würde. Die Meistersinger-Ouvertüre klingt dumpf und verwaschen. Der Walkürenritt dümpelt dahin, als ritten da nicht kriegerische Amazonen, sondern Beamte auf Schaukelpferden. Im leichteren Genre schlägt Betulichkeit den Esprit: Selten klang ein Walzer so hüftsteif wie „Gold und Silber“ von Franz Léhar. Stefan Solyom muss sich fragen lassen, warum die künstlerische Ausbeute trotz versiert spielender Profimusiker so mager bleibt.

Die Reihe „Große Stimmen“ in der Philharmonie Essen setzt sich am 7. November 2014 mit Magdalena Kozená fort. Informationen: http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-4-grosse-stimmen.htm




Durch einen peinlichen Alltag stolpern – Wilhelm Genazinos Roman „Bei Regen im Saal“

Sein Tonfall ist längst nicht mehr verwechselbar, er schreibt vielleicht immer am gleichen Roman, der sich beharrlich fortspinnt.

Fast möchte man meinen, das geschehe inzwischen wie von selbst. Doch natürlich verdanken wir auch die neueste Prosa „Bei Regen im Saal“ einer steten Anspannung, der feinnervigen Beobachtungs- und Schilderungsgabe des Wilhelm Genazino. Gibt es da eine Entwicklung von Buch zu Buch? Oder handelt es sich um eine fortlaufende Suada?

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddDer Ich-Erzähler namens Reinhard hat über Kants Philosophie promoviert, doch auch in den Vierzigern hat dieser Mann – beileibe kein untypischer Lebenslauf – beruflich und auch sonst so gar nichts Greifbares aus sich gemacht. Er schwankt zwischen lauen Gelegenheiten und leidet darunter: „Ich hatte es satt, dass aus meinem Leben eine einzige lange Bedenkzeit wurde.“

Auch das Schweifen und Flanieren, für das doch genügend Zeit bliebe, will ihm keine Freude bereiten. Er stolpert durch einen diffusen Alltag, angefüllt mit seltsamen Peinlichkeiten. Überall lauern Anlässe zur Scham. Und die Jahre machen sich bemerkbar: „Eines meiner Probleme war, dass ich mich für fast alles zu alt fühlte (…) Jedenfalls war mir unklar, was ich inmitten der schnellverderblichen Welt noch anfangen sollte.“

Streckenweise atemlos folgt man auch diesmal den mikroskopischen Wahrnehmungen im Getriebe der Stadt. Man möchte keine Zeilen missen. Ringsum so viele desolate Gestalten. Wo die Armut früher privat sich zu verbergen suchte, zeigt sie sich heute allenthalben öffentlich. Dermaßen viele Beobachtungen drängen sich dicht an dicht auf, dass in dieser unguten Vielfalt eine Sehnsucht nach dem Gewöhnlichen, Unscheinbaren und Einfältigen aufkommt.

Reinhards Freundin Sonja arbeitet als eine Art Aufseherin beim Finanzamt. Offenbar bröckelt die Beziehung. Will sie ihn etwa loswerden? „In mir wuchs die Angst, dass wir allmählich in eine Schmerzverharrung hineinwuchsen, aus der wir nicht mehr herausfanden.“

Überhaupt ist dieser Mann niemals geflüchtet, sondern hat „alles ausgehalten: die Schule, die Eltern, die Armut, die kleine Wohnung, das Schweigen, die Ratlosigkeit, den Überdruss…“ Ja, es ergibt sich geradezu ein Einverständnis mit der Leere. Auch der Titel „Bei Regen im Saal“ hebt ja wohl auf Verzicht und Schwund ab. Ganz so, als wäre das volle Leben da draußen ohnehin nicht (mehr) zu haben.

Genazinos Erzähler sammelt wieder und wieder solche sonderbar geknüpften Wortfindungen: herumempfindeln, Gesamtschlichtheit, Halberlebnis, Verharrungslust, Problemruinen, Querfeldeinbegehren.

Wie zum Hohn auf eine zusammenhängende Biographie ergattert dieser Reinhard einen herzlich anspruchslosen Lokalredaktions-Job beim „Taunus-Anzeiger“, der offenbar mit links bewältigt werden kann. Da zeigt die Unzulänglichkeit auch ihre komischen Seiten; wie denn überhaupt das Abgründige hin und wieder zum ratlosen Lachen reizt.

Eine Kernfrage lautet, ob nicht alle im Leben das Falsche bekommen. Ein allgemeines Scheitern, durchaus romantauglich.

Es klingt wie vorauseilende Resignation, all das betreffend, was man auf dem Lebensweg nicht verstanden hat und was man Jahrzehnte später begreifen würde: „…wenn wir alle in Altenheimen herumsaßen und es nicht mehr darauf ankam, dass wir vor vierzig Jahren irgendetwas hätten verstehen müssen.“

Doch wer weiß. Vielleicht bedeutet eine solch passives Hinnehmen schon den befreienden Beginn einer (ganz und gar unheroischen) Überwindung. Als „Überwinder“ versteht sich zum Ende hin auch dieser Erzähler. Ob daraus gar so etwas wie scheues, leises Glück hervorgehen kann?

Wilhelm Genazino: „Bei Regen im Saal“. Roman. Hanser Verlag. 158 Seiten. 17,90 Euro.




Europäische Spitzenliga: Daniel Harding und Renaud Capuçon in der Philharmonie Essen

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Dass Richard Strauss sich selbst als Held seines Lebens gesehen hat, dröhnte uns in den letzten Wochen im Ruhrgebiet von beinahe jedem philharmonischen Standort entgegen. Die Komposition „Ein Heldenleben“ von 1898 stand in diesem Herbst schon in Düsseldorf, Duisburg und Dortmund auf dem sinfonischen Programm. Auch Daniel Harding ließ sich die Chance des Strauss-Jahres nicht entgehen und präsentierte in der Essener Philharmonie das monumentale Werk des 34jährigen, kombiniert mit dem Violinkonzert von Johannes Brahms.

Aber wie das Schwedische Radio-Symphonieorchester den Helden einmarschieren ließ, war dann doch einmalig: durchdrungen bis ins Detail, strukturbewusst und gleichzeitig sinnlich, beherrscht im Klang und gleichzeitig frei und gelöst. Nicht die Spur von den gern unterstellten lärmenden Geschmacklosigkeiten: Gerade in den faustisch anmutenden Sätzen, in denen die „Taten“ des „Helden“ geschildert werden, zeigt Harding mit den vortrefflichen Musikern, wie genial Strauss als Komponist gewesen ist. Solche tief gestaffelte und gleichzeitig spontan und klangsinnlich wirkende Arbeit mit dem Material erreicht zu dieser Zeit höchstens noch Gustav Mahler.

Das schwedische Orchester kann entspannt in der europäischen Spitzenliga mitspielen. Seit acht Jahren währt die künstlerische Partnerschaft mit Daniel Harding – zu spüren im Einverständnis der Musiker mit ihrem Dirigenten. Wie sorgsam Harding die Dynamik aufbaut, bis die Hörner strahlend das „Helden“-Thema bestätigen, zeugt von genauer Analyse, aber auch der Freude an der Wirkung der Musik.

Beherrschtes Spiel mit leisen Tönen

Die Schweden beherrschen das Spiel mit den leisen Tönen: feinste Abstufung statt krachende Wucht, Innenspannung im Piano statt extrovertiertes Getümmel, ausgearbeitete Kontraste statt vordergründiger Mischklang. Hervorzuheben sind die Solisten von den Harfen bis zum Fagott, die blendende Horngruppe, die samtweichen Tuben. Vor allem aber Konzertmeister Tomo Keller, der mit entspanntem, genau dosiertem Ton die zärtlichen Kantilenen erfüllte und auch die ironischen Brechungen gestaltete: Strauss‘ Gattin Pauline, die in den Violinsoli angeblich charakterisiert wird, war bekanntlich weniger eine schwärmerische Romantikerin als eine resolute, manchmal peinlich triviale Frau.

Tomo Keller war vor mehr als zehn Jahren Konzertmeister der Essener Philharmoniker und spielte auch in der Westdeutschen Sinfonia Leverkusen, bevor er über London und jetzt Stockholm eine internationale Karriere beschritt. 2005 brillierte er unter Stefan Soltesz in Essen mit dem Brahms-Violinkonzert. Dieses Epoche machende Konzert stand auch jetzt auf dem Programm – diesmal mit Renaud Capuçon als Solist.

Einverständnis auf glücklichem Niveau

Und der Franzose bestätigte seinen Rang: Die Rede vom „Ausnahme-Geiger“ ist in diesem Fall keine Plattitüde aus der PR-Abteilung. Schon der leuchtend schlanke, ebenmäßige, aber nicht polierte Ton überzeugt. Das Lagenspiel ist makellos, die Durchbildung figurierter Teile oder der „marcato“-Passagen des ersten Satzes ohne Fehl. Capuçon phrasiert ruhig atmend, ohne Hektik auch im dritten Satz, den Brahms ausdrücklich nicht zu lebhaft gespielt haben will. Jenseits all dieser geigerischen Vorzüge zeichnet sich Capuçon durch sein sensibles Eingehen auf das Orchester aus. Die Reaktionen bei gemeinsamen Einsätzen sind perfekt kalkuliert, die Dynamik in jeder Nuance abgestimmt.

Sicher: Ohne einen so umsichtigen Gestalter wie Daniel Harding wäre eine solche minutiös kontrollierte und dennoch wie selbstverständlich fließende und schwingende Interpretation nicht möglich. Einverständnis auf höchstem, glücklichem Niveau. Es bleibt festzuhalten: So energisch und feinsinnig, so klangvoll und dynamisch kontrolliert, so klug in der weiträumigen Anlage spielt das Konzert momentan kaum ein anderer. Glückwunsch an Renaud Capuçon für einen unvergesslichen Abend!




Wie die Kirche aufklären wollte – „Komm in meinen Wigwam“ im Dortmunder Schauspiel

Komm in meinen Wigwam

Ein beschwingter Moderator, ein irritierter Knabe (Ekkehard Freye und Leon Müller) im übermächtigen Blümchensex. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das sittliche Wohlergehen des jungen Menschen ging ihnen über alles. Beschützt und behütet sollte er seinen Weg in die Welt der Erwachsenen finden. Wenn da nur diese fluchwürdige Sexualität nicht gewesen wäre, die ja irgendwie zum Leben dazugehört, aber doch mächtig stört. Zumal sie den jungen Menschen beiderlei Geschlechts ablenkt vom Pfad der Tugend. Oder vom Pfad des Herrn, der tunlichst ein katholischer sein sollte.

So hat sich die Kirche in vergangenen Zeiten viel Mühe gegeben, Pubertierenden samt ihren „schmutzigen Gedanken“ mit einer Vielzahl von Jugendbüchern hilfreich zur Seite zu stehen. Und eine Fülle von Peinlichkeit hervorgebracht, die ihresgleichen sucht und großen Unterhaltungswert hat.

Ein besonders bemühter und produktiver Verfasser kirchlicher Jugendschriften war in den frühen 50er Jahren der Päpstliche Ehrenprälat Berthold Lutz, der 2013 im gesegneten Alter von 90 Jahren dahinging und dessen reiches Schaffen nun Widerhall in einem Theaterstück findet. „Komm in meinen Wigwam“ heißt es, im Studio des Dortmunder Theaters erlebte es seine Premiere.

Komm in meinen Wigwam

Der Prälat (Heinrich Fischer). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Autor und Regisseur des Stücks ist Wenzel Storch, der vordem unter anderem als Filmemacher („Sommer der Liebe“, „Die Reise ins Glück“) oder Kolumnist („Der Bulldozer Gottes“) in Erscheinung trat. Ihn drängt es auch im fortgeschrittenen Alter noch, Lächerlichkeit und passagenweise auch Schlüpfrigkeit jener „Aufklärungsschriften“ aus den frühen 50er Jahren zu entlarven.

Das Stakkato unsäglicher Zitate indes, das mancher vielleicht erwartete, bleibt in der Inszenierung aus. Eher betulich wird das Eine oder Andere aus dem Leben des Prälaten berichtet, werden andeutungsschwere Buchtitel und Textpassagen mit anscheinend unfreiwilligem (homo-)erotischem Inhalt präsentiert, wirkt etwa ein Kapitel über ein Zeltlager mit dem Kaplan plötzlich wie eine nicht mehr ganz jugendfreie Verführungsgeschichte. Worte bekannter Dichter mit eindeutig erotischer Konnotation gelangen zu Gehör und zeigen eine verblüffende thematische Nähe zu den Hervorbringungen Berthold Lutz’.

Komm in meinen Wigwam

Thorsten Bihegue (links) sorgt als „Wissenschaftler“ für größte Heiterkeit auf der Bühne. Ob er das Alter Ego von Wenzel Storch ist oder nicht, diskutierte das Publikum nach der Vorstellung kontrovers. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

All dies geschieht in einer Bühnenshow, in der ein geschniegelter Entertainer (Ekkehard Freye) sein Publikum zur „Pilgerreise in die wundersame Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“ (Untertitel) einlädt. Weitere Mitwirkende sind ein Mädchen und ein Knabe (Jana Katharina Lawrence und Leon Müller), zwei Meßdiener(Finnja Loddenkemper und Maximilian Kurth) und der Kaplan selbst, dem Heinrich Fischer aus dem Seniorenclub des Schauspielhauses mit seinem urwestfälischen Zungenschlag starken Charakter einhaucht. (Er bleibt nur viel zu sympathisch).

Den größten Anteil am Unterhaltungswert dieses Abends jedoch hat ohne Frage Thorsten Bihegue, der als „Wissenschaftler“ dabei ist und mit pennälerhaft-schlaksiger, ungemein lebhafter Körpersprache für Heiterkeit sorgt. Wenn er als Zerrbild eines Showmasters verdruckste Jugendbuchtitel enthusiastisch präsentiert, ist das ein komödiantischer Höhepunkt des Abends.

Weiterhin wirken Damen und Herren des Dortmunder Sprechchores mit – mal als Nonnenchor, mal als wunderbar dekorierte bunte Blumen, Blüten, Samendolden, Fruchtstempel usw. (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert). Ja, es geht um Sex, doch immer in der Light-Version, dramatische Spitzen bleiben aus. Man unterhält man sich gut in diesen 80 Minuten, die von einer vergangenen Zeit erzählen und augenzwinkernd in ihr verharren.

Weder nimmt das Stück ausdrücklich Bezug auf die zahlreichen Mißbrauchsskandale der Gegenwart, noch zeigt es uns Menschen, die unter sexuellen Übergriffen der Geistlichkeit leiden oder zerbrachen. Beides hätte ja nahe gelegen. Nein, Wenzel Storch beschränkt sich darauf, Unzulänglichkeit, Lächerlichkeit und Verkrampftheit bloßzustellen und das Weiterdenken dem Publikum selbst zu überlassen – über die Zusammenhänge zwischen Unterdrückung von Sexualität in der Pubertät und sexuellen Gewalthandlungen im Erwachsenenalter beispielsweise.

Komm in meinen Wigwam

Die Welt ist voller Blümchensex, den der Dortmunder Sprechchor in passender Kostümierung stilvoll auf die Bühne bringt. Die phantasievollen Dekorationen stammen von Pia Maria Mackert (Bühne und Kostüme). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Zudem legt das Stück nahe, sich gesellschaftliche Kontinuitäten der Adenauer-Zeit vor Augen zu führen. Wie etwa konnte wenige Jahre nach der Menschheitskatastrophe Zweiter Weltkrieg sich eine (katholische) deutsche Erwachsenenwelt schon wieder anmaßen, die Jugend so erbarmungslos zu erziehen und zu formen? Welche eigenen Ängste und Gelüste wollten die oft traumatisierten Erwachsenen in ihrer Kindererziehung bekämpfen? Gedanken wie diese beim Publikum zu belassen und sie nicht als laut auftrumpfendes, hoch emotionales Theater zu inszenieren, macht den Dortmunder „Wigwam“ zu einer klugen, geschmeidigen Inszenierung, die gleichwohl ohne Tragik nicht ist. Schließlich auch fragt man sich, was einen Künstler wie Wenzel Storch zu so obsessiver, lebenslanger Beschäftigung mit seinem Thema veranlaßt.

Herzlicher Applaus.

Infos: http://www.theaterdo.de/detail/event/829/?not=1

Der Beitrag ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger (Hamm) erschienen.




Lebloser Liveticker

Früher standen „Ticker“ (in grauer Vorzeit waren damit Fernschreiber gemeint) mal für halbwegs wichtige Nachrichten, die wenigstens ein Stückchen Papier wert waren. Heute wird bekanntlich jeder Flach- und Unsinn online mit einem „Liveticker“ verfolgt.

Beispielsweise heute wieder: Die Mannschaft des krisengeplagten BVB hebt zum Flug nach Istanbul ab und die Ruhrnachrichten sind atemlos online dabei. Es könnten aber auch eine andere Homepage und eine andere Geschehnislosigkeit sein.

Erregender Screenshot (vom Mac abgeknipst: Bernd Berke)

Erregender Screenshot (vom Mac abgeknipst: Bernd Berke)

Alles andere wäre ja eine Nachricht; wenn sie beispielsweise n i c h t nach Istanbul aufbrächen. Sie müssen halt am Mittwoch da unten in der Champions League bei Galatasaray antreten. Also müssen sie vorher hin. So wird das Selbstverständliche in lauter kleine Zeithäppchen zerhackt und wie folgt dargeboten:

Zitat: „11.50 Uhr: Mehr vom Abflug der Borussen gleich in Bild und Ton an dieser Stelle. Dranbleiben!“

Stillhaltebefehl also. Wird natürlich befolgt. Die Spannung ist ja auf dem Siedepunkt angelangt.

Und dann die Erlösung: „12.14 Uhr: Der BVB-Flieger befindet sich jetzt in der Luft und wird gegen 15 Uhr in Istanbul eintreffen.“

Wie gut, dass ich drangeblieben bin.

Nur wenig später darf man auf einer langen, langen Klickstrecke auch noch Fotos aus der Dortmunder Abflughalle sehen. Dazu gibt’s noch ein dürftiges Filmchen. Profis mit Rollkoffern. Profis in Anzügen. Und Autogramme geben sie auch noch. Aha, aha.

Auch bei der Landung wird hernach Vollzug gemeldet. Es soll an nichts fehlen.

Es passiert nichts Nennenswertes, aber dieses Nichts wird unentwegt breitgetreten. Auf die nächste Nullnachricht zu warten, ist an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten. Früher hätte man gesagt: Macht euren Bericht erst mal fertig, dann lesen wir (vielleicht) das Resultat. Heute soll man die Formulierungsnöte Schritt für Schritt begleiten. So leblos kann „live“ sein.




„Eine Jugend in Deutschland“ am Schauspiel Essen: Ein Projekt, das zu viel will

SCHAUSPIEL ESSEN: "Eine Jugend in Deutschland - Krieg und Heimke

Foto: Thilo Beu

Die Idee hat schon viel Wahnsinniges: den Ersten Weltkrieg auf die Bühne zu bringen und noch dazu die Bundeswehr-Einsätze in Afghanistan; die Autobiografie des jüdischen Autors und Verdun-Kämpfers Ernst Toller zu inszenieren, verknüpft mit den Schicksalen aus Afghanistan heimkehrender Soldaten. Regisseur Moritz Peters und Dramaturgin Carola Hannusch haben es am Essener Schauspiel gewagt. „Eine Jugend in Deutschland – Krieg und Heimkehr 1914/2014“ erlebte am Samstag die Uraufführung.

Das Stück hat Projekt-Charakter, ist eher Collage denn Drama: als Text-Vorlagen dienen neben der Autobiografie Tollers auch Briefe, Reden, Erlebnisberichte oder Interviews.

Die Drehbühne rotiert wie das Rad der Geschichte, immer wieder wechseln die sieben Schauspieler ihre Identität, werden von den Zeitgenossen Tollers zu Bundeswehr-Soldaten heute. Es schälen sich Geschichten und Schicksale heraus: Da ist die Ärztin, die in Afghanistan die Opfer eines Selbstmordattentäters versorgen musste. Die Fahrerin, die ein Kind überfuhr. Der Soldat, der den Tod eines Kameraden nicht verhindern konnte. Nach ihrer Rückkehr leiden sie an PTBS, der posttraumatischen Belastungsstörung. Alle Strategien, damit klarzukommen, haben eines gemein: Jeder kämpft für sich allein, die Trauma-Bewältigung bleibt Privatsache. „Wenn ich schon nicht vergessen kann, will wenigstens ich vergessen werden“, sagt einer der Rückkehrer.

SCHAUSPIEL ESSEN: "Eine Jugend in Deutschland - Krieg und Heimke

Foto: Thilo Beu

Anders geht Ernst Toller mit seinem Kriegstrauma um: „Ich kann auf die Zukunft Deutschlands Einfluss nehmen!“ Seine Zeit in den Schützengräben hat ihn politisiert, macht ihn zum radikalen Pazifisten und Chef der Bayerischen Räterepublik – bis er hadert: Darf oder muss man nicht doch Gewalt anwenden, um schlimmere Gewalt zu verhindern? Eine Frage, die im Stück mehrfach auftaucht.

Einiges gelingt diesem Abend erstaunlich gut – etwa die Andeutung des Frontgeschehens mit wenigen, effektvollen Mitteln. Großen Anteil daran hat auch Lisa Marie Rohdes Bühne, die mit nichts als schwarzen Holzkisten ausgestattet ist. Der Hintergrund ist eine mehrere Meter hohe, die Bühne halb umschließende Leinwand, auf der staccato-artig verfremdete Live-Aufnahmen des Bühnengeschehens und historische Aufnahmen flimmern. Geduckt schleppen sich die Soldaten auf der erdigen Drehbühne voran, dazu ein martialischer Sound. Einige Szenen später ist es heller Wüstensand, der von der Decke rieselt: Afghanistan. Die Schauplätze ändern sich, das Drama bleibt gleich.

Vieles aber gelingt dem 135-minütigen Abend nicht, und das liegt vor allem an der gewählten Form. „Eine Jugend in Deutschland“ will eben doch mehr sein als Collage. Regisseur Peters will zum einen eine Diskussionsgrundlage zur Frage der Kriegsbeteiligung liefern, zum anderen will er Geschichten erzählen, und zwar zu viele: Tollers Leben und heutige Soldaten-Schicksale, Trauma-Bewältigung und Kriegserfahrung.

Im Falle der scharf umrissenen Afghanistan-Schicksale gelingt das noch am ehesten. Man taucht immer wieder kurz ein in die Langeweile ereignisloser Monate im Lager, in den Horror der Ärztin nach einem Attentat.

Blutleer bis zum Ende bleibt jedoch ausgerechnet die Figur Ernst Toller (Stefan Diekmann), die in kurzen biografischen Stationen von der Kindheit in Posen bis zum Selbstmord letztlich zu breit und zu wenig intensiv ausgeleuchtet wird. Ernst Toller fungiert im Stück allzu deutlich nur als Träger von Botschaften. Das ist schade.

Hier geht es zu den Terminen.

(Der Beitrag erschien zuerst im „Westfälischen Anzeiger“, Hamm).




„Mörderischer Mistral“ – lesenswerter Provence-Krimi von Cay Rademacher

Die meisten Menschen sehen lieber Krimis im Fernsehen als sie in Buchform zu lesen. Das hat zum Teil auch mit der grenzwertigen Qualität zu tun. Der Dumont-Verlag hat in Cay Rademacher aber einen Autor gefunden, der Spannung mit sicherem Stil und sprachlicher Eleganz verbindet. Mit Capitaine Blanc setzt er nun einen neuen Kommissar in die Welt, der in Südfrankreich ermittelt.

Blanc wird von einem Tag zum anderen aus Paris in die Provence versetzt, weil er in der Hauptstadt mit seinen Korruptions-Ermittlungen einigen Politikern zu heftig auf den Fuß getreten ist. Zufällig hat er vor Jahren dort unten in der Nähe von Salon de Provence, der Heimatstadt des Nostradamus, eine halb verfallene Ölmühle geerbt, die er nun wieder herrichten will, während er gleichzeitig in einem Mordfall auf einer Müllkippe ermitteln muss. Das mit dem erwähnten Zufall stimmt aber vielleicht gar nicht, denn die Untersuchungsrichterin in seinem Fall ist die hübsche Ehefrau jenes Pariser Staatssekretärs, der ihn in die vermeintlich unattraktive Provinz abgeschoben hat.

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Als Blanc und seine Kolleginnen und Kollegen auf der Suche nach einem Verdächtigen noch im Ungewissen sind, wird ein zweiter Mann umgebracht, ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft, und schon wieder läuft alles auf einen Fall von Korruption hinaus, denn die beiden Fälle gehören zusammen.

In einem dramatischen Schlusskapitel kann Blanc mit Hilfe einer Frau den Täter festnehmen. Zum Glück gibt es ja noch die Liebe als ein weiteres treibendes Handlungsmoment, aber der Leser oder die Leserin sollte sich überraschen lassen.

Rademacher erzählt sehr spannend und kenntnisreich – schließlich ist die Frau an seiner privaten Seite selbst von Beruf in Südfrankreich Untersuchungsrichterin, was in Deutschland ungefähr der Position eines Staatsanwalts entspricht. Das mag auch der Grund sein, dass die Richterin in seinem Roman recht gut davonkommt.

Cay Rademacher: „Mörderischer Mistral“. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. 272 Seiten, Dumont Verlag, 11,99 €.




Unverbraucht und frisch: Johannes Schaafs Version von Mozarts „Cosí fan tutte“ in Essen

Arkadische Komödie, Anklänge an den barocken Mythos von Cythera, Maskerade: Die Bühne von Kathrin-Susann Brose für Mozarts "Cosi fan tutte" in Essen knüpft an viele Motive an. Foto: Matthias Jung

Arkadische Komödie, Anklänge an den barocken Mythos von Cythera, Maskerade: Die Bühne von Kathrin-Susann Brose für Mozarts „Cosi fan tutte“ in Essen knüpft an viele Motive an. Foto: Matthias Jung

Rückzug auf die Vernunft. Die Männer können das. Gefühle ausblenden, „heitere Ruhe“ finden. Her mit dem Sekt. Die Frauen können – oder wollen – das nicht. Die Versöhnung im Namen einer fragwürdigen Vernunft funktioniert nicht; nicht nach diesem Schock. Cosí fan tutte? So machen’s alle? Wohl kaum.

Johannes Schaaf hat in seiner Essener Inszenierung der Mozart-Oper, die jetzt (blitzsauber einstudiert) wieder aufgenommen wurde, dem vernünftelnden Pragmatismus des Finalensembles eine Absage erteilt. Der Mensch, der alles von der guten Seite nimmt und sich von der rationalen Überlegung durch die Wechselfälle des Schicksals leiten lässt, den zeigt er uns nicht. Die arg getäuschten Frauen, in die zynische Falle einer Wette unter Männern getappt, spielen nicht mit. Schaafs Inszenierung ist auch 15 Jahre nach ihrer Premiere noch ein bewegendes, klug entwickeltes Stück Musiktheater und Lebensphilosophie. Claudia Isabel Martin hat mit der Neueinstudierung ganze Arbeit geleistet: Die Essener „Cosí“ wirkt unverbraucht, frisch, aktuell.

Daran trägt das Dirigat von Yannis Pouspourikas entscheidenden Anteil: Der Erste Kapellmeister am Aalto-Theater paart blitzende dynamische Energie mit schwebendem, federndem Orchesterklang. Seine Rhythmen springen ab, ohne ihren Esprit an die papiererne Mechanik so mancher „Originalklang“-Versionen zu verraten. Bei Pouspourikas lebt jede Phrase – und die Philharmoniker zeigen weit mehr als Präzision im Detail: schlanke Bläser, wendige Streicher, geglückte Balance, kluges Hören auf den Partner im Ensemble. Orchestral ein Mozart-Abend auf hohem Niveau, der Lust macht auf Pouspurikas‘ Nachdirigat der „Idomeneo“-Neuinszenierung im Januar 2015 und auf seine „Zauberflöte“, mit der er sich 2013 schon als neuer Kapellmeister vorgestellt hatte.

Erfreuliches auch aus dem singenden Ensemble: Baurzhan Anderzhanov überzeugt vor allem mit seiner klaren, sauber fokussierten Stimme als Strippenzieher Don Alfonso; Christina Clark als Despina spielt nicht nur ihre Qualitäten als Mozart-Soubrette, sondern auch ihr Talent für körperliche Aktion vorteilhaft aus. Keine offenen Wünsche auch bei Sharon Kempton als Fiordiligi und Karin Strobos als Dorabella. Beide zeigen sich stimmlich in guter Form und erfüllen ihre Partien auch sprachlich mit Sinn: Die Rezitative bringen sie pointiert, formen den Ausdruck mit den Mitteln des „singenden“ Sprechens. Und in den Arien ist der schöne Klang kein Selbstzweck, sondern Medium der Expressivität.

Bei den Herren Martijn Cornet (Guglielmo) und Michael Smallwood (Ferrando) fällt die Bilanz nicht ganz so eindeutig aus: Cornets schlanker Bariton kann sich klanglich manchmal nicht so recht entfalten, steckt dann in sich fest, statt sich frei projiziert zu entfalten. Smallwoods Tenor überzeugt im Zentrum, aber die Höhe ist problematisch gebildet: Der Registerwechsel ist kaum verblendet, die Töne wirken hauchig und verlieren ihren klanglichen Kern. Am Ende muss er offenbar gegen die Ermüdung kämpfen, die seine Stimme allmählich härter werden lässt. Dennoch: Beide schöpfen ihre gestalterischen Möglichkeiten aus und tragen zur harmonischen, starken Besetzung bei. Ein Abend, den man nicht missen möchte, weil er zeigt, welche Vorzüge stabile Ensemblepflege bietet. Und weil er eine Lanze für ein qualitätvolles Repertoiretheater bricht: Schaafs Inszenierung hat auch nach fünfzehn Jahren noch etwas zu sagen, wo manch mätzchenverliebter Aktualismus schon nach dem zweiten Anschauen Reiz und Substanz verloren hat.




TV-Nostalgie (28): „Der goldene Schuß“ mit Lou van Burg – „Kimme, Korn – ‚ran!“

Hier geht’s um einen Mann, der im Fernsehen der frühen Jahre gleichsam barocke Figur machte. Wohlgenährt, sinnenfroh und schwungvoll unterhielt der Charmeur Lou van Burg, gern auch familiär „Onkel Lou“ oder „Mister Wunnebar“ genannt, die Nation zwischen „Wirtschaftwunder“ und ersten Krisen.

Wollte stets gute Laune verbreiten: Lou van Burg (Screenshot aus: http://www.retro-tv.de/folge-80:3)

Wollte stets gute Laune verbreiten: Lou van Burg (Screenshot aus: http://www.retro-tv.de/folge-80:3)

Die mit Abstand erfolgreichste Show des Holländers war von 1964 bis 1967 „Der goldene Schuß“ im ZDF. Was sich heute wohl kein Fernsehmacher außerhalb der Kulturkanäle trauen würde: Vorbild für die Spielidee war der dramatische Apfelschuss aus Schillers „Wilhelm Tell“. Während viele andere deutsche TV-Erfolge ausländische Vorbilder hatten, war „Der goldene Schuß“ ein deutscher Exportschlager.

Fast schon „interaktiv“

Die Regeln der Show waren allerdings teilweise so umständlich, dass Lou van Burg manchmal selbst ins Schlingern geriet. Im Kern ging es um Geschicklichkeitsspiele, etliche Gesangseinlagen (zu denen auch der Showmaster beitrug) und – vor allem – ums möglichst zielsichere Schießen mit der Armbrust.

Für damalige Verhältnisse ziemlich modern: Ausgewählte TV-Zuschauer konnten von daheim Kommandos geben („rechts, links, höher…“), die ein Kameramann so ausführte, dass Millionen am Fernsehgerät die Lage von Kimme, Korn und Zielscheibe genau verfolgen konnten. Ja, es war eine Vorform des „interaktiven“ Fernsehens.

Quote bis zu 72 Prozent

Beim entscheidenden „Goldenen Schuss“, der in diversen Zusammenhängen Eingang in die Alltagssprache gefunden hat, sollte ein Säckchen mit Gold (Wert: immerhin rund 8000 Mark) abgeschossen werden, das am dünnen Faden hing. Da durfte man auch als Kind schon zuschauen – und hat glühend mitgefiebert.

Der Quotenrenner erzielte bis zu 72 Prozent Sehbeteiligung und zog im Gesangs- und Promi-Teil viele Berühmtheiten an. Sogar weltweite Größen wie Grace Kelly und Frank Sinatra traten bei Lou van Burg auf.

Pikantes Liebesleben

Das alles half nichts, als besonders die Boulevardpresse ein paar pikante Details aus „Onkel Lous“ Liebesleben verbreitete. Der Mann war noch verheiratet, lebte aber längst mit einer Freundin, der Sängerin und Schauspielerin Angèle Durand, zusammen. Diese wiederum verriet den Journalisten, Lou van Burg habe eine Affäre mit seiner jungen Assistentin. Die war ihrerseits anderweitig verheiratet, erwartete aber von „Onkel Lou“ bereits ein Kind. Das alles war zu viel für die damaligen Moralvorstellungen. Das ZDF trennte sich im Juli 1967 für neun Jahre von dem populären Entertainer.

Vico Torriani übernahm die Sendung und durfte somit am 25. August 1967 die allererste große Show des am selben Tag eingeschalteten deutschen Farbfernsehens leiten. Mit dem vergleichsweise blassen Torriani lief „Der goldene Schuß“ bis 1970. In den ZDF-Archiven lagern nur noch vier komplette Folgen, alles andere ist verschollen.

Rituale und Redewendungen

Lou van Burg, der joviale Mann von Welt mit dem neckischen Menjoubärtchen, präsentierte später noch die eine oder andere Musiksendung, doch den ganz großen Coup konnte er nicht mehr landen.

Dafür hat uns „Onkel Lou“ (1917-1986) ein paar unvergessliche Rituale und Redewendungen hinterlassen – vom „Schützenfest der Heiterkeit“ über den Wechselgesang mit seinem frohsinnigen Publikum („Hallo Freunde! – „Hallo Lou!“), den Spruch zum Laden der Armbrust („Bitte, Peter, den Bolzen“), das Kommando zum Schuss („Kimme, Korn – ran!“) bis hin zu den freudigen Ausrufen „Wunnebar!“ und „Der Kandidat hat 100 Punkte!“

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), „Auf der Flucht“ (27)

„Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Langjähriger Dortmunder Journalistik-Professor Ulrich Pätzold legt Berlin-Buch vor

PaetzoldCover30 Jahre war Ulrich Pätzold ordentlicher Professor für Journalistik in Dortmund. Als er 1978 in die Westfalenmetropole berufen wurde, um den seinerzeit neuen Studiengang mit aufzubauen, kam er aus Berlin, damals noch eine geteilte Stadt. Nach seiner Emeritierung kehrte er zurück an die Spree und legt jetzt ein Buch vor, mit dem er den Leser einlädt, ihn auf seinen Spaziergängen durch die Hauptstadt zu begleiten.

Gern abseits der Touristenpfade macht er sich auf den Weg durch die Stadtbezirke und erzählt Episoden und Geschichten aus der wechselvollen Vergangenheit „seiner“ Stadt. 15 Jahre hat er hier gelebt, zunächst studiert (Publizistik, Philosophie, Theaterwissenschaften, Musik- und Literaturwissenschaften), noch während des Studiums mit journalistischer Tätigkeit für RIAS Berlin und viele andere Medien begonnen.

Der Autor kennt nicht nur die Namen von unzähligen Straßen, Plätzen, Gebäuden und Parks, er weiß auch, was sich dort vor Zeiten abgespielt hat und verknüpft das Früher mit dem Heute. So betrachtet er den BER, also den Berliner Flughafen, weniger als ein Objekt, das inzwischen schon zum Gespött verkommen ist, als vielmehr als ein Projekt, das vor allem die Bürger aus dem Stadtteil Friedrichshagen auf den Plan gerufen hat. Dass sie genau in einer der Einflugschneisen wohnen, ist ein sehr konkreter Erklärungsansatz für die andauernde Gegenwehr, eine andere Begründung hat eher historische Wurzeln und atmosphärische Elemente. Hier war nämlich Ende des 19. Jahrhunderts die neue Kunstrichtung der Naturalisten zuhause.

Nicht minder geschichtsträchtig kommt Friedenau daher, es hat sogar den Anschein, als habe man es mit einem Kristallisationspunkt der Vergangenheit Berlins zu tun. NS-Reichspropagandaminister Goebbels wohnte hier und schrieb seine berüchtigte Rede, in der er zum „Totalen Krieg“ aufrief, ebenso der Gründer der Comedian Harmonists, die sich wegen der Verfolgung durch die Nazis auflösten. Mit August Bebel, Karl Kautsky und Karl Liebknecht hatten die führenden Vertreter der Sozialdemokratie hier ebenso ihre Wohnungen wie Rosa Luxemburg. Ulrich Pätzold erzählt von deren (Zusammen-)Leben, ihren Idealen und auch ihren internen Konflikten.

Die Großstadt lebt mit und von ihren Widersprüchen, lässt sich aus Ulrich Pätzolds Beschreibungen herauslesen. Zu den vielen Beispielen gehört der Kiez. Er ist Rückzugsgebiet ins Private, ohne ihn wäre eine Stadt von Welt wie Berlin aber nicht Berlin. Dabei ist jeder Kiez anders, das einigende Band besteht wohl darin, dass man hier das eigene Tempo drosselt.

Der Schnelllebigkeit der Zeit, durch die manches dunkle Kapitel in Vergessenheit zu geraten droht, setzt der Autor die Erinnerung an Opfer und Täter entgegen. Dass es vor allem die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sind, auf die der Journalist immer wieder zu sprechen kommt, verwundert deshalb nicht, weil die Nazis überall in der Stadt blutige Spuren hinterlassen haben. Allein aus Berlin wurden 55.000 Juden verschleppt und ermordet.

Selbst in Kapiteln, in denen man den schrecklichen Schatten der Nazis kaum vermuten würde, sind sie allgegenwärtig. So erzählt Pätzold die bizarre Geschichte der Brüder Sass, Einbrecherkönige in der Weimarer Zeit mit viel Sympathie in der Bevölkerung, die die Polizei zum Narren hielten und im Konzentrationslager Sachsenhausen von Rudolf Höss, dem späteren KZ-Kommandanten von Ausschwitz, erschossen wurden. Widerstand gegen das NS-Regime hat es übrigens, wie der Autor beschreibt, vielfach auch bei den „einfachen Leuten“ gegeben, wie er es am Beispiel eines Bürstenfabrikanten und einer Prostituierten beschreibt.

Wenn im Berlin von heute viele Ethnien nebeneinander leben, sieht der Autor darin eine große Chance für diese Stadt, die mit der Kongresshalle für die Kulturen der Welt ohnehin schon einen sichtbaren Ausdruck der Völkerverständigung geschaffen habe. Mit aller Vehemenz wehrt er sich gegen die Thesen eines Thilo Sarrazin, wobei sehr deutlich wird, dass Pätzold nicht nur um den einstigen Berliner Finanzsenator geht, sondern um alle, die – auf welche Weise auch immer – Fremdenhass schüren. Den unterschiedlichen Nationalitäten ist ein Tag zu verdanken, der für Berlin verblüfft. Einmal im Jahr feiert man nämlich auch hier Karneval, einen Karneval der Kulturen.

Von Feierlaune sind die Menschen weit entfernt, die an der Lehrter Straße, dem Sitz der Stadtmission, Zuflucht suchen. Obdachlose kommen hierher, 4000 von ihnen leben irgendwo in dieser Stadt und gehören auch zu ihrem Bild dazu.

Um die Vielfalt von Berlin darzustellen, können und dürfen die Kultur und die Architektur ebenso wenig fehlen wie die Erinnerung an die Mauer. Dass die Museen mehr als nur die Nofretete zu bieten haben und Berlin auch trotz des verheerenden Krieges reich ist an imposanten Gebäuden, zeigt Pätzold an zahlreichen Beispielen auf. Welche irrwitzige Folgen die Teilung Berlins haben konnte, führt der Autor anhand des „Hamburger Bahnhofs“ vor, der nur wenige Jahre ein Bahnhof gewesen ist.

Ulrich Pätzold: „Berlin – Geschichte in Geschichten.“ kladde Buchverlag. 383 Seiten, 19 Euro




Getanzte Lebensläufe – persönliche Eindrücke zwischen Litauen und Dortmund

Vom 8. Bis 12. Oktober fand in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, das internationale Tanzfestival AURA24 statt. Die Dortmunder Produktionsgruppe artscenico war dabei. Zusammen mit der Tanzcompagnie Aura wurde die Koproduktion „CVs – Curricula vitarum“ realisiert. Der Tänzer und Choreograph Paul Hess hat das Vorhaben mit einem internationalen Ensemble umgesetzt, das dort neu zusammengestellt wurde. Als verantwortlicher Koproduzent bin ich zum Festival und zur Premiere nach Kaunas gereist. Hier einige persönliche Eindrücke:

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas (Foto: Rūta Taraškevičiūtė)

Die Zusammenarbeit mit Aura begann 2013 mit der Produktion „Heimat surreal“, die in Dortmund als Dreiteiler in der Schalthalle Phoenix-West, dem Rombergpark und am Kanal gezeigt wurde. Daraufhin wurde Paul Hess als Choreograph angefragt und eine Koproduktion vereinbart. Das Festival ist das renommierteste der freien Tanzszene in Litauen.

Thema in diesem Jahr war die Frage nach der Rolle des Maskulinen in der postmodernen Gesellschaft. „Unser“ Stück behandelt diese Frage quasi en passant. Das Rollenspiel beginnt in der Kindheit und zieht sich durchs Leben. Dazu ist die Sprache des Tanzes ein Mittel, das international barrierefrei verständlich ist. Neun Tänzerinnen und Tänzer aus Mexiko, Japan, Litauen, Brasilien und Italien bilden das neue Ensemble.

Ich besuche die Generalprobe und versuche, eine neutrale Haltung einzunehmen. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wie weit greift die Befangenheit des Produzenten, die naturgemäß dazugehört? Ich nehme mir vor, nur zehn Minuten zu bleiben, um ein Premierenbesucher zu sein wie alle anderen: Offen und erwartungsvoll auf das Kommende harrend. Nach 40 Minuten sitze ich immer noch im Theatersaal der Universität Magnus. Der Theatersitz wird zum Sessel.

„Ich schaue sehr gerne zu“, merke ich. „Also wird es dem Publikum gefallen“, ist meine Schlussfolgerung. Ich stecke nicht in der Haut der Tänzer und des Choreographen, die an einem solchen Abend hypersensibilisiert sind und voll konzentriert. Das Werk ist vollbracht und doch wird es sich in Zukunft immer verändern. Das ist das Spannende an der darstellenden Kunst. Der Augenblick ist nicht wiederholbar, aber die Nuancen.

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Premiere: Das Haus ist mit rund 400 Personen besetzt. Junges Publikum bildet die Mehrheit. Fast alles klappt. Man spürt die Anspannung. Die neun jungen Tänzer zeigen eine enthusiastische Performance mit vielen unterhaltsamen wie auch besinnlichen Sequenzen. Das Publikum applaudiert, Blumen werden gereicht, Gesichter und Körper entspannen sich bei Tänzern und Team.

Ich gebe die Zurückhaltung des professionellen Beobachters auf und freue mich bis drei Uhr morgens in der Bar der Galerie Urbana. Im nächsten Jahr kommt die Produktion ins Ruhrgebiet. Bis dahin ist für alle wieder ein weiteres Stück Lebenslauf vergangen, neue Erfahrungen kommen hinzu und wirken ins Stück hinein.

Entspannt schaue ich mir den Rest des Festivals an und finde es schade, dass es eine solche Veranstaltung zum Beispiel in Dortmund nicht mehr gibt. Ich erlebe ein abwechslungsreiches Programm mit unterschiedlichen Tanzkonzepten aus Schweden, Italien, Frankreich, Polen, Israel, Mexiko und Korea.

Es war ein guter Coup, zum Thema „Männer“ erstmals Gruppen aus Mexiko und Korea einzuladen. Es war erfrischend zu sehen, wie die Mexikaner mit dem Klischee der Machos spielten; eine geradezu umwerfend lebhafte Vorstellung der drei „Grouchos“ von Jaciel Neri & die Moving Borders mit Nosotros, die selbstironisch und witzig die Rolle des Mannes variieren. Das Publikum kam in Scharen und blieb anschließend in scharfer Partylaune mit Tequila und Tabasco-Snacks.

Internationaler kann es kaum sein. Hier zeigt sich die gelungene Umsetzung des artscenico-Konzeptes, internationale Kooperationen zu kreieren, die zwar die Welt nicht schöner machen, aber zumindest das Leben dort und die zeigen, dass abseits der unfassbaren Konfliktherde kreatives Miteinander nicht verloren geht.

„Welch ein salbungsvolles Fazit“, denke ich, während ich im Billigflieger sitze, der gleich in Dortmund landen wird. Back in reality, wieder ein Stück Lebensweg sinnvoll hinter mir lassend.




Geschälte Bäume – David Chipperfields „Sticks and Stones“ in der Berliner Nationalgalerie

Was für ein Kontrast: Ein Wald aus geschälten Bäumen, ein Heer aus 144 verletzt und doch standhaft wirkenden, acht Meter hohen Fichtenstämmen in einem riesigen Kasten aus Glas und Stahl.

„Sticks and Stones“ nennt der britische Star-Architekt David Chipperfield (nach dessen Plänen u. a. auch das Essener Museum Folkwang umgebaut wurde) seine beeindruckende „Intervention“, mit der er das gläserne Foyer der Berliner Nationalgalerie in einen Denk- und Erlebnisraum verwandelt und die komplizierten Wechselwirkungen von Architektur und Kunst, Material und Mensch anschaulich macht.

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation "Sticks and Stone" in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation „Sticks and Stone“ in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Die Verwandlung der Glashalle in einen Säulenpark ist der Prolog zur Sanierung des von Mies van der Rohe entworfenen Kunsttempels, der 1968 eröffnet wurde und längst ein Klassiker der Moderne ist. Der Zahn der Zeit hat unbarmherzig genagt und den spektakulären Museumsbau, bei dem acht schlanke Stahlstützen das monumentale, nachgerade frei schwebende Dach tragen, arg in Mitleidenschaft gezogen. Ende des Jahres wird das Haus für unbestimmte Zeit geschlossen und vom Büro David Chipperfields von Grund auf für 50 Millionen Euro saniert.

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Dass Chipperfield es kann, hat er beim behutsamen Wiederaufbau des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel bewiesen. Nicht von ungefähr leiht sich Chipperfield für seine „Intervention“ den Titel bei einem ironisch zitierten englischen Kinderreim: „Sticks and Stones (may break my bones, but words will never hurt me).“

Chipperfield verweist damit auf zwei Grundelemente der Neuen Nationalgalerie: Stütze/Säule und Stein. Denn der Bau aus Glas und Stahl ruht auf einer gigantischen Marmorplatte, und das Dach, jetzt scheinbar von den Fichtenstämmen getragen, wird in Wahrheit von acht außerhalb der Glashalle stehenden Stahlträgern in seiner schwebenden Eleganz gehalten.

Chipperfield verbindet mit seinen entrindeten, 100 Jahre alten Fichten die freie Natur mit dem technischen Kunstraum, er holt das Außen ins Innere und entwirft ein Assoziationsfeld, bei dem Vergangenheit und Gegenwart sich durchdringen.

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße - im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße – im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Inmitten des zwischen antiker Säulenhalle und provisorischem Baustellenchaos angesiedelten Fichtenwaldes gibt es eine kleine Lichtung. Vielleicht der passende Ort, um über die Zukunft von Kunst und Architektur zu sinnieren. Oder darüber zu streiten, wie Berlin es verkraften will, dass der Kunst-Tourist demnächst gleich vor zwei verrammelten Türen stehen wird: Denn neben der Neue Nationalgalerie schließt auch das Pergamonmuseum für Jahre seine Pforten. Schlechtes Timing.

David Chipperfield: Sticks and Stones, eine Intervention. Berlin, Neue Nationalgalerie (Kulturforum, Potsdamer Str. 50). Bis 31. Dezember 2014. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen.




Unwiderstehliche Reize des Südens – die Halbinsel von Saint-Tropez

Der Süden zieht die Deutschen spätestens seit Goethes Italienreise immer wieder magisch an, und zu diesen Sehnsuchtsorten gehört für Mitteleuropäer auch die Côte d’Azur und dort besonders die Halbinsel von Saint-Tropez.

Nicht nur „Normalos“ wie wir machen dort gelegentlich Urlaub – seit seinen diversen Prozessauftritten weiß man auch von der Millionenvilla des ehemaligen Chefs des Essener Karstadt-Konzerns, Thomas Middelhoff, dort unten in Südfrankreich. Inzwischen hat er seinen Wohnsitz von Bielefeld ganz dorthin verlegt.

Das Dorf Ramatuelle über der Bucht von St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Das Dorf Ramatuelle über der Bucht von St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Zu den Orten auf der Halbinsel gehört jedoch nicht nur Saint-Tropez selbst, sondern auch die Orte Ramatuelle mit seinem schönen Strand Pampelonne und das Bergdorf Gassin zählen dazu. Ramatuelle hat für Franzosen und Deutsche zusätzlich einen besonderen Reiz, denn zum einen hat da der in Frankreich sehr bekannte Filmschauspieler Gérard Philipe gelebt. Er ist auch dort gestorben und auf dem Friedhof begraben, und sogar die kleine Grundschule des Ortes wurde vom Stadtrat nach ihm benannt.

Auch die Schauspielerin Romy Schneider wohnte zeitweise in ihrem Haus in Ramatuelle. Sie lebte zwar überwiegend in Paris, doch auch sie konnte sich dem Reiz des Südens nicht entziehen. Interessant ist, dass vor allem dort urlaubende Holländer sich gern an Romy als Sissi-Darstellerin erinnern. Herzensangelegenheiten sind wohl doch international gleich. Und Brigitte Bardot? Die wurde kürzlich 80 Jahre alt und lebt noch immer mit Katzen und anderen Tieren in ihrem kleinen Strandhaus am Rande von Saint-Tropez.




Familienfreuden XVI: Von Klokletten und anderen Erfindungen

Die einen sagen so, Fiona sagt "Komate". (Bild: Nadine Albach)

Die einen sagen so, Fiona sagt „Komate“. (Bild: Nadine Albach)

Wer mich kennt, für den dürfte das keine besondere Überraschung sein: Fiona redet gerne – und viel. In der Hinsicht also ganz die Mama. Sie scheint allerdings auch eine andere Vorliebe von mir geerbt zu haben: die des Worterfindens.

Als ich noch bei der Zeitung gearbeitet habe, hat ein Kollege tatsächlich mal eine der Kulturseiten unter seiner Schreibtischauflage aufbewahrt, weil ich in einer Schlagzeile eines meiner erfundenen Worte untergebracht hatte – ich glaube, es war „Kuschelpuschen“ oder so etwas in der Art.

In meiner Tochter habe ich nun allerdings meine Meisterin gefunden. Denn egal, wie oft man ihr das richtige Wort – beiläufig oder explizit – nennt, bei bestimmten Dingen ist sie nicht davon abzubringen, dass sie so und nicht anders heißen.

Komatöse Zustände

Die Tomate zum Beispiel ist für sie eine KOMATE. Was bei mir zu der Überlegung geführt hat, ob diese ja schon signalrot leuchtende Frucht tatsächlich bei übermäßigem Verzehr zu komatösen Zuständen führt. Wer könnte schließlich von sich behaupten, einmal 100 Tomaten direkt hintereinander gegessen zu haben und somit das Gegenteil beweisen? Eben. Wenn aber etwas dran wäre, so könnten Jugendliche fortan doch beim „Komatensaufen“ zumindest ein paar Vitamine zu sich nehmen.

Klangverwandtschaften

Ähnlich schön klingt in meinen Ohren das Wort „KLOKLETTE“. Logisch, mit zwei Jahren ist dieser ganze Themenkomplex ohnehin ein wichtiger für Fiona. Wenn sie kleine Duplo-Türme baut, setzt sie in der Regel immer eine Figur obendrauf – und die macht Pipi. Vielleicht liegt in diesem Kontrast von öffentlicher Zurschaustellung der Ausscheidungsvorgänge im Gegensatz zu dem Rückzug auf das stille Örtchen für Fiona auch die Faszination für die „Kloklette“. Wer auf einem Turm sitzt, zeigt alles – wer eine Tür zumacht, verbirgt dahinter vielleicht ein Geheimnis. Für mich jedenfalls ist „Kloklette“ durch die Klangverwandtschaft zur Yogurette erstmal positiv assoziiert. Vielleicht spielt Fiona aber auch darauf an, dass wir Erwachsenen ständig in dieses mysteriöse Zimmer verschwinden, folglich wie Kletten daran hängen, während sie mit ihren Windeln frei von solchen Zwängen ist – wer weiß?

Ewiges Leben

Mein absolutes Lieblingswort aber ist – entschuldigt, liebe Vegetarier – die „LEBEWURST“. Ach, wie herrlich klingt doch dieser banale Aufstrich erst, wenn man ihn von einem einzigen „R“ befreit. Ein Elixier des Lebens, vielleicht sogar die Discounter-Variante des heiligen Grals, der ja schließlich auch ewiges Leben verhieß? Oder, ganz schlicht, einfach ein tolles Wort.




Gütiger Genius: Wuppertal zeigt Camille Pissarro als Vaterfigur der Impressionisten

Dieser Mann mit dem Ehrfurcht gebietenden weißen Bart, den man da auf historischen Fotografien und gemalten Selbstporträts sieht, muss eine Leitfigur, ja ein Vorfahre beinahe biblischen Zuschnitts gewesen sein.

Und tatsächlich: Es ist kaum übertrieben, Camille Pissarro (1830-1903) als „Vater des Impressionismus“ zu bezeichnen. Als solcher firmiert er jetzt in einer sehenswerten Schau des Wuppertaler Von der Heydt-Museums.

Camille Pissarro: Selbstbildnis (1903, Öl auf Leinwand) (Tate, London / presented by Lucien Pissarro, the artist's son, 1931)

Camille Pissarro: Selbstbildnis (1903, Öl auf Leinwand) (Tate, London / presented by Lucien Pissarro, the artist’s son, 1931)

Lange Zeit blieben sie in den Pariser Salons verpönt, ja, das Wort „Impressionisten“ geriet gar zum Spottnamen, mit dem sich bornierte Kritiker das damals ungeahnt Neue der Freilichtmalerei vom Leibe hielten. Es waren ja „nur“ flüchtige Impressionen, nichts Ausgeführtes…

Einige Künstler wollten deshalb schon aufgeben, doch just Camille Pissarro hielt die Bewegung zusammen. Er beschwor die Kollegen, den Fehdehandschuh aufzunehmen und den Spottnamen zum Markenzeichen umzudeuten.

Pissarro in seinem Atelier in Eragny (Fotografie, Musée Camille Pissarro, Pontoise)

Pissarro in seinem Atelier in Eragny (Fotografie, Musée Camille Pissarro, Pontoise)

Allerdings war Geduld gefragt, bis der Kunstmarkt endlich dafür bereit war. Auch der immens fleißige Pissarro lebte lange Zeit mit Frau und acht Kindern in ärmlichen Verhältnissen. Erst um 1890 waren die meisten Impressionisten finanziell aus dem Gröbsten heraus.

70 Pissarro-Gemälde, rund 70 seiner Arbeiten auf Papier und 30 Gemälde seiner Freunde und Zeitgenossen (u. a. Cézanne, Courbet, Degas, Van Gogh, Manet, Monet, Rodin, Seurat, Signac) bietet das Museum auf. Ohne die Jackstädt-Stiftung, die die Ausstellung mit einem namhaften Betrag gefördert hat, wäre ein solcher Aufwand undenkbar. Städte allein können sich so etwas nicht mehr leisten.

Raum für Raum wird beim Rundgang deutlich, wie Pissarro, der stets offen für neue Strömungen blieb, sich phasenweise an anderen Künstlern orientiert und mit ihnen ausgetauscht hat – in Farbstimmungen und Komposition, teilweise auch bis in Feinheiten der Pinselführung hinein. So hat er etwa mit Cézanne und Renoir intensive künstlerische Zwiesprache gehalten. Museumsleiter Gerhard Finkh, der die Schau selbst kuratiert hat, entwickelt solche Einsichten nicht durch direkte Gegenüberstellung, sondern vertraut auch auf Spürsinn und Entdeckerfreude des Publikums.

"Bauernmädchen mit Strohhut" (1881, Öl auf Leinwand) (National Gallery of Art, Washington - Alisa Mellon Bruce Collection, 1970.17.52)

Camille Pissarro: „Bauernmädchen mit Strohhut“ (1881, Öl auf Leinwand) (National Gallery of Art, Washington – Alisa Mellon Bruce Collection, 1970.17.52)

Pissarro wurde auf der damals dänischen Antillen-Insel St. Thomas (heute zu den britischen Virgin Islands) geboren und war dänischer Staatsbürger. Frühe Bilder aus den 1850er Jahren sind romantische Inselansichten mit karibischem Flair. Ab 1855 studierte er Kunst in Paris, wo er sich dauerhaft niederlässt. Hernach hing Pissarro, der sich in der Nachfolge Camille Corots sah, einem dunkel getönten Realismus an, der seinerzeit auch nicht allzu marktgängig war. Man liebte es damals weithin akademisch und heroisch.

Das recht umfangreiche Frühwerk Pissarros ist größtenteils in den Wirren des deutsch-französischen Krieges 1870/71 verloren gegangen, vielfach wohl durch Plünderung. Nur rund 50 von 1400 Bildern aus seiner Anfangszeit sind noch erhalten. Über den Verbleib der meisten Werke weiß man so gut wie nichts.

Mit einer Straßenansicht von 1871, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses von Auguste Renoir entstanden ist, beginnt sozusagen die impressionistische Zeit.

"Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu" (1896, Öl auf Leinwand) (bpk / RMN - Grand Palais / Rouen, Musée des Beaux-Arts / Hervé Lewandowski)

Camille Pissarro: „Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu“ (1896, Öl auf Leinwand) (bpk / RMN – Grand Palais / Rouen, Musée des Beaux-Arts / Hervé Lewandowski)

Ein großartiger Raum zeigt Bildnisse einfacher Menschen, denen sich Pissarro zeitlebens zugewandt hat. Er gleitet dabei nie in Genremalerei ab, sondern versteht es, die Würde dieser Menschen nicht nur zu wahren, sondern zu verdichten. Ein Blick in eine Metzgerei gehört ebenso zu diesen Darstellungen wie eine fegende Magd oder das famose Porträt „Bauernmädchen mit Strohhut“ (1881). Es sind Bilder, vor denen man lange verweilen kann.

Eine weiterer Saal ist pointillistischen Experimenten gewidmet. Auch diese mühselige Punkt-für-Punkt-Malerei hat Pissarro zeitweise verfolgt, sie aber bald wieder beiseite gelassen. Ein pointillistisches Bild von Brügge hat er später sogar übermalt.

Überhaupt zeigt die Ausstellung auch Um- und Irrwege, ja sogar ausgesprochene Schwächen des Künstlers, die freilich auch nur nebenher abgehandelt werden. Ersichtlich hat er auf dem Gebiet des Stilllebens wenig und auf dem der Aktdarstellungen noch weniger vermocht.

Camille Pissarro: "Boulevard Montmartre bei Nacht" (um 1897, Öl auf Leinwand) (The National Gallery, London / Bought, Courtauld Fund, 1925 / The Bridgeman Art Library)

Camille Pissarro: „Boulevard Montmartre bei Nacht“ (um 1897, Öl auf Leinwand) (The National Gallery, London / Bought, Courtauld Fund, 1925 / The Bridgeman Art Library)

Doch wie sind ihm mit der Zeit die Landschaften geglückt! Wie trefflich hat er (zuweilen auch für anarchistische Publikationen) Szenen des entbehrungsreichen Landlebens vor Augen geführt. Industriell geprägte Hafenansichten und schließlich die Boulevards von Paris sorgen für unvergessliche Schlussakkorde der Schau. Über Wochen, manchmal über Monate hat der inzwischen arrivierte Künstler sich Freiraum von der Familie gegönnt, in Hotels logiert und vom Zimmer oder Balkon aus Plätze und Straßen gemalt, bevorzugt rings um den Louvre. Waren alle Blickwinkel erschöpft, stieg er im nächsten Hotel ab.

Camille Pissarro: "Aveneue de l'Opéra" (1898, Öl auf Leinwand) (Reims, Musée des Beaux-Arts / Giraudon / The Bridgeman Art Library)

Camille Pissarro: „Aveneue de l’Opéra“ (1898, Öl auf Leinwand) (Reims, Musée des Beaux-Arts / Giraudon / The Bridgeman Art Library)

Es sind freilich keine triumphal strahlenden, auftrumpfenden Bilder, sondern es ist eher ein verhaltenes Leuchten, ein stiller Glanz, der die Arbeiten auszeichnet. Wie einem denn überhaupt dieser Mann – trotz geschichtlicher Distanz – auch menschlich sympathisch werden kann, wenn man ahnt, wie vielen Künstlern (vor allem Van Gogh in dessen größter Krise) er geholfen hat und wie er sich auch für die Malweisen jüngerer Künstler begeistern konnte. Ja, er war nicht nur ein Künstler von hohen Graden, sondern offenbar auch so etwas wie ein gütige Vaterfigur.

„Pissarro. Vater des Impressionismus.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 14. Oktober 2014 bis zum 22. Februar 2015. Geöffnet Di/mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro, DVD 15 Euro. www.von-der-heydt-museum.de




Philosophische Komödie: Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in Krefeld

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das "Zoferl" der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das „Zoferl“ der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

An „Rosenkavalieren“ ist in diesem Strauss-Jahr 2014 wahrlich kein Mangel. Die jüngste Premiere ist nun aus Krefeld zu vermelden.

Düsseldorf hatte seine traditionelle Otto-Schenk-Inszenierung im Frühjahr wieder ausgegraben, Gelsenkirchen die 150-Jahrfeier der Geburt Richard Strauss‘ gar schon im Oktober vor einem Jahr begonnen (und jetzt mit der „Frau ohne Schatten“ erfolgreich fortgesetzt). In Dortmund wird die silberne Rose in der Regie des Hausherrn Jens Daniel Herzog ab 25. Januar 2015 überreicht. Und in Kassel, Frankfurt oder Weimar machen sich in den nächsten Monaten prominente Regisseure wie Lorenzo Fioroni, Claus Guth und Vera Nemirova an das oft als konservative Kehre im Wirken Strauss‘ verdächtigte Werk.

Aber das Bild einer vergangenen Zeit, mit „Fleiß und Mühe“ entworfen, hat schon der Librettist Hugo von Hoffmannsthal als Täuschung bezeichnet. Und das gilt auch für die Musik. So wienerisch nett sich die Walzertakte durch die Partitur wiegen: Sie sind doch eher Boten der grellen „Tanzmusi“ eines Gustav Mahler oder der verzerrten Dreiertaktgespenster eines Alban Berg als gemütvoller Rückblich auf Johann Strauß oder Joseph Lanner. Mihkel Kütson beharrt mit den Niederrheinischen Sinfonikern auf dieser sperrigen Lesart. Die Walzerseligkeit schwingt aufgeraut. Kein nostalgischer Goldblick, eher die innere Unruhe einer ins Gären geratenen Zeit.

1911 war ja noch alles „in Ordnung“. Und Strauss, mit der politischen Blindheit des karrierebesessenen Großbürgers geschlagen, ist sicher nicht der Mann, den man zum ausschlagenden Seismographen künftiger Verwerfungen adeln sollte: Er hat weder die Zeitwende 1914/18 erkannt noch bemerkt, wie sich mit dem verachteten und dennoch hofierten braunen Pack die finale Exekution ungebrochenen bürgerlichen Selbstverständnisses anbahnte. Aber bei Hoffmannsthal, da schwingt doch etwas mehr mit als die versonnene Philosophie der Zeit, die der alternder Marschallin so balsamisch von den Lippen fließt.

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der "Rosenkavalier"-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der „Rosenkavalier“-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Bühnenkünstler Frank Fellmann kaprizieren sich nicht auf das Balancieren einer vermeintlich heilen Welt am Rande des Abgrunds. Sie sehen im „Rosenkavalier“ auch die Komödie, selbst wenn sich noch vor Beginn der Handlung ein riesiger Schatten über das halbdunkle Boudoir der Marschallin legt und ein Scheinwerfer nach einer der Uhren auf dem Wandsims fingert. Bestimmendes Element ist eine Kunstuhr, auf der ein Alter eine Stunde markiert, die mit dem zweiten Zeiger, einer güldenen Sonne, nicht vereinbar ist. Auf die Zeit verweist auch ein astronomischer Globus neben dem Bett der Marschallin, der Armillarsphäre Galileo Galileis ähnlich.

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder "Rosenkavalier". Foto: Matthias Stutte

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder „Rosenkavalier“. Foto: Matthias Stutte

Eine Idee von Prater und Jahrmarkt vermitteln die Kulissen im dritten Akt: Bewusst als solche eingesetzt, erinnern sie mit Wölkchen und Putten an die Dekors alter Karussells oder an die Wunderkabinette reisender Scharlatane.

Im zweiten Akt dagegen ist die Komödie von anderer Natur: Der Empfangssalon Faninals, tapeziert mit dem ins Riesige gesteigerten Adelsprädikat Kaiser Franz Josephs, steht für die begrenzte Weltsicht des neu gekürten Edlen. Fellmann bricht das enge Halbrund auf, wenn er für den Auftritt des Rosenkavaliers eine spiegelnd polierte Rampe in die aufklaffenden Wände einfahren lässt. Ein Steg in einen weiten Raum, der die Welt des biederen Faninal – in der Begegnung von Sophie und Octavian – endgültig transzendiert.

Mascha Pörzgen hat die komödiantischen Anteile zwar präsent gesetzt, aber nicht ausgebreitet; es ging ihr nicht um Ochsen-Klamauk und Beisl-Chaos. Gerade im dritten Akt zeigt sie das „Inszenierte“ an der Farce, die dem Baron auf Lerchenau vorgegaukelt wird. Da bemüht sich der junge Graf Rofrano überhaupt nicht, in die Rolle des „Mariandl“ zu schlüpfen, legt seine selbstbewusste Art des Verhaltens und Sprechens nicht ab. Schlechte „Comödi“ eben. Umso sensibler achtet Pörzgen aber auf die Wandlungen und die inneren Spannungen der Personen. Im ersten Akt etwa auf die emotionalen Wechselbäder des „Quin-quin“, zwischen pubertärer Schwärmerei und zu Tode betrübter Desillusionierung. Im dritten enthüllt Pörzgen, dass es dem jugendlichen Liebhaber der Marschallin nicht leicht fällt, auf die erfahrene, ältere Frau zu verzichten: Das Ringen um eine Entscheidung wird ihm nicht abgenommen.

Die Regisseurin hat ihre Arbeit aus den Figuren heraus entwickelt – eine heute nicht mehr selbstverständliche Kunst feiner Andeutungen, ein Verzicht auf allzu plakative Visualisierungen und allzu eindeutige Zuweisungen. So hat der Charakter der Marschallin etwas Schwebendes: Lydia Easley verkörpert eine Frau an einem Scheideweg ihrer Existenz, der sie bewegt, aber nicht haltlos macht. Easley hat im ersten Aufzug Mühe, mitzuhalten; vor allem, wenn sie der Dirigent mit Lautstärke bedrängt und sie einen nicht ausreichend gestützten, soubrettig grundierten Ton einsetzt. Aber mit ihrem Monolog und mit den Schlüsselstellen in den folgenden Akten gelingen Easley überzeugende Momente. Und als Gegenspielerin des Barons ist sie voll selbstbewusster Würde und Entschiedenheit.

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Mit Eva Maria Günschmann hat Krefeld einen nahezu idealen Rosenkavalier; ein körperlich präsenter, gesanglich tadelloser Octavian, fähig zu nuancierter Charakterisierung, gesegnet mit einem exquisiten Timbre und einem leicht strömenden, unaffektierten Mezzo. Sophie Witte ist ihr eine ebenbürtige Partnerin mit ihrem leichten, klanglich erfreulich unverdünnten Sopran. Diese Sophie, das macht Witte mit leuchtender Stimme klar, hat einen unbeugsamen Charakter, mit dem sie dem Geschacher um Stand und Stolz aufrecht entgegentritt.

Für Matthias Wippich ist der Ochs eine Paraderolle. Nicht nur das künstliche Wiener Idiom beherrscht er vortrefflich; er kann auch mit der Tiefe spielen und im Zentrum die Farben seiner Stimme für geflissentlich annektierte Eleganz und sich entladende Grobheit einsetzen. Nur die Höhe dürfte weniger steif klingen, solider fundamentiert sein. Ganz und gar brünstiger Jupiter und von keinen Skrupeln geschlagen, stürzt er sich sogleich auf das „Zoferl“, lässt – auch ohne Rücksicht auf die Marschallin – nicht locker. Und im dritten Akt – hervorzuheben die bildkräftige, gekonnte Deklamation Wippichs – will er bis zum Schluss partout nicht verstehen, was er denn nun falsch gemacht haben könnte: Des Lerchenaus Charakter hat etwas selbstgefällig Brutales, das fürchten macht.

Krefeld muss sich auch in der Besetzung der weniger umfangreichen Partien nicht verstecken, bis hinein in die stumme Rolle des illegitimen Ochsen-Sohns Leopold (Ruben Knors). Markus Heinrich und Satik Tumyan sind ein zwischen Matrone und Mafia angesiedeltes „wälsches“ Gaunerpaar; Hayk Dèinyan ein anständiger Kommissarius, Sun-Myung Kim und James Park zwei geschäftige Haushofmeister. Debra Hays wirkt als Leitmetzerin angemessen schrill; der Sänger Kairschan Scholdybajew, ein goldgesichtiger Automat, wird von seinem Flötisten (Alexander Betov) sorgfältig aufgezogen wie Offenbachs Olympie in „Hoffmanns Erzählungen“. Sein italienischer Schmelz vertrüge allerdings noch etwas Öl. Auch Hans Christoph Begemann könnte als Faninal noch ein paar Facetten mehr ausarbeiten.

GMD Mihkel Kütson meidet mit den Niederrheinischen Sinfonikern den üppigen Wohlklang mit der Folge, dass sich die raffinierten Strauss’schen Klangmischungen eher spröde als magisch einstellen. In den – zu lauten – Eröffnungstakten leisten sich die Bläser merkliche Unsauberkeiten, die sich im ersten Akt immer wieder in belegter oder spitzer Tongebung fortsetzen. Allmählich formt sich der Klang, klärt sich die Balance, ohne freilich zu jenen ausgesuchten Mischungen zu finden, die man, des kühlen Kopfes ungeachtet, in den Momenten verinnerlichter Lyrik doch zu finden wünscht.

Alles in allem ein höchst beachtlicher „Rosenkavalier“, der sich im Vergleich behaupten wird. Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat wieder einmal gezeigt, dass es seinen künstlerischen Anspruch auf solide gesichertem Niveau behaupten kann.

Weitere Informationen:

http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/musiktheater/der-rosenkavalier.htm




„Geschlossene Gesellschaft“: Vom Glanz und Elend der Superreichen

Was macht das viele Geld mit den Reichen und Superreichen? Sind Multimillionäre und Milliardäre besonders glücklich oder besonders zerknirscht?

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Derlei Menschheitsfragen wollte Dennis Gastmann mit seinem Buch „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“ stellen – und vielleicht gar beantworten. Ist es ihm gelungen?

Nun, zunächst einmal lässt er uns weitschweifig und umständlich wissen, an welche reichen Leute er n i c h t herangekommen ist, nämlich an fast alle Berühmtheiten: „Mick Jagger? Begrüßt mein Interesse, muss jedoch absagen. Johnny Depp? Hat keine Lust.“ Und so geht die Aufzählung Seite um Seite weiter. Da stehen leider fast alle, die wirklich interessant gewesen wären. Zeigt her eure Konten? Von wegen!

Andere Journalisten hätten das langwierige, wohl auch nicht ganz billige Recherche-Projekt in dieser Phase vielleicht aufgegeben. Nicht so Dennis Gastmann, der sonst vorwiegend für die ARD-Auslandsmagazine und die Satiresendung „extra 3“ arbeitet und offenbar partout ein Buch hat füllen wollen.

Wortreich schildert er seinen wenig ergiebigen Besuch beim Playboy-Sohn Rolf Sachs. Es folgt ein Treffen mit dem „Schraubenkönig“ Reinhold Würth, der offenbar ausgeprägt sozialdarwinistisch denkt und ein Patriarch vom knorrigen alten Schlage ist; ein Getriebener, niemals vom angehäuften Mammon satt.

Da ansonsten auch hier nicht viel Brauchbares abfällt, gerät der Autor zwischendurch vollends ins Faseln. Er stellt sich vor, wie viele Coffee-to-go-Becher Würth sich für sein Milliardenvermögen kaufen könnte und wie hoch die sich türmen würden. Damit noch lange nicht genug. Es ist streckenweise eine arge Zeilenschinderei.

Dennis Gastmann schleicht sich fortan ins eine oder andere Society-Ereignis ein, beispielsweise auf Sylt, wo einem manches nicht nur halbgar, sondern auch halbseiden vorkommt. Merke: Reichtum kann gleichzeitig so schäumend und so freudlos sein. Doch irgendwie scheint Gastmann schon stolz darauf zu sein, einmal beim halbwegs großen Gelde zu hocken. Er zeigt sich von seinem Thema zuweilen mehr affiziert, als er es vielleicht gewollt hat.

Weiter geht die Hatz nach Marbella, wo Gastmann sich kurz im Dunstkreis der Bea von Auersperg bewegt. Welch eine trübe Veranstaltung und so gar kein Anlass, die Story der Dame derart auszuwalzen.
Aber Gastmann hat ja noch viel mehr im Köcher. Wir werden durch die strengste aller Butler-Schulen geführt, lernen einen Egomanen kennen, der sein Geld als Schönheitschirurg scheffelt, besuchen mit Dennis Gastmann den oberpeinlichen Berliner Alt-Playboy Rolf Eden, schnüren über die Yacht-Messe in Cannes, schauen bei einer Maklerin in Monaco und einem russischen Oligarchen vorbei, der sich im Neureichen-Kitsch suhlt und seiner Gefährtin eine weltweite Pop-Karriere finanzieren will. Uff!

Ein dekadentes Sex- und Geldmonster bildet sodann gleichsam den Gegenpol zum ungemein bienenfleißigen Trigema-Chef Grupp (der mit der Affenwerbung), einem gelegentlich cholerischen Sonderling, wenn man der Schilderung glauben darf.

Hin und wieder hat das Buch nun doch etwas Fahrt aufgenommen, und es ist dem Autor gelungen, sozusagen ein paar Brosamen vom großen Reichtum aufzusammeln. Es gibt Passagen, bei denen man sich bis zur Grusel- oder Ekelgrenze ärgern kann. Allerdings würde Neid ins Leere laufen, so erbärmlich wirken die meisten Protagonisten. Manche dieser Gestalten gieren derart nach ein bisschen Aufmerksamkeit, dass sie einem schon fast wieder Mitleid abnötigen.

Wir erfahren, dass es geradezu verbissen seriöse Spielarten des Reichtums gibt, aber eben auch halbkriminell funkelnde Formen und verblichene Restbestände. Oft genug geht jedes Maß verloren. So richtig glücklich scheint niemand mit dem übermäßigen Geldsegen zu sein, der sich denn häufig als Fluch erweist. Ein altes Lied: Ach, die armen Reichen! Kann das ein Trost sein? Und falls ja: für wen?

Dennis Gastmann: „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“. Rowohlt Berlin. 302 Seiten. 19,95 Euro.




Drei Männer und „Die Frau auf der Treppe“ – der neue Roman von Bernhard Schlink

schlinktreppeDrei völlig unterschiedliche Männer, vordergründig geeint durch eine unerfüllte Liebe: der narzisstische Künstler, der schwerreiche Unternehmer, der Anwalt, der nur solange vermitteln will, wie er Recht behält. Eine Frau, die sich allen drei Männern gleichermaßen entzogen hat.

Die Frau, Irene, stand einst Modell für ein Frühwerk des heute bedeutenden Künstlers Karl Schwind. Seit Jahrzehnten hat niemand mehr „die Frau auf der Treppe“ gesehen, der Verbleib des Gemäldes ist unklar, von Geheimnissen umwittert. Irenes erster Mann, der Unternehmer Gundlach hat es 1968 bei dem damals noch unbekannten Schwind in Auftrag gegeben, „um den Lauf der Zeit anzuhalten“. Zwischen Künstler und Modell entbrennt eine stürmische Liebschaft, woraufhin Gundlach das Werk systematisch beschädigt. Der Künstler erkennt, dass er nur weitermalen kann, wenn er selbst entscheiden kann, was mit seinen Bildern geschieht.

Es folgt ein erbitterter Streit um die Eigentumsrechte an dem Bild, um das Recht des Künstlers an seinem Werk. In dieser Phase betritt ein junger, aufstrebender Anwalt, Schlinks-Ich-Erzähler die Szene. Von ihm verlangen die Rivalen einen Vertrag, der den Tausch Frau gegen Bild vorsieht, ohne dass die Frau davon weiß. Denn für den einen ist sie doch nur die Muse, für den anderen die Vorzeigegattin, für beide eine Verschiebemasse. Der junge Anwalt verbündet sich mit Irene. Der Vertrag wird nur zum Schein geschlossen, er hilft Irene bei einem gewagten Vorhaben. Irene flieht, mit ihr das Bild. Der Anwalt, der zum ersten Male in seinem Leben die Liebe erahnte, bleibt zurück. Soweit die im Roman in Rückblenden erzählte Vorgeschichte.

In der Gegenwart begleiten wir den Anwalt auf einer Geschäftsreise nach Australien. In seiner Freizeit besucht er eine Kunstausstellung und findet sich plötzlich völlig unvermutet vor der „Frau auf der Treppe“ wieder. In diesem Moment sieht er ganz klar, dass seine Geschichte mit Irene noch nicht auserzählt ist. Er lässt seine Kontakte spielen, recherchiert und findet sie nach einer für seine Verhältnisse abenteuerlichen Reise schließlich wieder. Sie lebt – oder besser gesagt – stirbt auf einer einsamen Insel. Er ändert seine Pläne und bleibt bei ihr.

Ganz so einfach gestaltet es sich auch diesmal nicht, das Wiederauftauchen des Bildes hat sowohl den Maler als auch den Unternehmer auf den Plan gerufen. Auch sie finden Irenes Aufenthaltsort heraus und sich auf der Insel ein. Man reflektiert, streitet, spreizt sich und resigniert schließlich. Der Verbleib des Bildes wird geklärt, Irene hat ihren letzten großen Auftritt. Zum Schluß bleibt nur der Anwalt zurück und begleitet Irenes Sterben. Sie ziehen Bilanz, erträumen sich aber auch einen ganz anderen Lebens-Verlauf. Schlussendlich ist es ausgerechnet der Tod seiner ersten unerfüllten Liebe, der dem Anwalt zu einem neuen Leben verhelfen wird.

Hintergründig eint die drei Männer weniger ihre unerfüllte Liebe als ihr egozentrisches Wesen und ihr unbedingter Wille, ein Lebenswerk vorweisen zu können, dem sie alles opfern. Vor allem ihr eigenes Glück. Irene hingegen will – den nahenden Tod vor Augen – einmal noch die längst vergessen geglaubte Bewunderung „ihrer“ Männer spüren. Schade, dass ihre Figur derart reduziert wird, denn eigentlich hat gerade sie mit einer nicht näher beschriebenen RAF-Vergangenheit den spannendsten Lebenslauf.

Es ist ein ganzes Füllhorn voller Themen, welches Schlink über den Leser ausgießt. Feminismus, Kapitalismuskritik, Terrorismus, die Bedeutung der Kunst, Liebe und Tod, das Alter, Spießertum, Drogensucht – man kann dem Autor nicht vorwerfen, er hätte etwas ausgelassen. Leider wird vieles nur angerissen, weniges vertieft. Den Leser beschleicht das Gefühl, dass man es hier mit einem typischen Problem der Alt-68er-Generation zu tun hat: Sucht der Autor zwanghaft etwas, was geblieben ist und bleiben wird? Gerade diese Generation bedauert ja sehr, dass vieles von dem wegbricht, was sie einst erfolgreich machte und bewegte. Dazu passt auch die resignierte Erkenntnis des Anwalts, dass es doch meist die kleinen Niederlagen im Leben sind, die nachwirken. „Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die großen… “

Seit dem „Vorleser“ scheint Schlink es keinem mehr recht machen zu können. Vielleicht sind die Erwartungen auch deshalb so hochgeschraubt, weil „der Vorleser“ es in den Lektüreschlüssel der gymnasialen Oberstufe geschafft hat, in dem z.B. Bertolt Brecht selten zu finden ist. Diesbezüglich kann man Schlink natürlich überbewertet finden, allerdings kann der Autor selbst wohl am allerwenigsten dafür. Mit der Frau auf der Treppe erzählt Bernhard Schlink einfach eine Geschichte, zwar etwas überfrachtet, aber nicht langweilend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein leiser Hauch von Melancholie ist spürbar, eine leise Trauer über verpasste Chancen nachvollziehbar.

Manchmal ist die Atmosphäre erstaunlich dicht, dann wiederum wird es doch arg schwülstig: „An der Kathedrale der Gerechtigkeit arbeiten viele Steinmetze!“ Ein Sympathieträger fehlt völlig.

Müßig sind Spekulationen, ob Schlink sich bei der Figur des Malers Schwind an Gerhard Richter orientiert hat. Schlink selbst verweist in einem Nachsatz darauf, dass ihn Richters Werk „Ema. Akt auf einer Treppe“ inspiriert habe, der Künstler Schwind jedoch frei erfunden sei.

Bernhard Schlink: „Die Frau auf der Treppe“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 244 Seiten, 21,90 €.




TV-Nostalgie (27): „Auf der Flucht“ – Als Dr. Richard Kimble durch die USA gehetzt wurde

Eigentlich erstaunlich, dass diese Serie auch bei uns so legendär werden konnte. Ab 9. Juli 1965 zeigte die ARD lediglich 26 von insgesamt 120 Folgen von „Auf der Flucht“. Dennoch war der flüchtige „Dr. Kimble“ (David Janssen) bald allen Fernsehzuschauern ein Begriff – und blieb es für viele bis heute.

Doch halt! Nicht alle haben das damals sehen dürfen. Wenn ich mich recht entsinne, haben meine Eltern die Serie damals regelmäßig geguckt, doch für mich war „Auf der Flucht“ (nach ihrer Meinung) noch viel zu aufregend. Wahrscheinlich ist es vielen so ergangen, die seinerzeit Kinder waren. Aber man hörte und las ja überall davon.

Unschuldig zum Tode verurteilt

Wir erinnern uns also: In der im Original schier endlosen US-Thrillerserie ging es um jenen Arzt Dr. Richard Kimble, der zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wurde, weil er angeblich seine Frau ermordet hatte. Doch er war unschuldig. Auf dem Weg zur Hinrichtung gelang ihm die Flucht, die fortan kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten führte. Und wie wurde der Mann gehetzt!

Gehetzter Mann: David Janssen als Dr. Richard Kimble (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=PCdPAELyRyI)

Gehetzter Mann: David Janssen als Dr. Richard Kimble (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=PCdPAELyRyI)

Ich habe mir jetzt probehalber noch einmal zwei Folgen angesehen und muss sagen: Die Filme sind heute noch spannend. Die Hauptfigur, wahrlich ein einsamer Wolf, lebt in beständiger Furcht. Dr. Kimble misstraut erst einmal jedem Menschen, dem er begegnet.

Drohbriefe für Polizisten-Darsteller

Immer und immer wieder droht die Entdeckung – vor allem durch den besessenen Polizei-Lieutenant Gerard. Barry Morse, der Darsteller dieses Erz-Widersachers, bekam in den USA (wo die Serie von 1963 bis 1967 lief) sogar echte Drohbriefe, so glaubhaft spielte er den unerbittlichen Verfolger.

Einer allein gegen alle? Nicht ganz. Auf seinen Fluchtwegen fand Dr. Kimble auch immer wieder Menschen, die ihm – aus unterschiedlichsten Motiven – halfen. Da wurden streckenweise sehr anrührende menschliche Geschichten erzählt.

Der geheimnisvolle Einarmige

Manche Folgen zerren nicht nur als Krimis an den Nerven, sie erweisen sich überdies als packende Sozialstudien; beispielsweise die Episode, die in West Virginia spielt – in einem einst lebendigen, jetzt aber hoffnungslosen Ort, dessen Bergwerk schließen musste. Vor diesem Hintergrund wirkt Kimbles Flucht noch eine Spur verzweifelter als sonst schon. Und man kann nicht umhin, unwillkürlich an Teile des Ruhrgebiets zu denken.

Die allzeit ruhelose Flucht hat zwei Spannungsbögen, die die gesamte Serie überwölben. Zum einen zittert man mit Dr. Kimble, dass er nicht gefangen werden möge, zum anderen wünscht man ihm innig, dass er selbst den geheimnisvollen Einarmigen aufspürt, der offenbar der wirkliche Mörder seiner Frau ist.

Sogar heute scheut man sich noch, die (wohl allseits bekannte) Lösung des Dramas auszuplaudern. Wer weiß: Vielleicht hatten die Eltern damals doch recht. Es war tatsächlich viel zu aufregend für uns.

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal (26)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Kolossale Freiheits-Göttin: Stefan Herheim inszeniert Puccinis „Manon Lescaut“ in Essen

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Als „Musiker der kleinen Dinge“ sah Giacomo Puccini sich selbst. Mit „Manon Lescaut“, seinem ersten großen Opern-Erfolg, war die erste seiner faszinierenden Frauengestalten geboren: ein junges Mädchen, bildschön und noch sehr unerfahren, erfüllt von übergroßer Lebensgier, die ihr schließlich zum Verhängnis wird. Im Essener Aalto-Theater bläst Regisseur Stefan Herheim die Titelfigur jetzt zur monumentalen Ikone auf. Das Glücksversprechen, das von diesem schillernden Geschöpf ausgeht, setzt er demjenigen der amerikanischen Freiheitsstatue gleich, die zur Entstehungszeit des Stücks gebaut wurde.

Aus Manon Lescaut wird also Madame Liberty, eine kolossale Göttin. Die gewaltsame Vergrößerung bekommt dem kleinen Ding denkbar schlecht. Allein das Ausmaß der Requisiten wirkt erschlagend: Die Fackel, der Kopf mit dem signifikanten Strahlenkranz, die Tafel mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sind durch ihr gigantisches Format furchterregend überpräsent (Bühne: Heike Scheele).

Stefan Herheim zeigt uns diese Teile in der Werkstatt, umgeben von Gerüsten, in denen der Chor als Arbeiterschar herum klettert. Über dem Versuch, die komplizierte und langwierige Entstehungsgeschichte der Oper in Szene zu setzen, gerät die eigentliche Handlung freilich ins Hintertreffen. Das Drama von Manon und Des Grieux, die von ihren ungezügelten Leidenschaften zerstört werden, bleibt uns seltsam fern. Die „passione disperata“, die großen Gefühle, die Puccini in Töne goss, kommen in Essen nicht beim Publikum an.

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Regie lässt Puccini als stumme Rolle durch die Szene geistern. Wir sehen den Komponisten (Mathias Kopetzki), wie er aus dem Roman von Abbé Prévost Inspiration gewinnt, wie er die Sänger mit stummen Gebärden befeuert, wie er mit dem Werk ringt und mit seinen Protagonisten leidet. Das wirkt sich auf die Dauer als fatales Störelement aus. Immer wieder blättern die Sänger in einem Buch, womöglich der Romanvorlage, und singen zornig den Komponisten an, als begehrten sie zu wissen, wie es denn nun mit ihnen weitergehen solle.

Einem Flickenteppich gleicht die Produktion auch deshalb, weil herzlich unentschieden scheint, was denn nun eigentlich in Szene gesetzt werden soll: die Oper von Puccini, die Romanvorlage von Prévost oder doch lieber gleich der gesamte Manon-Komplex, der bis ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Künstler inspirierte. Die prachtvollen Kostüme von Gesine Völlm schwanken zwischen dem französischen Rokoko und der Zeit um 1893. Des Grieux, der französische Chevalier, verwandelt sich immer wieder in den Bildhauer Frédéric-Auguste Barholdi. Als solcher fällt er aus der Szene heraus, um an seiner noch unfertigen Freiheitsstatue zu basteln.

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Sänger sind nicht um eine Personenführung zu beneiden, die aus Manon eine prätentiöse Pute und aus Des Grieux einen aufgeregt flatternden Gockel macht. Indes können sie die enttäuschende Produktion nicht heraus reißen. Katrin Kapplusch beweist als Manon zwar Sicherheit und Durchschlagskraft, bleibt aber kalt und monochrom, mithin ohne Herzensglut oder mädchenhafte Farben. Als Gast gibt Gaston Rivero dem Chevalier Des Grieux einen zunächst eher dünnen Tenor, dessen Fragilität erst im Laufe des Abends kraftvolleren Tönen mit mehr Schmelz weicht. Ansprechend besetzt sind die kleinen Partien, von denen vor allen Heiko Trinsinger als Bruder Manons und Abdellah Lasri als Tanzmeister, Lampenanzünder und Edmondo zu nennen sind.

Wenig ist von den Essener Philharmonikern zu vermelden: Sie klingen unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti eher blass, begleiten unauffällig das Geschehen. Etliche Wackler gibt es zwischen dem Orchestergraben und den im Prinzip gut disponierten Chören des Aalto-Theaters, womöglich befördert durch manch aktionistisch anmutende Rennerei.

Gemessen an den hohen Erwartungen, geweckt durch den glänzenden Ruf des Regisseurs, muss diese Eröffnungspremiere als Enttäuschung bezeichnet werden. Sie mag als Fundgrube für Dramaturgen taugen, nicht aber für ein Publikum, das sich von Emotionen ergreifen lassen möchte. Das Aalto-Theater, für das die Zeichen in der zweiten Spielzeit unter Generalintendant Hein Mulders noch immer ein wenig auf Neuanfang stehen, hat sich mit dieser Koproduktion der Oper Graz und der Dresdner Semperoper einen ersten Flop eingefangen.

Termine und Informationen zum Stück: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/manon-lescaut.htm)

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.) 




Wie die Welt in den Kopf gekommen ist – Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“

U1_XXX.indd„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Steine konnten denken, und Gott war überall.“

Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit seiner „New-York-Trilogie“ oder seiner „Brooklyn-Revue“, mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der postmodernen Literatur neu vermessen, furios mit Erzählweisen jongliert. Das neue Buch des 1947 geborenen und seit vielen Jahren mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheirateten Autors heißt „Bericht aus dem Inneren“.

Auster spricht von seiner Kindheit und Jugend und davon, wie es war, allmählich erwachsen und Schriftsteller zu werden. Vor einem Jahr, in seinem „Winterjournal“, ging es um eine erste, vorsichtige Lebensbilanz, um wichtige Stationen, um Todes-Erfahrungen, lebensbedrohliche Krankheiten, den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen.

Im „Winterjournal“ erzählte Auster die „Geschichte seines Körpers“, im „Bericht aus dem Inneren“ erzählt er jetzt die „Geschichte seiner Bewusstwerdung“: Er will herausfinden, wie die Welt ihn seinen Kopf gekommen ist und wie er sich seiner selbst und seiner Identität bewusst wurde. Er durchforstet die Gedankenwelt seiner Kindheit, erinnert sich, wie er mit acht Jahren angefangen hat, Romane zu lesen und Biografien über Baseball-Stars und historische Helden.

Immer wieder stellt sich schon beim Kind das Gefühl ein, in ein anderes Raum-Zeit-System zu gleiten, sonderbar benebelt und ausgehöhlt zu sein und das eigene Sterben zu proben. Schmerzlich kommt ihm in Kindertagen zu Bewusstsein, dass er Teil einer kaputten Familie ist, in der es zwar keinen Streit, aber permanentes Schweigen und Gleichgültigkeit gibt. Mit sieben oder acht Jahren kapiert er, dass er Jude ist, was bedeutet, abseits zu stehen und Außenseiter zu sein.

Während er dabei ist, die Bücher und Filme zu beschreiben, die ihn als Kind besonders beschäftigt und sein Bewusstsein geprägt haben, schickt ihm seine Ex-Frau, die Schriftstellerin und Übersetzerin Lydia Davis, einen dicken Packen Papier. Es sind Kopien der Briefe, die er ihr in den 1960er und 70er Jahren geschrieben hat: Sie kommen ihm wie eine Zeitkapsel vor, wie ein kostbares Geschenk und Ersatz für ein Tagebuch, das er nie geführt hat.

Mit den Briefen kann er rekonstruieren, wie er eine Zeitlang in Paris lebte, Drehbücher schrieb und von einer Karriere beim Film träumte, wie er 1968, zurück in New York, Teil der Studentenrevolte war, von der Polizei verprügelt wurde, Angst hatte, zur Armee einberufen und nach Vietnam geschickt zu werden. Und wie er dann irgendwann beschließt, sich ganz darauf zu konzentrieren, Künstler zu werden. Und Romane zu schreiben, die immer auch davon handeln, wie das Denken die Realität verändert und die Fantasie sich eine eigene Welt erschafft. Schon als Kind begreift er: „Die Welt ist in meinem Kopf.“

Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 289 Seiten, 19,95 Euro.




Stimme der Vernunft: Goethes Iphigenie am Düsseldorfer Schauspielhaus

Kühl und klar schwebt Iphigenie (Tanja Schleiff) über dem Boden: Denn ihr Tempel besteht aus einer schlichten Plattform, an Schnüren aufgehängt. Ihre Religion heißt Vernunft und Menschlichkeit statt archaischer Opferrituale. Dieses „aufklärerische“ Gedankengut hat die Tochter des Griechenkönigs Agamemnon auf ihre Zufluchtsinsel Tauris mitgebracht. Nach und nach ist es ihr gelungen, König Thoas (Andreas Grothgar) und seinen Untertanen die blutigen Menschenopfer auszutreiben.

Foto: Programmheft zu Iphigenie/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Programmheft zu Iphigenie/Düsseldorfer Schauspielhaus

Mona Kraushaar inszeniert für das Düsseldorfer Schauspielhaus Iphigenie als selbstbewusste Frau von heute. In schlichtem grauen Hosenanzug managt sie das Tempelwesen der Diana und hält den liebeskranken König auf Abstand. Der reagiert allerdings weniger besonnen auf die weibliche Zurückweisung: Das männliche Ego ist gekränkt, jetzt will es Blut sehen. Iphigenie soll ihren eigenen Bruder Orest und seinen Gefährten Pylades (Konstantin Bühler) eigenhändig opfern.

Jakob Schneider spielt diesen Orest als einen, der die Grenze zum Wahn schon überschritten hat. Vaters Tod und Muttermord haben seine Psyche nicht verarbeitet, lassen ihn abdriften in Schuldgefühle und Selbsthass. Mehr heult und stammelt er, als dass er spricht. Ihn opfern? Warum nicht, er ist ja längst zerbrochen. Eine interessante Deutung, die den männlichen Figuren im Stück die emotionale Verwirrung und Iphigenie die Stimme der Vernunft zuordnet.

Doch hängt auch die Titelheldin einem Traum hinterher: Der heilen Familie, die sie schon längst nicht mehr hat. Ihre Sehnsucht nach der Heimat Griechenland ist stärker als die selbstgewählte Aufgabe der „Missionierung der Barbaren“ auf Tauris. Doch vielleicht will Iphigenie einfach frei sein und statt dem Vaterhaus ein Mutterhaus in Mykene errichten? Nach ihren eigenen Regeln, nach ihrer eigenen Moral, die sie durch die Weigerung hinterrücks zu fliehen statt selbstbewusst abzureisen, eindrucksvoll bekräftigt.

Ja, die Iphigenie ist ein Lehrstück mit moralischem Imperativ. Kraushaars Inszenierung verleiht dem gewichtigen Stoff eine gewisse Leichtigkeit, eine Plausibilität für uns Zeitgenossen. Und trotzdem kann man Goethe im Original hören.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Berlin, Berlin – eine kleine Polemik

Seit ein paar Jährchen bin ich nicht mehr in Berlin gewesen. Mag sein, dass es auch daran liegt. Aber bestimmt nicht nur. Tatsache ist: Berliner Befindlichkeiten gehen mir auf den Geist. Doch die Gazetten quellen davon über.

Was interessiert’s mich, wen die Türsteher im Berghain reinlassen und ob der Schuppen überhaupt noch wichtig ist? Was geht’s mich an, wer im Café Einstein oder sonstigen Lokalitäten Platz nimmt? Was juckt es mich, ob der Prenzlauer Berg derzeit an- oder abgesagt ist und wohin sich die Hipness gerade mal wieder verlagert hat?

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2001 in Berlin. (Foto: privat)

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2003 in Berlin. (Foto: privat)

Ob Berlin sich anschickt, europäische oder Weltmetropole der Kunst, der Mode oder sonstigen Unsinns zu werden – piepegal! Wann dieser unselige Flughafen fertig wird – wurscht! Dass eingesessene Berliner zugereiste Schwaben und Touris nicht haben wollen – einerlei!

Da jetzt mal wieder der „Tag der deutschen Einheit“ ist, sei noch kurz angemerkt: Einen Streit, der es an Lächerlichkeit mit dem Disput ums millionenschwere Projekt einer „Einheitswippe“ in Berlin aufnehmen kann, müsste man erst noch erfinden. Man stelle sich vor: Die Wippe ist doch tatsächlich ins Wanken geraten…

Und überhaupt: Warum soll letztlich das ganze Land für ein irrsinniges Prestigeprojekt wie das Berliner Stadtschloss draufzahlen?

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Um vollends polemisch zu werden: Erst hat die BRD West-Berlin als eingemauerte „Frontstadt“ mit durchgezogen, jetzt alimentieren alle die protzende Hauptstadt, deren Bewohner gleichwohl geglaubt haben, einen lebenslangen Anspruch auf günstigere Mieten zu haben als der ganze Rest der Nation.

Während Frankreich auf Paris zentrierte Strukturen wenigstens hie und da abbaut, eröffnen im staatlichen Kielwasser Hinz und Kunz Berliner Zentralen oder wenigstens Niederlassungen. In der Frankfurter (!) Allgemeinen Sonntagszeitung lese ich mehr über Berlin als über den gesamten Rest der Republik. Habe ich denn einen wuchernden Berliner Lokalteil bestellt? Nein.

Mich würde es gelegentlich auch mal interesseren, wie es z. B. in Bremen, Dresden, Kiel, Leipzig, Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Rostock, Köln, Kassel oder Kaiserslautern zugeht. Von Hamburg und München ganz zu schweigen. Und vom Ruhrgebiet mal abgesehen, wenn’s nicht wieder die ewiggleichen Depressions-Arien der überregionalen Presse sind…

Aber nein. Statt dessen gibt’s stets die allerneuesten Trends aus Berlin-Mitte oder welchem Place-to-be-Hauptstadtteil auch immer. Und immerzu die ebenso atemlosen wie weitschweifigen Erwägungen, ob Berlin nun „arm aber sexy“ oder doch irgendwie Kiez-provinziell sei, ob und wie es als „einzige deutsche Weltstadt“ mit London, Paris und New York konkurrieren könne oder eben nicht. Wumpe!

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Ich war schon damals gegen die ungemein kostspielige Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Tatsächlich ist der Polit- und Medienbetrieb seither aufgeregter und großmäuliger geworden. Man durfte nichts anderes erwarten.

Apropos Medien. In Berlin selbst erscheinen ein paar Blättchen mit vergleichsweise lächerlich geringen Auflagen, die gleichwohl bundesweite Meinungsführerschaft beanspruchen: Tagesspiegel, Berliner Zeitung und taz sind hie und da lesenswert, jedoch im Grunde herzlich unbedeutend. Vom Fußball in der Kapitale wollen wir denn lieber gleich ganz schweigen. Der war fast immer zweit- bis drittrangig.

Als Trost für Hauptstadtbewohner bleibt einstweilen nur Frank Goosens aufs Ruhrgebiet gemünzter Sinnspruch: „Woanders is‘ auch scheiße…“




Empörung auf der Bühne, Verärgerung im Parkett: „Ariadne auf Naxos“ an der Rheinoper

Der Komponist (Maria Kataeva) sieht die Uraufführung seines neuen Werks in Gefahr (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Der Komponist (Maria Kataeva) sieht die Uraufführung seines neuen Werks in Gefahr (Foto: Hans Jörg Michel)

Selten so ein dämliches Gesicht gesehen. Schon gar nicht auf einer Opernbühne. Dabei hat „Ariadne auf Naxos“ doch gerade erst begonnen. In der Titelpartie verzehrt sich die Primadonna vor Kummer über den Verrat des Theseus, kehrt sich in bitterem Schmerz von der Welt ab – und Truffaldin, ein Komödiant aus der Gruppe der leichtlebigen Zerbinetta, glotzt dumpf verständnislos wie ein RTL II-Fan, der versehentlich 3sat eingeschaltet hat. Womöglich hielt er Ariadne bislang für eine Meerjungfrau. Und Theseus für ein Wörterbuch.

Mit derlei Unvereinbarkeiten spielt Dietrich Hilsdorf in seiner ersten Strauss-Inszenierung, die er jetzt an der Rheinoper in Düsseldorf realisiert hat. Es ist, als habe der Regisseur mit „Ariadne auf Naxos“ ein ideales Gefäß für seine reiche Theater-Erfahrung gefunden. Das unbequeme Zwitter-Werk, das seine eigene Entstehung zum Thema erhebt und wie ein Irrlicht zwischen Schauspiel, Buffa-Komödie und Opera Seria schwankt, bietet ihm eine perfekte Vorlage für eine Persiflage über das Theater am Theater.

Natürlich ist das schon oft versucht worden, aber zickende Primadonnen, eitle Tenöre, renitente Orchestermusiker und herrschsüchtige Intendanten sind als Stoff zumeist rasch erschöpft. Hilsdorf hingegen eröffnet ein viel weiter gefasstes Panorama. Genüsslich spießt er auf, was uns auch heute sattsam bekannt vorkommt: solvente Geldgeber mit geringem Kunstverstand, erstaunlich unversöhnliche Verfechter der ernsten und der unterhaltenden Muse, sowie ein Publikum, dem ein Feuerwerk und ein feines Dinner ungleich wichtiger sind als die Musik, ohne die es ein sehr netter Abend hätte werden können.

Um die aus wenigen Holzbrettern zusammen gezimmerte Stehgreifbühne herum, die auf die italienische Commedia dell’arte verweist, bringt die Regie die Figuren mit Lust zur Weißglut (Bühne: Dieter Richter). Bis auf den blasierten Haushofmeister, Sprachrohr des mächtigen Geldgebers, ärgern sich eigentlich alle über die Zumutungen, die sie beim Einstudieren der Oper ertragen müssen. Der Haushofmeister seinerseits scheucht das reale Publikum der Rheinoper mehrfach von den Sitzen hoch, um den Willen seines Herrn über ein mitten im Parkett platziertes Mikrophon zu verkünden. Da heben sich Augenbrauen, da gibt es genervte Blicke, da reagieren die realen Operngäste mit genau der mühsam unterdrückten Empörung, die auf der Bühne schon längst dominiert. Also wirklich. Muss denn das sein?

Der Harlekin (Dmitri Vargin) tröstet die Primadonna (Karine Babajanyan. Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Der Harlekin (Dmitri Vargin) tröstet die Primadonna (Karine Babajanyan. Foto: Hans Jörg Michel)

Es ist erstaunlich, mit welch leichter Hand Hilsdorf das dissoziative Gesamtkunstwerk der Ariadne plausibel macht. Mit Hilfe der Beleuchtung (Volker Weinhart) trennt er Vorspiel und Oper, um sie später kunstvoll ineinander zu weben. Der Charakter des unvollendeten Meisterwerks inspiriert ihn zu einem quirligen Spiel, dessen Details hier nicht alle verraten werden sollen.

Gesungen wird nämlich auch noch, und das exzellent. Karine Babajanyan ist eine wunderbare Primadonna, die uns Ariadnes Schmerzen ebenso tief und glutvoll fühlen lässt wie ihren Jubel über die Begegnung mit Bacchus. Elena Sancho Pereg zeigt nicht nur stimmliche Artistik: Als lebenslustige Zerbinetta schraubt sie sich mit soubrettenleichtem Sopran in den Koloraturhimmel, schlägt auf der Bühne Rad und rutscht nach ihrer Bravourarie flugs noch in den Spagat. Maria Kataeva bringt uns die Bedrängnis des Komponisten mit Ausbrüchen nahe, die vor Zorn beben, während ihrem Parlando zuweilen eine gewisse Spröde anhaftet. Heldisch helle Kraft verströmt der Tenor von Roberto Saccà, der die gefürchtete Partie des Bacchus mit Bravour meistert. Ariadnes Najaden, Zerbinettas Harlekine und viel Theaterpersonal wuseln in steter Geschäftigkeit um diese Hauptfiguren herum.

Einige akustische Probleme bereitet die Platzierung der Düsseldorfer Symphoniker, die hinter einem Gazevorhang im hinteren Teil der Bühne musizieren. Unter der Leitung von Axel Kober gewinnt das Kammerensemble nach und nach einen glänzenden, elegant-biegsamen Klang.

(Termine und Informationen: http://www.operamrhein.de/de_DE/events/detail/12278019/)




Die fast unbekannte Baugeschichte des alten Ostwall-Museums – ein Buch zur rechten Zeit

Eigentlich kaum zu begreifen: Die Baugeschichte des über Jahrzehnte wichtigsten Dortmunder Kunstortes war bis in die jüngste Zeit weitgehend unbekannt. Jetzt soll ein neues Buch endlich Klarheit schaffen, möglichst mit raschen Wirkungen über die hehre Wissenschaft hinaus. Denn in Dortmund wird immer noch um die Erhaltung des früheren Ostwall-Museums gerungen – neuerdings mit deutlich besseren Aussichten.

Nun aber der Reihe nach. Die eingehende Untersuchung der Dortmunder Architektur-Dozentin Sonja Hnilica trägt den nüchternen Titel „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Der Band ist in staunenswertem Tempo (ein knappes Jahr von der Idee bis zum fertigen Buch) vom Essener Klartext Verlag produziert worden und fördert Erkenntnisse zutage, die unbedingt gegen einen immer noch möglichen Abriss des Gebäudes sprechen. Klartext-Verleger Ludger Claßen gibt sich indes keinen allzu großen Illusionen hin: Früher habe man sich mit Büchern wirksamer in öffentliche Diskussionen einmischen können.

Museum Ostawall_18.8.2014.inddDie allermeisten Menschen halten das Haus am Ostwall für einen typischen, eher schmucklosen Nachkriegsbau. Doch es verhält sich anders: Hinter der gelblichen Klinkerfassade stehen noch wesentliche Teile des alten Mauerwerks aus den Ursprungsjahren. Von 1872 bis 1875 errichtet, beherbergte der vom Architekten Gustav Knoblauch entworfene Bau zunächst das Königliche Oberbergamt, 1911 wurde die Behörde zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum umgebaut. Unter Ägide des Stadtbaurats Friedrich Kullrich entstand dabei jener wundervolle Lichthof mit Glasdach, den es in ganz ähnlicher Form noch heute gibt; wie denn überhaupt der anfängliche Grundriss weitgehend erhalten geblieben ist.

Auch wenn es von außen nicht den Anschein hat: Das vormalige Ostwall-Museum darf im Kern als ältester Profanbau innerhalb des Dortmunder Wallrings gelten, nur die Kirchen sind früher entstanden.

Die heutige „Außenhaut“ des Gebäudes geht allerdings auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Als Dortmund in Trümmern lag, war es vor allem der Beharrlichkeit der Leiterin Leonie Reygers zu verdanken, dass ab 1947/49 am Ostwall erneut ein Museum entstehen konnte – nun allerdings als reines Kunstmuseum ohne kulturgeschichtliche Nebenlinien. Anfang 1949 gab es am Ostwall wieder die erste Kunstausstellung, bei laufendem Betrieb gingen die Umbauarbeiten bis 1957 Schritt für Schritt weiter.

Eventuell hätte man das Haus im alten Stil wieder aufrichten können, doch diese Option ist offenbar nie ernsthaft erwogen worden. Ganz bewusst hat Leonie Reygers die Zeichen auf Bescheidenheit gestellt. Es sollte kein womöglich einschüchternder, historisierender Imponierbau entstehen, sondern ein einladender, äußerlich schlichter Zweckbau, quasi im Geiste der noch ungefestigten Demokratie. Immerhin wurden solide Materialien verwendet.

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Mag sein, dass man eine derartige Entscheidung heute anders treffen und im Stile des 19. Jahrhunderts restaurieren würde. Tatsache bleibt, dass der Bau – gleichsam schichtweise – eine wechselvoll verwobene Geschichte mit Signaturen verschiedener Epochen darstellt. Im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Auffassung müsste man deshalb nachdrücklich für Denkmalschutz plädieren. Das mit Vorkriegs-Relikten wahrlich nicht reich gesegnete Dortmund würde sich bundesweit unsterblich blamieren, wenn hier die Abrissbagger kämen und an selbiger Stätte ein Seniorenzentrum entstünde.

Für ein solches Buch wird es also allerhöchste Zeit, bezieht es sich doch auf einen seit Jahren schwelenden Dortmunder Streitfall: Immer wieder hat der Dortmunder Stadtrat in den letzten Monaten eine endgültige Festlegung übers Ostwall-Museum vertagt. Die nächste Sitzung steht an diesem Donnerstag auf dem Plan.

Täuscht man sich, oder darf die Zögerlichkeit vor einem endgültigen Entscheid allmählich als Hoffnungszeichen gedeutet werden? Professor Wolfgang Sonne, an dessen Dortmunder TU-Lehrstuhl die vorliegende Studie entstanden ist, sagte zur Buchvorstellung mit aller Vorsicht, es werde wohl auch jetzt keine „Guillotinen-Entscheidung getroffen“. Nach derzeitigem Stand dürfe man sogar hoffen, dass das Gebäude „noch in diesem Jahr gerettet werden kann“.

Das einstige Kunst-Domizil steht seit dem Umzug der Bestände zum „Dortmunder U“ leer. Lichtblick: Ab 25. Oktober soll der Bau als Zentrum des Theaterfestivals „Favoriten 2014“ (Treffen der freien Szene NRW) dienen. Dennoch: Bislang droht immer noch ein Abriss, ein entsprechender Ratsbeschluss müsste mit neuer Mehrheit rückgängig gemacht werden, um am Ostwall den Weg für ein NRW-Baukunstarchiv mit Nachlässen einflussreicher Architekten frei zu machen. Hinter den Kulissen wird eifrig über Kosten und Konzepte verhandelt.

Sonja Hnilica: „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Klartext Verlag, Essen. 144 Seiten, Broschur, zahlreiche (z. T. farbige) Abbildungen, 19,95 Euro.