Könner für Kenner: Das Belcea-Quartet in der Essener Philharmonie

Das Belcea-Quartet gehörte bei seiner Gründung 1994 zu den hoffnungsvollsten Gruppierungen auf diesem heiß umkämpften Markt. Die Erwartungen haben sich bestätigt: Corina Belcea, Axel Schacher, Krzysztof Chorzelski und Antoine Lederlin gehören heute zur Elite der Kammermusik. Das Quartett spielte zahlreiche Uraufführungen, kann sich aber auch mit seinen Aufnahmen im Repertoirebereich – etwa mit Gesamtaufnahmen der Quartette Beethovens und Mozarts – mühelos der Konkurrenz stellen.

In der Essener Philharmonie waren die Könner des Belcea-Quartets mit Liebhabern der Kammermusik unter sich: Streichquartettabende ziehen keine Massen an. Seit das Bildungsbürgertum schwindet, kommen die nicht mehr, die früher vielleicht noch einen Prestigegewinn erhofften, wenn sie sich zum Kreis der Kenner gesellten. Oder die eine besonders tiefe musikalische Bildung demonstrieren wollten. Das soll kein Mäkeln am Publikum sein: Das geistvolle Gespräch unter vier Instrumentalisten muss man sich erschließen. Mühe gehört dazu, Ausdauer, Geschmacksbildung. Das ist meist eine Sache gereifter Menschen. Wobei mir das Publikum des Belcea-Quartets jünger schien als das hochglänzender Sinfoniekonzerte. Reife muss keine Sache des Alters sein.

Deswegen ist es schade, dass die vier Musiker mit Mozarts dritten „preußischen“ Quartett und Schuberts „Rosamunde“ in vertrauten Gewässern fischten. Auch Anton Weberns fünf Sätze für Streichquartett gehören inzwischen zur „älteren“ Musik. Weberns fragile Gebilde machen exemplarisch deutlich, was den Rang des 1994 gegründeten Quartetts ausmacht: unglaubliche Disziplin bei der Bildung der Klänge, vom gehauchten Flageolett in äußerstem Pianissimo bis hin zu dunkel getöntem, sanftem Aufschwung. Und eine wie selbstverständliche Kultur der Abstimmung.

Bruchstücke des Alten in der Moderne

Webern klingt wie ein Rückblick auf die Musik von Mozart, die in der Moderne nur noch bruchstückhaft zu beschwören ist. Dessen F-Dur-Quartett (KV 590) lebt aus der Spannung der Dynamik, aus geistvollem Spiel mit kompositorischen Möglichkeiten. Der weiche Ton im eröffnenden Allegro moderato widerspricht nicht dem dezidierten Aufbauen dynamischer Spannung schon in der Eröffnungsgeste. Das Cello spielt eine prominente Rolle im spielerisch wirkenden Hin und Her der Motive. Kein Wunder: König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, bei dem sich Mozart auf seiner Reise nach Berlin Gunst erhoffte, war ein begabter Cellist.

Sehr ruhig und langsam, mit Blick auf die vollstimmige Harmonie, eröffnet das Belcea-Quartet den Andante-Satz. Dabei bleibt die Tongebung leicht und schwebend, werden Linien nicht dramatisch verdichtet. Aber an dem provozierenden Akzent der Violine kurz vor dem Ende, auf den die anderen ebenso unwirsch antworten, merkt man, dass die Musiker um Primgeigerin Corina Belcea den dramatischen Aufbau des Satzes nicht aus den Augen verloren haben.

Das Allegretto des dritten Satzes erklingt lebhaft, aber gepflegt; auch der vierte Satz mit seiner diskreten Beweglichkeit hat etwas von britischem Understatement, zeigt aber, dass die Vier eher mit Blick auf das reizvolle Jonglieren mit kompositorischen Möglichkeiten musizieren als mit der von der früheren Kritik forcierten Einfühlung in mögliche persönliche Befindlichkeiten Mozarts.

Schuberts berühmtes a-Moll-Quartett dagegen hätte mehr Energie jenseits des herrlich diskreten Vortrags vertragen. Der eröffnende Satz könnte – auch als Kontrast zu Mozart – mehr melodischen Schwung entfalten; erst im letzten Satz gehen die vier Musiker, vielleicht angeregt durch die „ungarische“ Motivik, mehr aus sich heraus. Worin sich das Quartett treu bleibt, ist der sagenhaft souveräne Blick auf die inneren Strukturen der Komposition. Ein Wesenzug, der den Interpretationen eine dramatische und intellektuelle Tiefe gibt – und der wohl auch der eingehenden Beschäftigung mit moderner und zeitgenössischer Musik zu verdanken ist.

Quartettabende sind nicht häufig, daher noch einige Hinweise:

Im Konzerthaus Dortmund sind am 14. März mit dem Matosinhos String Quartet und Quatour Ardeo zwei junge Formationen zu erleben. Das Matosinhos Quartet ist am 8. März bereits in der Philharmonie Köln zu Gast. Wer zeitgenössische Musik mag, wird am 18. März im Museum Ludwig fündig: Dort spielt das JACK Quartet Musik von Matthias Pintscher. In Essen tritt das Mannheimer Streichquartett am 31. Mai traditionsgemäß auf Zollverein auf.




Er war Spock – und er war nicht Spock: Zum Tod des vielseitigen Leonard Nimoy

Leonard Nimoy ist mit 83 Jahren gestorben. Er war der eigentlich unsterbliche Mr. Spock mit den spitzen Ohren, der unverkennbaren Grußhand. Sein wortloser Griff an des Gegners Schulter konnte diesen in Sekunden lahm legen.

Ich ringe noch mit mir, ob ich nun im Gleichklang mit Sheldon Cooper („The Big Bang Theory“) trauern soll oder distanziert, wie es sich gehört. Aber Leonard Nimoy war ein großer Held meiner jungen Jahre. Sein markanter Kopf, sein schneidender Verstand, sein beinahe anerkennendes „Faszinierend“, wenn er als Spock etwas als überraschend empfand, das werde ich vermissen. Niemand konnte den Vulkanier so distinguiert geben, niemand wirkte so überzeugend überlegen, niemand konnte sanfter seiner unterbelichteten, allzu menschlichen Umgebung herablassend begegnen, als er dies tat.

Leonard Nimoys Eltern sprachen noch jiddisch, er trug seinen Geburtsnamen mit Stolz auch als multipler Künstler weiter durchs lange Hollywood-Leben. Seine Wurzeln hatte er in der Ukraine, zum hoffnungsvollen Kinderstar brachte er es schon in seiner Geburtstadt Boston. Er war Musiker, Sänger, Poet, Schriftsteller, Fotograf, produzierte Filme, führte Regie. Er war weit mehr als nur der unvermeidliche Star-Trekker Mr. Spock. Er taufte sein erstes Buch „I Am Not Spock“ (1977) und gestand im zweiten „I Am Spock“ (1995).

Bezeichnender Buchtitel von Leonard Nimoy

Bezeichnender Buchtitel von Leonard Nimoy

Leonard Nimoy spielte listig mit der Trekkie-Popularität, leistete sich eine Gastrolle in „The Big Bang Theory“, wo er Sheldon Cooper (gespielt von Jim Parsons) im Traum erschien. Er kannte seine vielen Talente, blieb stets auf dem Teppich, auch als er in „Kobra, übernehmen Sie“ die Anschlussverwendung nach der TV-Serie von „Star Trek“ fand. Sein Vorgänger Martin Landau war zu gierig bei den Gagenforderungen geworden, also nahmen die Produzenten den bescheideneren Leonard Nimoy. Wieder hatte er die Nase vorn, Landau sollte damals den Spock spielen, lehnte aber vorwitzig ab.

Er lieh seine ungebrochene Popularität gemeinsam mit William Shatner (Captain James Tiberius Kirk) erst kürzlich den Werbespots von VW – und fand die Autos natürlich „faszinierend“. Ob in „Fringe“, „A Woman Called Golda“, „Dragnet“ (Stahlnetz), „Outer Limits“ und immer wieder „Star Trek“ oder „Enterprise“, sein Charakterkopf füllte Leinwand oder TV. Leonard Nimoy war ein ruhiger und mit seinem spezifischen Erfolg zufriedener Mensch. „Lebe lange und in Frieden“ pflegte er ernster Miene mit sonorer Stimme zu sagen, hob dabei die Hand und spreizte je zwei Finger nach links und rechts ab. Seine chronische Lungenkrankheit, Folge jahrzehntelangen Kettenrauchens, setzte seinem Leben nun die Grenze. Aber er hat 83 Jahre lang zufrieden gelebt.




Vertane Chance: Das „Ruhrepos“ von Kurt Weill und Bert Brecht

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Wenn ab heute (27. Februar) das Kurt Weill Fest in Dessau sich erneut dem Schaffen eines der wichtigen Komponisten der Moderne der zwanziger Jahre widmet, darf auch ein Seitenblick auf das Ruhrgebiet erlaubt sein. Für das Industrierevier wäre nämlich um ein Haar ein Werk entstanden, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung ähnlich entscheidend wie die der 1928 uraufgeführten „Dreigroschenoper“ hätte werden können.

Die Rede ist von der Idee eines „Ruhrepos“, das mit einem Text von Bert Brecht, Musik von Kurt Weill und Film- und Fotoaufnahmen von Carl Koch als avantgardistisches Theaterprojekt geplant war. Es sollte ein zeitgeschichtliches Dokument werden, das alle Ausdrucksmittel zu einer Einheit zusammenführt; ein Werk „episch-dokumentarischen Charakters“, gedacht für ein Publikum aus allen Schichten der Bevölkerung.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Dass der hochfliegende Plan scheiterte, ist aus der Rückschau ein herber Verlust. Dabei stimmte der Beginn durchaus zuversichtlich. Die Idee zu der „Ruhrrevue“ hatte nach eigenem Bekunden der Dirigent Rudolf Schulz-Dornburg. Der 1891 in Würzburg geborene Sohn eines Sängers wurde 1927 an die Städtischen Bühnen Essen verpflichtet. Der damalige Essener Oberbürgermeister Franz Bracht (1877-1933) verband mit dem neuen Generalmusikdirektor die Hoffnung auf ein aktiveres Theaterleben. Uraufführungen sollten das Niveau der Essener Opernbühne heben.

Der Zentrumspolitiker wurde 1924 OB und legte 1932 sein Amt niederlegte, um in Berlin als Reichsminister ohne Geschäftsbereich der Regierung Franz von Papens anzugehören. Überzeugt, dass wirtschaftlicher und kultureller Erfolg notwendig zusammengehören, wollte er in der Kulturpolitik Initiativen ergreifen. Schulz-Dornburg (1891-1949) war dafür der richtige Mann: Er galt als Pionier der modernen Musik und hatte in seiner Zeit als Leiter des Städtischen Orchesters Bochum 1919-1926 auch schon die Idee, mittelalterliche und zeitgenössische Musik in einem bzw. mehreren Konzerten miteinander zu konfrontieren.

„Etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes“

Schulz-Dornburg, Gründer der Folkwang-Schule für Musik, Tanz und Sprechen, trat bereits im Frühjahr 1927 an Kurt Weill mit der Bitte heran, in direktem Auftrag der Stadt „eine große revue-artige Arbeit zu schaffen“. Bereits im Mai 1927 war Bert Brecht mit im Boot und die Idee weit gediehen: Schulz-Dornburg berichtete an den Oberbürgermeister, er habe den Eindruck, die Industrieoper (kann) „etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes werden, das den Absichten der Stadt in künstlerischer Beziehung besonders deutlich schon im ersten Jahr erkennen lässt“.

Die Dinge entwickelten sich rasch: In den ersten Junitagen 1927 reisten Kurt Weill, Bert Brecht und der Filmregisseur Carl Koch (1892-1963) nach Essen, um Konzept und Details der „Ruhroper“ mit dem Beigeordneten Dr. Hüttner als Vertreter des Magistrats zu besprechen. Ein Vertragsentwurf spricht von der Herstellung eines musikalischen Bühnenwerks (Ruhrepos), das Musik von Kurt Weill, Dichtung von Bert Brecht und Film- und Lichtbildkompositionen von Carl Koch enthält. Die Stadt Essen sichert sich das Vorrecht der Aufführung im Rheinland und in Westfalen. Die Uraufführung solle bis spätestens 1. April 1928 unter Leitung von Schulz-Dornburg erfolgen. Acht weitere Aufführungen seien zu spielen.

Schon Mitte Juni lieferte Koch einen Kostenvoranschlag für den Film- und Lichtbildteil: 200 Meter Trickfilm, 1000 Meter bereits bestehende Filmszenen, 2000 Meter neue Aufnahmen wie Landschaften, Details aus dem Ruhrgebiet und Atelieraufnahmen von Schauspielern. Dazu plante Koch 50 Lichtbilder. 43.000 Mark sollte das gesamte visuelle Material kosten.

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Zu gleicher Zeit legten Weill, Brecht und Koch dem Essener Verhandlungspartner Dr. Hüttner ein Exposé vor, das detailliert auf künstlerische Mittel eingeht. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Gesamtprojekts.

Es ging also nicht um ein Werk über regionale Eigenheiten, sondern um nichts weniger als eine universale Darstellung und Dokumentation der modernen Zeit, für die Brecht als Ruhrgebiet als exemplarisch ansah. Er vergleicht sie mit dem „Orbis Pictus“ des 17. Jahrhunderts, der die ganze Lebenswelt einer Epoche ins Bild zu fassen versuchte.

Brecht spricht auch vom „episch-dokumentarischen Charakter“ des Werks: Ein Zeugnis seiner frühen Beschäftigung mit dem epischen Theater, das um 1936 zu seinem grundlegenden Essay zu diesem Thema führte. Die Grundstrukturen dieser modernen Theaterform sind im „Ruhrepos“ schon zu beobachten: Das Überwinden der „Schau-Spieler“ und der Fixierung auf die handelnden Personen, das Erzählen durch die Bühne selbst, die Distanz zwischen den Vorgängen auf der Bühne und ihrem Hintergrund.

Dazu planten Brecht und Weill, die wechselnde Bilderfolge der modernen Revue einzusetzen, wenn auch „zu einem ganz anderen Zweck“ als im Unterhaltungsgenre. Die Ausdrucksmittel sollten von rein symphonischen Musiksätzen über Chorpartien, Arien und Ensembles bis hin zu Sprechchören reichen, denen Brecht die Aufgabe zuwies, die (Bild-)Szenen zu erläutern und die durchgehende Handlung zu gestalten. Die „verschiedenen Abteilungen“ des Epos sollten von Szenen aus der „allerletzten Geschichte des Ruhrgebiets“ über eine „Eroika der Arbeit“ und „einfachen Liedern an einem Kran“ bis hin zu „einer Reihe primitiver lustiger Auftritte“ reichen. In den „Kranliedern“ Brechts von 1927 finden sich die einzigen identifizierbaren Spuren des „Ruhrepos“; ihr Titel deutet darauf hin, dass sie für das geplante Essener Projekt entstanden sein könnten.

Neue Einheit der Ausdrucksmittel

Auch Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließt „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ hatte Weill vorgesehen. Im melodischen Material plante Weill auch, ein Bergmannslied oder das „Flötenspiel eines Lumpensammlers“ zu verwenden. Das am besten mit einem szenischen Oratorium vergleichbare Stück sollte, so Weill, ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Die Rolle des Bühnenbildes war ersetzt durch die Filme und Lichtbilder Carl Kochs. Er wollte im Ruhrepos den schon lange erwogenen Plan umsetzen, „Szenenbilder durch Lichtbildwurf“ zu ersetzen. Entscheidend war für Koch, dass die Fotografie durch die „nackte Wiedergabe der Wirklichkeit den Wert echter Dokumentation“ habe.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Ende Juli 1927 schien der endgültige Vertragsabschluss nur noch eine Formsache zu sein – ein Eindruck, den offenbar Schulz-Dornburg auch bei Besuchen in Berlin erweckte. Auch die finanziellen Probleme mit der Höhe der Film- und Fotokosten schienen bewältigt: Koch ging von den ursprünglichen 43.000 Mark auf 12.000 Mark zurück – zuzüglich 4.500 Mark, wie sie die beiden Autoren Weill und Brecht ebenfalls erhalten sollten. Offenbar hatten Brecht und Koch bereits mit der Arbeit begonnen, als es Ende Juli zu einer unerwarteten Wendung kam.

Am 29. Juli schrieb Dr. Hüttner, es sei fraglich, ob der Auftrag bereits für die kommende Spielzeit erteilt werden könne. Die Absicht, eine „Ruhrrevue“ durch die Herren Brecht und Weill schreiben und komponieren zu lassen, sei leider durch Indiskretion in die Öffentlichkeit gedrungen und schon in der Berliner Presse mitgeteilt worden. „Das Echo, das diese Nachrichten gefunden haben, ist sehr unerfreulich und hat sofort lebhaften Widerspruch nicht nur in der Presse sondern auch in der Bürgerschaft wachgerufen. Es erscheint daher mehr als fraglich, ob es geraten ist, die erste Spielzeit mit einem Wagnis, dessen Ausgang doch recht ungewiss ist, zu belasten, und damit das Gelingen der ganzen mit der Neuorganisation des Theaters verfolgten Pläne ernstlich zu gefährden. Infolgedessen wird man daran denken müssen, die Revue vorläufig noch zurückzustellen. Dies ist auch die Ansicht des Herrn Oberbürgermeisters“, heißt es in dem Schreiben.

Aggressiver Antisemitismus

Es wäre anhand von zeitgenössischen Quellen noch zu prüfen, wie heftig die kommunalpolitische Aufregung um Schulz-Dornburgs ehrgeizige Opernpläne gewesen ist. Immerhin ist in der Essener Stadtbibliothek ein anonymes Flugblatt vom Sommer 1927 archiviert, in dem es heißt, durch die geplante Theaterreform sei „die Kunst Essens in Gefahr, völlig zu verjuden“. Auch auf das Weill/Brecht-Projekt wird Bezug genommen: „Als Zugstück für die Bühnen ist ein Schlager ausgedacht – eine Ruhrrevue – großer Theaterspektakel mit Ausstattung, Gesang und Tanz – genannt ‚Die große Ruhrrevue‘. Von wem der Gedanke ausgeht, erscheint unklar. Zur Ausführung sind aber von den Hintermännern des Planes die zwei Juden Brecht und Weil vorgeschoben, welche schon fest von der Stadt engagiert sind. (…) Diese zwei Juden sollen jetzt die ‚große Kunst‘ von Berlin nach Essen bringen“.

Wohl angesichts solcher Anfeindungen schreckte die Stadtverwaltung vor dem Projekt zurück. Auch Schulz-Dornburg sah offenbar seine Reformen in Gefahr und schrieb im Mai 1928, das „Ruhrepos“ wäre im Falle einer Aufführung aufgrund der negativen Einstellung in der Bürgerschaft „von der gesamten presse des ruhrgebiets vernichtet worden“. Entlarvend sind an dem Flugblatt nicht allein der aggressive Antisemitismus, sondern auch die Ressentiments gegen die Berliner Kultur und das trotzige Beharren auf dem eigenen Kulturbegriff: Die „Provinz“ habe es nicht nötig, sich aus der Metropole in künstlerischen Dingen belehren zu lassen. Das Blatt werte die eigene Rückständigkeit als Beleg eines hohen kulturellen Niveaus, analysiert Matthias Uecker in einer Arbeit über die Kulturpolitik im Ruhrgebiet der zwanziger Jahre.

Solche Kritik hat also offenbar als Vorwand gedient, das unbequeme und riskante Projekt zu beenden. Neue Vorstöße von Brecht und Weill im Januar und März 1928 jedenfalls blieben – trotz gegenteiliger Versicherungen von Schulz-Dornburg – ohne positives Ergebnis. Hüttner schrieb kategorisch, dass ein „Auftrag zur Herstellung des von Ihnen geplanten Ruhr-Epos vorerst nicht erteilt werden könne“. Das ehrgeizige Projekt, das ein Meilenstein des deutschen Theaters hätte werden können, war am provinziellen Horizont der Akteure in der städtischen Kultur gescheitert.

Die Vorgänge um das Ruhrepos sind in einem Aufsatz von Eckhardt Köhn im Brecht-Jahrbuch 1977 nachzulesen. Sein Titel: „Das Ruhrepos. Dokumentation eines gescheiterten Projekts“. Verlag Suhrkamp, Frankfurt 1977, S: 52-77.

Das Kurt-Weill-Festival eröffnet am 27.Februar die Reihe seiner 57 Veranstaltungen mit einem Konzert des MDR-Sinfonieorchesters im Anhaltischen Theater Dessau. Unter Kristjan Järvi bringt es ein Neuarrangement des Musicals „Johnny Johnson“ unter dem Titel „Braver Soldat Johnny. Die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Mannes“.

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Weills Interesse an einer neuen Zuordnung von Sprache und Musik, wie sie auch im Konzept zum „Ruhrepos“ deutlich wird, führte zur Thematik des diesjährigen Weill-Festes: Unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ beleuchtet es diese Entwicklungen – und würdigt gleichzeitig den in Dessau geborenen Dichter Wilhelm Müller, heute noch bekannt als Verfasser der Vorlagen-Gedichte für Franz Schuberts Liedzyklen „Die Schöne Müllerin“ und „Winterreise“.

Artist-in-Residence Cornelia Froboess befasst sich in mehreren Veranstaltungen mit dem Thema Sprache und Musik, ebenso Katharina Ruckgaber und das Gürzenich-Quartett, der Bariton Wolfgang Holzmair, Ute Lemper oder Anna Haentjens. Das Anhaltische Staatstheater Dessau steuert einen Ballettabend nach John Miltons „Paradise Lost“ bei, u. a. mit Musik von Kurt Weill. Zum Abschluss am 15. März spielt die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ernst Theis Kurt Weills „Royal Palace“ und Werke von Richard Strauss.

Karten und Information: www.kurt-weill-fest.de




Künstler auf der Suche – Hagener Museum zeigt frühe Bilder von Emil Schumacher

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Der junge Emil Schumacher im Jahr 1950 (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Als Emil Schumacher begann, ein berühmter Maler zu werden, war er immerhin schon 33 Jahre alt. Der Moment ist klar bestimmbar. Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, kündigte Schumacher seinen Job als technischer Zeichner in einer Hagener Batteriefabrik und wurde freier Künstler.

Dieser mutige Schritt – wie auch das Ende des Zweiten Weltkriegs – liegt jetzt fast 70 Jahre zurück und ist Anaß für eine Sonderausstellung im Hagener Schumacher-Museum, die dem Frühwerk gewidmet ist, Titel: „1945 – Wiedersehen in den Trümmern“.

Wenn ein Familienvater in schwerster Zeit eine solche Lebensentscheidung trifft, dann ist Druck da, Getriebenheit, Radikalität. Mit gleicher Radikalität hatte der 21-jährige Emil Schumacher 1933 sein Studium an der Dortmunder Kunstgewerbeschule abgebrochen, weil er sich nicht der Nazi-Ideologie unterwerfen wollte. Nun aber gab es so etwas wie eine zweite Chance, wenngleich ein Studium wohl nicht mehr in Frage kam.

Sodom (1961)

Entgrenzt: Schumacher-Bild Sodom (1957) im Format 132 x 170 cm (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

In den Jahren 1945 bis 1951, deren Schaffen die Hagener Ausstellung dokumentiert, erlebt man einen Künstler, der zum einen fraglos noch auf der Suche nach dem richtigen Weg ist, der andererseits bereits auffällt durch die tiefe Durchdringung von Themen und Sujets zum einen und großer handwerklicher Meisterschaft zum anderen. Wenn dieser Suchende Anfang der 50er Jahre scheinbar so plötzlich seinen unverwechselbaren „informellen“ Stil gefunden hat, ist das zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht verwunderlich. Viel Typisches war früh im Keim schon angelegt.

Schlüsselwerk für ein besseres Schumacher-Verständnis ist fraglos „Die brennende Stadt“ von 1946, eine Serie von schwarz gedruckten Holzschnitten, die der Künstler auf mehreren Blättern mit unterschiedlichen Farbigkeiten belegte.

Es sind Bilder des Grauens, Feuer, Rauch, Verwüstung und Verzweiflung, und die Farben machen es noch schlimmer. Es sind Schmerzensschreie wie Picassos „Guernica“ von 1937 – und sie markieren gleichzeitig Schumachers Abwendung vom Figurativen, hin zur grundlegenden elementaren Empfindung. In der Ausstellung wie im Katalog hat Kurator Rouven Lotz die Reihe der kolorierten Holzschnitte dankenswerterweise in räumliche Nähe zu dem Kolossalgemälde „Sodom“ von 1957 gerückt, stattliche 132 x 170 cm groß, das in Flächenentgrenzung, Farbe und Stimmung und unter Weglassung gegenständlicher Elemente doch dem „Bombenangriff“-Zyklus ganz nahe ist.

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Die Hütte in Hagen-Haspe – als es sie in den späten 40er Jahren noch gab (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Der „suchende“ Schumacher malte, zeichnete, druckte mit Holz und Linoleum, arbeitete mit gefundenen Materialien wie groben Geweben oder ausgestanzten Blechen. Immer wieder scheint das karge Leben der Nachkriegsjahre in seinen Arbeiten auf. Eine Zeichnung zweier alter Männer, die sich unterhalten, ist mit „1000 Kilokalorien“ unterschrieben; das war das Diskussionsthema jener Zeit, ganze 1000 Kalorien gab es pro Kopf.

Vier Bilder eines alten Mannes hängen an der Wand. Alte Männer prägten das Bild, der männliche Teil der Nachkriegsbevölkerung beschränkte sich weitgehend auf Greise und Kinder, die anderen waren großenteils im Krieg geblieben. Nutzlose Greise verkörperten gleichsam die trostlose Lage. Der eine Greis, den Schumacher immer wieder abbildete, war bei seiner Familie zwangseinquartiert worden und in diesem Sinn ein „dankbares Objekt“ für den jungen Maler. Wiederum beeindruckt bei diesen Blättern die souveräne Technik, die Sicherheit des Ausdrucks, gleichgültig, ob sie mit Farbstift, Tusche oder als Aquarell ausgeführt wurden.

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Da war der Künstler erkennbar noch auf der Suche nach seiner malerischen Position. Papierfabrik Kabel, 1949 gemalt. (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Ja, diese 40er- und 50er-Jahre waren eine schlimme Zeit, obwohl das elterliche Haus in Hagen nicht Opfer von Bombardierungen geworden war und der junge Emil in seinem Dachzimmer malen, zeichnen und drucken konnte. Trotzdem lugt bei vielen Arbeiten auch Humor hervor, Lebenshunger und ein leise triumphierendes „Hurra, wir leben noch“. Die Kirmes zum Beispiel ist auf einem Linolschnitt von 1948 schwarz vor Menschen, und die Finger, die sich auf einem farbigen Linolschnitt über einem Kanonenofen wärmen, tun dies in recht neckischer Pose. Mit betonter Leichtigkeit und frecher Kombination von bunten Flächen und gegenständlichen Formen können etliche Bilder ihre Herkunft aus der frühen Nierentischzeit nicht verleugnen, aber warum sollten sie auch?

Man sieht, daß er ein brillanter Portraitist war, dessen Zeichnungen einem Kirchner oder Zille zur Ehre gereicht hätten; zum anderen zeigt sich ganz früh schon, insbesondere bei den harten Drucken, der souveräne Flächenkompositeur, als der der Hagener bald schon berühmt wurde.

In den Fünfzigern ging es steil bergauf mit Emil Schumachers Ruhm, waren seine Bilder unter anderem auf Biennalen in Venedig und Sao Paulo sowie auf der Documenta in Kassel zu sehen. Die vorzügliche kleine Hagener Schau mit ihren rund 60 Arbeiten – Eigenbestand und Leihgaben – macht höchst informativ, abwechslungsreich und manchmal auch vergnüglich klar, wie und wo dieses unverwechselbare Oeuvre seinen Anfang nahm.

„Emil Schumacher – 1945 – Wiedersehen in den Trümmern“, Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1. 22. Februar bis 7. Juni 2015. Geöffnet Dienstag bis Sonntag: 11 – 18 Uhr. Katalog mit Vorwort von Ulrich Schumacher und einem Beitrag von Rouven Lotz, 84 Seiten, 19,90 €. Eintritt 9 €. Tel.: 02331/207-3138. www.esmh.de




Nibelungen nach französischer Art: Ernest Reyers „Sigurd“ in Erfurt ans Licht geholt

Atmosphärisch dichte Bilder schafft Maurizio Balò für Ernest Reyers "Sigurd" am Theater Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Atmosphärisch dichte Bilder schafft Maurizio Balò für Ernest Reyers „Sigurd“ am Theater Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Erstaunlich, was es nach Jahrzehnten ausgedehnter opernarchäologischer Feldforschung noch zu entdecken gibt. Und erstaunlich, was an einem mittelgroßen deutschen Opernhaus möglich ist, wenn der richtige Intendant kreatives Potenzial entfaltet: Unter Guy Montavon ist Erfurt zu einer ersten Adresse für Uraufführungen und für Ausgrabungen vergessener, vernachlässigter und verkannter Werke geworden.

Die laufende Spielzeit – anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren – steht unter dem Motto „Geliebter Feind“: Sie brachte mit der Uraufführung von „Das schwarze Blut“ des Franzosen François Fayt einen mit dem Krieg verbundenen Stoff auf die Bühne, und sie thematisiert mit Ernest Reyers „Sigurd“ jetzt das über Jahrhunderte hin belastete Verhältnis zwischen der französischen Nation und den Deutschen.

Ernest Reyer (1823-1909) ist einer der Musikmenschen aus der zweiten Reihe, die zu ihrer Zeit erheblichen Einfluss hatten, später aber aus vielerlei Gründen vergessen wurden. Als Journalist und Kritiker – unter anderem für das einflussreiche „Journal des débats“ –, als Förderer von Hector Berlioz und Bewunderer Richard Wagners, als Freund deutscher Kultur und Literatur, war Reyer bedeutungsvoll; als Komponist einiger Opern wirkte er kaum über den französischen Sprachraum hinaus.

Ernest Reyer auf einer historischen Abbildung, um 1890.

Ernest Reyer auf einer historischen Abbildung, um 1890.

„Sigurd“ ist neben „Salammbȏ“ die erfolgreichste seiner Opern – ein Schmerzenskind, dessen Geburt mehr als zwanzig Jahre dauern sollte: Spätestens 1866 arbeitete Reyer daran, das Libretto von Alfred Blau und Camille du Locle zu vertonen, doch die erste Aufführung fand erst 1884 in Brüssel statt.

Die Pläne Reyers, das Werk in Paris uraufzuführen, scheiterten am Wechsel der Direktoren der Opéra und an der politischen Lage: Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 war eine Oper auf einen als deutsch empfundenen Stoff nicht mehr opportun. Doch nach dem Erfolg in Brüssel griff Paris zu: Ein Jahr später erlebte Reyer den Triumph seines Werkes, das bis zum Zweiten Weltkrieg im Repertoire der Opéra blieb.

In Deutschland war – wohl ebenfalls aus politischen Gründen – Reyers „Sigurd“ nie zu sehen: Nach Wagners „Ring des Nibelungen“ verschwand etwa auch Heinrich Dorns „Die Nibelungen“ vom Spielplan. Die Annahme liegt nahe, dass eine französische Oper auf den Stoff der „Götterdämmerung“ in einem von Wagnerianern geprägten Klima nur schwer vorstellbar gewesen wäre. Erfurt holt also längst Fälliges nach und erschließt eine Oper, die mehr als nur Ausgrabungs-Interesse für sich beanspruchen kann.

Das Libretto stützt sich – wie Wagner – auf das Nibelungenlied, aber auch auf die Edda und die Välsungasaga. Auch die Spuren von „Tristan und Isolde“, die Reyer 1863 bei einem Besuch in Deutschland kennengelernt hatte, schlagen sich nieder. Am Wormser Hof Gunthers lehnt dessen Schwester Hilda – ihr Vorbild ist Kriemhild – die Hand Attilas ab. Sie liebt den fernen Helden Sigurd, der sie einst befreit hatte. Sigurd will jedoch Brunehild gewinnen: Die Walküre wurde aus dem Himmel verbannt, weil sie für einen Sterblichen auf der Erde gekämpft hat, in dem unschwer Sigurd zu erkennen ist.

Ein Zaubertrank der Amme Hildas, Uta, lenkt das Streben Sigurds um: Er verbündet sich mit Gunther und verspricht, was nur er als reiner Held vollbringen kann: Brunehild aus einem feuerumlohten Palast zu holen und Gunther als Gattin zuzuführen. Dazu schlüpft er in Gunthers Rüstung – Zauberdinge wie Tarnhelm und Ring kommen bei Reyer nicht vor. Zurück am Hof, täuscht Sigurd die misstrauische Brunehild und fordert als Lohn für seinen Dienst die Hand der überglücklichen Hilda.

Nach der Doppelhochzeit kommt es, wie es kommen muss: Hilda petzt und zeigt stolz Brunehilds Keuschheitsgürtel, den sie von Sigurd geschenkt erhielt. Die einstige Walküre erfährt die Wahrheit, das von Uta erahnte Unglück nimmt seinen Lauf …

Die Inszenierung verschränkt Mythos und Geschichte

Guy Montavon vollbringt in Erfurt das Kunststück, die Handlung in wunderschön üppigen Bildern zu erzählen, die heillos kitschig wären, hätte er sie nicht durch den Bezugsrahmen gebrochen. Sein Thema ist das Wirken des Mythos in der Geschichte: Er greift auf, wie der Nibelungenstoff in der Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts Kultur und Politik beeinflusst hat. Begriffe wie „Nibelungentreue“ oder Verse wie „Die Wacht am Rhein“ sind nur die Schaumkronen auf den Wogen eines geistesgeschichtlichen Stroms, dessen Verzweigungen im Denken der Zeit vielfach nachspürbar sind.

Das erste der wirkmächtigen und atmosphärisch großartigen Bilder der Bühne von Maurizio Baló ist ein Nachkriegsszenario: die Ruinen des zerstörten Worms recken sich in einen trüben Himmel, Frauen klopfen Steine sauber, Kriegsversehrte kauern in tristen Trümmern. Hilda liegt verängstigt in einem schiefen Bett am Bühnenrand, umsorgt von Krankenschwester Uta. Ein Albtraum ängstigt sie immer wieder. Ihre Rettung ist ebenfalls eine erträumte: Sigurd, der Held, wird aus ihrer Fantasie geboren, eine idealisierte Gestalt aus einem retrospektiv ersonnenen Roman-Mittelalter. Die Regie macht die Kopfgeburt deutlich: Der „Held“ bewegt sich parallel zu der kranken Hilda. Der Barde, der von seinen Taten singt (mit robustem Ton: Máté Sólyom-Nagy), ist ein blutiger Verletzter.

Wirkungsvolle Bilder erinnern an Illustrationen des Historismus

Diese Linie zieht Montavon durch: Hilda leidet, hofft und echauffiert sich mit der Handlung auf der Bühne, auf der ein nostalgisch kostümiertes Mittelalter das Bild prägt – wie abgeschaut von Illustrationen der Sagenbücher des 19. Jahrhunderts. Das Island, aus dem Sigurd Brunehild holt, ist Theaterspiel: Ein aufgezogenes Tuch zeigt schroffe Eisgebirge, der düster orgelnde Odinspriester (Juri Batukov) trägt das Kostüm imaginierter Germanen-Vorzeit. Die goldenen Flügelhelme in den Händen des Chors sind mehr als Requisiten – es sind Verweise auf „illustrierte“ Geschichte in der Kunst des Historismus.

Auch Hagen (Vazgen Ghazaryan) erinnert an Fürstenporträts, wie wir sie etwa bei Moritz von Schwind finden. Ein bildnerischer Coup ist das Auftauchen Brunehilds in einem wikingerzeitlichen Bestattungsschiff – ihr Gewand ist ein Traum aus Gold, der Stil in einer Art, wie sich wackere Wagnerianer ihre werkgetreue „Walküre“ vorstellen (Kostüme: Frauke Langer). Im Hintergrund mahnt jedoch ein Rheinschiff in kaltem, grauem Stahl an die bedrückende Wirkung des Mythos Jahrhunderte nach seiner geschichtlichen Zeit.

Gefallene Walküre: Ilia Papandreou als Brunehild. Foto: Lutz Edelhoff

Gefallene Walküre: Ilia Papandreou als Brunehild. Foto: Lutz Edelhoff

Das Ende dekonstruiert den Mythos: Sigurd singt seinen Schlussgesang im verschlissenen Mantel eines Weltkriegssoldaten, Hilda beschwört ein apokalyptisches Szenario. Sie ersticht sich mit dem Schwert Sigurds in ihrem Bett, während Sigurds und Brunehild aus einer Flamme in ein visionäres Jenseits enthoben werden: ein „Liebestod“, in dem Reyers Kenntnis von „Tristan und Isolde“ nachklingt. Ungerührt packt Uta die Bettwäsche zur Desinfektion in einen Plastiksack. Der Traum endet mit Tod und Vernichtung: Attila triumphiert über Gunthers Reich, aus dem Boden fährt der riesige bronzene Kopf eines Kriegerdenkmals – mit dem Heldenpaar auf dem Helm.

Die musikalische Seite der Wiederentdeckung ist bei der neuen Generalmusikdirektorin Erfurts, Joana Mallwitz, in besten Händen. Auch wenn sich Reyer in der Ouvertüre mit einem vierstimmigen Fugato gelehrsam zeigen will: Als musikalischer Wagner-Epigone erweist er sich nicht. Da mögen die Hornrufe bei Gunthers Jagd für einen Moment auf den gleichen Moment in der „Götterdämmerung“ verweisen, da mag Brunehilds Erweckung („Salut, splendeur du jour“) an „Heil Dir, Sonne, Heil Dir, Licht …“ erinnern – musikalischen Reminiszenzen sind nicht eindeutig zu identifizieren.

Reyers glühender Lyrismus hat eher etwas mit Charles Gounod zu tun; seine prunkenden Tableaus könnten von Camille Saint-Saëns inspiriert sein; die fahlen Holzbläser, die Hagen begleiten, erinnern an Hector Berlioz. Die Brücken zu Giacomo Meyerbeers musikalischer Architektur sind fragil: Reyer hat, aus dem Gehörten zu schließen, nicht die Spannkraft für die beziehungsreichen Bögen, die sein älterer Kollege schlägt.

Farbige Instrumentierung, erhabenes Pathos

Aber Mallwitz und das Erfurter Orchester lassen das Schwärmerische und das Pathetische in Reyers Musik zu, bringen die farbige Instrumentierung zum Glühen, fassen den mitreißenden Rhythmus scharf und energisch, zeigen Reyers Stärken im expressiven Ausleuchten von Szenen, verleugnen aber auch nicht, dass ihm die Erfindung der einprägsamen Melodie, der packenden Szene nicht gegeben war. Marc Hellers luzider, kraftvoller Tenor kommt nicht nur mit den hohen Noten bis zum C mühelos zurecht; er versteht es auch, die musikalische Rede in tönende Farben umzusetzen.

Marisca Mulder (links) als Hilda und Katja Bildt als Uta in Reyers "Sigurd" in Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Marisca Mulder (links) als Hilda und Katja Bildt als Uta in Reyers „Sigurd“ in Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Kartal Karagedik setzt als Gunther einen profilierten Bariton ein; Vazgen Ghazaryan hat als Hagen nur eine periphere Rolle, die er mit markigem Ton erfüllt. Bei den Damen ist nicht aller Glanz von purem Stimmgold gespiegelt: Ilia Papandreou, die aus Liebe sterbende Walküre, schleudert imposante dramatische Momente über die Rampe, muss aber darauf achten, den Kern der Stimme nicht durch Vibrato auszuhöhlen. Marisca Mulder versenkt sich mit bewundernswertem Engagement in die Rolle der traumatisierten Hilda, kann aber neben schön geführten Linien und sanftem Mezzoforte manch hartem Ton nicht wehren. Katja Bildt als brangänenähnliche Uta reüssiert mit flammenden Prophezeiungen und dunklen Ahnungen.

Andreas Ketelhuts Chor pariert die Herausforderungen anstandslos: abgerundet im Ton, agil in der Bewegung. – Die Reise nach Erfurt lohnt sich: Reyer steht nicht bloß für einen vom „Wagnerisme“ seiner und der folgenden Generation unabhängigen Weg; er kann sich mit seiner Adaption der reichen französischen Musiktradition auch als unabhängiger, kreativer Kopf mit anderen Komponisten seiner Zeit messen.

Weitere Aufführungen: 7. März, 22. März
Information: www.theater-erfurt.de




Zwei gefährliche Geradeausdenker: Brechts „Flüchtlingsgespräche“ in Dortmund

Was tut einer den lieben langen Tag, wenn er vor den Nazis in ein fremdes Land flüchten mußte? Nun, er langweilt sich. Er wünscht sich interessante Gesprächspartner, und weil er sie nicht findet, führt er Selbstgespräche. So oder so ähnlich mag es wohl gewesen sein, als Bert Brecht in den späten 30er Jahren seine „Flüchtlingsgespräche“ in Svendborg (Dänemark) notierte. Was er damals, in dramatischer Form, seinen Figuren Kalle und Ziffel in die Dialoge schrieb, war jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen: Eine für dieses Haus mittlerweile ungewöhnliche, keineswegs jedoch reizlose Veranstaltung.

Flüchtlingsgespräche

Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel in Brechts „Flüchtlingsgesprächen“- (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Viel Biographisches erfahren wir nicht über die beiden Männer, die sich zufällig zunächst an einem Tisch im Bahnhofsrestaurant von Helsinki treffen. Kalle ist ein rechtschaffener Proletarier, Metallarbeiter, Ziffel Physiker. Man redet über naheliegende Migrantenthemen zunächst, über Pässe, über Unterkünfte, doch bald ist man natürlich schon bei Deutschland, bei deutscher Ordnung und deutscher Kraft und bei den Verhältnissen, die in der alten Heimat unter den Nazis monströse Veränderungen erfahren.

Ziffels kauziges Raisonnieren über „erste Kraft“ und „letzte Kraft“, sein Einlassung, daß es doch viel einfacher wäre, sein Ziel mit – eben – erster statt mit letzter Kraft zu erreichen, ist immer noch ein hübsches Brechtsches Kleinkunstjuwel, und es bleibt in diesem Stück nicht das einzige. Beide nämlich – Kalle, der meistens nur bekräftigend zuhören muß, und Ziffel mit seinem Hang zum Monologisieren – sind gefährliche Geradeausdenker, deren scheinbar zwangsläufige Erkenntnisse auf mitunter groteske Art entlarven.

Hellseherisch geradezu sind die Gedanken über die Volkswirtschaft, die so kompliziert geworden ist, daß niemand mehr sie überblicken kann. Und auch die Sätze über die Schweiz, in der Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit zwar bestehen, aber keineswegs zu weit getrieben werden dürfen, könnten vor kurzem erst geschrieben sein. Scharfes Denken, so Ziffel, sei schmerzhaft; der vernünftige Mensch vermeide es, wo immer er könne. Und wenn solche Sätze fallen, die eigentlich ja eher deprimierend sind, dann vermeint man doch ein Augenzwinkern im Gesicht des Schauspielers zu erkennen, der diesen aus seinem Land vertriebenen Weisen wider Willen spielt.

Flüchtlingsgespräche

Gespräche unterm (angepißten) Hakenkreuz: Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Andreas Weißert gibt den Physiker Ziffel, Jürgen Mikol ist sein durchaus kongeniales Gegenüber Kalle. Mikol war lange im Dortmunder Ensemble und ist dem Publikum noch gut bekannt. Auch an Weißert, der in Dortmund von 1975 bis 1980 Oberspielleiter war und der seitdem auf vielen weiteren Bühnen stand, werden sich viele noch erinnern. Die beiden stellen die „Flüchtlingsgespräche“ untadelig als konzentriertes Kammerspiel auf die Bühne, verzichten auf inszenatorische Schnörkel und erfreuen im Vortrag der mal gezierten, mal abgehobenen, oft messerscharfen und immer unverwechselbaren Brechtschen Zeilen ihr Publikum, das an diesem Abend etwas älter ist als sonst in Dortmund.

Zwischen den szenischen Dialogen bringen die Akteure aktuelle Texte zu Gehör, die wohl eine unerfreuliche Nähe heutiger politischer Entwicklungen zu denen von damals suggerieren sollen. Ein Zitat kommt dann – kleines Ratespiel für das Publikum -, nein, nicht vom Bundespräsidenten, sondern von Adolf Hitler. Richtig entlarvend ist das aber trotzdem nicht, weil man mit aus den Zusammenhängen gerissenen Texten alles mögliche „beweisen“ kann, und überhaupt wären diese Aktualisierungen nicht nötig gewesen.

Wenn dem Zusammentreffen der beiden Männer trotz widriger Flüchtlingsexistenz ein gutes Maß an Behaglichkeit und Entspanntheit innewohnt, so wohl einfach deshalb, weil sie schon etwas älter sind. Zwar ist Jürgen Mikol trotz seiner 73 Jahre noch immer ein Mime mit beneidenswerter Beweglichkeit, zelebriert der achtzigjährige (!) Andreas Weißert seine Rolle, leicht unterspielend, mit einer Souveränität, die man auch vielen jüngeren Kolleginnen und Kollegen gönnen würde, doch sind die beiden eben Senioren, die Rückschau halten; nicht Männer mittleren Alters, die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten brutal aus ihren Lebensbezügen gerissen wurden.

Brechts „Flüchtlingsgespräche“ also gezeichnet in den milden Farben des Lebensabends, nun gut. Trotzdem ist es ein Vergnügen, das Stück und diese beiden wunderbaren Schauspieler zu erleben; wie es überhaupt erfreulich ist, endlich wieder etwas von Bert Brecht auf der Dortmunder Bühne zu sehen, und sei es auch nur ein kleines Kammerspiel. Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete reichen Beifall.

Nächster Termin: 8. März, 18.30 Uhr. Karten Tel. 0231 / 50 27 222, www.theaterdo.de




„Hart auf hart“: T.C. Boyle mit seinem neuen Roman auf der lit.COLOGNE

Boyle_24737_MR.inddSchön, wenn die Literatur so große Säle füllt: Bis auf den letzten Platz ist der Musical Dome, die Interimsspielstätte der Kölner Oper, besetzt. Anlass ist die Lesung von T.C. Boyle, der seinen neuesten Roman auf der lit.COLOGNE vorstellt. „Hart auf hart“ ist bemerkenswerterweise zuerst auf Deutsch erschienen, die US-Amerikaner müssen noch bis Ende März warten, obwohl es um ein ur-amerikanisches Thema geht: um Waffenwahn und absoluten Freiheitsanspruch, den die Protagonisten besonders gegenüber ihrem Staat bis zum Letzten verteidigen.

T.C. Boyle, gewandet in T-Shirt, Jeans und rote Turnschuhe, hat sichtlich Spaß an der Bühnenperformance, „mein Rock-Star-Gen“ wie er es nennt. Literaturkritiker Denis Scheck, auch nicht auf den Mund gefallen, kann kaum seine Fragen zu Ende stellen, da quatscht Boyle schon los und erzählt aufgeräumt über seinen Tagesablauf als Schriftsteller, seine Liebe zur Natur, seine politischen Überzeugungen, seine Drogen-Vergangenheit und seine Schrotflinte und woher er die einst hatte. Doch die Wildheit seiner Jugend sei durch das Schreiben in produktive Bahnen gelenkt und er zum Erfolgsautor geworden: „Mein Glück“, wie er das nennt.

Und doch kann er sich so umso besser einfühlen in diese Seite der amerikanischen Seele, die er als antiautoritär, extrem selbstbestimmt, aber auch zornig auf die Welt und jedwede soziale Ordnung beschreibt – und dabei wird manchmal die Grenze zur Gewalt überschritten. Denn genau darum geht es in seinem neuen Roman: Der Vater Vietnam-Veteran, der Sohn Adam drogensüchtig, psychisch krank, waffenverrückt, hat sich in die Wälder zurückgezogen und pflegt dort ein Schlafmohnfeld. Seine Freundin Sara gerät mit der Polizei aneinander, weil sie sich weigert, sich im Auto anzuschnallen. Denn das empfindet sie als unrechtmäßige Einmischung des Staates in ihre Freiheit.

Gelesen wird natürlich auch, die englische Version von Boyle selbst, die deutsche von August Diehl, der am Vorabend noch als Hamlet auf der Bühne des Burgtheaters stand und kurzfristig nach Köln reiste, um für seinen verhinderten Kollegen Yorck Dippe einzuspringen.

Der Text zieht einen sogleich in Bann und es ist wirklich bewundernswert, wie dieser Mann sein Handwerk versteht: Spannend, dramaturgisch perfekt gebaut und psychologisch abgründig beschreibt Boyle in der Anfangsszene eine Touristen-Bustour, die Vater Sten in Costa Rica unternimmt. Die Reisegruppe wird am Rande des Dschungels von drei Männern überfallen und Sten merkt schnell: „Das sind eigentlich Bürschchen und sie können gar nicht mit der Waffe umgehen.“ Die anderen Rentner geben bereits verängstigt ihre Habseligkeiten ab, doch in Sten steigt die Wut hoch. Er nimmt den einen Räuber kurzerhand in den Schwitzkasten und drückt ihm die Luft ab. Leider etwas zu lange, der Junge erstickt. „So what?“, meint Sten. Er ist ein Mann und hat sich selbst verteidigt, das ist wohl sein gutes Recht im Dschungel. Oder will jemand was dagegen sagen?

Autor umringt von Fans Foto: E. Schmidt

Autor umringt von Fans
Foto: E. Schmidt

Die Schlange zum Signieren ist irre lang, T.C. Boyle unterhält sich gerne mit seinen Lesern, ein bisschen Deutsch spricht er auch. Alle wollen dann ein Selfie mit Autor, da hat ein Hippie nix gegen und grinst freundlich in die Handy-Kameras. Ich habe mir das Buch natürlich sofort gekauft und bin mit T.C. Boyle-Autogramm fröhlich in die rheinische Nacht gezogen…

T.C. Boyle: „Hart auf hart“. Roman, Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag. 400 Seiten, 22,90 Euro.




Das Mysterium der Fernwärme

Sieht aus wie die Weltformel, dient aber der Preisberechnung für Fernwärme...

Sieht aus wie die Weltformel, dient aber der Preisberechnung für Fernwärme…

In Erwägung, dass hier zunehmend relevante Themen aus Sein und Zeit aufgegriffen werden, geht es nun um eine „Öffentliche Bekanntgabe der Fernwärmeversorgung Niederrhein GmbH für die Kunden in Dortmund-Bodelschwingh“.

Selbige ist heute im Anzeigenteil eines Dortmunder Lokalblatts (Mixtur aus WAZ und Ruhrnachrichten) abgedruckt; übrigens auf derselben Seite wie die täglichen Huren-Kleinanzeigen. Das will allerdings gar nichts besagen und ähnelt eher der zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Operationstisch, welche bekanntlich den Surrealismus kennzeichnet. Damit hätten wir eine Kulturanspielung ebenso unversehens wie unauffällig untergebracht.

Jetzt aber streng zur energetischen Sache! Bislang hätte ich nie vermutet, dass die Menschen zu Bodelschwingh ihre Fernwärme vom Niederrhein beziehen. Aber es ist ja just Fernwärme. Seien wird also nicht kleinlich. In Dinslaken (dort, am Rande des Reviers, sitzt das Unternehmen) werden sie schon wissen, was sie tun.

Sie geben den werten Fernwärmeverbrauchern ja auch einen mathematischen Schlüssel an die Hand, mit dem Preisänderungen flugs ermittelt werden sollen. Merke: „Die einzelnen Werte der Preisbestimmungselemente der Preisänderungsklauseln und deren Summe werden hierbei auf sechs Nachkommastellen errechnet“.

Diesem hehren Zweck dient eine stupende Formel, die wir, um nur ja keinen Fehler zu machen, im fotografischen Abbild wiedergeben. Da bleiben wohl keine Fragen offen. Denn zur Erläuterung gibt es ja auch noch eine Menge Fußnoten wie etwa diese hier: „KWK-Index durchschnittlicher Preis für Baseload-Strom an der EPEX Spot je Quartal in Euro MWh…“ Na, und so weiter.

Helmut Schmidt hatte einst als Kanzler im Kreise der Minister gebarmt, er können seine „eigene Wasserrechnung nicht mehr verstehen.“ Unausgesprochen schwang dabei mit: „…und wenn i c h die schon nicht verstehe, dann…“ In Dortmund-Bodelschwingh werden sie den berühmten Ausspruch heute gewiss zitieren. Auch werden dort (irgendwie ebenfalls Schmidt gemäß) einige Köpfe rauchen, wenn besagte Formel auf den Tisch des Hauses kommt.

Wie bitte? Hier sei es kaum um Kultur gegangen? Nun, da hätten wir noch einen passenden Pfeil im Köcher: Der Dramatiker Heiner Müller hat Plattenbauwohnungen mal bündig als „Fickzellen mit Fernheizung“ bezeichnet.




Rheingold, Notwist, Pasolini: Johan Simons stellt sein erstes Ruhrtriennale-Programm vor

Bikini Bar 2006(c) Atelier Van Lieshout

Demnächst vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Die Bikinibar aus dem Atelier Van Lieshout (Foto: Ruhrtriennale)

Johan Simons ist, wie bekannt, für die nächsten drei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, und heute hat er sein Programm 2015 präsentiert. Erster Eindruck: Es kommt drauf an, was man draus macht, oder auch: Schau’n mer mal.  Der Chef selbst ist da nicht so zögerlich. „Seid umschlungen!“ ist das euphorische Motto dieses „Festivals der Künste“ (Untertitel), das programmatisch sehr gern in den Schöpfungs- und Erlösungsmythen der Menschheit gründelt.

Die richtig großen Namen, das, was man im Showgeschäft „eine sichere Bank“ nennen könnte, fehlen weithin. Der Regisseur Luk Perceval und die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker sind vielleicht noch am ehesten Namen, die einer etwas breiteren Kulturöffentlichkeit bekannt sein könnten, wiewohl natürlich auch viele andere Auftretende ihre mehr oder minder große Fangemeinde haben werden.

In diesem Programm vermengt Klassik sich mit Pop und Zwölftönerei, um im nächsten Schritt auch noch elektronisch verfremdet zu werden, dort löst sich die Oper in eine Rauminstallation auf, und wenn schon nicht atemberaubend Crossovermäßiges auf die Spielstatt gestellt wird, dann sind zumindest doch Sprachenkenntnisse hilfreich, um fremdsprachige Schauspieltexte verstehen zu können. Immerhin sind deutsche Untertitel versprochen.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Johan Simons selbst, der das Theaterspielen auf der Straße begann, sich und seinen robusten Inszenierungsstil mit „Sentimenti“ bei der Ruhrtriennale früh schon unvergeßlich machte und selbst einen Stoff von Elfriede Jelinek noch als Burleske zu inszenieren wußte („Winterreise“, 2011 an den Münchner Kammerspielen), gibt jetzt den seriösen Einrichter bedeutungsschwerer Musikstoffe, inszeniert im September in der Jahrhunderthalle Wagners „Rheingold“, nachdem er schon Mitte August eine Bühnenfassung des Pasolini-Films „Accattone“ mit Musik von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken zu stellen beabsichtigt.

Kohlenmischhalle Zeche Lohberg Dinslaken (c) Julian Roeder fuer die Ruhrtriennale

Nicht unbedingt ein Ausbund an Schönheit, trotzdem in diesem Jahr ein Spielort der Ruhrtriennale ist die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Foto: Ruhrtriennale)

Die Zeche Lohberg übrigens ist neu im Strauß der Spielorte, der generösen Ruhrkohle-AG – bzw. deren mit anderen Großbuchstaben firmierenden Rechtsnachfolgerin – sei Dank. Hingegen, um auch das noch los zu werden, bleibt Dortmund wieder außen vor. Letztes Jahr noch war zu hören, daß die neue Triennale-Leitung auch Interesse an der berühmten Jugendstil-Maschinenhalle der Museumszeche „Zollern“ in Dortmund-Bövinghausen gezeigt hätte. Doch es ist wohl nichts daraus geworden. Statt dessen, neben den „Haupt-Städten“ des Festivals (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck) nun also Dinslaken. Voilà!

Auffällig viele Niederländer (und Belgier) bevölkern das neue Triennale-Programm. Doch ist dies letztlich nicht zu geißeln, da ein Intendant natürlich alle Freiheiten hat, Kunst und Künstler zu bestimmen. Für den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist seine Wahl auf das „Atelier Van Lieshout“ gefallen, das hier rund um eine bespielbare Gebäudeskulptur mit Namen „Refectorium“ ein Dorf entstehen lassen will, in dem es ein „BarRectum“, einen „Domesticator“, eine „Bikinibar“ oder auch ein „Workshop for Weapons and Bombs“ geben soll. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist das Projekt überschrieben. Was kommt da auf uns zu? Geistige Auseinandersetzung natürlich, hier, laut Ankündigung, mit Selbstbestimmung und Macht, Autarkie und Anarchie, Politik und Sex.

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Hier gibt es bald wieder Theater: Gebläsehalle Duisburg-Nord (Foto: Ruhrtriennale)

Schauen wir ein wenig durch das Programm, das sich (unter anderem) auf einem sehr ordentlichen, nach Spielstätte und Datum ordnenden Kalender abgedruckt findet. Den Reigen der „großen“ Produktionen eröffnet, wie schon erwähnt, am 14. August die musikalische Pasolini-Adaption „Accattone“ in Dinslaken. Sie wird sechsmal gezeigt – und mehr findet in Dinslaken dann auch nicht statt.

In Bochum steigt am 15. August die Eröffnungsparty mit dem Namen „Ritournelle“, und da geht es dann hübsch popmusikalisch zu, wenn nicht gerade Neue Musik von Karlheinz Stockhausen zum Vortrag gelangt, entweder das Frühwerk „Gesang der Jünglinge“ oder das Spätwerk „Cosmic Pulses“. Bißchen Namedropping für die, die etwas damit anfangen können: Das Berliner Plattenlabel City Slang, das seit 25 Jahren besteht, spielt eine Rolle und ebenso die Gruppe „Notwist“. Es wird bestimmt laut und lustig, doch danach auch ganz ruhig.

Lediglich zwei Auftritte des Collegium Vocale aus Gent und ein Termin mit dem 80jährigen Musik-Minimalisten Terry Riley (29. August) nämlich stehen noch auf dem Augustprogramm. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe bringen die Genter Johann Sebastian Bach zum Klingen. Am 16. August heißt das Programm „Ich elender Mensch“, am 21. August „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Ab dem 12. September jedoch wird, wie wir doch hoffen wollen, Johan Simons’ „Rheingold“ der Jahrhunderthalle einheizen und neue Maßstäbe setzen. Angekündigt ist „eine ,Kreation’ an der Grenze zwischen Oper, Theater, Installation und Ritual“ (!). Die Musik machen das Orchester MusicAeterna aus Perm unter dem Dirigenten Teodor Currentzis und der finnische Techno-Experimentierer Mika Vainio. Sieben Termine sind angesetzt.

Weiter geht es nach Essen, in die auch ohne Theater schon beeindruckende Mischanlage der Kokerei Zollverein. Ein „Parcours“ ist sie, seit hier vor vielen Jahren die Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ neue Maßstäbe in der kulturellen Umnutzung alter Industriebauten setzte. Nun erklingt hier, auf diesem Parcours, Monteverdis „Orfeo“, dezentral und verwirrend vorgetragen. Zur Musik werden Besuchergruppen von maximal acht Personen durch die Räume geführt, die nun die Stationen von Orfeos Abstieg zeigen nebst seinem Versuch, die Geliebte für sich zurückzugewinnen. Das Regisseurinnen-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, sagt die Ankündigung, habe in dem alten Betonbunker Qualitäten einer Vorhölle erkannt, und das kann man nachvollziehen. Eurydike übrigens, die spätere Salzsäule, wird von mehreren Schauspielerinnen gespielt.

Etliche weitere Tanz- und Musikproduktionen sowie Rauminstallationen können in diesem Text keine Erwähnung finden, weil es sonst einfach zu viel wird. Von den Schauspielproduktionen sei noch „Die Franzosen“ erwähnt, ein Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, in dem er Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit weiteren Stoffen des Romanciers zum großen Sittenbild einer „Gesellschaft im Umbruch zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ verwebt. Sein Nowy Teatr spielt das alles in polnischer Sprache und will sechsmal die Halle Zweckel füllen. Das wirkt ein bißchen optimistisch, aber man soll ja nicht unken.

Ach ja: Von Anne Teresa De Keersmaeker wird Ende September dreimal die Uraufführung ihrer Choreographie „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gezeigt, die Rilkes Erzählung über den begeisterten Türkenkrieg-Soldaten aktuell deutet; Regisseur Luk Perceval verarbeitet mehrere Stoffe Émile Zolas mit Darstellern des Hamburger Thalia-Theaters zu einem Gesellschaftsbild, das den Titel „Liebe – Trilogie meiner Familie I“ trägt. Die Teile II und III gibt es auf dieser Triennale noch nicht zu sehen.

So, das soll mal reichen. Glück auf!

www.ruhrtriennale.de




Lachen gegen die absurden Regeln der Welt: Vor 50 Jahren starb Stan Laurel

Stan Laurel auf einem historischen Foto, um 1920.

Stan Laurel auf einem historischen Foto, um 1930.

Diese Lache wird niemand vergessen, der sie je miterlebt hat. Erst ein zufriedenes Schmunzeln, ein amüsierter Lacher, ein sich steigerndes rhythmisches Quieken, schließlich atemlos gackernde Kaskaden, Falsett-Staccato, kreischendes Kichern: Stan Laurel reißt in dem Film „Blotto“ („Angeheitert“) von 1930 nicht nur seinen Partner Oliver Hardy in den Heiterkeitssturm mit, sondern infiziert unweigerlich auch die Zuschauer.

Es ist eine der vielen unvergesslichen Szenen, die der geniale Komiker Stan Laurel hinterlassen hat. Laurel, der vor 50 Jahren, am 23. Februar 1965, in Santa Monica in Kalifornien starb, wurde vor allem als einer der Partner des legendären Duos „Laurel & Hardy“ bekannt – im deutschen Sprachraum mit „Dick und Doof“ nicht sehr glücklich bezeichnet.

In „Blotto“ – das eigentlich so etwas wie „sternhagelvoll“ heißt – ist der Rausch freilich nur eingebildet. Die beiden Herren wollten sich mit einer von Mrs. Laurel versteckt gehaltenen Flasche Likör einen lustigen Abend machen. Sie bemerkten nicht, dass die Frau von Laurel den Inhalt heimlich ausgetauscht hat. Mit den Worten „Das war kein Likör, das war kalter Tee“ beendet die angesäuerte Gattin abrupt die drei Minuten exaltierter Erheiterung.

Es gibt noch andere solcher Lach-Szenen, etwa in „Scram“ von 1932 oder in der herrlichen Parodie auf Daniel François Esprit Aubers Oper „Fra Diavolo“ von 1933. Sie reißen die Zuschauer nach dem Prinzip der Steigerung mit, aber um die Spannung in solchen wort- und handlungslosen Szenen zu halten, braucht es ein überragendes komisches Talent. Stan Laurel hatte das.

Aus englischen „Music Halls“ nach Amerika

Geboren wurde Arthur Stanley Jefferson – so der eigentliche Name – 1890 im englischen Ulverston in eine Theaterfamilie. Seine Eltern waren Schauspieler, sein Vater bespielte Theater im Norden Englands. Schon mit neun Jahren soll er zum ersten Mal auf der Bühne gestanden haben; mit 16 debütierte er in Glasgow.

Seine Welt war die der „Music Halls“, also der Varieté- und Unterhaltungstheater, in denen artistische Shows, kurzweilige Sketche und Komödien, Operetten und musikalisches Lachtheater gespielt wurden.

1910 entdeckte der amerikanische Produzent Fred Karno sein Talent und nahm ihn mit in die USA, wo er Laurel als Ersatzmann für den damals ebenfalls noch unbekannten Charlie Chaplin einsetzte. Nach Jahren in einem Komiker-Trio und auf Unterhaltungsbühnen folgte 1917 Laurels Filmdebüt. Zehn Jahre arbeitete er für verschiedene Produzenten, drehte Kurzfilme und Parodien auf erfolgreiche Kino-Hits. In dieser Zeit entwickelte Stan Laurel seinen Stil mit seinen typischen zerfahrenen Gesten und seiner ratlos-naiven Mimik, die in der schon um 1925 anlaufenden deutschen Rezeption als „doof“ missverstanden wurde.

106 Filme mit „Laurel & Hardy“

Die Begegnung mit dem Produzenten Hal Roach 1918 erwies sich als folgenreich. Zwar wirkte Laurel bis 1925 mit verschiedenen anderen Filmschaffenden zusammen. Aber bei Roach begann er mit Oliver Hardy zusammenzuarbeiten, den er zwischen 1917 und 1921 in einem Film namens „Der glückliche Hund“ erstmals als Partner vor der Kamera hatte. 1927 begann mit „Leichte Beute“ („Duck Soup“) ihre gemeinsame Karriere als Komiker-Duo.

Der Kurzfilm „Music Box“ über einen katastrophalen Klaviertransport über eine lange, steile Treppe erhielt 1932 einen Oscar als beste Kurzfilm-Komödie. Bis „Atoll K“ („Dick und Doof erben eine Insel“) von 1950 drehten die beiden 106 Filme. Laurel war alles andere als „doof“: Er war der Kopf des Duos. Während sich Hardy vor allem als Schauspieler verstand, wirkte Laurel am Drehbuch mit, schrieb Gags, führte Co-Regie und bestimmte den Schnitt mit.

Große Zeit nur bis 1940

Ihre große Zeit sollte allerdings schon 1940 mit „Saps at Sea“ („Abenteuer auf hoher See“) zu Ende sein. Laurel hatte sich mit Hal Roach entzweit; der Vertrag des Duos wurde nicht verlängert, andere Filmgesellschaften zeigten wenig Interesse. So drehten Laurel & Hardy bis 1945 nur noch neun Spielfilme. Nach dem Krieg folgten bis 1954 mehrere Bühnentourneen durch die USA und nach Europa, bis Oliver Hardys Gesundheitszustand keine Auftritte mehr ermöglichte.

Eines der letzten filmischen Dokumente zeigt die beiden genialen Komiker in Farbe: Der stark abgemagerte Hardy besucht Stan Laurel zu Hause – ein Jahr später war der fülligere der beiden Schauspieler tot. Für Laurel ein schwerer Schlag, denn er verlor nicht nur einen langjährigen Filmpartner, sondern auch einen guten Freund.

Laurel lehnte künftig Filmangebote ab. 1961 wurde er mit einem Oscar für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er starb im Alter von 74 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Zu seiner künftigen Beerdigung hatte Stan Laurel schon zu Lebzeiten verfügt: „Wer es wagt, bei meiner Beerdigung zu weinen, mit dem rede ich kein Wort mehr!“

Ein Laurel & Hardy gewidmetes Museum gibt es sogar in NRW: In Solingen ist das „Laurel & Hardy Museum“ samstags von 12 bis 17 und sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet: http://www.laurel-hardy-museum.de/

Eine „offizielle“ Webseite hält die Erinnerung an das Komiker-Duo lebendig: http://www.laurel-and-hardy.com/ , und ein Archivprojekt will die Briefe Stan Laurels sammeln, auswerten und zugänglich machen: http://www.lettersfromstan.com/

In Laurels Geburtsort Ulverston erinnert ebenfalls ein Museum an den großen Sohn der Gemeinde: http://www.laurel-and-hardy.co.uk/index.php  




Vor 70 Jahren: Als das Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 befreit wurde

In den vergangenen Wochen wurden wir zwei Mal deutlich darauf hingewiesen, was vor sieben Jahrzehnten in Deutschland geschah: Die Bombardierung Dresdens, ein Symbol für den Untergang des „Dritten Reiches“, jährte sich am 13. Februar, und nach dem Tod des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kamen alle Würdigungen auf seine berühmte Rede vor dem Bundestag zu sprechen, in der er den Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Was zum Kriegsende in der Rhein-Ruhr-Region geschah, soll hier kurz skizziert werden.

Mit der Landung alliierter Truppen in der Normandie ab dem 6. Juni 1944 begann das Ende des NS-Regimes im Westen. Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Stadt befreit – während in anderen Reichsteilen weiter gekämpft und gestorben wurde. Erst Ende Februar kamen die Truppen der Alliierten an den Rhein – ein schwieriges Hindernis für den Vormarsch, denn die Deutsche Wehrmacht sprengte vor ihrem Rückzug sämtliche Brücken, zuletzt am 3. März 1945 im Bereich der Stadt Düsseldorf.

Die erste Überquerung des Rheins gelang dann den Amerikanern über eine Pontonbrücke am 7. März bei Remagen, und die aus Holland vorstoßende britische Armee überwand den Fluss erstmals am 24. März bei Wesel.

Weil gleichzeitig alliierte Trupen von Süden und Osten auf das Industriegebiet vorrückten, entstand nach und nach ein Kessel, der bekannte Ruhrkessel, in dem fast 300.000 Wehrmachtssoldaten eingeschlossen waren. Die Stadt Hamm wurde am 1. April befreit, und einen Tag später war der Ruhrkessel geschlossen.

Von Süden stießen die Alliierten über Siegen, Olpe und Schmallenberg vor, wo es noch heftige Kämpfe gab, und zu Ostern erreichten die Befreier die Ruhr. Am 18. April 1945 kapitulierten die eingeschlossenen Wehrmachtsteile im Ruhrkessel, die bedingungslose Kapitulation auf Reichsebene folgte erst an besagtem 8. Mai 1945. Hitler hatte sich schon am 30. April umgebracht.

Leider wurde im Osten Asiens weiter gekämpft. Am 6. und 9. August zündeten die Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki ihre Atombomben, und darauf folgte mit der Kapitulation Japans am 2. September endlich das Ende dieses schrecklichen, von Deutschland begonnenen Weltenbrandes.




Baukunstarchiv NRW kommt nach Dortmund: Die Geschichten hinter den Fassaden

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Am Ende hat kaum jemand mehr daran geglaubt: Voraussichtlich 2018 bekommt NRW ein Archiv für seine Baukunst. Die in Dortmund geplante Sammlung bewahrt nicht nur die Nachlässe wichtiger Nachkriegsarchitekten – sondern auch ein historisches Gebäude vor dem Abriss. Die Erfolgsgeschichte einer Idee.

Darmstadt, im Jahr 1814: Auf dem Speicher des Gasthofs »Zur Traube« findet ein Dekorationsmaler ein merkwürdiges Pergament, auf dem Bohnen zum Trocknen liegen. Zu sehen ist darauf die detaillierte Schnitt-Zeichnung eines Turms. Der Fund stellt sich als Sensation heraus: Es ist der Bauplan für den Nordturm des Kölner Doms, der damals schon seit fast 300 Jahren seines Weiterbaus harrt. Zwei Jahre später taucht in einem Pariser Antiquariat ein weiteres Puzzle-Stück der mittelalterlichen Architektur-Zeichnung auf. Die Arbeiten wurden endlich fortgesetzt. Wer weiß, wie der Kölner Dom ohne diese beiden Entdeckungen aussähe? Heute liegen sie öffentlich zugänglich im Dom aus – baukunsthistorische Dokumente von unschätzbarem Wert und zugleich Stoff einer spannenden Detektivgeschichte.

Kaum ein Bauwerk hat eine so lange und aufregende Baugeschichte wie der Kölner Dom. Und doch: Jede Bau-Epoche schreibt ihre Geschichte(n). Wo werden sie erschlossen, bearbeitet, erzählt? Zum Beispiel in Berlin: Das Baukunstarchiv an der Akademie der Künste dokumentiert vor allem die Berliner Moderne seit 1900. Oder im Architekturmuseum der TU München: Es umfasst eine halbe Million Zeichnungen und Pläne von 700 Architekten seit dem 16. Jahrhundert. In Rotterdam gibt es mit dem Architekturinstitut NAI einen zentralen Ort für die Archivierung aller Epochen und Aspekte der niederländischen Architektur.

Solche Einrichtungen sind »Orte der unerfüllten Möglichkeiten«, wie es im Baukunstarchiv Berlin heißt: Sie zeigen auch das, was nie gebaut wurde. Sie erzählen mehr über Werden und Verändern einer Idee, als ein fertiges Bauwerk es kann. Mitunter leben Pläne, Modelle und Schriftstücke sogar länger als die Gebäude. Baukunstarchive erzählen die Geschichten hinter den Fassaden, von Wunsch und Wirklichkeit, Wahrnehmung und Wirkung der Architektur.

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst Petersen für das Mannesmann-Hochhaus.  Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst
Petersen für das Mannesmann-Hochhaus. Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Und Nordrhein-Westfalen? In NRW wurde nach dem Zweiten Weltkrieg so viel gebaut wie in keinem anderen Bundesland. Zeugnisse darüber finden sich in den Bauämtern, es gibt u.a. das Ungers Archiv für Architekturwissenschaft in Köln und die (teilweise zerstörte) Sammlung des Kölner Stadtarchivs. Was es nicht gibt, ist ein Ort, der diese Bestände vernetzt. Als sich vor etwa zwei Jahrzehnten zahlreiche bekannte Architekten in den Ruhestand verabschiedeten, drohten die Entwürfe und Pläne, Zeichnungen und Modelle einer ganzen Generation auf dem Müll zu landen – einer Generation, die noch ausschließlich auf Papier gearbeitet hatte, die die Nachkriegsmoderne begründete und deren Schaffen erst seit kurzem vielerorts eine Neubewertung erfährt.

Der Gedanke an das, was da verloren gehen könnte, war den  Hochschullehrern Uta Hassler und Norbert Nußbaum schier unerträglich. Die Architekturhistoriker begannen 1995, die Lücke zu schließen. An der TU Dortmund bauten sie das A:AI auf, das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW. In quasi letzter Sekunde retteten sie viele Nachlässe vor dem Aktenvernichter. »Anfangs gab es überhaupt keine Finanzierung, das Material lagerte in einem alten Industriegebäude«, erzählt Prof. Wolfgang Sonne, Hasslers Nachfolger am Lehrstuhl. Inzwischen beheimatet das Archiv über 50 Nachlässe von Bauingenieuren und Architekten, und es bestehen Zusagen für weitere Nachlässe, z.B. von Helge Bofinger, Walter Brune, Eckhard Gerber.

Vieles ist noch nicht katalogisiert, zugänglich ist das Archiv auf Anfrage. Doch Studierende und Wissenschaftler arbeiten seit 20 Jahren mit dem Material, haben Ausstellungen damit bestritten, zuletzt zum Werk des Bauingenieurs Stefan Polónyi. Das A:AI ist Mitglied der »Föderation deutscher Architektursammlungen«, immer wieder werden einzelne Exponate für Ausstellungen verliehen. Besonders beliebt: Eines der wenigen erhaltenen Raumstadt-Modelle von Eckhard Schulze-Fielitz, der Ende der 1950er Jahre das Konzept einer multifunktionalen, anpassungsfähigen Megastruktur für Städte entwickelte.

Die Sammlung blieb ein Provisorium – doch ein Gedanke reifte: Der Gedanke, dass das Bundesland ein eigenes Baukunstarchiv braucht, einen sichtbaren und öffentlichkeitswirksamen Ort, der Zeugnisse der Baukunst als Archiv bewahrt und in Ausstellungen und Veranstaltungen vermittelt. Die Initiatoren neben dem Dortmunder A:AI: Architekten- und Ingenieurkammer-Bau NRW, Stiftung Deutscher Architekten, Architekturforum Rheinland und die Landschaftsverbände. Vor drei Jahren gründete sich zur Unterstützung unter Schirmherrschaft des ehemaligen Landesbauministers Christoph Zöpel der »Förderverein für das Baukunstarchiv NRW«.

Ziel war ein Baukunstarchiv für NRW, das neben Architektur auch Ingenieurkunst, Städtebau und Landschaftsarchitektur in den Blick nimmt. Dafür stehen die Namen von Harald Deilmann, Josef Paul Kleihues und Stefan Polónyi. Die drei Architekten und Hochschullehrer hatten als Gründungsväter der Fakultät dafür gesorgt, dass Ingenieure und Architekten in Dortmund gemeinsam ausgebildet werden.

Zum Beispiel Kleihues: Er gehörte zu den Vorreitern eines Paradigmenwechsels im Städtebau, weg von der absoluten Verkehrsorientierung hin zur berühmten »kritischen Rekonstruktion« der Stadt. Kleihues plädierte dafür, historische Strukturen zu rekonstruieren und sich mit heutigen baulichen Möglichkeiten daran zu orientieren. Zwei berühmte Beispiele dafür sind fast täglich in den Medien: die von Kleihues neu geplanten Gebäude links und rechts des Brandenburger Tores, »Haus Liebermann« und »Haus Sommer«. Bei der Internationalen Bauausstellung 1984 in Berlin wurde Kleihues Planungsdirektor, »seine Gedanken prägen den Städtebau noch heute«, so Wolfgang Sonne.

Seine Erben wollten den Nachlass nach Dortmund geben, wo Kleihues nicht nur geforscht und gelehrt, sondern ab 1975 auch die »Dortmunder Architekturtage« etabliert und die internationale Architekten-Elite in die Stadt geholt hatte. Die Erben knüpften jedoch eine Bedingung an den Nachlass: Sie wollten ihn nur in das alte Museum am Ostwall geben, dem damaligen Schauplatz der Architekturtage. Und wieder mal war es knapp: Fast wäre der Nachlass in Berlin geblieben. Denn über dem geplanten Standort am Ostwall 7 schwebte in den vergangenen Jahren die Abrissbirne.

»Das Haus war – wie kaum ein anderes Gebäude der Stadt – ein Ort und Auslöser für Debatten über Stadt und Architektur«, beschreibt Architekturhistorikerin Sonja Hnilica, die zur Historie des Gebäudes geforscht hat. Es ist Dortmunds ältester Profanbau in der Innenstadt. Erbaut 1875 als Königliches Oberbergamt, wurde es 1911 zum Museum um- und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Das Gebäude trägt Spuren aller Bauphasen, aus der Gründerzeit etwa die Segment-
bogenfenster. Prunkstück ist der original erhaltene, seit 1911 glasge-deckte Lichthof des Museums, der zwei Weltkriege überstand.

Trotzdem wurde schon nach 1945 ein Abriss erwogen. Schon damals kämpften Dortmunder Bürgerinnen und Bürger leidenschaftlich und erfolgreich für den Erhalt. Bis die Kunstsammlung im Kulturhauptstadtjahr 2010 in den frisch renovierten U-Turm umzog, Dortmunds neues »Zentrum für Kunst und Kreativität«. Dort ist die Sammlung nun – Nicht-Dortmundern wird es wohl ewig ein Rätsel bleiben – unter dem Namen »Museum Ostwall im Dortmunder U« zu sehen.

Das Haus am Ostwall war seitdem mal Theater-Spielort, mal Festivalzentrum, zeigte einige Ausstellungen. Meist aber stand es leer. Die nahe liegende Idee, dem Baukunstarchiv dort eine Heimat zu geben, scheiterte an der Finanzierung. Auf keinen Fall wollte die Stadt die laufenden Betriebskosten für das Haus weiter übernehmen. Die 1A-Lage der Immobilie mitten im Wallring war zu verführerisch. Die Stadt wollte das Grundstück an einen Investor verkaufen, der nach dem Abriss eine Seniorenwohnanlage hätte bauen lassen.

Doch Tausende Dortmunder, darunter viele Kulturschaffende, wollten nicht aufgeben. Sie gründeten die Bürgerinitiative »Rettet das ehemalige Museum am Ostwall«, die erfolgreich um prominente Mitstreiter warb. Saxofonist Wim Wollner nahm eine CD im Gebäude auf, die musikalisch für die Rettung wirbt. Eine Online-Petition wurde gestartet, rund 8.000 Unterschriften bekam der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau zwei Monate später überreicht. Beeindruckend – und doch sinnlos in den Augen vieler Beobachter. »Der Verkauf ist längst beschlossen, die Chancen auf Erfolg der Petition sind gering«, urteilten die Ruhr Nachrichten im Juli 2013. Auch Wolfgang Sonne, der zukünftige wissenschaftliche Leiter des Baukunstarchivs, machte sich damals wenig Hoffnungen um eine Zukunft des Hauses am Ostwall: »Das Projekt war zwischendurch mausetot.«

Doch hinter den Kulissen wurde weitergearbeitet – und schließlich ein Modell gefunden: Eine gemeinnützige Gesellschaft der Initiatoren betreibt die Einrichtung gemeinsam. Und dann ging es also doch: Kurz vor Weihnachten stimmte der Rat der Stadt Dortmund, allen voran der Oberbürgermeister, für den Erhalt des ehemaligen Museums als Baukunstarchiv – unter der Maßgabe, dass das Gebäude als offenes »Haus der Baukultur« für Kulturveranstaltungen weiter zur Verfügung steht. Dafür will maßgeblich die Bürgerinitiative sorgen, die sich  nun als Verein »Das bleibt!« neu formiert hat. Die Sanierungskosten von rund  3,5 Millionen Euro übernimmt zu 80 Prozent das Land, je 10 Prozent der Förderverein und die Stadt.

Es scheint wie eine schicksalhafte Fügung: Welches Gebäude wäre besser dazu geeignet, ein Archiv zu beherbergen, das das Bewusstsein für Baukultur schärfen soll – als ausgerechnet ein Gebäude, das selbst beinah der Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen wäre?

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Der Text erschien in der Februar-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West

Lese-Tipp: Sonja Hnilica: „Das alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte.“ Essen, 2014, Klartext Verlag, 19,95 Euro

Hier eine Besprechung des Buchs in den Revierpassagen.




Wozu denn der ganze Zinnober? – Zwei Jahre als Autor beim Netzwerk „Seniorbook“

Zwei Jahre lang habe ich nebenher Texte für den Münchner Internet-Auftritt seniorbook.de verfasst. Jetzt habe ich mich dort per Mail als Autor verabschiedet; leichten Herzens und aus guten Gründen.

Dabei fing damals alles recht manierlich an. Vorwiegend habe ich Beiträge über TV-Sendungen geschrieben. Warum nicht? Das haben wir ehedem bei der Zeitung in langjähriger Übung praktiziert; vielfach auch in Form der schnellen Abend- und Nachtkritik. So auch jetzt.

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Die Idee, ein soziales Netzwerk für gereifte Leute (worunter „50 plus“ verstanden werden sollte) aufzuziehen, fand ich zudem gar nicht übel und sogar zukunftsträchtig. Nicht zu vergessen: Die Honorare pro Artikel gingen in Ordnung.

Ein Bauunternehmen im Hintergrund

Ein wenig stutzig wurde ich allerdings, als ich hörte, dass hinter dem Auftritt eine Baufirma steht, die u. a. Seniorenresidenzen errichtet. Man muss kein Schelm sein, um sich dabei was zu denken. Nun, so lange man ihnen nicht nach dem Munde schreiben muss…

Die Seniorbook-Mitarbeiterin, die mich angeworben hat, war als Journalistin und Netzadministratorin ausgesprochen fähig. Damals konnte man von einer ebenso freundlichen wie vernünftigen und zielgerichteten Autorenbetreuung reden. Sie ließ einem weitgehend freie Hand. Absprachen wurden beiderseits stets eingehalten. Es war zeitweise eine Freude. Die Zahl der Klicks und Zugriffe konnte sich sehen lassen. Seinerzeit gewährte man den Autorinnen und Autoren noch einen Einblick in diese statistischen Daten und hielt sie ständig auf dem Laufenden über die Mitgliederzahlen des Netzwerks. Gut für die Selbsteinschätzung.

…und dann kam der „Vorstand“

Doch leider verließ besagte Community-Managerin nach einigen Monaten das Haus, um sich Besserem zuzuwenden. Und wie es so oft in derlei Fällen geschieht: Damit änderte sich praktisch alles zum Nachteil. Die Bühne betrat nun jemand, der sich volltönend als „Vorstand“ bezeichnete und allzeit mit dem Wort „viral“ um sich warf. Alles müsse „viral“ sein. Gute Genesung kann man da nur wünschen.

Mit ihm wehte alsbald ein anderer Wind. Er ließ rasch die besagte Möglichkeit der statistischen Selbstkontrolle kappen. Ganz klar, man sollte nicht mehr mit Fug behaupten können, ein Beitrag sei gut gelaufen. Dass außerdem jede Möglichkeit unterbunden wurde, Autoren untereinander kommunizieren zu lassen, versteht sich beinahe von selbst. Teile und herrsche. Das uralte Prinzip der Macht-Männchen.

Statt dessen drängten sie einen, sich zusätzlich beim Netzwerk Google+ anzumelden und beide Profile zu verknüpfen, auf dass man mit Autorenbild in den Google-Fundstellenlisten erscheinen sollte. Welch‘ substanzielle Neuerung! Dumm nur, dass Google die Funktion kurz darauf tilgte.

Anbetung der Suchmaschine

Heilig war nun die besinnungslos gehandhabte Suchmaschinen-Optimierung. Gleich nach Einführung der neuen Leitlinien wurde einer meiner Texte im Sinne der maschinellen Auffindbarkeit dermaßen idiotisch verhunzt, dass praktisch in jedem Satz der Name eines bestimmten TV-Promis vorkam; völlig penetrant, ohne jegliche Variation. Das las sich hanebüchen – und stammte absolut nicht mehr von mir. Selbstverständlich habe ich mich beschwert. Fortan wurden meine Texte nicht mehr angetastet. Immerhin.

Ein weiterer Hebel setzte bei der Unterstützung der Autoren an, die nunmehr praktisch entfiel. Beiträge verliefen im Sande – ohne besondere, netzaffine Aufbereitung, geschweige denn, dass sie den Usern empfohlen worden wären. Wozu dann überhaupt der ganze Zinnober? Wozu noch Autoren? In der Tat kann man sich ja fragen, ob ein soziales Netzwerk Autorenbeiträge braucht – oder ob ein bisschen Trallala-Animation reicht.

Talkshows bis zum Abwinken

Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass die anfänglich bewusst seriöse Ausrichtung, in deren Rahmen sich ein besonderes Augenmerk auf die Kulturkanäle 3Sat und arte richtete, sich jetzt flugs erledigt hatte. Überhaupt wurden plötzlich ganz andere, ja geradezu gegenteilige Themenparolen ausgegeben. Was bis dato ein Schwerpunkt war, sollte gefälligst unterbleiben: Keine „Tatorte“ mehr besprechen (die werden ja auch nur von ein paar Millionen Menschen gesehen); statt dessen sollten Talkshows (immer und immer wieder Jauch & Co.) mit ihrem ewiggleichen öden Gästefundus in den Mittelpunkt rücken; übrigens mit der Maßgabe, die „eigene“ Meinung provozierend zuzuspitzen und also geradewegs zu manipulieren. Einen solchen Mist habe ich noch nie mitgemacht.

Haufenweise Pegida-Fans

Doch auch so kamen derart viele Kommentare à la Pegida (avant la lettre) oder AfD, dass man diese Phänomene geradezu hat anrücken sehen können. Abenteuerliche Verschwörungstheorien zuhauf, Misstrauen gegen alle Medien inbegriffen, üble Beschimpfungen von „Gutmenschen“ und Minderheiten als Krönung. Die Mischung also, die man inzwischen bis zum Erbrechen kennt. Echte Diskussionen waren zwecklos. Redaktionell moderiert wurde ohnehin kaum. Lass laufen…

Nun ja. Man kann es sich denken: Spätestens nach drei Jauch-Ausgaben hat sich das Ganze als ernsthaftes Rezensionsthema erledigt, eigentlich auch schon vorher. Daneben durfte ich hin und wieder TV-Nostalgie bedienen, indem ich mir Jahrzehnte alte Sendungen noch einmal zu Gemüte führte. Das hatte ja immerhin noch was und war einigermaßen zielgruppengerecht.

Komplette Konfusion

Doch Sinn und Verstand hatte das konfuse Konzept schon längst nicht mehr. Zu Beginn des neuen Jahres wurden über Nacht sämtliche Film- und Fernsehthemen komplett abgeschafft. Einfach mal so. Es reicht ja auch, wenn man mit den Senioren ein bisschen über Gesundheit, Partnerschaft, Haustiere und Gartenfreuden plaudert. Viel Spaß noch dabei!




Vordergründig aktualisiert: Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper "Soldaten" in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Von runden Geburtstagen und ähnlichen Gedenkanlässen nimmt die Musikszene oft nur dann Notiz, wenn es etwas zu vermarkten gibt. Bei Manfred Gurlitt wird es zum 125. wohl nicht anders sein. Geboren am 6. September 1890, gehört Gurlitt zu den komponierenden Dirigenten seiner an musikalischen Talenten so reichen Zeit – von Richard Strauss bis Wilhelm Furtwängler. Der Name der Familie ist durch die Sammlung Cornelius Gurlitt und die damit wieder ausgelöste Debatte um NS-Raubkunst bekannt geworden.

Manfred Gurlitt dagegen ist einer der vielen Vergessenen. Trotz seines Eintritts in die NSDAP wurde er jüdischer Vorfahren verdächtigt und 1937 seine Mitgliedschaft für nichtig erklärt. Der Druck auf ihn nahm zu, so dass er zwei Jahre später nach Japan emigrierte. Doch auch im Fernen Osten war er vor dem langen Arm der Nazis nicht sicher.

Nach dem Krieg wirkte Gurlitt bis zu seinem Tod 1972 segensreich in Japan; in seiner Heimat blieb er unbeachtet. Einzelne Versuche, sein Werk auf die Opernbühne zurückzubringen – 1997 „Wozzeck“ in Gießen, 2003 „Nordische Ballade“ in Trier, 2010 „Nana“ in Erfurt – blieben folgenlos, Dabei hat zuletzt die parallele Aufführung der „Wozzeck“-Vertonungen Gurlitts und Bergs in Darmstadt 2013/14 gezeigt, dass man die Musik des Nachromantikers durchaus ernst nehmen sollte.

Mit diesem Eindruck verlässt man auch die neueste Gurlitt-Bemühung: Das Stadttheater Osnabrück brachte „Soldaten“ heraus, 1930 in Düsseldorf uraufgeführt. Düsseldorf hätte – das sei nebenbei bemerkt – durchaus noch etwas gut zu machen: Die für 1933 geplante Uraufführung von „Nana“ mit einem Libretto von Max Brod nach Émile Zola hatten die Nazis vereitelt; die Oper erschien erst 1958 in Dortmund.

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Von Takt zu Takt spürt man in Osnabrück den versierten Theatermenschen: Gurlitt entwirft für die drei Akte seiner gut zweistündigen Oper konzentrierte Bilder, setzt den Kontrast zwischen Ensembleszenen und reflektierenden Monologen geschickt ein. Zwischenspiele gliedern das Drama, das Gurlitt selbst aus der Vorlage von Jakob Michael Reinhold Lenz destilliert hat. Die altertümliche Sprache behält er als ein distanzierendes Element bei.

Ähnlich wie in seinem „Wozzeck“ wählt er ein lakonisches musikalisches Idiom: Selten setzt er auf impressionistische Klangraffinesse, oft wählt er einen herben, harmonisch schroffen Ton, manchmal – auch das muss gesagt sein – fehlt ihm die originelle klangliche oder harmonische Erfindung.

Auch wenn Strauss und Schreker weiter waren: Die lapidare, eher kommentierende als emotional mitreißende Musik passt zu Gurlitts betontem sozialpsychologischem Ansatz. Skizzenhaft, aber nicht schablonisiert die Charaktere, komplex, aber klar herausgearbeitet ihre Beziehungen zueinander.

„Soldaten“ zeigt die Eltern-Kind-Beziehungen als unheilvoll: Marie, die weibliche Hauptfigur, muss ihre erwachenden Beziehungswünsche den Geschäftsinteressen ihres Vaters Wesener unterordnen. Fabrikant Stolzius kann sich letztlich nur durch einen Akt der Gewalt von seiner dominanten Mutter absetzen. Und der – namenlos bleibende – Sohn der Gräfin de la Roche hat keine Chance, den energischen Geboten seiner standesbewussten Mutter zu entkommen. Die titelgebenden Soldaten bilden eine Gruppe sozialer Desperados, zynisch, schmarotzerhaft, empathielos.

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Ein faszinierender, vielschichtiger Stoff. Das Theater Osnabrück hat ihn dem jungen Regisseur Florian Lutz anvertraut, der im Rheinland durch die heftig umstrittene „Norma“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hat. Sein Ansatz, die Geschichte aus dem Fokus auf individuelle Moral herauszurücken und gesellschaftlichen Bedingungen zuzuordnen, macht Sinn. Die Realisation auf der Osnabrücker Bühne scheitert dennoch: Lutz will den Stoff mit aktuellen politischen Assoziationen aktualisieren, bleibt aber im vordergründigen Zitieren und distanzloser Übertragung hängen. Diese Methode ist schon einmal schief gegangen, als er in Regensburg Wagners Frühwerk „Die Feen“ in das Beziehungsgeflecht der Wagner-Familie gezwungen hat. In Osnabrück ging es nicht besser.

Dass Lutz persönliche Schicksale als Ergebnis von Produktionsverhältnissen ansieht, könnte ja ein ertragreicher Ansatz sein: In der Firma Stolzius steht ein Automat eines weltweit verbreiteten koffeinhaltigen Getränks; eine Video-Botschaft verkündet, die Brause könne auch „a better world“ machen. Wir sind in der globalisierten Welt angekommen. Marie Wesener ist Tochter eines Waffenhändlers, der ziemlich skrupellos schweres Material verschiebt, seiner Tochter aber Vergnügungen wie die „Komödie“ verbietet. Kein Wunder, er scheint ja Muslim zu sein: Marie zieht jedenfalls ein Kopftuch auf. Auch das wirkt noch schlüssig: Kulturelle Unterschiede verursachen persönliche Tragödien.

Als es dann um die Soldaten geht, bleut Lutz seine Botschaft den Zuschauern mit dem dicken Knüppel ein – und damit sind nicht die „Rambo“-Szenen gemeint, die auf die flexibel beweglichen Bühnenelemente Sebastian Hannaks projiziert werden. Bundeswehr-Soldaten saufen und prügeln in einer sandsackbewehrten Stellung, Waterboarding und andere Abu-Ghreib-Foltermethoden garnieren das Gelage. Später mutiert die Gräfin de la Roche zur Gräfin Ursula von der Leyen, die ihre Kinder im Schlafanzug um den Weihnachtsbaum antreten lässt und sich mit säuglingsfütternden Soldaten den Medien präsentiert: Stimmt, die Bundeswehr soll ja familienfreundlicher werden! In solchen vordergründigen Bildern ertrinkt nicht nur Lenz‘ Sozialdrama; auch die aktuelle Relevanz schrumpft zur bloßen Behauptung.

Damit's auch jeder merkt: Marie wird zur "Hure" gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts "Soldaten". Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt: Marie wird zur „Hure“ gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts „Soldaten“. Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt, darf Marie auf ihrem Abstieg vom schüchtern verliebten Mädchen zum ausgestoßenen Opfer „Hure“ an die Wand krakeln. Zum Glück vermittelt Susann Vent-Wunderlich singend einige Aspekte mehr als die Grobschnitt-Regie. Ihr farbenreicher Sopran kann zärtliche Erwartung, aber auch Wut, Verlorenheit und Erschöpfung ausdrücken. Joslyn Rechters Bühnenerfahrung bewährt sich als Fabrikantengattin im Strickkostüm und als glamouröse, parkettsichere Gräfin. Jan Friedrich Eggers beleuchtet die Facetten des jungen Stolzius, der vom noblen Liebhaber zum rächenden Täter und Opfer zugleich mutiert.

Die Soldaten – Per Håkan Precht, Sungkon Kim, Silvio Heil, Genadijus Bergorulko – singen kalt, klar und kantig. José Gallisa ist als Wesener eine autoritäre Vaterfigur mit wuchtiger, aber unflexibler Stimme. Daniel Wagner als eingeschüchterter Sohn der Gräfin zeigt einen klangvoll hellen, aber oft zu flach positionierten Tenor. Das halbe Dutzend kleiner Rollen ist adäquat besetzt, auch Chor und Statisten bewegen sich in den sich rasch wandelnden Räumen sicher und gekonnt.

Die sorgfältige erarbeitete Klanglandschaft im Orchester, erarbeitet von dem bereits in Mainz als hoch begabt aufgefallenen Osnabrücker GMD Andreas Hotz, war in der besuchten Vorstellung bei Kapellmeister An-Hoon Song in guten Händen. Die Osnabrücker Symphoniker waren den sperrigen Reibungen ebenso gewachsen wie den emotional aufbegehrenden Momenten großen Klangs. Ein musikalisch lohnender Abend; die theatralische Bemühung möchte man mit einem Wort von Jakob Michael Reinhold Lenz bezeichnen: malhonett.

Weitere Informationen: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?=&stid=929




Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



Barocke Burleske: Antonio Cestis Karnevalsoper „L’Orontea“ in Frankfurt

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

Wenn’s in Frankfurt mal lustig wird, ist Achtsamkeit angesagt: Mit komischen Opern oder gar Operetten hat Hausherr Bernd Loebe seit Jahren kaum etwas im Sinn. Jetzt erbarmte er sich zur „fünften Jahreszeit“ einmal eines nach Witz und heit’rer Laune gierenden Publikums – aber wenn schon, dann wenigstens barock: „L’Orontea“ hatte rechtzeitig vor den närrischen Tagen Premiere; ein burlesker, geistvoller Spaß aus dem Jahr 1656, geschaffen von einem Franziskanermönch.

Antonio Cesti wusste, wie er sein Zeitalter zu packen hat, und schuf für das Innsbruck Erzherzog Ferdinand Karls zur Karnevalssaison einen handlungssatten Dreieinhalbstünder, an Personen reich, mit Anspielungen und Zweideutigkeiten kräftig gewürzt. Giacinto Andrea Cicognini, der Librettist, verstand sein Handwerk: Er wusste, wie man verwöhnte, von der Oper gesättigte Venezianer professionell zu unterhalten hatte.

Dennoch ist die „philosophisch“-allegorische Einkleidung keine bloße Maskerade, um kulturellem Anspruch zu genügen. Ein Disput zwischen „Filosofia“ und „Amore“ exponiert das Vergnügen und sorgt am Ende für die Raffinesse der Auflösung: Creonte, der alte Philosoph, löst den Knoten der heillos verschnürten Handlungs- und Gefühlsstränge. Mag ja, sein, dass die Liebe die größere Macht über die Menschen hat und ihr Streben und Drängen bestimmt. Aber ohne die lösende Vernunft könnte sie sich aus den eigenen Verstrickungen nicht mehr befreien. Eine weise Lösung nach barocker Art.

Doch zuerst geht’s um den verderblichen Einfluss amouröser Impulse auf ein (scheinbar) vernünftig wohlgeordnetes Gemeinschaftswesen. Orontea regiert als Königin in Ägypten und ist keinesfalls willens, dem triebhaften Unter-Ich zu weichen, das als dickköpfige Amorette durch das Bühnenbild Gideon Daveys geistert. Aber wie das eben so ist: In Gestalt des schönen, an ägyptischen Gestaden gestrandeten Malers Alidoro kommt die Versuchung an, und statt dem Rat des – leider zu spät geborenen – Oscar Wilde zu folgen, sich lieber gleich zu ergeben, müssen sich die zunehmend liebeskranke Regentin und ihr Hof gute drei Stunden in Musik ergießen, bis sich alles im Sinne Amors fügt.

Barocke Fülle der Zeit: 70 Minuten braucht Orontea, bis sie sich zu dem zentralen Schluss durchringt, sie liebe Alidoro. Und erst nach weiteren 130 Minuten setzt sie die Erkenntnis folgerichtig durch. Dazwischen: Rezitative und Arien, einige von entzückendem Reiz, Sehnen, Begehren, Eifersucht, Trunk Travestie und Täuschung, Verzweiflung und Verwechslung, Briefe, Amulette und Piraten: Das ganze Repertoire wird aufgefahren, um Spaß und Spannung der Zuschauer zu erhöhen, bis endlich Creonte – mit der soliden, unfehlbar sitzenden Stimme von Sebastian Geyer – der Liebe freie Bahn gibt.

Regisseur Walter Sutcliffe – er inszenierte in Frankfurt Benjamin Britten selten gespielten „Owen WIngrave“ mit glücklicher Hand – schaut genau hin, auf Lust und Elend körperlichen Begehrens, auf lächerliche und tragikomische Versuche der Figuren, sich dem beliebten oder begehrten Gegenüber interessant zu machen, auf Getändel und Gemütstiefe.

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Orontea etwa, die Königin, reagiert in „Liebesdingen“ ja nicht wie eine erfahren gereifte Seele. Sie hat den Attacken Amors in etwa so viel entgegenzusetzen wie ein dreizehnjähriger Teenager, reagiert wechselhaft, eifersüchtig, überzogen. Das Kostüm von Gideon Davey verdeutlicht den Fall: Zunächst in einer blauen Robe mit dem Kragen der „jungfräulichen“ Elisabeth Tudor, dann mit den exaltierten Würfen eines barock anmutenden Kleides, das auch ein köstliches Praliné verpacken könnte, schließlich schüchtern-reizstark entblättert schlittert die Königin in den emotionalen Wirrwarr hinein.

Auch andere Personen wechseln äußere Hülle und innere Seelenstimmung: Aristea etwa liefert mit Haut und Pailletten den Nachweis, dass Amor „auch die Alten nicht verschont“. Der Tenor Guy de Mey, der schon in der CD-Aufnahme mit René Jacobs mitgewirkt hat, macht aus der für einen tiefen Alt gedachten Rolle eine groteske, scharfe Travestienummer.

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus "L'Orontea" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus „L’Orontea“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Dass Sutcliffes Konzept vor allem im ersten Teil vor der Pause nicht trägt, liegt nicht nur an der Oper selbst, die sehr lange braucht, um alle Charaktere zu exponieren. Es liegt auch an der Distinktion des Regisseurs. Die Szenen ziehen sich, Abstecher ins Derb-Komödiantische oder in den Slapstick machen das Blei der Zeit nur punktuell leichter.

Daveys Bühne lässt barocke Schaulust vermissen: Da sorgt auch grelles Licht auf öde Sanddünen im ersten Akt nicht für Erleuchtung. Und ein hoher roter Raum, mit Büsten ausgestattet wie ein archäologisches Kabinett, bildet auch eher einen Rahmen als ein spielförderndes Element. Die tiefe Ruhe im Zuschauerraum vor der Pause sprach Bände.

Nach der Pause zieht das Tempo an, werden die Szenen burlesker, wenn auch nicht unbedingt belangvoller. „Amore“ behauptet ihre Herrschaft immer unverblümter: Die Putten vervielfachen sich; in Abendkleidern mit speckigen Ärmchen grillen sie Würstchen, schieben Kulissen, lugen hinter allen Kanten hervor. Das erinnert an den bunten, oberflächlichen Bühnen-Trash, mit dem in der Intendanz von Peter Jonas einst David Alden angetreten war, die Münchner zu Händel-Fans zu bekehren.

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Dirigiert hatte diese Münchner Gesellschafts-Divertissements einst Ivor Bolton – und er debütiert in Frankfurt nun mit einer kritisch erarbeiteten Neuausgabe von Cestis Musik, den Streichern des Frankfurter Opernorchester und Solisten aus dem Monteverdi Continuo-Ensemble. Sie steuern die Spezialinstrumente bei: Theorbe, Lirone, Gambe, Trompete, Posaune, Zink, Orgel.

Bolton pflegt nicht die ruppige Ästhetik mancher Originalklang-Ensembles. Er setzt auf einen weich geformten, plastischen Klang, auf behutsame Akzente und federnden statt polternden Rhythmus. Das wirkt überzeugend in den Momenten der Innerlichkeit wie in der Arie „Intorno all’idol mio“, mit der die vorzüglich singende Paula Murrihy die seelische Tiefe der Orontea offenbart. Die burlesken Momente allerdings vertrügen entschlosseneren Zugriff in Artikulation und Rhythmus.

Unter den Sängern profiliert sich Paula Murrihy erneut als eine der leuchtenden Stimmen des sorgfältig gepflegten Frankfurter Ensembles. Ob in den sicher gesetzten verzierten Passagen oder im elegant gebildeten Legato: sie ist höhenschön, sicher in der Stütze und klangvoll im Timbre präsent. Mit schmeichelndem Timbre und geschmeidiger Stimmführung empfiehlt sich der katalanische Counter Xavier Sabata als Alidoro, selbst wenn ihm der virile Nachdruck ein wenig fehlt. Eigentlich war für diese Produktion Franco Fagioli angekündigt, der sich auf seiner Homepage aber mit Verweis auf höhere Gewalt entschuldigte.

Matthias Rexroth und Louise Alder lassen als „niederes“ Paar kaum Wünsche offen. Simon Bailey hat als Gelone die buffoneske Basspartie auszufüllen: Den ständig alkoholisierten, jede Gelegenheit zu Schlaf oder voyeuristischer Neugier nutzenden Diener bringt er mit derbem Charme auf die Bühne, stimmlich hat er mit den geforderten Wechseln ins Falsett seine Probleme – kein Wunder, denn was im 17. Jahrhundert Sache gut ausgebildeter Spezialisten war, kann heute nicht ohne Weiteres von einem Sänger verlangt werden, der von Bach bis Bartók alles singen können soll. Am Ende war der größere Teil des Publikums zu reichlich Beifall aufgelegt.




Frech und weltläufig: „Ball im Savoy“ von Paul Abraham am Theater Hagen

Eleganter Bohemièn: Johannes Wollrab als Aristide in "Ball im Savoy" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Eleganter Bohemièn: Johannes Wollrab als Aristide in „Ball im Savoy“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Nein, einen besonders guten Ruf genossen die Operetten von Paul Abraham nach dem Zweiten Weltkrieg nicht: Am ehesten tauchte noch „Viktoria und ihr Husar“ auf den Spielplänen auf, weil sie mit dem Schlager „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ dem Zeitgeschmack entsprechend recht gut zu sentimentalisieren war.

Aber „Die Blume von Hawaii“ hielt man spätestens in den siebziger Jahren für grenzwertig bis unspielbar, und „Ball im Savoy“ war seit dieser Zeit so gut wie völlig verschwunden – trotz eines prominent besetzten Films von 1955 mit Nadja Tiller, Caterina Valente, Bully Buhlan und Bibi Jones und einer TV-Produktion von 1971 mit Gritt Boettcher, Christiane Schröder, Klaus Löwitsch und Theo Lingen.

Das scheint sich seit einigen Jahren zu ändern: Den Kolonial-Exotismus der „Blume von Hawaii“ sieht man heute aus einer anderen Perspektive. Die rekonstruierte Partitur, wie sie an der Wiener Volksoper erklang, erwies die genialen Fähigkeiten Abrahams als Instrumentator. „Viktoria und ihr Husar“ wurde durch Florian Ziemen in Gießen gründlich entstaubt. Und „Ball im Savoy“, dem noch Operetten-Spezialist Volker Klotz nicht viel gute Worte schenkte, weckte der WDR 2010 mit einer konzertanten Aufführung – ebenfalls in rekonstruierter Form – aus dem Dornröschenschlaf.

Rekonstruierten die Partitur von "Ball im Savoy": Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Foto: Werner Häußner

Rekonstruierten die Partitur von „Ball im Savoy“: Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Foto: Werner Häußner

Die phänomenale, opulente Premiere an der Berliner Komischen Oper im Juni 2013 markierte nicht nur die Rückkehr von Paul Abrahams Musik an den Ort ihrer Entstehung, sondern offenbar auch eine Trendwende in der Rezeption. „Ball im Savoy“ erschien in den letzten beiden Jahren in Plauen-Zwickau und Gera-Altenburg, kommt im Mai 2015 in Halle/Saale heraus und wird derzeit in Hagen gespielt. Nicht zu vergessen: In Dortmund steht mit „Roxy und ihr Wunderteam“ eine weitere Abraham-Operette auf dem Spielplan, die nicht zur Trias der Erfolge der Weimarer Zeit gehört, sondern erst 1936 entstand, als der aus Ungarn stammende, aus Deutschland vertriebene Jude Paul Abraham in seiner Heimat an seine Berliner Erfolge anzuknüpfen versuchte.

In Hagen führen Regisseur Roland Hüve und Ausstatter Siegfried E. Mayer einen Kampf gegen die Armut des Theaters, den sie nur zum Teil gewinnen. Das Bühnenbild mit seinen von Ulrich Schneiders Licht gnädig geschönten Vorhängen kann das mondäne Flair nicht beschwören, ist aber klug konzipiert. Denn es lässt Raum für die Choreografien und wirkt als unauffälliger Horizont für Mayers wirklich atemberaubende Kostüme. Sie lassen die verschwenderische Revue ahnen, die im Dezember 1932 die Berliner Theaterunternehmer Rotter im Großen Schauspielhaus (in DDR-Zeiten der alte Friedrichstadtpalast) ausstatteten, um den dringend benötigten finanziellen Erfolg zu erzielen.

Nur scheinbar ein Paar - oder doch nicht? Marilyn Bennett als mondäne Tangolita und Johannes Wollrab als Aristide in "Ball im Savoy" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Nur scheinbar ein Paar – oder doch nicht? Marilyn Bennett als mondäne Tangolita und Johannes Wollrab als Aristide in „Ball im Savoy“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Mayer lässt es glitzern und funkeln, in Weiß und Rot, Gold und Violett. Ronald Bomius und seine Mitarbeiter in der Maske verwandeln das Ballett, den Chor und die Statisterie in bubiköpfige Damen und pomadig gescheitelte Herren – die ganze demí-monde des Berlin der zusammenbrechenden Weimarer Republik gibt sich tanzend und swingend ein Stelldichein.

Den Damen bleibt er nichts schuldig: Madeleine (Veronika Haller), die so gerne treu und häuslich wäre, hat in Weiß und Goldblond einen rauschenden Auftritt. Eine Affäre aus den Dandy-Zeiten ihres Ehemanns Aristide (Johannes Wollrab), die schöne Tangolita (Marilyn Bennett), tritt als rauchig-rote Versuchung in die Arena der Verwicklungen, an deren Ende die Unschuld der beinahe betrogenen Betrügerin Madeleine feststeht.

Den Trick zum Beweis hat sich Daisy Darlington alias Kristine Larissa Funkhauser ausgedacht. Diese Frau sprengt so ziemlich jede zeitgenössische Heimchen-am-Herd-Ideologie: Eine amerikanische Komponistin (!) von Jazz (!), die sich ein männlichen Pseudonym zulegt, um ihrem Vater zu beweisen, dass sie das Zeug zum Erfolg hat, um sich ihre Unabhängigkeit (!) zu sichern und der Heirat mit einem unterbelichteten Schokoladenfabrikanten zu entgehen.

Dass die Nazis mit diesem Prototyp einer selbstsicheren Frau nichts anfangen konnten, liegt auf der Hand. „Ball im Savoy“ verschwand schon im Frühjahr 1933: die jüdischen Gebrüder Rotter waren pleite, der Jude Abraham aus Deutschland geflohen. Für die saubere, deutsche Operette, wie sie sich die NS-Kulturpolitik wünschte, war das freche, weltläufige Werk Abrahams nicht geeignet.

Regisseur Roland Hüve – er hat unter anderem in Bielefeld Cole Porters „Anything goes“ in Szene gesetzt – kennt die Herausforderung der großen Szene, des präzisen Timing und des hohen Tempos auf personenreicher Bühne. Da spielen das Ballett und der Opernchor (musikalisch einstudiert von Wolfgang Müller-Salow) wacker mit. So ganz können sie die bräsigen Bewegungsmuster der üblichen Operettenroutine nicht überwinden; schuld daran sind auch Andrea Danae Kingstons mäßig originellen Choreografien. Der Augenweide fehlt manchmal das Augenzwinkern: Ironie ist eben schwer …

Von Damen umschwärmt: Bernhard Hirtreiter als "Salontürke" Mustafa Bei. Foto: Klaus Lefebvre

Von Damen umschwärmt: Bernhard Hirtreiter als „Salontürke“ Mustafa Bei. Foto: Klaus Lefebvre

Auf der anderen Seite lässt Hüve den Solisten Raum, sich zu entfalten: „Ich hab einen Mann, der mich liebt“ wird so zur ganz großen Nummer Veronika Hallers, und Bernhard Hirtreiter darf als ganz im Nachtclub-Milieu assimilierter türkischer Attaché Mustafa Bei mit Esprit erzählen, wie es ist, wenn „wir Türken küssen“.

Dass in Hagen mit Microport gesungen werden muss, ist nicht recht einzusehen, zumal die Stimmen durch die Verstärkung entstellt werden: Veronika Haller hat auf einmal ein grelles Vibrato und Marilyn Bennett klingt ältlich verzerrt. Mag sein, dass ihnen David Marlow nicht vertraute, über das Abraham-Orchester zu kommen.

Die üppige Instrumentierung ist von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn rekonstruiert. Das Dortmunder Duo verwendete viel Sorgfalt bei der Sichtung der Quellen, geht aber – wie auch bei der Aufführung an der Komischen Oper Berlin zu registrieren – am Sound der frühen dreißiger Jahre vorbei. Mir scheint der Schlagzeugeinsatz zu aufdringlich, und die harte, grelle Intonation der Blechbläser erinnert eher an amerikanischen Bigband-Sound als an die schmeichelnd-lasziven Klänge der Tanzkapellen dieser Zeit, wie sie uns von Schellack-Platten entgegentönen.

Das Hagener Orchester macht sich den Tonfall, den Witz im Rhythmus, die Tanztempi und die instrumentalen Farben schnell zu eigen; in dem kleinen Haus hätte Zurückhaltung bei der Lautstärke der Finesse der Musik gut getan. Dafür gelingen intime Nummern wie „Ich hab einen Mann, der mich liebt“ expressiv und empfindsam.

Mit „Ball im Savoy“ hat Hagen zweierlei bewiesen: Entgegen allen Unkenrufen lebt die Operette, wenn sie mit Sorgfalt und Liebe reanimiert wird. Und wieder einmal ist eine Hagener Produktion ein erfolgreicher Nachweis, wie unverzichtbar die Stadttheater auf der kulturellen Landkarte sind. Daher: Hände weg von diesem Erbe! „Ball im Savoy“ ist zudem ein Argument für eine Idee, auf die man in Hagen sonst schwerlich kommt: „Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh’n ….“.

Info: www.theater-hagen.de




„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




Verhext von Maxim Biller: „Im Kopf von Bruno Schulz“ am Schauspiel Köln uraufgeführt

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Maxim Billers Kolumnen in der „Zeit“ lese ich ganz gerne. Als nun eine Uraufführung nach einer Novelle von ihm auf dem Spielplan des Schauspiel Köln auftauchte, dachte ich: Unbedingt hin zu „Im Kopf von Bruno Schulz“, in der Regie von Christina Paulhofer. Merkwürdig verhext habe ich 90 Minuten später das Depot 2 wieder verlassen.

Dabei beginnt die Angelegenheit ganz dynamisch, um nicht zu sagen hektisch. Der Bühnenraum (Jörg Kiefel) ist in eine Turnhalle von anno dunnemals verwandelt, mit den typischen blauen Matten, Kästen, Böcken, Trampolin und Schwebebalken. Über eine Leinwand flimmern Schwarz-Weiß-Filmchen von turnenden Schülern in paramilitärischem Drill.

Zwei Schauspieler (Robert Dölle, Sean McDonagh) keuchen, rennen und schwitzen ebenfalls auf den Geräten, eine Schauspielerin (Nicola Gründel) treibt sie herrisch an. Die Szenerie ist im polnischen Provinzstädtchen Drohobycz angesiedelt, 1938. Der Gymnasiallehrer und heimliche Schriftsteller Bruno Schulz pflegt eine masochistische Beziehung zu Kollegin Helena und ärgert sich ansonsten mit seiner Familie herum, die aus einer leicht verrückten Schwester und deren missratenen Kindern besteht. Außerdem ist Bruno Schulz ein glühender Verehrer des Schriftstellers Thomas Mann im fernen Deutschland, von wo ansonsten unheilvolle Nachrichten über Brutalität und Antisemitismus dringen.

Plötzlich taucht in dem beschaulichen Provinzstädtchen ein Betrüger auf, der sich als ebendieser Thomas Mann ausgibt. Doch er benimmt sich schlimmer als jeder Herrenmensch: Er prügelt die ihn bewundernden Dorfbewohner und spannt sie als Lasttiere vor seine Kutsche. Nun will Bruno Schulz handeln. Er muss den echten Thomas Mann aufklären über den Missbrauch seiner Person im fernen Polen und schreibt ihm einen Brief, dem er gleich noch sein neuestes Manuskript beilegt…

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Die theatralische Umsetzung dieser Geschichte gerät eher assoziativ: Sean McDonagh, eben noch im Turnleibchen, spielt den falschen Thomas Mann in schrillen Glitzerklamotten und wirkt dabei wie ein schmieriger Casting-Show-Moderator. Robert Dölle als Bruno Schulz zwängt seinen schweren Körper unbeholfen in verschiedene Sado-Maso-Utensilien und Tunten-Gewänder und genießt es, von Nicola Gründel als Helena immer wieder gequält zu werden, die als ein aus dem Manga-Comic entsprungenes Zwitterwesen ausstaffiert ist und gelenkig über den Schwebebalken turnt.

Der drohende Holocaust kündigt sich durch Duschköpfe an der Decke an, durch die langsam und schleichend der Rauch quillt. Überhaupt hat Bruno Schulz die schwärzesten Visionen von der Zukunft, die von der Realität noch umso grauenhafter übertroffen wurden. Das verleiht dem Abend eine ebenso fiebrige wie diabolische Stimmung, die durch den ganzen billigen Sex- und Glitzerkram umso grotesker wirkt. Böse und bohrend zugleich stellt das Stück auch die Figur Thomas Manns in Frage und die blinde Bewunderung, die die jüdische Gesellschaft von D. dazu bringt, sich von diesem „Zauberer“ quälen, beschwindeln und verhexen zu lassen.

So hinterlässt „Im Kopf von Bruno Schulz“ den Eindruck eines seltsamen Spukes, wenn auch der alptraumhaften Art.

Termine und Karten:
http://www.schauspielkoeln.de/spielplan/monatsuebersicht/im-kopf-von-bruno-schulz/803/




Niemals fertig ist die Kunst: Bilder von Arnulf Rainer in Ahlen

Arnulf Rainer in Ahlen? Da möchte man beinahe im kernigen Wildwest-Tonfall sagen: „Dieser Name ist zu groß für diese Stadt“.

Doch tatsächlich: Der Künstler von einigem Weltruhm (documenta- und Biennale-Teilnahmen, Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum usw.) ist jetzt mit fast 100 Arbeiten in der westfälischen Kunstprovinz zwischen Ruhrgebiet und Münsterland gegenwärtig. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen – im Sinne einer erhöhten Präsenz.

Arnulf Rainer: Rosa Übermalung, 1959/60 (© Atelier Arnulf Rainer Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Rosa Übermalung, 1959/60
(© Atelier Arnulf Rainer
Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Manchmal gibt es solche glückhaften äußeren Umstände: Da stammt mit Andreas Dombret ein veritabler Bundesbank-Vorstand und engagierter Kunstsammler just aus Ahlen. Er wiederum kennt Rüdiger Andorfer, den Geschäftsführer des Arnulf Rainer Museums in des Künstlers Geburtsort Baden bei Wien. Also werden Kontakte kreuz und quer geknüpft. Und so kann Ahlens Museumsleiter Burkhard Leismann jetzt eine Ausstellung präsentieren, die auch Anreisen lohnt.

Der konzentrierte Querschnitt durchs riesenhaft angewachsene Lebenswerk lässt einige wesentliche Merkmale dieses speziellen Schaffens hervortreten. Der mittlerweile 85jährige Österreicher Arnulf Rainer, der Kunstakademien zumeist schon nach wenigen Tagen fluchtartig verließ, wurde im Lauf der vielen Jahre besonders mit zahllosen Übermalungen bekannt. Er hat eigene und fremde Bilder übermalt, aber auch wertvolle Bücher. Kleingeister haben ihm das ankreiden wollen. Doch das ist lange her.

Arnulf Rainer: GRABES FURCHT, 1973 ( Tusche, Ölkreide, Öl auf Fotografie) (© Atelier Arnulf Rainer Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: GRABES FURCHT, 1973 ( Tusche, Ölkreide, Öl auf Fotografie)
(© Atelier Arnulf Rainer
Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer ist ein Künstler, der im Grunde kein „fertiges“ Werk kennt. Immer weiter und weiter geht der Schaffensprozess – oftmals eben durch die Negation (oder erneute Anverwandlung) vorhandener Arbeiten hindurch. Fast schon wieder erstaunlich, dass dabei doch etliche abgeschlossene Werke entstanden sind, und zwar so zahlreich, dass preisbewusste Galeristen ob der Fülle schon wieder unruhig werden…

Ein Katalog kann schwerlich wiedergeben, was hier geschieht. Die Bilder (malerische Werke, Arbeiten auf Papier, Foto-Bearbeitungen) sind so ersichtlich den lebendig sich fortzeugenden Augenblicken abgewonnen und abgerungen, dass sich dies alles letztlich nicht stillstellen lässt. Hier fließen energetische Ströme noch und noch. Zuweilen umwölken die Liniengespinste Gesichter, als nähmen geheimste Gedanken und Gefühle Form an.

Arnulf Rainer: Teneriffa Kreuz, 2009, Acryl auf Papier (© Atelier Arnulf Rainer. Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Teneriffa Kreuz, 2009, Acryl auf Papier (© Atelier Arnulf Rainer. Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Ja, wer weiß: Vielleicht kommt der immer noch wie besessen produktive Arnulf Rainer – trotz gesundheitlicher Begrenzungen des Alters – eines Tages abermals auf frühere Bilder zurück, um sie noch einmal von Grund auf neu zu schaffen. Zumindest ist es denkbar. Hingegen mag man sich gar nicht ausmalen, wie es aussähe, wenn etwa deutlich minder begnadete Künstler seine Verfahrensweisen nachahmen wollten.

Zu Beginn des Ahlener Rundgangs sieht man Arbeiten aus den späten 40er und frühen 50er Jahren, die noch von surrealistischen Anwandlungen geprägt sind. 1951 hatte Rainer, gemeinsam mit Maria Lassnig, den Surrealisten-Altvorderen André Breton in Paris besucht, war allerdings enttäuscht von dessen gedanklicher Erstarrung. Eigene Wege waren ratsam.

Die surrealistischen Impulse ließ er also hinter sich. Phasenweise geradezu explosiv, setzt eine entschiedene, radikale Reduzierung der Formensprache ein, die bis ins feinste Geäder einzelner Linien reicht oder schwärze Flächen gebiert. Man mag das dem zeitgenössischen Informel zurechnen, doch geht es nicht in derlei Bezeichnungen auf. Aber natürlich gehört Arnulf Rainer trotz aller Einzelkönnerschaft mit einigen Fasern auch zur bewegten Kunstszene Österreichs, die sich zumal in den 60ern in wildwüchsigen Trieben erging.

Arnulf Rainer: Ohne Titel, 2009. Leimfarbe auf Leinwand auf Holz (© Atelier Arnulf Rainer - Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Ohne Titel, 2009. Leimfarbe auf Leinwand auf Holz (© Atelier Arnulf Rainer – Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer arbeitet vorwiegend seriell. Nie stellt er nur ein einziges Bild auf die Staffelei. Gleichzeitig sind dreißig, vierzig oder mehr Schöpfungen in Arbeit, in fortwährender Umformung, Verwandlung und Verdichtung begriffen.

Es ist, als arbeite dieser Künstler vollends „aus sich selbst heraus“, so nah am Ursprung der Empfindungen scheinen seine Kreationen zu sein. Hier walten keine Konzepte, hier geht es sogleich ins Einzelne – und niemand weiß, wohin das alles führen kann. Solche Bilder können auch schon mal roh wirken, naturhaft schrundig im Geiste der Art brut, die Rainer schon früh gesammelt hat.

Die Bilder aus seinem Hiroshima-Zyklus lassen den atomaren Schrecken Gestalt annehmen wie nur irgend möglich. Es sind mahnende Bilder, die freilich keine Mahnung im Sinn haben. Und somit umso dringlicher.

Ebenfalls ungemein intensiv geraten die aus Büchern entnommenen und übermalten Künstlerbildnisse, beispielsweise ausschnitthafte Porträts von Rembrandt und Van Gogh. Hier kommt das (nicht selten düstere) Seherische im Künstlerischen auf einen visuellen Begriff.

Grandios auch die Kreuzbilder, ein weiterer Schwerpunkt in Rainers Oeuvre. Bis in die jüngste Werkphase führen einige „Teneriffa-Kreuze“, wie sie Rainer in seinem Winteratelier auf den Kanaren geschaffen hat. Die Kreuze nehmen – nach menschlichem Maß – Kraft- und Energielinien derart feinfühlig auf, dass sie zu flirren scheinen wie eine sonst unsichtbare vitale Urkraft. Eigentlich kein Wunder, dass Rainer auch Ehrungen theologischer Fakultäten zuteil wurden. Man könnte ja gläubig werden vor solchen Schöpfungen.

Arnulf Rainer. Malerei, Arbeiten auf Papier. Sonntag, 15. Februar (Eröffnung 11 Uhr), bis zum 26. April 2015. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1/Weststraße 98. Di-Fr 14-18 Uhr, Sa/So, Feiertage 11-18 Uhr. Tageskarte 6 (ermäßigt 4,50) Euro. Katalog 29 Euro. Weitere Infos: www.kunstmuseum-ahlen.de




Die Neue Philharmonie Westfalen auf den Spuren der Farbenpracht ungarischer Musik

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Der stilisierte Notenschlüssel, gleich einer eilig dahingeworfenen Kritzelei, ist so etwas wie ein Markenzeichen der Neuen Philharmonie Westfalen (NPW). Symbolisch steht er vor allem für Dynamik.

Das dürfte ganz im Sinne von Rasmus Baumann sein, Chefdirigent des Orchesters. Denn sein Stil auf dem Podium ist von viel Elan geprägt. Mag ihm auch das große Charisma fehlen, versteht er es doch, Freude an der Musik zu vermitteln. Darüberhinaus aber scheint das gemeinsame Spiel eine Frage von Genauigkeit, Strukturbewusstsein, mithin von gehöriger Konzentration zu sein.

Neun Sinfoniekonzerte bestreitet das Orchester in dieser Spielzeit, sieben davon dirigiert Baumann selbst. Diese Präsenz, diese Kontinuität ist von eminenter Bedeutung. Gilt es doch, einen Klangkörper zu formen, dessen Qualität sich mit anderen Formationen der Region messen kann. Die NPW scheint dabei auf einem guten Weg. Manche Entwicklung ist überaus achtbar.

Das zu erleben, hat nun das 6. Sinfoniekonzert alle Gelegenheit geboten. Das Programm mit Musik ungarischer Komponisten ist nämlich bestens dazu geeignet, in Klängen zu schwelgen, solistisch zu glänzen, oder rhythmische Kraft zu entwickeln. Wie etwa in Zoltán Kodálys „Tänze aus Galánta“. Hier paaren sich Schwermut und ungebremste Lebensfreude. Hier besticht das homogene, süffig-leidenschaftliche Spiel der Streicher ebenso wie das melancholische Klarinettensolo. Dank Baumanns exakten Dirigats gelingen die Tempowechsel, spielt das Orchester rhythmisch überwiegend à point.

Partituren sind für Rasmus Baumann sein "wichtigster Reichtum". Foto: NPW

Ein Mann mit Herz für Partituren: Rasmus Baumann, Dirigent. Foto: NPW

Problematisch aber bleibt, dass Dirigent und Orchester offenbar viel in Struktur denken, in klarer Gliederung, und so holzschnittartiges Musizieren nicht immer vermeiden können.

Die Präsenz mancher Instrumente geht zudem einher mit der Blässe anderer. Evident wird dies in Béla Bartóks „Konzert für Orchester“. Denn hier wird, in Anlehnung an das barocke „Concerto grosso“-Prinzip, das Zusammenspiel verschiedener Instrumente oder Instrumentengruppen zwar plastisch herausgeschält, doch die Fallhöhe des Werks an sich, die große Idee, bleiben unterbelichtet.

Baumann lässt kontrolliert musizieren, zu Lasten interpretatorischer Spontaneität. Der grell parodistische Einwurf im „Intermezzo interrotto“ etwa wirkt allzu handzahm. Die düstere „Blaubart“-Atmosphäre des 3. Satzes aber, das unheimliche Flirren, die sich steigernde Emphase illustrieren gehörige Dramatik. Bartók, mit allem Herzblut ein Ungar, krank und unglücklich im amerikanischen Exil, spiegelt mit diesem Konzert eben auch seine Seele. Dies allerdings vermittelt die Neue Philharmonie Westfalen nur bedingt.

Besser aufgestellt ist das Orchester indes, wenn es um die Deutung von Franz Liszts 2. Klavierkonzert geht. Glanz und Heroik bestimmen das Klangbild. Nur schade, das Solist Bernd Glemser ein wenig angestrengt wirkt, um den hochvirtuosen Klavierpart zu meistern. Auch was das Spiel mit Farben angeht, hat das Orchester mehr zu bieten denn der Solist. Glemser spielt souverän, aber etwas statisch – und im übrigen sehr auf den Dirigenten fixiert. So bleibt alles im Gleichgewicht, und der Liszt’sche Brocken wird zur schwer verdaulichen Angelegenheit. Es ist aber, das sei hier kühn behauptet, ohnehin nicht das beste Stück des Komponisten.

 

 




Nägel gegen die Gewalt: Günther Uecker in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Ein Menschenauflauf für ein paar alte Nägel? Die Schlange vor der Kunstsammlung NRW (K 20) in Düsseldorf mäandert bis zur Heinrich-Heine-Allee, ein Durchkommen ist nicht möglich. Auch der Presseausweis hilft da nicht weiter: „Der Pressetermin war gestern“, bescheidet der Zerberus am Eingang barsch.

Aber ich möchte doch über die Eröffnung berichten: Denn heute Abend beginnt die erste Museumsausstellung von Günther Uecker in Düsseldorf, wo der inzwischen 84jährige Künstler seit 1953 lebt und wo er Anfang der 60er Jahre gemeinsam mit Heinz Mack und Otto Piene die ZERO-Bewegung begründete. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft soll sprechen, Uecker selbst ist anwesend. „Auch für Journalisten kein Zutritt“ weist der Zerberus einen weiteren Kollegen ab. „Sie schreiben doch heute sowieso nichts mehr….!“ Ach ja? Schon mal was von Online-Journalismus gehört?

Wie ich dann doch noch reingekommen bin, bleibt mein Berufsgeheimnis. Nur so viel: Ein Zerberus kann eben auch nicht alle Pforten gleichzeitig bewachen…

Innen halten sich die Gäste auf Einladung des Sponsors schon am Sektglas fest, während Hannelore Kraft im Saal und über drei Monitore das Kunstland NRW lobt und eine „gute Lösung“ ankündigt, die für die Portigon Sammlung der West LB gefunden werden soll. Im Moment plant die Landesregierung eine Stiftung, um den Verkauf der Werke in alle Welt zu verhindern.

Ich halte mich lieber an das, was schon hier hängt – und bin begeistert: Im großen Raum zur Rechten empfangen einen Ueckers unverwechselbare Nagelbilder. Jedes hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Plastizität, seine eigene Dynamik. Der eiserne Werkstoff wirkt mitunter fast weich, wie die Wirbel im Fell von Tieren; ich möchte gerne mit der Hand darüber streichen, aber lasse das natürlich, um nicht unangenehm aufzufallen.

Stundenlang könnte ich an den zahlreichen unterschiedlichen Nagel-Exponaten entlangwandern, jedes ist anders, jedes verändert sich mit der Blickrichtung des Betrachters. Für Uecker ist der Nagel aber nicht nur Gebrauchsgegenstand, sondern Symbol mit biblischem Bezug. Mit Nägeln wurde Jesus ans Kreuz geschlagen; so steht der Nagel bei Uecker auch dafür, wie Menschen Menschen Gewalt antun – nicht zuletzt in einem von zwei Weltkriegen geprägten Jahrhundert.

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Diese Lesart setzt sich im zweiten Ausstellungsraum fort, obwohl das Material ein anderes ist: Große Stoffbahnen hängen hier von der Decke, mal zerlöchert, mal bemalt und bedruckt. Der „Brief an Peking“ entstand für eine Ausstellung in China 1994. Zentrales Element ist die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die Uecker in dichter Schrift auf den Stoff geschrieben und dann mit schwarzer Farbe überarbeitet hat: Die Ausstellung wurde kurz vor der Eröffnung abgesagt und konnte erst 13 Jahre später gezeigt werden.

Nageln, geißeln, aufklatschen, vergasen: Die Stirnwand des Raumes wird ganz von schwarzen Worten in verschiedensten Sprachen eingenommen, die die „Verletzung des Menschen durch den Menschen“ ausdrücken. In der Mitte des Raumes schließlich stehen die zum „Terrororchester“ versammelten Klangobjekte, die von den Museumsbesuchern per Knopfdruck betätigt werden können und einen ohrenbetäubenden, kreischenden Lärm verursachen. Die Gewalt wirkt über das Ohr, den Verstand, das Auge und den Tastsinn auf uns ein: Das ist ebenso plakativ wie wahr, denn kein Opfer kann sich dieser Wucht entziehen. Wir können nur aufhören, uns immer weiter etwas anzutun.

Weitere Infos:
www.kunstsammlung.de




Er ist der Menschheit müde – Dortmunder „Elektra“ endet im Weltschmerz des Tyrannen

Elektra

Von rechts: Elektra (Caroline Hanke) sowie Bettina Lieder und Merle Wasmuth als Chor der Landmädchen. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Schon Minuten, bevor das Licht im Saal erlischt, kann man auf der Bühne einer jungen Frau bei ihren Turnübungen zusehen. Verbissen trimmt sie ihren Körper mit Liegestützen, stemmt, dehnt und streckt sich und wirkt dabei mit ihrer Arbeitshose und den groben Schuhen wie eine Gefangene in ihrer Zelle, die sich fit macht für bessere Zeiten „draußen“. Die Frau ist Elektra, das Stück „nach Euripides“, das an diesem Abend im Dortmunder Schauspielhaus gegeben wird, heißt wie sie, und eine Wartende ist sie auch.

Elektra, zwangsverheiratet und verbannt, wartet auf ihren Bruder Orest. Die zugrundeliegende Story – Sophokles, Aischylos und Euripides haben sie in der Antike erzählt, eine Heerschar von Autoren der Neuzeit hat sie nacherzählt – kreist um das Geschwisterpaar Elektra und Orest aus dem Geschlecht der Atriden, das Rache nehmen will an der ungetreuen Mutter Klytaimnestra, die den Vater ermorden ließ und seinen Mörder heiratete.

Elektra ist voller Rachsucht, doch als schwache Frau auf männliche Hilfe ihres Bruders Orest angewiesen. Orest hinwiederum ist reichlich unentschlossen. Doch die Rachemorde geschehen, und es wird nicht alles gut. Generationen von Pennälern und/oder Theatergängern durften sich bei Befassung mit diesem Stoff unter anderem fragen, ob offensichtliches, schweres Unrecht den Mord, in Sonderheit an eigener Verwandtschaft, rechtfertigen kann oder nicht.

Elektra

Orest ist wieder da! Elektras Umgebung in wüsten Freudentänzen (Foto: Theater Dortmund: Edi Szekely)

Der Text für Paolo Magellis Inszenierung stammt vom Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin, umgangssprachlich kurz gehalten und gut verständlich und zumal dann, wenn der aus Bettina Lieder und Merle Wasmuth bestehende Zwei-Frauen-Chor seinen Senf dazugibt, oft auch ausgesprochen lustig.

Sparsam mit Elektra (Caroline Hanke), Klytaimnestra (Friederike Tiefenbacher) Orest (Peer Oscar Musinowski) Pylades (Carlos Lobo) und einem recht frei gestalteten „Henker/Bauer“ (Frank Genser) besetzt, ist dieses Stück eigentlich ein Kammerspiel, und es läßt sich auch so an, transportiert das ungeheuerliche Geschehen von einst und jetzt in manierlichen Dialogen.

Das heißt nicht, daß die Darstellerriege bewegungsarm auf der Bühne herumstünde und deklamierte; nein, Sportlichkeit wird den Mimen hier bis zur Schmerzgrenze abverlangt, wenn beispielsweise Peer Oscar Musinowski als Orest sich glückselig auf ein Feld von Bühnenschotter werfen und es gleich Dagobert Duck seine Geldspeicherschätze durchkraulen muß. Die griechische Heimaterde, die hier gemeint sein könnte und die dem Rückkehrer heilig ist, ist in der Dortmunder Bühnenwirklichkeit steinig und schmerzhaft.

Elektra

Auf spitzem Schotter ist das Knien schmerzhaft. Elektra (Caroline Hanke) in existentiellen Nöten (Foto: Theater Dortmund/Edi Szekely)

Wenn Elektras Entourage bei Orests Rückkehr ausflippt und säuft und tanzt bis zur Besinnungslosigkeit, wenn aus dem übermutigen Treiben ein bedrohlicher Veitstanz wird und die fröhlich in die Runde geworfenen Haß- und Schmähnamen für Königin und König sich andererseits zu einer Art Kindernachmittagsunterhaltung verselbständigen, dann wohnt all dem geradezu unübersehbar der Keim des Scheiterns inne. Und inszenatorischen Kunstgriffe wie diese wirken, wenn auch nicht eben erforderlich, so doch sinnhaft und intensivierend.

Gleichwohl ertappt man sich selbst in Betrachtung dieser Szenen bei der Vorstellung, alles in einer völlig schmucklosen, tunlichst schwarzen Kulisse ablaufen zu lassen, ohne jede Ablenkung, als in höchstem Maß konzentriertes, den Konflikt in den Mittelpunkt stellendes Sprechtheater. Dieser Wunsch bleibt unerfüllt, im Gegenteil: Um das Deutliche noch deutlicher zu machen, wird eine Live-Band unter Leitung von Paul Wallfisch aufgeboten, und über eine Leinwand über dem Bühnengeschehen laufen Videos (Mario Simon), die unter anderem Landschaften und Szenen aus glücklicheren Tagen des Atriden-Geschlechts zeigen.

Die Musiker machen ihre Sache fraglos sehr gut, Wallfischs Soundtrack ist einfühlsam und kongenial, passagenweise unerwartet leise und zart. Die ebenfalls zu preisenden Videos verharren oft in Betrachtungen karger Naturschönheit, zeigen Gräser und Landschaften, die indes eher im Revier als in Hellas gefunden worden sein dürften. Nur fragt sich, wo der Sinn von so viel erzählerischer Verdichtung liegen soll. Musikalisches und visuelles Zusatzangebot konkurrieren mit dem traditionellen Bühnenspiel um des Zuschauers Aufmerksamkeitsgunst, ohne daß der eine Weitung des Erfahrenen erführe. Kürzer gesagt: Weniger wäre mehr.

Elektra

Carlos Lobo als tyrannischer Pylades (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Die letzten gefühlt zwanzig Minuten dieses anderthalbstündigen Theaterabends gehören Orest-Begleiter Pylades, der dem ganzen ehrpusseligen Rache-Gemöhre der alten Griechen ein brutales Ende macht, indem er sich – wie er das schafft, bleibt etwas rätselhaft – zum blutrünstigen Tyrannen aufschwingt, der die anderen mit martialischen Kommandos traktiert und schließlich mit einem letzten Befehl Grabesruhe anordnet.

Offenbar mit grenzenloser Macht ausgestattet, denkt Pylades darüber nach, hundert, zweihundert Millionen Menschen zu ermorden. Ob er es aber tut, bleibt unklar. Vor allem nämlich ist er des menschlichen Machtgeschiebes, ja der Menschheit schlechthin, müde, läßt nur die Majestät der Natur und des Weltalls für sich gelten. Seine Suada ist lang, und man ist froh, wenn sie ihr Ende findet – obwohl Carlos Lobo immerhin die Synchronstimme von Javier Bardem ist.

Pylades’ Überdruß mag verstanden werden als Reaktion auf das ewige Rachenehmen und Vergelten, das die Menschheitsgeschichte bis heute prägt, unendliches Leid brachte und bringt. Statt sich den Kopf zu zerbrechen, wie man aus so einer vertrackten Elektra-und-Orest-Nummer rauskommt, könnte man es doch einfach auch ganz lassen. Einfach aufwachen. Einfach einen dicken Strich ziehen. Oder alles auslöschen. Das, in etwa, scheint die frustrierte Schlußbotschaft des berserkerhaften Herrn Pylades zu sein.

Mit dem honetten Kammerspiel ist es an diesem Abend also nichts geworden. Das Publikum aber zeigte sich begeistert.

Termine: 13.2., 28.2., 1.3., 12.3., 15.4, 24.4., 3.5.2015

http://www.theaterdo.de/detail/event/elektra/




Meeresrauschen und Insekten in „3D“: Rätselhafte Premiere in Düsseldorf

Das erste Bild ist stark: Eingerahmt von drei Leinwänden sitzt man wie am Meeres-Strand, die Video-Wogen rollen heran, die Brandung rauscht. Doch das eindrückliche Bild erlischt und man hört und sieht einem (Ex-)Ehepaar beim Streiten zu.

Sie (Tanja Schleiff) hat ihn (Michael Abendroth) vor Jahren verlassen und eine Galerie in New York aufgemacht. Er war immer mit der Firma verheiratet, ist nun im Ruhestand und hegt die Hoffnung, vielleicht mit ihr den Lebensabend zu verbringen. Diese schwindet ziemlich schnell, denn sie will nur kurz bleiben und auf keinen Fall zu ihm zurück. Doch was will sie dann überhaupt hier?

Der Düsseldorfer Künstler Stephan Kaluza hat das Stück „3 D“ geschrieben, das jetzt im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere hatte, und er hat das Bühnenbild selbst entwickelt. Leider werden nach dem interessanten Eingangsbild die Leinwände nur sehr sparsam genutzt: Nur schemenhaft und blass flimmern Einrichtungsgegenstände und Insekten über die Projektionsfläche, meist bleibt sie weiß. Auch der Dialog des streitenden Ehepaars wirkt irgendwie hölzern, gleichwohl die Schauspieler ihr Bestes geben.

Tatsächlich entwickelt die Story dann noch einige überraschende Wendungen: Erst stellt sich heraus, dass die gemeinsame Tochter tot ist, woraufhin ihre Silhouette auf der Leinwand erscheint. Dann beschuldigt die Frau den Ex-Mann, die Tochter missbraucht zu haben. Dieser leugnet – keine Gefahr für ihn, denn die Tochter kann als Anklägerin ja nicht mehr auftreten.

Plötzlich behauptet die Frau, die Tochter sei doch nicht tot. Nun bekommt er es mit der Angst, zeitgleich erscheint die Tochter unzählig vervielfältigt im Video. Der Mann bricht zusammen und gesteht die Tat. Nur ein Motiv hat er irgendwie nicht: „Ich tat es, weil ich es konnte“. Obwohl der Plot permanent Haken schlägt, wirkt die Geschichte irgendwie ausgedacht, es fehlt eine gewisse Erdung, die auch Regisseur Kurt Josef Schildknecht nicht erzeugen kann. Sprechen oder fühlen so wirklich Menschen, wenn es um Missbrauch geht?

Sogar als am Ende klar wird, dass die ganze Zeit die missbrauchte Tochter selbst und gar nicht ihre Mutter auf der Bühne stand, bleibt ein wahres Drama aus. Fast scheint die Geschundene ihren Peiniger zu begehren. Also, ich nehme ihr das nicht ab.

Karten und Termine:
http://www.duesseldorfer-schauspielhaus.de/de/index/spielplan/alle-stuecke/stueck.php?SID=1565




Entdeckung in Berlin: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ – Operette, zur Farce zugespitzt

Vielleicht waren es nicht nur Zwänge der Disposition, die Barrie Kosky veranlassten, die Premiere von „Eine Frau, die weiß, was sie will“ auf den 30. Januar zu legen. An dem Tag, an dem vor 82 Jahren Hitlers Gefolgsleute mit Fackeln durchs Brandenburger Tor zogen, um die „Machtübernahme“ zu feiern, fegte die Operette von Oscar Straus über die Bühne der Komischen Oper – des einstigen Metropol-Theaters, wo das Zugstück für die damalige Diva Fritzi Massary 1932 seine Uraufführung feierte.

Straus und Massary waren Opfer der Hetze der Nazis: Die eine verließ schon Ende 1932 Deutschland, der andere hatte im neuen Reich keine Chance und musste schließlich Europa verlassen: Die Lust auf scharfzüngige Satire und kabarettistischen Witz haben sich die Deutschen gründlich ausgetrieben.

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Kosky setzt mit „Eine Frau, die weiß, was sie will“ seine verdienstvolle Reihe kaum mehr gespielter, aber exemplarischer Operetten aus der Zeit vor der Naziherrschaft fort. Und er richtet den Blick auf das, was aus dem Genre auch hätte werden können: Straus, mit seiner Erfahrung mit dem „Überbrettl“, dem ersten musikalischen Kabarett Deutschlands, orientierte sich weniger an der klassischen Form der Operette, sondern an den früher beliebten Vaudevilles – typisierenden Singspielen –, an leichtfüßig-flinken Boulevardkomödien à la Georges Feydeau und natürlich am Kabarett und der Revue mit ihren frechen Songs, ihren politischen und erotischen Zweideutigkeiten. Konsequent nannte er das Stück auch „musikalische Komödie“.

Der Intendant der Komischen Oper schärft als Bearbeiter die Sinnspitze dieser Operette noch einmal so, dass sie wirklich zustechen kann: Er verweigert sich der Bühnen- und Ausstattungs-Opulenz, dampft die 30 Rollen ein und lässt sie von zwei Darstellern spielen: Dagmar Manzel darf sich in sieben wiederfinden; Max Hopp wirbelt durch mehr als ein Dutzend Figuren. Die Bühne ist reduziert auf den dunkelroten Vorhang, der nur einen Ausschnitt freigibt: Eine Wand, eine Tür, zwei Lüster. Minimalistischer, aber auch konzentrierter geht es wohl nicht.

In diesem Mini-Raum wird agiert – aber wie! Klar, dass Kosky das Spiel mit Rollen- und Geschlechteridentitäten wieder lustvoll ausnutzt: Wer Mann ist, wer Frau, spielt keine Rolle. Auch damit spitzt er ein Kennzeichen der Operette zu.

Ein anderes Merkmal ist das Balancieren mit Sein und Schein. Dagmar Manzel ist die Diva, die eine Diva spielt – in diesem Fall die Operettenprimadonna Manon Cavallini. Die ist gleichzeitig Mutter einer unehelichen Tochter. Beide Damen kommen sich ins amouröse Gehege: Die Jüngere projiziert auf genau den Mann ihre pubertäre Glut, in dem die Ältere ihren „Frühling“ erkennen will. Das hat turbulente Folgen, aber es gibt ja noch Tugenden wie Verzicht und Mutterliebe: Am Schluss hört die Mutter den „Schrei der Natur“, es richtet sich alles und der Wertekanon des braven Publikums bleibt, zumindest vordergründig, unerschüttert.

Straus treibt mit dem Genre ein raffiniertes Spiel – und Kosky hat das analytisch durchleuchtet und dennoch nicht in ein erdrückendes Konzept, sondern in eine rasante Farce gefasst. Schon diese „Diva“ ist es wert, genauer besehen zu werden: Sie ist die „Frau, die weiß, was sie will“ und ihr Bekenntnis – der Ohrwurm der Operette – fasst alles zusammen, was eine selbstbewusste, emanzipierte Großstädterin von damals kennzeichnet.

Fritzi Massary, die legendäre Operettenkönigin Berlins zwischen 1910 und 1928, kehrte mit dieser Rolle auf die Musikbühne zurück – bezeichnenderweise für das Geld, das ihr die „Freiheit gibt“. Und Straus schuf mit seinem Librettisten Alfred Grünwald für die Bühne die Frau, als die sich die Massary auch außerhalb des Theaters inszenierte.

Dass diese Diva am Ende sich als treu sorgende Mutter offenbart, ist maliziöse Ironie, Dekonstruktion der unnahbaren Theatergöttin, aber auch Humanisierung einer Rolle, in der ein Mensch kaum sein Leben verbringen möchte: Christoph Marti, die „Clivia“ in Nico Dostals gleichnamiger Operette an der Komischen Oper, beharrte bei einer Podiumsdiskussion strikt auf der Trennung von Bühne und Privatem: „Diva“ sein bedeute eben nicht Glamour und Freiheit, sondern Selbstdisziplin, Arbeit, Verzicht und Befriedigung von Erwartungshaltungen. In Oscar Straus‘ Komödie spiegelt sich so spielerisch wie ernst diese ambivalente Bedeutung der „Diva“.

Dass Manzel diese Aspekte mit einem Tempo und einer Leichtigkeit verkörpert, die anderswo so schnell nicht zu finden sind, muss nicht extra betont werden. Sie freundete sich schon 2002 am Deutschen Theater in der „Großherzogin von Gerolstein“ mit dem musikalischen Lachtheater an und ist seit „Sweeney Todd“ (2004) nicht mehr aus der Komischen Oper wegzudenken. Jetzt schlüpft sie in Sekundenschnelle nicht nur in verschiedene Kostüme (unendlich kreativ: Katrin Kath), sondern in gegensätzliche Charaktere – eine gekonnte Revue der spezialisierten Rollenklischees, von denen Operette lebt, vom komischen Alten über die Dienerfigur bis zum Liebhaber.

Sie kreiert einen eigenen Tonfall: Der Abstand von Massarys raffiniertem Stimmeinsatz ist nicht zu verschleiern – Manzel ist eben mal keine klassisch gebildete Sängerin –, aber er gebiert eben auch eine andere Freiheit: die des Wortes, der Tonfall-Geste, des nuancierten Virtuosität des Sprechens, der angedeuteten Frivolität wie des poetischen Innehaltens. Und Straus hält sich mit Forderungen an Stimmvolumen oder -umfang so zurück, dass Manzel in jedem Moment ungefährdet bleibt.

Noch einen Zahn zulegen muss Max Hopp: Seine Verwandlungen sind schwindelerregend schnell getaktet, vom rosa Flatterkleid von Töchterchen Lucy sind es nur wenige Sekunden zu Frack und Zylinder. Preußisches Geschnarre folgt auf sächsisches Gebrabbel, der affektierte Reigen kunstvoll gedrehter Handgelenke und verzweifelt weggeworfener Arme kontrastiert sofort mit eckig-militärischen Bewegungen oder aufgedrehter Verzweiflung. Und das Tempo steigert sich, wenn Manzel und Hopp zu zweit gleichzeitig in vier Rollen schlüpfen, säuberlich gehälftet und je nach Drehung Frau oder Mann.

Das ist nicht nur höchst präzises Lachtheater, das sind auch Meisterleistungen von Kostüm- und Maskenbildnern: Chapeau für die Unsichtbaren, die in den 90 Minuten hinter der Klapptür keinen Moment die Konzentration verlieren dürfen.

Musikalisch in besten Händen ist die leichte, quirlige, beredte Partitur von Oscar Straus bei Adam Benzwi am Flügel. Das frei Schwingende in der Musik wird nicht sentimental, das Maschinelle nicht steif. Tempo und Timing stimmen, der Stimme wird ihr Recht eifersuchtslos eingeräumt. Das Orchester der Komischen Oper spielt luftig süß, nie schwer oder klebrig. Straus als musikalischer Aquarellist ist in dieser Operette immer fein, transparent, liebevoll zart, schaut eher zurück auf Franz von Suppé als zur Seite, wo Paul Abraham etwa ein grandioses orchestrales Klangfarbenspektakel mit modernen Zügen entfaltet. Das war Operette vom Feinsten, wie sie heute wohl nur an der Komischen Oper zu erleben ist. Riesengroßer Beifall!

Weitere Infos: http://www.komische-oper-berlin.de/spielplan/eine-frau-die-weiss-was-sie-will/




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

www.westfaelisches-landestheater.de




Schloß Cappenberg bleibt Kunstmuseum – doch die Ausstellungsfläche schrumpft

Schloß Cappenberg bleibt dem Kreis Unna als Museum erhalten. Kreis Unna, Landschaftsverband LWL und Graf Kanitz als Besitzer haben in wesentlichen Punkten Einigkeit über einen neuen Mitvertrag erzielt. Dies teilte der Kulturdezernent des Kreises Unna, Kreisdirektor Dr. Thomas Wilk, heute mit. Wermutströpfchen: Kunst wird es nur noch auf einer Etage geben, die andere Etage bleibt zukünftig dem Landschaftsverband für die Dauerausstellung über den Freiherrn vom Stein vorbehalten. Das Erdgeschoß hätte um die 350 Quadratmeter, das Obergeschoß 500 Quadratmeter. Wer welche Etage bekommt, muß noch geklärt werden.

Zufahrtsbereich zum Schlossgelände im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Zufahrtsbereich zum Schlossgelände im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Der neue Mitvertrag läuft über 20 Jahre. Die Miet-Konditionen für den Kreis, so Wilk, sind wesentlich günstiger als die des 2015 auslaufenden Vertragswerks, das 30 Jahre Gültigkeit hatte und den Mietern – Kreis Unna und Landschaftsverband – weitreichende Instandhaltungspflichten auferlegte. Statt rund 170.000,00 Euro werden zukünftig nur noch 100.000,00 Euro plus Nebenkosten pro Jahr an Miete fällig, Instandhaltungsverpflichtungen für das Baudenkmal entfallen. Graf Kanitz kann bei Ende des Alt-Vertrages auf eine Zahlung für Abnutzung von bis zu 1,2 Millionen Euro hoffen, im Gegenzug wird er das Gebäude auf seine Kosten für einen zeitgemäßen Museumsbetrieb mit Aufzug, Brandschutz, neuen Sanitär- und Werkstatträumen etc. ausstatten, was deutlich teurer werden dürfte.

Im Wesentlichen, so Kreisdirektor Wilk, folgen diese Absprachen seinem Konzept, das schon Mitte letzten Jahres vorlag. Seinerzeit allerdings zeigte der Graf noch wenig Bereitschaft zur Zustimmung. Das hat sich geändert, wohl auch, weil andere Mietinteressenten als Kreis und Landschaftsverband nicht in Sicht waren.

Die nächste Ausstellung endet im September, ab Oktober kann umgebaut werden. Für den Umbau ist das ganze Jahr 2016 vorgesehen. Wenn alles nach Plan läuft, wird der Kreistag am 22. September seine Zustimmung zu diesen Plänen geben.




Ein Kulturzentrum muss sich stets verändern – Gespräch über die Lindenbrauerei in Unna

Wohin wird der Weg der Kulturpolitik in Unna führen? Werden neue, ganz andere Wege beschritten? Müssen ausgetretene Pfade verlassen werden? Ein Gespräch unter Parteifreunden mit Sebastian Laaser (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Kulturausschusses:

Frage: Vorweg, den Herrn Laaser schenke ich mir, diese Förmlichkeit wäre albern. Sebastian, siehst du die Diskussion um das Kulturzentrum Lindenbrauerei als abgeschlossen an?

Sebastian Laaser: Ja und Nein. Ja, weil in den letzten Monaten ja eher diskutiert wurde, ob Jahresabschlüsse oder Wirtschaftspläne korrekt seien. Da sage ich klar, dass die nicht-öffentliche Arbeitskreissitzung aus meiner Sicht alle Fragen beantwortet hat. Ich maße mir nicht an, Prüfungen durch das Finanzamt oder vereidigte Wirtschaftsprüfer in Frage zu stellen. Ich gehe davon aus, dass die Vereinsverantwortlichen auch für das Jahr 2014 alle Unterlagen ordentlich einreichen werden.

Nein, weil es immer Diskussionen um die Brauerei gegeben hat und geben muss. Genau wie die Soziokultur insgesamt – die Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur macht das Anfang März mit einer Tagung “Zukunftskongress Soziokultur – Vorwärts und Wohin!” – müssen wir uns auch vor Ort fragen, wo wir stehen und wie die weitere Entwicklung aussehen muss. Ich finde, dazu passt es doch, dass wir in diesem Jahr das erfreuliche 25jährige Bestehen feiern können.

Die Brauerei vor 25 Jahren ist nicht mehr vergleichbar mit der von heute und sie wird in ein paar weiteren Jahren wiederum eine andere sein. Ich sähe es lieber, wir betrachteten kulturelle Angebote generell nicht als festgenagelte Statik, sondern als flexibel Reagierende und Agierende in einer sich stets verändernden Gesellschaft.

Frage: Das heißt nun?

Sebastian Laaser: Wenn in den kommenden Wochen alle notwendigen Beschlüsse eine solide Mehrheit finden, haben wir ein Jahr lang Zeit, gemeinsam mit allen Beteiligten nach zukunftsorientierten, trittsicheren Wegen zu suchen. Nicht nur für die Brauerei, sondern für die gesamte Kulturarbeit in unserer Stadt. Und zwar auf einem Weg, der die Stärken aller drei Säulen (Brauerei, ZIB mit Kulturamt und Stadthalle) berücksichtigt und diese nutzt. Daran zu arbeiten, fundamentale Konzepte aufzustellen, die anschließend resistent gegen Abweichungen und neue Anforderungen durch veränderte Rahmenbedingungen sind, halte ich im Kulturbereich für untauglich. Wir haben es hier mit einer Art lebendigem Organismus zu tun, im wahren Wortsinne lebendig.

Frage: Was hältst du in diesem Zusammenhang von Vorschlägen, beispielsweise den gastronomischen Bereich der Brauerei in die Hände der Stadthalle zu übergeben?

Sebastian Laaser: Ähnliches wurde vor rund 25 Jahren in der Gründungsphase des Kulturzentrums ja versucht. Damals scheiterte das Experiment grandios. Ich sehe nicht, dass es heute mehr Aussicht auf Erfolg haben sollte. Darüber hinaus macht es Sinn, die Brauerei als “Ganzes” zu führen und somit flexibel reagieren zu können. Nebenbei bemerkt, erwirtschaftet die Gastronomie auch einen nicht unerheblichen Deckungsbeitrag…

Frage: Wo siehst du denn Chancen auf Erfolg?

Sebastian Laaser: Wo wir gerade beim gastronomischen Bereich sind. Zunächst warne ich davor, zu glauben, dass alle Heilmittel für sieche Finanzen aus dieser Ecke gezogen werden können. Von dort kann allenfalls ein Beitrag von vielen kommen. Aber die Lindenbrauerei verfügt mit der Hausbrauerei und dem Lindenbier über ein Alleinstellungsmerkmal. Ich würde mir wünschen, dass dieser Bereich stärker als bisher ausgebaut wird bzw. Begonnenes konsequenter fortgeführt wird. Wenn man sich in unserer Region umsieht, bin ich mir sicher, dass die Brautradition mit attraktiven Angeboten durchaus interessant für Besucher sein kann.

Darüber hinaus sollten wir mit den Kulturfachleuten in unserer Stadt ins Gespräch kommen, um in diesem Fall „der Kultur Bestes zu suchen“. Wir müssen uns über eines einig sein. Darüber, dass wir auch in Zukunft in unserer Stadt ein Kulturzentrum Lindenbrauerei wollen. Ich persönlich beantworte mir diese Frage mit einem überzeugten „Ja“. Und ich stelle mir auch nicht die Frage, wie viel Geld wir für dieses Kulturzentrum in der Vergangenheit schon ausgegeben haben, sondern gebe mir selbst und vielen anderen eine Antwort: Die Brauerei und ihre Belegschaft haben in der Vergangenheit u.a. durch individuellen Verzicht enorm mitgeholfen, unserer Stadt ein Zentrum zu erhalten – und dies durch allerlei Maßnahmen (bisweilen auch schmerzhafte) für einen Preis, von dem andere Städte träumen. Wie schon gesagt, wir haben an einem Prozess zu arbeiten und nicht an finalen Lösungen.

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(Das Gespräch erschien in ähnlicher Form zuerst auf http://dasprojektunna.de)




Wanderers Seelennot: Franz Schuberts „Winterreise“ im Konzerthaus Dortmund

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Mitten in der Nacht stapft er los. Hinaus in den Schnee, durch die schlafende Stadt, weit übers Land, unbemerkt und ohne Ziel. Der einsame Wanderer hat keinen Namen, aber alle Freunde der Musik von Franz Schubert kennen ihn aus zahllosen Liedern.

In ihnen ist der rast- und heimatlose Geselle der Hauptdarsteller: ein ewig Unbehauster, der dem Glück vergeblich nachläuft. Schon einmal ist es ihm entwischt, in dem Zyklus „Die schöne Müllerin“, in dem die Geliebte seine Hoffnungen betrog. Nunmehr ist es Winter, die Liebe quälende Erinnerung, und der Bach, der am Müllerhaus noch munter rauschte, zu Eis gefroren.

Alles, auch die Hoffnung, lässt Schuberts Wanderer bei diesem Aufbruch ins Ungewisse zurück. Wir aber dürfen mit ihm gehen, ihn ein Stück begleiten auf der „Winterreise“, die von Vereinsamung und Depression erzählt, von zunehmender Entfremdung und seelischer Erstarrung.

Wie jedes große Meisterwerk, spiegelt jedoch auch dieses nicht nur die düstere Seite des Lebens. Das haben im Konzerthaus Dortmund zwei überragende Künstler gezeigt: Der Bariton Christian Gerhaher, dessen stupende Stimmkunst die Juroren vom „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ erstmals dazu bewog, einen Sänger mit dem Ehrenpreis der „Nachtigall“ auszuzeichnen, und sein langjähriger Klavierpartner Gerold Huber, mit dem er bereits seit Schülertagen ein festes Duo bildet.

Dieser Gerold Huber also tupft ein paar Akkorde in den Konzertflügel. Er macht äußerlich scheinbar nichts und erschafft doch eine ganze Welt. Wir hören die Schritte des Wanderers im Schnee, schwer und gedämpft. Zahllos sind die Schichten der Melancholie und die Farben der Resignation, die er und Christian Gerhaher im Folgenden vor uns ausbreiten. Es sind die köstlichsten Grautöne, mal bleiern monochrom, mal gespenstisch fahl, mal inwendig leuchtend, als schiene trotz aller Tristesse ein Licht irgendwo hinter den Wolken.

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Immer kostbarer klingt das im Laufe dieser Reise, zugleich immer weltentrückter und todessehnsüchtiger. Christian Gerhahers lyrischer Bariton kann bei größter Textverständlichkeit schmeicheln, als sänken weiche Flocken in den Schnee. Seine warm timbrierte Stimme klingt in der Mittellage wunderbar samtig, erreicht in der Tiefe die Schwärze eines veritablen Basses und glänzt in der Höhe beinahe knabenhaft hell.

Wo des Wanderers Seelennot an die Oberfläche dringt, schafft das Duo Gerhaher/Huber einen machtvollen Gegensatz zur erstarrten Natur. Da siedet plötzlich heißer Schmerz hervor, da beginnen Begleitfiguren im Klavierpart zu brodeln, da fährt Gerhaher sein vokales Volumen eindrucksvoll aus. Seine Stimme bebt dabei wie von mühsam verhaltenem Zorn. Sie klagt eine fühllose Welt an, der unsere Nöte und Ängste gleichgültig sind.

Das Glück erscheint in diesen 24 Liedern nur als Erinnerung oder Traumvision. Aber Gerhaher und Huber widmen sich ihm mit gleicher, kompromissloser Hingabe. Es klingt nach Idylle, wenn sie die Eisblumen im „Frühlingstraum“ zärtlich nachzeichnen und das Posthorn wie aus einer fröhlicheren Zeit herüber klingt. Von Ferne erinnert dieser Ton noch an die Welt der „Schönen Müllerin“.

Aber die Träume zerfließen, und der Wanderer findet sich in einer unbarmherzigen Wirklichkeit wieder. Er passiert einen letzten Wegweiser, gelangt auf einen Totenacker, versucht sich noch ein letztes Mal Mut zuzusprechen. Gerhaher und Huber tragen das mit einem Trotz vor, der innerlich ausgehöhlt wirkt. Bald schon sieht der Wanderer drei Sonnen am Himmel stehen. In ihrem unwirklichen Licht lässt Gerhaher seine Stimme vollends erblassen. Den „Leiermann“, Symbol der Ausweglosigkeit, singt er so unbeteiligt, als sei jedes Gefühl in ihm erstorben. Gerold Huber lässt dazu eine kleine, ewig wiederkehrende Begleitfigur gespenstisch im Leerlauf drehen. Sie wird leiser, verliert sich, und wir wissen, dass danach nichts mehr kommen kann, dass nur der Tod noch steht und wartet, wartet.

Man möchte schweigen danach, hineinlauschen in die bestürzende Stille. Aber das Publikum gönnt der Musik kein Verklingen, sondern klatscht hemmungslos in den letzten verlöschenden Ton hinein. Derlei Applaus-Inkontinenz ist bei Konzerten zwar häufiger zu erleben. An diesem Abend aber wirkt das so instinktlos-brutal, als habe jemand an einem offenen Grab einen Herrenwitz gerissen.