Zum Tod von Helmut Dietl: „Kir Royal“ – ein Gipfelglück der deutschen Fernsehgeschichte

Seine Fernsehserien „Monaco Franze“ und „Kir Royal“ sind Legenden. Man kann man sie wieder und wieder anschauen – und man wird ihrer nicht müde werden.
Der Regisseur Helmut Dietl, der jetzt im Alter von 70 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, war einer der ganz Großen des Metiers, der mit „Schtonk“ (1992) und „Rossini“ auch im Kino Erfolge feierte. Aus Anlass seines Todes hier noch einmal ein Beitrag aus der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“, zu verstehen als Hommage und als tiefe Verneigung vor dem Regisseur.

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Wir erinnern uns: Nach den vergleichsweise kargen 70ern standen viele Leute nach 1980 ganz unverblümt auf Luxus und Verschwendung. Diese Zeitstimmung ist nirgends trefflicher eingefangen worden als in einer Fernsehserie: „Kir Royal“ (ab September 1986 im ARD-Programm) gehört wohl immer noch zum Besten, was das Medium in Deutschland je geboten hat.

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter "Baby" Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter „Baby“ Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Man hätte all die Dekadenz und Korruption, den obszönen Reichtum und das dazu passende Schnorrertum in der Münchner „Bussi“-Gesellschaft ganz anders, nämlich viel zorniger darstellen können. Doch Regisseur Helmut Dietl und sein Drehbuchautor Patrick Süskind (beide entwickelten auch die ebenfalls famose Reihe „Monaco Franze“) bevorzugten die funkelnd elegante, vor Humor sprühende und doch nicht so leichthin versöhnliche Variante. In „Kir Royal“ wurde mit leichtem Florett gefochten, nicht mit dem Degen. Die Stiche „saßen“ aber umso zielsicherer.

„…und dann biste mein Knecht“

Schon die erste Folge (Titel „Wer reinkommt, ist drin“) des Sechsteilers darf als kleines Wunderwerk gelten. Wie spielerisch und doch überaus präzise die Figuren eingeführt werden, wie man gleich mitten in die pralle Handlung gezogen wird, das ist und bleibt meisterlich.

Sodann die großartige Besetzung: Franz Xaver Kroetz als hochmütiger, selbstherrlicher, oft grantiger Klatschreporter „Baby Schimmerlos“, der jegliche Bestechlichkeit weit von sich weist und dann doch ziemlich schnell kapitulieren muss, als der stinkreiche Klebstoff-Fabrikant Heinrich Haffenloher (Mario Adorf) finanziellen Druck macht, um groß in der Zeitung gefeiert zu werden. Unvergessen, wie Haffenloher diesen Schimmerlos zur Schnecke macht („Ich sch*** dich zu mit meinem Geld…und dann biste mein Knecht…“). Eine groteskere Mixtur aus armem Würstchen und erdrückendem Machtgehabe hat die Welt nicht oft gesehen.

Ein Ensemble sondergleichen

Dabei haben wir Senta Berger als „Babys“ Gespielin noch gar nicht erwähnt. Oder Dieter Hildebrandt, der einen ebenso servilen wie listigen Zeitungsfotografen mit heischendem Dackelblick gibt. Ruth-Maria Kubitschek als Verlegerin. Billie Zöckler als dralle Redaktionssekretärin. Harald Leipnitz und Peter Kern, die mit ihrem Restaurant nach Anerkennung in der Schickeria lechzen. Edgar Selge als arroganter Kellner im Edelfresstempel. Und und und. Ein Ensemble sondergleichen.

Hemmungslos auf dem Tisch tanzen

In „Kir Royal“ sind alle getrieben von der Gier nach Glanz und Prominenz. Jede(r) will gepflegt die Sau rauslassen, in der Klatschspalte des einflussreichen Boulevardblatts auftauchen und an den Partys teilnehmen, wo Champagner und eben Kir Royal in Strömen fließen. Ausgerechnet zu den schmetternden Freiheitsklängen der „Marseillaise“ wird in der ersten Folge turbulent auf dem Tisch getanzt. Da darf ein strohdummes Mäuschen beim Cancan auch schon mal im forcierten Überschwang die Brüste freilegen, damit’s ein schön frivoles Foto gibt… Das ist so herrlich peinlich!

Späte, allerdings weit weniger glanzvolle Pointe: Ausgerechnet die Münchner Abendzeitung (AZ), die damals für die Zeitung in „Kir Royal“ Pate gestanden hat, geriet vor einiger Zeit finanziell ins Schlingern. So ändern sich die Zeiten.

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Vorherige Beiträge zur Reihe : “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11)

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Hier noch ein Link zum Nostalgie-Beitrag über „Monaco Franze“: http://www.revierpassagen.de/19073/tv-nostalgie-2-monaco-franze-bleibt-unvergesslich/20130726_1310




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




Versöhnung im Sterben: Charles Gounods „Faust“ gelingt am Theater Hagen

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Charles Gounods „Faust“ stand lange unter Kitschverdacht, vor allem bei literarische Gebildeten in Deutschland: Die Konzentration des komplexen „Faust“-Stoffes auf die Liebestragödie, die Abkunft von einem französischen Boulevard-Stück, der Transfer der musikalischen Diktion aus der „Großen Oper“ und die Spuren der tragischen Frauen Donizettis – all das rückte Gounods Werk in abschätziges Zwielicht, ausgedrückt auch durch den lange gebräuchlichen deutschen Titel „Margarethe“.

Seit einer Generation hat sich die Rezeption gründlich verändert, „Faust“ wird nicht mehr länger unsinnigerweise an Goethe gemessen, Gounods Musik unvoreingenommen betrachtet und geschätzt. Dafür haben die Regisseure erhebliche Probleme mit den religiösen Bezügen in der Oper des überzeugten Katholiken Gounod. Der Erlösungsschluss als befremdendes Element will nicht zu „aufgeklärten“; transzendenzfreien Deutungsversuchen passen und geht so regelmäßig schief, wird denunziert oder entwertet.

Dabei wird übersehen, wie entscheidend dieses Finale für die Konzeption der Gounod’schen Oper ist. Mephistopheles ist eben ein prinzipieller Gegenspieler des Lebens, kein Spaßmacher und auch kein bloßer Gangster. Und die „Liebestragödie“ wird, spielt man Gounods Oper komplett, zur Apotheose einer Frau, die ihre Selbstbestimmung und ihre Wahrheit auch gegen gesellschaftliche Ächtung und existenzielle Vernichtung behauptet: Sie alleine erkennt im letzten Terzett im Gefängnis – kurz vor der Hinrichtung – den wahren Charakter des Dämons, der selbst Faust in seiner ganzen Tragweite nicht aufgeht.

In Hagen hat die unspektakuläre, sorgfältige Inszenierung von Holger Potocki diese Interpretations-Leerstellen gefüllt. Potocki will das Transzendente nicht eliminieren, geht unbefangen mit christlich-religiösen Symbolen um, macht aber aus „Faust“ weder eine Predigt noch ein Moralstück. Sein „Faust“ ist die Geschichte einer Selbsterkenntnis im Moment des Todes. Das Drama einer Versöhnung eines alten Mannes mit sich selbst.

Sie beginnt in einem Krankenzimmer: Lena Brexendorff schafft einen beziehungsreichen Raum: Der alte Faust (Klaus Klinkmann) liegt, verkabelt und verschlaucht, im Bett. An der Wand ein Kreuz, im Vordergrund das Bild einer idyllischen Landschaft: die geistigen Koordinaten des Stücks, Christentum und Romantik. „Rien“ – das erste Wort Faustens, das „Nichts“, das ihn in diesem Moment erfüllt, kommt aus der Seitenbühne – ein Gedanke, in den sehnsuchtsvollen Klang des Tenors Paul O’Neill gekleidet.

Gounod schreibt kein Stück über die Last des Alters und die Freuden der Jugend, sondern eines über die Qual des Nihilismus angesichts des nahenden Todes. Das gibt dem „Gerettet“ am Ende eine gewichtige Wendung: Nicht nur Marguerite ist aus den Fängen des Bösen gerettet; auch Faust kann ruhig und versöhnt entschlafen. Ostern ereignet sich für Faust im Moment seines Todes.

Zunächst sucht der Todkranke jedoch eine andere Lösung: „Salut, dernière matin“ – der Gruß an den letzten Morgen – signalisiert die Entscheidung zur Selbsttötung. Er reißt sich die Schläuche aus. Die Krankensalbung, von einem Bischof gespendet, verstärkt nur die Zweifel: „Dieser Gott, was soll er mir?“. Mephisto schält sich aus dem Priester, ganz in Rot: die pervertierte Seite der Transzendenz.

Brexendorffs Bühne lässt nicht vergessen, dass der Traum Fausts anhält: Das Bett bleibt präsent, als übergroßes Gestell im Hintergrund, als Spielfläche, am Ende als Gefängnis Marguerites. Ein Zwischenvorhang, der in den Konturen eines Gehirns die Sicht auf die Bühne zulässt, erinnert vielleicht etwas zu plakativ daran, dass wir in der Gedankenwelt Fausts verharren. Die Videos von Volker Köster zeigen Fausts Mienenspiel in Großaufnahme, blenden bei Mephistos Lied vom Goldenen Kalb Kriegsaufnahmen und Aktienkurse ein. Das Kreuz steht in grünem Licht auf dem Kopf.

Die Begegnung von Faust und Marguerite: ein falscher Traum. Die idyllisch-romantische Landschaft des Gemäldes aus dem Krankenzimmer beherrscht nun die Szene. Der Sternenhimmel zur Juwelen-Arie ist ambivalent; er deutet ultimativen Kitsch und letzte Sehnsuchts-Erfüllung an. In der großen Klage der Marguerite wird dann der leere Bilderrahmen in der Szene schweben: Der romantische Traum ist aus.

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods "Faust" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods „Faust“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki lässt auch in der Zeichnung seiner Figuren beziehungsreiche Sorgfalt walten. Valentin ist der Vertreter des gesellschaftlich etablierten Glaubens: Kenneth Mattice zeichnet ihn als pflichtbewusst, überzeugt und kämpferisch, aber auch unbarmherzig, dogmatisch, unversöhnlich, rechthaberisch und auf sexuelle Reinheit fixiert: Gounod wusste offenbar sehr genau, wie die düsteren Seiten des Katholizismus seiner Zeit ausgesehen haben.

Die rührende Tragödie des kindlich liebenden Siebel (Kristine Larissa Funkhauser) beleuchtet Potocki mit viel Emphase: Weihwasser machen seine Hände vom Zauber Mephistos rein, aber gegen die Juwelen – die „Ableger“ des Goldenen Kalbs – sind seine romantischen Blumen machtlos. Aber diesem sauber gescheitelten Jungen mit der Hornbrille gelingt es, seine begehrende Leidenschaft in liebevolle Freundschaft zu wandeln.

Mephisto, der Herr der Narren (und der Pfaffen) ist von Rolf A. Scheider als eleganter Verführer, aber auch brutaler Macher charakterisiert. Vor der Madonna knickt er schwächelnd ein – aber er kann die Statue auch in seinem Sinn benutzen: Im dämonischen Theater der Kathedralszene ist sie mit blutrotem Sternenkranz und böse funkelnden Rubinaugen die von Mephisto manipulierte Erscheinung einer strafenden transzendenten Macht, die dann – hart an der Grenze zum Kitsch – im Dampf der Hölle versinkt. Scheider lässt keinen Zweifel, dass dem Teufel diese Welt gehört: Der wieder in seine Jugend zurückversetzte Faust steckt in einem Anzug, der an eine Zwangsjacke erinnert. Er hat keine Wahl: Auf dem Weg zur Rettung muss er das Böse in jeder Konsequenz durchdenken.

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O'Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O’Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Auch musikalisch überwiegen in Hagen die erfreulichen Aspekte: Steffen Müller-Gabriel weckt immer wieder in dem symphonisch ausgebauten Orchestersatz Gounods das Potenzial des Philharmonischen Orchesters, gestaltet dynamische Bögen, trifft die grelle, plakative Melodik der Mephisto-Ständchen, die untergründige Bosheit der Szene in der Kathedrale mit ihren „Dies Irae“-Drohungen, aber auch die schwärmerische Lyrik der vergeblichen Träume einer reinen, zukunftsfrohen Liebe. Nicht vergessen machen kann er, dass sein Orchester oft zu laut und zu vordergründig bleibt. Ein flexiblerer Umgang mit dem Metrum würde etwa der hymnischen Steigerung in der Finalszene Marguerites mehr Leidenschaft gewähren.

Der Chor von Wolfgang Müller-Salow ist diesmal in den wabernden Frauenstimmen richtig schlecht, muss im Finale aus dem Lautsprecher tönen, was den musikalischen Reiz der Szene zerstört, bringt aber die forschen Gesänge der Studenten konzentriert auf den Punkt.

Mit viel Stilempfinden und einer nahezu souveränen Stimme widmet sich Paul O’Neill der Rolle des Faust: Anfangs etwas gequetscht, singt er sich zunehmend frei, kommt in seiner Arie „Salut, demeure“ zu lyrischer Intensität und meistert die Höhe wunderbar vorbereitet und sicher gebildet. Dass er das Diminuendo nicht bruchlos verwirklicht, ändert nichts an einer großartigen Leistung, die man so auch von heute gesuchten Vertretern dieses Faches nicht so ohne weiteres erwarten darf.

Mit Kenneth Mattice hat sich Hagen einen viel versprechenden Bariton aus den USA verpflichtet: Ein attraktiver Valentin mit feuriger Mittellage und nicht ganz sattelfester, aber ungezwungener Höhe. Ein wenig mehr Eleganz in Tonbildung und Legato – und ein überzeugendes musikalisches Rollenporträt ist fertig. Rolf A. Scheider ist als Méphistophéles auch stimmlich ein direkter Sänger, der machtvolle Töne in den Raum schleudert, gut artikuliert, aber die elegante Bosheit, den heuchlerischen Kavalierston, die subtile Grausamkeit Mephistos differenzierter ausdrücken könnte.

Das bewährte Damenterzett im Ensemble des Hagener Theaters kommt auch in diesem „Faust“ zum Einsatz: Veronika Haller ist eine attraktive, die selbstbewussten Seiten der Figur herausarbeitenden Marguerite, aber ihre harte Tongebung, der Mangel an lyrischer Noblesse und Flexibilität stehen ihrem ambitionierten Rollenporträt immer wieder im Wege. Auch Kristina Larissa Funkhauser hat als Siebel stimmlich nicht ihren besten Tag: sie schluckt das Ende von Phrasen und tut sich schwer mit der geforderten Leichtigkeit und Innigkeit. Marylin Bennett hat als Marthe einen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritt. Summa summarum hat das Theater Hagen aber wieder einmal mit einer ehrgeizigen Produktion überzeugt.

Infos: www.theater-hagen.de




Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




Ein paar Gedanken (und Gefühle) bei Durchsicht meiner Büchersammlung

Vor einem Umzug kommt man schon mal auf die Idee, seine Bücher einer Revision zu unterziehen. Um vielleicht „Ballast“ abzuwerfen. Oder auch nicht.

Ein Kernsatz beim Sortieren bemisst sich vorwiegend am Bauchgefühl: Werde ich wohl jemals wieder in dieses Buch hineinsehen? An den Rändern der Sammlung sind mit der Zeit unscharfe Zonen entstanden, in denen sich Bücher gleichsam nur noch versteckt halten und schlotternd auf Nicht-Entdeckung hoffen. Ha! Die sollen mich kennen lernen.

Doch Vorsicht, nichts überstürzen: Denn viele dieser Bücher gehören mehr oder minder zu meiner Biographie. Auch wenn es nicht samt und sonders literarische Gipfelwanderungen sind.

Was muss man in Reichweite haben?

Die großen „Klassiker“ aus allen Zeiten bis in die Gegenwart bleiben selbstverständlich im Fundus. Auch die halbwegs großen. Alles natürlich ziemlich subjektiv betrachtet.

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Doch hat sich – nicht zuletzt im Gefolge dieser Leitfiguren – der (literarische) Geschmack entwickelt, so dass man die Schöpfungen eines gängigen „Kult“-Autors wie etwa Nick Hornby nicht mehr unbedingt in den Regalreihen wissen möchte, so sympathisch er als Mensch, Rock- und Fußballkenner und überhaupt als Zeitgenosse auch sein mag. Ich bin halt zu dem Schluss gekommen, dass ich seine gesammelten Werke nicht in Reichweite haben muss.

Von salbadernden Gestalten wie Paulo Coelho mal ganz zu schweigen. Doch dessen Bücher muss man ja gar nicht beiseite stellen. Weil sie hier gar nicht erst vorhanden sind. So viel leserliche Überheblichkeit muss jetzt einmal sein.

Als die Lesezeit unendlich war

Als Student und in vielen folgenden Jahren hat man die Büchersammlung unentwegt anwachsen lassen. Man hatte ja noch so unendlich viel Zeit zum Lesen. Hat man jedenfalls gedacht. Später hat man geglaubt und den Gedanken geradezu gehätschelt, dass man eine gewisse Reserve an noch nicht gelesenen Büchern haben müsse; was ja auch stimmt.

Doch nun, da Begrenzungen sichtbar und spürbar werden, will man seine knappere Zeit erst recht nicht mehr mit minderen Hervorbringungen verschwenden. Und also trennt man sich ziemlich leichten Herzens von einigen. Vor allem von so manchen Sachbüchern, die mitunter sehr schnell gealtert sind. Auch ertappt man sich bei selektiven Gedanken der fragwürdigen Art. Gehört die oder jener nicht zum bloßen „Mittelfeld der Literatur“?

Rasch zum Perspektivenwechsel. Allmählich muss man auch daran denken, Erben zu entlasten. Ich gestehe freimütig: Die beileibe nicht geringe Bibliothek meiner Mutter, die freilich ganz andere Autoren und Schattierungen bevorzugte, habe ich – bis auf wenige antiquarische Bände – nicht übernommen. Es hätte, mit meinen Beständen zusammengerechnet, ohnehin das vernünftige Maß überstiegen.

Das mitleidige Lächeln der Jüngeren

Sichtet man seine Bücher einmal gründlicher, so tauchen einige auf, die man verloren glaubte oder vergessen hatte. Ich sortiere Belletristik nach Autorenalphabet und Sachbücher grob oder fein nach Themen. Da gerät beim Hin und Her der Zugriffe schon mal etwa ins Rutschen. Und siehe da…

Man wird von etlichen jüngeren Leuten bestenfalls mitleidig belächelt, weil man sich überhaupt mit solchen Gedanken martert und sich solche Mühe gibt. Warum denn noch Texte auf Papier? Warum solche tonnenschweren Lasten bei einem Umzug? Ach, es ist die schiere Lebensgewohnheit. Früher einmal galten ordentlich bestückte Bücherwände nicht nur in Kulturmagazinen und Feuilletons als Zeichen. Wofür nochmal?

Kohleofen und Zigaretten

Viele Bände – vor allem Taschenbücher – haben die Jahre nicht schadlos überstanden. Einige überwinterten vor Zeiten noch in einem Zimmer mit Kohleofen, man sieht’s ihnen an. Andere haben über Jahrzehnte Zigarettenrauch in sich gesogen und sind auch sonst vergilbt. Wer weiß, ob nicht auch die früher so rußig-giftige Ruhrgebietsluft manchen Exemplaren schwer zugesetzt hat. Jaja, der regionale Aspekt waltet auch hier.

Fraglich ist, was man mit den aussortierten Büchern machen soll. Sicherlich wird man versuchen, die besser erhaltenen zu spenden – beispielsweise an chronisch unterfinanzierte Stadtteilbibliotheken, Gefangenen-Büchereien, Läden von Hilfsorganisationen wie Oxfam usw.

Ehrfurcht vor dem Buch an sich

Heute gibt es zudem kommerzielle Dienste, die Bücher kostenlos abholen, aber nur Cent-Beträge pro Exemplar bezahlen. Jedenfalls scheut man sich immer noch, sogar übel zugerichtete Bücher so mir nichts, dir nichts in den Papiercontainer zu werfen.

Einst ist einem Ehrfurcht vor Büchern eingeflößt worden. Davon ist noch etwas übrig. Die Heiligkeit gewisser Texte. Die Vorstellung, dass Anhänger mancher Schriftsteller so etwas wie eine geheime „Kirche“ bilden können. Ihr kennt das ja.

Habe ich schon den Spruch gebracht, dass man Bücher eh nicht mit ins Jenseits nehmen kann? Nein? Dann sei es jetzt nachgeholt. Wisset also, dass man Bücher nicht mit ins Jenseits nehmen kann.




So ist es nun einmal, das Leben: „Chronik meiner Straße“ von Barbara Honigmann

Honigmann_24762_MR.inddAlle Bücher von Barbara Honigmann haben einen autobiografischen Kern. Und fast immer geht es auch um ihre spät erwachte jüdische Identität.

Genauer: Es geht um die Veränderung, die ihr Leben erfahren hat, als die Tochter eines marxistischen Intellektuellen nach jüdischem Ritus heiratete und 1984 die DDR verließ. Seitdem lebt sie in Straßburg, und ihre Wohnung liegt in einer Straße, in der Juden, Christen und Moslems mehr oder weniger friedlich nebeneinender leben, sich die Kulturen und Religionen seltsam mischen.

Es ist eine „Straße des Anfangs“. Eine Art Transitraum und Wartehalle für Emigranten und Flüchtlinge, Studenten und Sinnsuchende aller Art. Eine hässliche, baumlose Straße, ein wirres architektonisches Gemisch. Die meisten ziehen bald wieder fort, in „bessere Viertel“, doch manche bleiben für immer. So wie Barbara Honigmann, die tagein, tagaus an ihrem Schreibtisch sitzt und hinaus auf die Straße schaut, alte Bekannte und neue Mitbewohner beobachtet. Oder die Kinder von einst, die längst erwachsen sind und nun ihre in der „Straße des Anfangs“ hängen gebliebenen Eltern besuchen.

Während Barbara Honigmann an der „Chronik meiner Straße“ schreibt, lässt sie ihr eigenes Leben Revue passieren. Sie erinnert sich an Freunde, die längst verstorben sind, und Bekannte, deren Namen noch in ihrem Telefonverzeichnis stehen, die aber irgendwie aus ihrem Leben verschwunden sind. Ihre eigenen Söhne leben heute in Paris und Berlin, kommen nur noch selten bei ihrer Mutter vorbei.

Aber so ist es nun einmal, das Leben. Alles verändert sich. Sogar die eben noch so ärmliche Straße, in der sich, wie in einem Brennglas, das ganze komplizierte Dasein spiegelt, putzt sich neuerdings heraus und erlebt einen ungeahnten Aufschwung. Warum sollte Barbara Honigmann jemals woanders wohnen wollen?

Barbara Honigmann: „Chronik meiner Straße“. Hanser Verlag, München 2015, 152 S., 15,90 Euro.




Festspiel-Passagen I: Der Sound der Zwanziger Jahre in der Bauhausstadt Dessau

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill,  lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill, lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

„In eins verschmolzen sind Wort und Töne“ singt die Gräfin in Richard Strauss‘ „Capriccio“: Für sie ist die Frage nach dem Vorrang von Text oder Musik in der Oper gelöst. „Zu einem Neuen verbunden“ sind sie. „Eine Kunst durch die andere erlöst.“ Wenn es denn so harmonisch wäre. In einer Zeit, in der Strauss und sogar der Wortfanatiker Wagner das Übertiteln ihrer Bühnenwerke erdulden müssen, weil es an artikuliertem Singen mangelt, stellt sie die Frage auf ganz andere Weise neu.

Das gilt auch für das Abschlusskonzert des Dessauer Kurt Weill Festes: Sara Hershkowitz produzierte die Töne des programmatischen Schlussmonologs aus „Capriccio“ mit einem wie Messing blitzenden Sopran, mit monochromen Vokalen, ohne sprachorientierte Flexibilität und vor allem meist wortunverständlich. Da erlöst keine Kunst die andere.

Das 23. Kurt Weill Fest in Dessau hat sich unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ aufgemacht, der Sprache und ihrem Verhältnis zur Musik nachzuspüren. Intendant Michael Kaufmann – bis 2008 in gleicher Funktion an der Philharmonie Essen und auf unschöne Weise geschasst – hatte schon Recht, wenn er meinte, man müsse eigentlich von der Arie und vom Kunstlied ausgehen. Aber im „Lied“ konzentriert sich die angesprochene Problematik: Es ist – anders als eine auf gesangliche Virtuosität oder Expression angelegte Arie – ohne den Text tödlich amputiert.

HK Gruber dirigierte in Dessau die "Dreigroschenoper". Foto: Sebastian Gündel

HK Gruber dirigierte in Dessau die „Dreigroschenoper“. Foto: Sebastian Gündel

Die Verbindung von Sprache, Ton und Bild war für Weill in seinen Bühnenwerken eine faszinierende Herausforderung. Er hatte in seinen „Songs“ diesen Primat des Textes akzeptiert, ohne die Musik an ihn zu verraten: für das Duo Brecht/Weill eine Quelle des Konflikts, der sich in den Proben zur „Dreigroschenoper“ exemplarisch entzünden sollte. Beim diesjährigen Kurt Weill Fest ließ sich nicht nur in diesem Schlüsselwerk für die Moderne wie für das Brecht-Theater – aufgeführt von HK Gruber und dem Ensemble Modern – der Wort-Klang-Problematik nachspüren.

Als Weill gemeinsam mit Bertolt Brecht und dem Filmemacher Carl Koch 1927 eine Revue über das Ruhrgebiet plante, sollte schon dieses Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen. Da das „Ruhrepos“ von rechten Kreisen in Essen torpediert wurde, erprobte der aufstrebende Komponist sein Konzept dann im gleichen Jahr in „Royal Palace“: In einer überflüssig halbszenischen Form mit ein paar Dias an der Rückwand war dieses frühe Bühnenwerk das Kernstück des Abschlusskonzerts im Anhaltischen Theater.

"Letzter Tango in Berlin": Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

„Letzter Tango in Berlin“: Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

Weill und sein Librettist Yvan Goll schufen mehr als ein Zeitstück: „Royal Palace“ ist ein Hotel, das – ähnlich wie in Vicki Baums 1929 erschienenen Roman „Menschen im Hotel“ – eine Metapher für die moderne Lebenswelt ist. Wie so oft bei Weill gibt es Momente des Melodrams und des Sozialstücks. Aber das Parabelhafte gewinnt die Oberhand: Die Offenbachiade einer Frau mit zwei Liebhabern – einem verflossenen und einem zukünftigen – neigt sich zur schwermütigen Schau auf verlorene Existenzen, von Goll noch durch einen geheimnisvoll-märchenhaften Zug verstärkt. Die letzten Worte lassen gar an Büchners „Woyzeck“ denken, die Parabel über das Scheitern des verlorenen Menschen der Moderne schlechthin.

Die unterschiedlichen Stile der Musik hat Weill dramaturgisch sehr präzis eingesetzt. Klavier und Glocken zu Beginn und am Schluss mögen an Transzendentes mahnen; der verhaltene ostinate Rhythmus erinnert schon an minimal music, aber auch an das „Grundrauschen“ einer ständig in hektischer Bewegung befangenen Welt. Ausgiebige rhythmische Bewegungsimpulse, der Reflex auf moderne Zeittänze und eine grotesk verzerrte Zirkusmusik spiegeln die Unruhe, das Getriebensein der Zeit.

Dazwischen müssen sich Menschen ihren echten, eingebildeten, vorgetäuschten Gefühlen stellen, einsam, haltlos, orientierungslos. Der Sopranpart der Dejanira fordert eine dramatische Sängerin mit dem Esprit einer Diseuse – und Sara Hershkowitz sucht beiden Polen gerecht zu werden. Rainer Trost, der „Liebhaber von morgen“, zeigt eine vortrefflich beherrschte Stimme; Markus Raabs rauer Bass passt zur Rolle des Ehemanns; Jens Müller, der „Liebhaber von Gestern“ lässt ebenso wie Andromahi Raptis als namenloses Sopransolo nicht vergessen, dass Weill die gestalterische Potenz seiner Darsteller heftig herausfordert. Verstehen kann man kaum etwas: Weills Sprach-Sorgfalt wird auf der Bühne schmählich verraten, ertrinkt auch immer wieder im Mega-Sound der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Unter Ernst Theis‘ meist nur taktgebendem Stab kann das Orchester aus Ludwigshafen nur punktuell zeigen, was in ihm steckt. Die riesige Bühne des Dessauer Theaters erweist sich als akustische Falle: Undifferenzierte Lautstärke, breiige Tutti, Mangel an Detail-Finesse dürfte nicht nur den Musikern und dem Dirigenten in die Schuhe zu schieben sein. Dennoch sind in diskreten Stellen der Streicher und in massiven Einlassungen der Bläser Schwächen hörbar, die mit der Akustik nichts zu tun haben.

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm "Liederliches". Foto: Sebastian Gündel

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm „Liederliches“. Foto: Sebastian Gündel

In Richard Strauss‘ Suite „Der Bürger als Edelmann“ ist zwar die Imitation der Tänze aus der Lully-Zeit gut getroffen. Aber Ernst Theis erweist sich – wie in der „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ – als Nummer-Sicher-Dirigent: Der Metrik fehlt die souveräne Gelassenheit, den Phrasen der schwingende Atem, den Übergängen die Raffinesse der Agogik, den Farben die Eleganz. Der „Strauss-Ton“, gebildet aus exquisit zu mischenden Farben und sorgsam hergestellter Balance der Instrumente, will sich nicht einstellen.

Die vielen intimen unter den 57 Veranstaltungen waren es, die wohl mehr als die großformatigen Aufführungen die empfindliche Balance zwischen den Polen von Musik und Sprache ausmaßen. Da war mit Cornelia Froboess als „Artist-in-Residence“ eine Schauspielerin zu Gast, die als Schlagersängerin begonnen hatte und bis heute eine vielfach preisgekrönte Theaterkarriere verfolgt. Sie brachte gemeinsam mit dem Gitarristen Sigi Schwab Heinrich Heine zum Klingen oder las Texte und Briefe von Kurt Weill, seinem Komponistenkollegen Ernst Krenek oder dem großen Kabarett- und Revue-Komponisten der Weimarer Zeit, Friedrich Hollaender.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Und noch ein anderer stand im Fokus des Weill Festes, einer, den man zunächst nicht mit der Moderne verbindet, wohl aber mit der Bauhausstadt: der Dichter Wilhelm Müller, 1794 in Dessau geboren, 1827 ebenda verstorben. Ein Romantiker mit kritischem Geist, mit wachem Blick auf fragwürdige Entwicklungen in der Gesellschaft. Haltungen, die ihn mit Kurt Weill verbinden. Von dem Dichter stammen die Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“, die Franz Schubert noch zu Müllers Lebzeiten vertont hat. Sie stehen exemplarisch für die Emanzipation der Musik von der bloßen Begleitung zur Trägerin einer Aussage, die über die Worte hinaus und in ihre Tiefen hineinreicht.

Am Beginn des Festes stand mit „Braver Soldat Johnny“ eine Erstaufführung: Das MDR Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi spielte eine instrumental erheblich erweiterte Neufassung der ersten Broadway-Musicals Weills, „Johnny Johnson“. Das Stück mit einem Text des Pulitzer-Preisträgers Paul Green war 1936 für Weill der nötige Erfolg, der ihm den Zugang zum Broadway öffnete. Inhaltlich knüpft es an Jaroslav Hašeks „Soldat Schwejk“ an – eine brillante Politsatire mit einem tristen Ende, ein Bekenntnis des Pazifisten Kurt Weill gegen die groteske Sinnlosigkeit des Krieges.

Das Musical ist in Europa nie richtig zur Kenntnis genommen worden. Immerhin hat das Kurt Weill Fest 2002 in Bitterfeld die originale Fassung gespielt. Die neue Bearbeitung des Komponisten und Produzenten Gene Pritsker – mit Järvi schon aus Studienzeiten bekannt – verwandelt die federleichte Combo Weills in ein süffiges Orchester und liefert dick aufgetragene Filmmusik, die Kristjan Järvi mit der entsprechenden Opulenz in Szene setzt. Das Ergebnis mag nicht überzeugen; Weills Musik wird breiter, aber nicht stärker.

Der Schauspieler Bernhard Bettermann hat das Libretto zurechtgestutzt. Ein Sechser-Ensemble, darin er selbst, Partnerin Mimi Fiedler und Sohn Tim, trägt Dialoge und Songs vor: Das Lesen vom Manuskript funktioniert bei pointierten Musical-Texten nicht, vor allem, wenn gesprochen wird, als habe man die Sätze vorher gerade mal überflogen. Das war eine Stellprobe, keine festivalreife Aufführung. Und über die stimmlichen Ergüsse der Akteure auf der Vorderbühne bleibt besser der Mantel des Schweigens gebreitet; der piepsige Vortrag der Bettermann-Partnerin Mimi Fiedler mag als bezeichnendes Beispiel genügen.

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Für das Kurt Weill Fest 2016 sind die großen Linien gezogen. Intendant Michael Kaufmann stellte bei der Abschluss-Pressekonferenz mit dem Geiger Ernst Kovacic den nächsten Artist-in-Residence vor. Der Österreicher ist nicht ohne Bedacht gewählt: Er ist Vorstandsvorsitzender der Ernst Krenek Privat Stiftung in Krems (NÖ) – und Weill und Krenek sollen anlässlich des 25. Todestages des österreichischen Komponisten im Mittelpunkt stehen. Geplant sind Aufführungen von Weills „Der Zar lässt sich photographieren“ und Kreneks „Der Diktator“, mit denen die Zusammenarbeit mit dem Anhaltischen Theater unter seinem neuen Intendanten Johannes Weigand erneuert wird.

Fest steht auch, dass Kovacic das Erste Violinkonzert Kreneks spielt, das 1925 in Dessau uraufgeführt wurde. Mit 16.500 Besuchern hat das Weill Fest in diesem Jahr einen neuen Rekord erreicht; mit dem Theater Magdeburg und der Stiftung Moritzburg in Halle sind neue Kooperationspartner im Boot. Die Hoffnung, dass die Theater in Dessau und Magdeburg trotz der desaströsen Sparpolitik der Regierung von Sachsen-Anhalt neue Impulse für szenische Aufführungen von Bühnenwerken Kurt Weills setzen, ist laut Intendant Michael Kaufmann begründet. Von daher darf das 24. Kurt Weill Fest „Krenek, Weill & die Moderne“ mit Spannung erwartet werden. Und für das 25. Fest im Jahr 2017 – Kaufmann hat einen Vertrag bis 2018 – hört man schon von Plänen, die hoffnungsfroh stimmen.

Info: www.kurt-weill-fest.de




Götterdämmerung für die Gralswelt: „Parsifal“ in kontroverser Deutung in Wuppertal

Wuppertaler Bühnen: "Parsifal", Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Wuppertaler Bühnen: „Parsifal“, Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Was der Gral ist, das sagt sich eigentlich nicht. Der Junge, der sich da etwas abseits von den anderen Studenten an den roten Livreen der Türsteher vorbeidrückt, weiß es auch nicht. Er zuckt die Schultern: Eben doch nur ein Tor? Aber Thilo Reinhardt sagt es uns, im Laufe der fünf Stunden „Parsifal“ an der Wuppertaler Oper.

Der Gral ist demnach ein machterhaltendes Konstrukt, eine Gedanken-Chimäre, ein ideologisches Bücher- und Herrschaftswissen. Parsifal verbrennt am Schluss dieses Buch, den Speer und die Abschussvorrichtung für eine Panzerabwehrrakete gleich mit.

Da war er kurz vorher zurückgekehrt in eine verwüstete Welt (Kompliment für den Inspizienten Klaus Bjarne Kasch: Er hat die Materialschlacht im Griff). Er kommt wieder als UN-Blauhelm, also wohl als Friedensstifter, und feiert wie Christus mit der multiethnischen Soldatenschar ein Abendmahl. Brot wird gebrochen, Wein gereicht, und die traumatisiert zitternde Kundry darf auch mit an die Tafel, die aus zwei umgestürzten, zusammengeschobenen Spinden gebildet ist.

Begonnen hat alles in feinster Ordnung. Die Jungs, die für die Gralswelt vorgesehen sind, absolvieren eine High-End-Erziehung. Wir sehen vor uns die Sporthalle des Colleges (Bühne: Harald Thor, Kostüme: Katharina Gault). Trainer Gurnemanz scheucht die Schläfer hoch. Vor dem Fechten Lockerungsübungen: Schon in diesem Moment ist es einer Dame im Publikum zu viel. Diese Inszenierung habe doch wohl mit Wagner nichts zu tun, ruft sie ins Publikum, bevor sie die Tür geräuschvoll zuklappen lässt. Woher wollte sie das wissen? Denn an diesem Punkt war Reinhardts Exposition durchaus nachvollziehbar: Gurnemanz ist schließlich ein Erzieher, und dass im Vorhof des Grals eine Elite herangezogen wird, ist wohl nicht zu bezweifeln. Auch bei Wolfram von Eschenbach lernt Parzifal die Regeln des Hofes bei Gurnemanz.

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Das Bild des exklusiven Internats funktioniert: Bei der Spindkontrolle wird ein Pin-up-Girl entdeckt – und ein Teddy. Dessen Besitzer wird höhnisch gemobbt, bekommt unter den voyeuristischen Blicken seiner Kumpel den Hintern rituell versohlt: Weicheier haben keinen Platz unter künftigen Entscheidern. Sobald Gurnemanz den Rücken kehrt, kehren die das Tier hervor: Kundry, streng-ältliche Sekretärin in altmodischem Kostüm, den Aktenordner mit wichtigen Unterlagen verwaltend, wird ungeniert angemacht: Die jüngsten Berichte über Sex and Crime an englischen Elite-Internaten lassen grüßen.

Parsifal, so legt Reinhardt nahe, bleibt diese Welt fremd. Er schießt mit seinem Pfeil keinen Schwan, sondern den kraftvollsten Turner an, der ganz am Anfang sein Können an den Ringen demonstriert hat. Irritierend, aber schlüssig: Es ist sein erster, unbewusster Angriff auf diese Welt kanalisierter Gewalt und unterdrückter sexueller Kräfte. Die Schüler dagegen sehen während Gurnemanz‘ moralischer Tierschutztirade interessiert zu, wie sich der junge Mann im Blut windet.

Amfortas - das Opfer: Die Szene der "Gralsenthüllung" in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners "Parsifal" in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Amfortas – das Opfer: Die Szene der „Gralsenthüllung“ in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners „Parsifal“ in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der Gral: Amfortas, ein Alt-68er mit wirren langen Haaren, ist das kostbar mit einem priesterlichen Mantel geschmückte Opfer. Einer, der einst einen Fehler gemacht hat. Er wird auf einem Blech wie ein Gekreuzigter montiert. Die ausgestreckten Arme, kunstvoll aufgeritzt, spenden das Blut, das livrierte Pedelle auffangen und den Rittern kredenzen. Die Schüler saufen derweil das Blut, das herabrinnt und sich am unteren Blechrand in einer Rinne sammelt. Ein verstörendes Bild ungenierter Brutalität. Champagner schwebt herab, ein Foto zur Erinnerung beendet das Ritual.

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals "Parsifal" wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals „Parsifal“ wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Parsifals Erkennen durch den Kuss, so darf man annehmen, sprengt diese Welt aus den Fugen. Im dritten Akt sind die Spinde umgestürzt, Gurnemanz, ein grabender Greis, stählt jetzt seine Muskeln mit der Erdschaufel. In einem der Stahlschränke entdeckt er Kundry: Ihr Stöhnen, als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtet, hat etwas von: „Oh mein Gott, wie seh‘ ich aus!“

Aber, ein Glück, der Ordner mit Kundrys Unterlagen hat das Unglück überstanden! Als gute Verwaltungskraft strebt sie danach, wenigstens die Papiere in Ordnung zu bringen: „Wie anders schreitet sie als sonst …“. Ein Zug alter Krabbler erscheint, versucht, sich noch einmal für das Ritual in Form zu bringen. Vergeblich: Parsifal pfeffert die Kultgegenstände ins Feuer: Speer, Buch, Rauchmantel vergehen. Götterdämmerung für die Gralswelt.

Auch wenn die Botschaft der Bilderflut, die Thilo Reinhardt und der immer wieder einfallsreiche Harald Thor entfesseln, am Ende doch ins Vordergründige abgleitet, bleibt die geistige Basis der Inszenierung bemerkenswert, ihre szenische Durchführung angemessen, auch wenn sich die Bilder kritisch befragen lassen: Blauhelmsoldaten stehen nicht unbedingt für das Mitleid, das Wagner aus christlichem und schopenhauerischem Gedankengut entwickelt hat. Auch die Konzeption der Figuren lässt zu viele Fragen offen: Titurel – der zuverlässige Martin Blasius – vielleicht der Vorsitzende des Schulträger-Komitees? – bleibt eine zu blasse Nebenfigur. Kundry verliert sich im dritten Akt im Ungefähren. Und Klingsor gewinnt nur schwerlich eine eigenständige Kontur, wird sehr funktional konzipiert.

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der zweite Akt in einem weißen (Gedanken-)Raum lässt sich als innerer Reifungsprozess Parsifals lesen – mit Kundry als rotgewandeter Fantasiegestalt des herausfordernden Weibes, einer verschleierten Dame, die sich zum Schluss als Klingsor-Transe entpuppt, und einer bräutlichen Gestalt, die man als Erscheinung von Parsifals Mutter Herzeleide lesen kann. Dennoch: Szenisch kann Wuppertal mit Thilo Reinhardts Phantasmagorie weit eher punkten als Essen vor zwei Jahren mit Jochen Schlömers verqueren Konstrukten.

Das gilt für die Szene, nicht jedoch für die Musik: Hat Stefan Soltesz am Aalto-Theater ein weites Panorama musikalischer Subtilität eröffnet, bleibt Toshiyuki Kamiokas Lesart in Wuppertal auf schmaler Spur. Schon die rasche Eröffnung – Kamioka sucht nach einem modernen, entmystifizierten „Parsifal“-Klang – ist ohne Reiz phrasiert, mit einer zu langen Generalpause und befreit vom Blühen der Bögen.

Die sinnliche Magie der Klangmischungen Wagners wird reduziert auf rationale Blässe. Geheimnislos buchstabiert Kamioka wichtige Motive, auf das subtile Spiel des allmählichen Erblühens und Erblassens, Trennens und Verschmelzens des musikalischen Materials lässt er sich nicht ein. Im dritten Aufzug verlieren sich die Violinen dünn und klangarm; den spannungsvollen Weg zum Finale verfolgt Kamioka lapidar und glatt. An die großen Parsifal-Dirigate der Geschichte darf man nicht denken.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Auch die Sänger kommen zum guten Teil nicht über den Durschnitt hinaus; von der internationalen Klasse, die Kamiokas Stellvertreter Joachim Arnold angekündigt hatte, ist wenig eingelöst: Thomas Gazheli – er hat den Amfortas wie viele andere Wagner-Partien bei den Festspielen in Erl gesungen – bleibt rau, angestrengt, gefährdet in der Höhe. Thorsten Grümbel von der Deutschen Oper am Rhein strahlt als Gurnemanz weder szenische Autorität aus, noch kann er mit seinem verlyrisierten, zeitweise dünn und ungestützt klingenden Gesang überzeugen.

Andreas Daum (Klingsor), viel beschäftigt an der Wiener Volksoper, und Kathrin Göring (Kundry), im Wagner-Fach in Leipzig regelmäßig eingesetzt, gehören zur positiven Bilanz des Abends. Daum singt mit überlegter Präsenz; Göring neigt manchmal zur Härte, hat aber Emission und Vibrato tadellos unter Kontrolle.

Der Parsifal ist Tilmann Unger, jugendlich gutaussehend, der mit der Partie vor einem Jahr in Innsbruck debütiert hat. Der Tenor hat von Würzburg ausgehend seine Karriere geduldig aufgebaut; das zahlt sich aus: Sein Ton ist noch nicht ganz frei gebildet, aber die Stimme wirkt gesund und unangestrengt, hat eine dunkel-sinnliche Farbe und gestalterisches Potenzial.

Der Chor von Jens Bingert gibt sein Bestes – und das ist beachtlich. Dass er im Schlussbild auseinanderfällt, mag auch der Szene geschuldet sein. Dieser „Parsifal“ wird – wie schon im Premierenbeifall – Kontroversen auslösen. Das macht nichts: Wagner als Liturgie großbürgerlicher Kunstreligion hat sich längst überlebt, und Thilo Reinhardt bietet zumindest den Stoff, aus dem sich neue Ideen entwickeln.

Weitere Vorstellungen: 4. und 6. April. Info: www.wuppertaler-buehnen.de




Bonner „Hommage an Michelangelo“ untersucht seine Wirkung auf andere Künstler

Werkstatt von Frans de Vriendt, genannt Floris: Brustbild des Michelangelo, um 1550. Foto: Kunsthistorisches Museum Wien

Werkstatt von Frans de Vriendt, genannt Floris: Brustbild des Michelangelo, um 1550. Foto: Kunsthistorisches Museum Wien

Schon zu Lebzeiten galt er als Legende. Seine Wirkung auf die europäische Kunst war und ist auch 450 Jahre nach seinem Tod enorm: Michelangelo Buonarroti (1475-1564) hat sich als herausragender Künstler der europäischen Renaissance vor allem durch seine virtuose Darstellung des menschlichen Körpers unsterblichen Ruhm erworben. Die Bundeskunsthalle Bonn widmet seinem jahrhundertelangen Einfluss auf die europäische Kunst eine Ausstellung. Die Schau ist bis 25. Mai zu sehen.

Der ideale menschliche Körper: Raffael zeichnete 1505/08 Michelangelos David vor dem Palazzo Vecchio in Florenz. Foto: The British Museum, London

Der ideale menschliche Körper: Raffael zeichnete 1505/08 Michelangelos David vor dem Palazzo Vecchio in Florenz. Foto: The British Museum, London

Die „Hommage an Michelangelo“ stellt nicht dessen eigenen Werke in den Mittelpunkt, sondern fragt nach der Inspiration, die andere Künstler in der Auseinandersetzung mit seinem Werk erfahren haben. Gezeigt werden Gemälde, Drucke, Zeichnungen und Skulpturen von Künstlern wie Raffael, Caravaggio, Rubens, Tintoretto, Füssli, Delacroix, Rodin, Cézanne und Moore – bis hin zur Moderne mit Arbeiten von Robert Mapplethorpe, Markus Lüpertz oder Thomas Struth.

Seine innovative Rhetorik des Körpers begründet den über Jahrhunderte andauernden Einfluss Michelangelos. Er schuf ein Repertoire an Ausdrucksformen für menschliche Bewegungen, Haltungen und Affekte, die eine geradezu archetypische Kraft erwiesen haben. Die Interpretationen seiner Kunst reichen von Nachahmung und Hommage bis zu konzeptioneller Auseinandersetzung und kritischer Distanzierung.

Die Kuratoren Georg Satzinger und Sebastian Schütze stellen in der thematisch gegliederten Ausstellung die beispielgebende Wirkung der legendär gewordenen Arbeiten Michelangelos in den Mittelpunkt: der florentinische David oder der Auferstandene aus Rom etwa stehen für die Aktstatue, das Marmorrelief der Kentaurenschlacht oder das Jüngste Gericht für die großen, vielfigurigen Werke.

Beleuchtet wird auch die Wirkung bedeutender Werkkomplexe wie der Sixtinischen Decke oder der Figuren der Medici-Kapelle. Die Ausstellung zeigt zugleich die Medien, in denen sich das Studium der Werke Michelangelos vollzog und ihre Kenntnis festgehalten wurde: Abgüsse und Gemälde, kleinplastische Kopien, Nachzeichnungen, Drucke und Fotos.

Auswirkungen bis in die Moderne: 1938 schuf Henry Moore diese "Liegende Figur". © The Henry Moore Foundation. Foto: Michael Furze. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

Auswirkungen bis in die Moderne: 1938 schuf Henry Moore diese „Liegende Figur“. © The Henry Moore Foundation. Foto: Michael Furze. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

  • Zur Ausstellung ist im Hirmer-Verlag München ein Katalog erschienen: „Der Göttliche. Hommage an Michelangelo“, herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Er umfasst 288 Seiten und etwa 400 Abbildungen in Farbe und kostet vor Ort 29 Euro.

Konstruktivistische Nacktheit: Aus der "Thomas"-Serie von Robert Mapplethorpe (1987). © Robert Mapplethorpe Foundation New York.

Konstruktivistische Nacktheit: Aus der „Thomas“-Serie von Robert Mapplethorpe (1987). © Robert Mapplethorpe Foundation New York.

  • Von 29. bis 30. April beleuchtet eine internationale Fachtagung in etwa 20 Beiträgen die umfassende und bis heute andauernde Wirkung Michelangelos in den Bildkünsten. Am 20. Mai, 19 Uhr, liest Markus Lüpertz eigene Gedichte und Sonette Michelangelos. Und am 21. Mai geht es in einer Abendveranstaltung unter dem Titel „Von Michelangelo bis Lagerfeld“ darum, ob der Künstler- und Starkult ein Phänomen oder eine kalkulierte Strategie ist.
  • Die Bundeskunsthalle Bonn ist Dienstag und Mittwoch von 10 bis 21 Uhr, Donnerstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet pro Ausstellung 10, ermäßigt 6,50 Euro; die Familienkarte 16 Euro. Das Kombi-Ticket für alle Ausstellungen ist für 15 bzw. 10 Euro und für Familien für 24 Euro zu haben. Im Online-Vorverkauf (Ticket plus Fahrausweis) gelten erhöhte Preise.



Vollendet unvollendet: Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“

Bilder Deinen großen Liebe „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Es kommt in Schüben, gegen die man sich nicht wehren kann – „wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will“. Mit solcher Art Betrachtungen beginnen die „Bilder deiner großen Liebe“.

Ein junges Mädchen stellt diese Betrachtungen an. Sie steht im Hof einer Anstalt, betrachtet die blühenden Blumen, die Sonne am Himmel – das Klischee ist ihr bewusst. Mit dem Daumennagel berührt sie die Sonne, schiebt sie Millimeter um Millimeter zurück. Langsam verschiebt sich auch das Eisentor, welches die Anstalt vom Rest der Welt trennt. Das Mächden, welches eben noch die Sonne berührt hat, huscht hinaus. Sie hat keine Schuhe an, egal.

Sie zieht die Socken auch noch aus und beginnt barfuß ihre Wanderung. An der Autobahn entlang, durch Dörfer, Wiesen und immer wieder durch den Wald, der ihr, seit sie denken kann, ein Freund, ein Trost war. Mehr Freund als die meisten Menschen, denen sie begegnet ist in ihrem Leben oder die sie auf ihrer Wanderung noch treffen wird: Den Binnenschiffer, der mal ein Bankräuber war oder auch nicht, einen verdrucksten Schriftsteller, einen lüsternen Fernfahrer, auf dem Friedhof einen wohlwollenden Mann in grüner Trainingsjacke, ihr und uns bekannt.* Und auf einer Müllkippe trifft sie zwei Jungen, mit denen sie eine Zeitlang zusammenbleibt. Eine kurze, aber eine wahrhaftige, eine fast schon glückliche Zeitlang. Das wandernde Mädchen – wir kennen sie. Es ist Isa, die hinreißende, grandiose Isa aus Wolfgang Herrndorfs nicht weniger hinreißendem Jugendroman „Tschick“.

Der unvollendete Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist der letzte veröffentlichte Text des viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Wolfgang Herrndorf war Schriftsteller, Maler, Illustrator und Blogger, der seinen hoch verdienten, berechtigten Erfolg erst erfuhr, als er schon unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war. In Konsequenz dieser unheilbaren, ihn zerstörenden Krankheit nahm er sich im August 2013 das Leben. Sein Leben mit der Krankheit und seine Vorbereitungen auf den Freitod teilte er in seinem tief berührenden, auch verstörenden Blog Arbeit und Struktur mit der Öffentlichkeit, posthum als Buch herausgegeben.

Der Veröffentlichung des fragmentarischen Isa-Textes stimmte er erst wenige Tage vor seinem Freitod zu. Zum Glück für uns, die Leser, die ihn und seine Texte schon länger begleitet haben. Ja, es ist unfassbar traurig, zum letzten Mal etwas Neues von Wolfgang Herrndorf lesen zu dürfen, aber es ist schön, es ist eine große Freude, dass es ein Text über Isa ist.

Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, der Überraschungserfolg des Jahres 2010, ist ein großartiges Buch. Die Figur Tschick war grandios, die Figur Maik Klingenberg war grandios, aber seien wir ehrlich, die Grandioseste von allen war Isa. Die Figur, die auch Jahre nach der Lektüre am präsentesten in der Erinnerung ist. Isa, die Unbezähmbare, die Lebenskluge, so wild entschlossen, dem Leben wenigstens ein bißchen etwas abzutrotzden. Nicht nur die Protagonisten in Tschick liebten sie, nicht nur der Leser, sondern wohl auch Wolfgang Herrndorf.

Möglicherweise war Isa sogar diejenige von Herrndorfs Romanfiguren, die ihm am meisten bedeutete. Isa ist wohl die Romanfigur der letzten Jahre mit dem größten Potential. Es ist (bei aller Tragik des Schicksals von Herrndorf) eine weitere Tragik in sich, dass diese Figur mit ihm unvollendet gehen musste. Mit den letzten Zeilen der „Bilder“ kommt der Gedanke auf, dass Isa seine imaginäre Gefährtin war, die ihn in den Tod begleiten und doch zurückbleiben sollte, um für ihn noch etwas zu Ende zu bringen.

Den Titel „Bilder deiner großen Liebe “ hat Herrndorf selbst noch bestimmt, irgendwie ist er untypisch für ihn. Die Romanfigur Isa hat ein reales Vorbild aus dem Leben Wolfgang Herrndorfs. Ines, eine Frau, die mitten im Wald in einer Hütte wohnte, die barfuß durch den Wald streifte und über Katarakte kletterte, die ihm zum Einschlafen Musils „Fliegenpapier“ vorlas. Sie gab schon der Hauptfigur in den „Plüschgewittern“ ihren Namen, der Autor bezeichnete sie als „naturkindhaft“ und die Tage mit Ines, mit der ihn eine platonische Beziehung verband, nennt er die glücklichsten seines Lebens. (Nachzulesen im oben verlinkten Blog, Kapitel 6, 22.07.2010, 5:33h ) So betrachtet, passt der Titel dann doch wieder ganz gut. Ein weiteres schönes, berührendes Detail am Rande: Das Landschaftsgemälde auf dem Schutzumschlag ist ein Gemälde von Wolfgang Herrndorf selbst. Wie einem Hinweis im Buch zu entnehmen, hing es lange Zeit schief und ungerahmt und mit der Zeile „macht einem manchmal Angst: Die Natur“ an der Wand über seinem Schreibtisch.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist keine Fortsetzung von „Tschick“. Es sind gerade mal sechs Seiten, die sich in den „Bildern“ mit der „Tschick“-Handlung überschneiden. Das mag manchen enttäuschen, zumal sich nach der Lektüre der Gedanke aufdrängt, dass die beiden Jungs für Isa bei weitem nicht das waren, was sie umgekehrt für die Jungs war. Für die „Bilder“ ist das aber völlig in Ordnung, „Tschick“ braucht keine Fortsetzung. „Tschick“ ist genauso wie es ist richtig.

Aber – so weiß der Leser schon vor der Lektüre ungefähr, was ihn erwartet. Ein Text aus der Sicht einer unzuverlässigen Erzählerin. Unter allen unzuverlässigen Erzählern, die es je gegeben hat, ist Isa wohl die unzuverlässigste. Sie mäandert durch Zeit und Raum und das liegt nicht nur daran, dass der Text den Herausgebern als Fragment vorlag. Aber gerade deswegen funktionieren die Bilder als Road Novel außerordentlich gut, gerade deswegen wirkt der Roman weit weniger unvollendet und fragmentarisch, als vor Lektüre erwartet. Es ist wirklich weniger der Roman, der unvollendet bleibt, als vielmehr Isa selbst, deren viel zu kurzes Gastspiel in der literarischen Welt man nur außerordentlich bedauern kann.

Die Herausgeber Kathrin Passig und Marcus Gärtner waren enge Freunde des Autors und zeichneten auch schon verantwortlich für die Veröffentlichung des Blogs als Buch. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie es auch mit den „Bildern“ gut, sogar sehr gemacht haben. Man merkt (auch im erkärenden Nachwort der Beiden), dass sie sich den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten und die eigentlich nur einem Autor zustehen, mit tiefem Respekt genähert haben. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet, leichtgefallen ist es ihnen auch nach eigener Aussage nicht. Sie verbergen vorhandene Lücken nicht, dennoch ist der Text zusammenhängend. Vor allem aber bewahren sie Wolfgang Herrndorfs ganz eigene Sprache und würdigen so die Einzigartigkeit des Autors.

Worte waren seine Bilder, je plastischer, desto lieber. Die gelegentlich etwas schief sitzende Grammatik – sie ist gewollt und die Herausgeber haben sie unverändert gelassen. So hat Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht, so haben Passig und Gärtner es gemacht. Bloß keinen „Germanistenscheiß“ an den Text ranlassen, das war Herrndorf wichtig. Er wäre stolz auf das Ergebnis gewesen.

Auch wenn der Roman noch so oft unvollendet genannt werden wird, für mich als Leserin, die alle Werke Herrndorfs chronologisch zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Erscheinens – angefangen mit den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bis hin zum Blog – gelesen hat, für mich sind die „Bilder Deiner großen Liebe“ ein versöhnliches, wenn auch für immer traurig bleibendes Ende.

Wolfgang Herrndorf: „Bilder Deiner großen Liebe“. Rowohlt Berlin, 140 Seiten, € 16,95.

(*der Mann in grüner Trainingsjacke auf dem Friedhof entspricht einem bekannten Foto des Autors.)




Die Kunst als Insel: Das Aalto-Theater zeigt „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Recht überschaubar ist die Zahl der Opernfans, die von sich behaupten können, „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss je auf der Bühne erlebt zu haben. Selbst im Essener Aalto-Theater, das Stefan Soltesz in seiner Zeit als Opernintendant und Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker zu einer wahren Strauss-Hochburg formte, stand die einzige komische Oper des Komponisten noch nie auf dem Spielplan.

Neben so wuchtigen, schillernden und opulenten Meisterwerken wie „Elektra“, „Salome“ und „Der Rosenkavalier“ wirkt „Die schweigsame Frau“ wie ein Fliegengewicht, das angenehm und unterhaltsam, aber ohne größeren Tiefgang vor sich hin plappert. Wenig schmeichelhafte Worte findet der Kritiker Ulrich Schreiber in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene“: Das Werk sei ein „tönendes Flachrelief“, musikalisch oft nicht weit entfernt vom Kunstgewerbe.

Gleichwohl hat Soltesz’ Nachfolger Hein Mulders beschlossen, der „Schweigsamen Frau“ eine Chance zu geben. Mit der Regie beauftragte er den Flamen Guy Joosten, der am Aalto-Theater kein Unbekannter ist und an der Rheinoper Düsseldorf „Die Frau ohne Schatten“ in Szene setzte. Mit der „Schweigsamen Frau“ begibt er sich nun auf das tückische Terrain des scheinbar Leichten. Er hat sich auf eine Oper eingelassen, die zwischen allen Stühlen sitzt: für eine Operette ist sie zu wenig bissig, für eine „Buffa“ entwickelt sich die Handlung zu schleppend. Das Libretto von Stefan Zweig neigt zur Geschwätzigkeit, und nur allzu leicht klingen die zahlreichen musikalischen Zitate nach einer eher uninspirierten Collage.

R.Strauss | Die schweigsame Frau Premiere am 14.03.2015 | Aalto Opernhaus Essen

Wie den Schatz heben? Darüber grübelt die Operntruppe von Neffe Henry (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Indes berührt Joosten die spröde Schöne mit leichter, liebevoller Hand. Und oh Wunder: Das Stück beginnt zu atmen, ja sogar leisen Witz zu entwickeln. Maßgeblichen Anteil daran hat die Ausstattung von Johannes Leiacker, der das Heim des ebenso verschrobenen wie wohlhabenden Engländers Sir Morosus als einsame Insel samt Kakteen und Schatztruhe zeichnet. Durch Kriegserlebnisse stark lärmempfindlich geworden, will der alte Mann vor allem Ruhe um sich her. Am liebsten zöge er sich ganz zurück vom lauten Getriebe der Welt. Sinnfällig verweist das Bühnenbild so auch auf die Lebensgeschichte von Richard Strauss, der sich am liebsten ganz auf seine Kunst zurückgezogen hätte und sich doch tief mit führenden Nazi-Größen einließ.

Manch vermeintliche Schwäche der Komödie münzen Joosten und Leiacker flugs in eine Stärke um. In der Ouvertüre greifen sie das Mittel der Collage auf, indem sie Szenen aus bekannten Seefahrer- und Piratenfilmen amüsant auf die Musik zuschneiden. Das eher blass gezeichnete Personal der Oper wird bei Joosten und Leiacker zu einer Gruppe leichtlebiger Paradiesvögel. Die Haushälterin tritt auf wie eine Samba-Tänzerin. In der Operntruppe von Neffe Henry, der – welche Schande! – ein Tenor geworden ist, tummeln sich Stars und Sternchen aus unserer Zeit, Amy Winehouse inklusive.

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Das könnte platt wirken, wären die Kostüme nicht zu ironisch-elegant dafür. Der quirlige Barbier Schneidebart zieht die Strippen, als sei er eine Mischung aus Gaetano Donizettis „Malatesta“ und dem berühmten Faktotum aus Rossinis Oper. Er fädelt es ein, dass der alte Hagestolz Morosus sich auf die falsche Frau einlässt: nämlich auf Henrys Frau Aminta, die ihm als vermeintlich schüchterne Timidia den Kopf verdreht, nach der Hochzeit aber zum keifenden Hausdrachen mutiert. Wie das bunte Völkchen den verknöcherten Alten zur Räson bringt, ist durch das komödiantische Talent des Ensembles und durch gute sängerische Leistungen vergnüglich anzusehen und anzuhören.

Mit keinem Geringeren als Franz Hawlata (Sir Morosus, Bass) und mit der grandios höhensicheren Julia Bauer (Aminta, Sopran) verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die der Produktion über den zuweilen pauschalen Plauderton des Librettos hinweg helfen. Martijn Cornet ist auch vokal ein schillernder Barbier, der bei guter Textverständlichkeit viel Esprit anklingen lässt. Michael Smallwood meistert die Tenorpartie des Henry nicht immer ohne Probleme, lässt aber keine grundsätzlichen Zweifel an seiner Leistung aufkommen.

Unter der nicht weiter auffälligen Leitung des Briten Martyn Brabbins zeigen die Essener Philharmoniker, dass sie sich noch immer gut auf die Partituren von Richard Strauss verstehen. Bei so viel Farbenreichtum und Differenzierungsvermögen fallen Patzer nicht weiter ins Gewicht, auch wenn ihnen ein Hornsolo in der Premiere zum Opfer fiel. Wer eine Repertoirelücke schließen möchte und „Die schweigsame Frau“ endlich einmal kennenlernen möchte, ist in Essen am rechten Platz.

Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-schweigsame-frau.htm




Sie geht, er geht auch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ am Schauspielhaus Bochum

Irgendwann steht die Frau ganz alleine auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, der Theaternebel wabert langsam ins Publikum und mit ihm eine große Traurigkeit, während die Frau sich mit geschlossenen Augen dem Regen hingibt.

Die namenlose Frau (Bettina Engelhardt), die vor zehn Jahren erst ihr Kind, dann sich selbst und dann ihren Mann verlor, hat diesen gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen – auf dem Friedhof, auf dem das gemeinsame Kind liegt. Denn Jacob soll umgebettet werden: Der Boden des Friedhofs ist vergiftet. Die Frau fühlt sich nun bereit für die gemeinsame Trauerarbeit, die direkt nach dem tödlichen Unfall des Kindes unmöglich war. Doch ihr Ex-Mann (Dietmar Bär) fand eine andere Strategie der Bewältigung. Er, der sie nach dem Unglück verlassen hatte, hat sich „damit abgefunden, dass das Kind jeden Tag fehlt“, und ist nun dabei, eine neue Familie zu gründen.

Szene aus "Gift. Eine Ehegeschichte" mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Szene aus „Gift. Eine Ehegeschichte“ mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

„Gift. Eine Ehegeschichte“ heißt das Zweipersonen-Stück der holländischen Autorin Lot Vekemans, das am Samstag Premiere in Bochum hatte. Ein dichtes, intensives Konversationsstück, das davon erzählt, wie es sein kann, wenn ein Paar ein Kind verliert. 80 Prozent aller Ehen, heißt es, scheitern nach einer solchen privaten Katastrophe.

Ricarda Beilharz‘ Bühne spiegelt das Seelenleben der Eltern: Alle Erinnerungen und Spuren sind noch da, notdürftig verpackt und verhüllt. Weißer, fließender Stoff bedeckt Wände und Boden, Möbel und Kinderzimmerausstattung. Ein nur auf den ersten Blick leerer Raum, der auch an das Innere eines Sarges erinnert – und damit an die unendliche Einsamkeit der Trauernden.

Die Szene, in der sich der Nebel (das Gift?) verzieht und der Regen kommt, liegt genau in der Mitte des Stücks. Bislang war zu sehen, wie Mann und Frau die riesige emotionale und räumliche Distanz versuchen, in den Griff zu bekommen. Denn nicht nur der Friedhofsboden, auch die Atmosphäre ist vergiftet. Es dauert keine fünf Minuten, da verfallen die ehemaligen Partner in vertraute Mechanismen: „Ich rede von Jacobs Umbettung, du redest von den Kosten!“, wirft sie ihm vor. „Leiden macht süchtig, findest du nicht auch“, stichelt er. Die alten Psychospielchen. Er geht, er kommt zurück. Sie geht. Er geht auch.

Im Stücktext folgt dann eigentlich die Wende: Mann und Frau finden nach und nach im Gespräch wieder zu einer gemeinsamen Sprache, erinnern sich an die letzten Minuten mit ihrem Kind und schaffen es, ihre Geschichte nachträglich in Würde zu beenden.

Regisseurin Heike M. Götze hat sich etwas anderes ausgedacht. Bei ihr geht die Geschichte nach der Regen-Szene zunächst noch einmal von vorne los – allerdings mit vertauschten Rollen. Im zweiten Durchgang ist die Frau diejenige, die einen neuen Partner gefunden hat und schwanger ist. Der Mann ist zurück geblieben und hat sich in seiner Trauer eingerichtet. Das Publikum erlebt die gleichen Dialoge noch einmal – aus anderer Perspektive.

Damit rückt das Geschehen zwangsläufig ein Stück vom Zuschauer weg, der nun nicht mehr eine individuelle Geschichte sieht – sondern eine Studie zur Trauer- und Beziehungsarbeit. Götze nimmt dem Stück damit seine Wucht und Intensität. Der Erkenntnisgewinn bleibt dagegen gering und ein wenig im Vagen: Was soll das Experiment bedeuten? Dass Trauerstrategien nicht geschlechtsspezifisch sind? Dass Verständigung nur funktioniert, wenn man mal die Perspektive wechselt? Dass es keinen Unterschied macht, wie man nach so einem Ereignis weitermacht – Hauptsache man tut es?

Bettina Engelhardt und Dietmar Bär gehen ihre (wechselnden) Rollen sehr unterschiedlich an: Engelhardt macht sich komplett durchlässig, wirft sich mit voller Intensität in die Figuren und zeigt Aggression, Zynismus, Hysterie, dann wieder enorme Verletzlichkeit und tiefe, tiefe Trauer. Dietmar Bärs Spiel ist dagegen stark zurückgenommen, zeitweise wirkt er wie ein Stichwortgeber, dessen Sätze nur Reaktionen seiner Partnerin provozieren sollen. Körperliche Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt – ein heftiger, fast aggressiver Kuss – ansonsten halten beide die meiste Zeit über größtmöglichen Abstand. „Ich würde mich freuen, ab und zu von dir zu hören“, sagt am Ende die eine Figur. „Ich auch“, erwidert die andere – mehr Happy End kann man nicht erwarten.

Zu den Terminen, Karten unter 0234 / 33 33 55 55.

(Die Kritik erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Holocaust als Opernstoff: Bochums Intendant Anselm Weber inszeniert „Die Passagierin“ in Frankfurt

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Zeit, sich zu erinnern, ist immer. Aber manchmal verdichtet sich Erinnerung, behauptet sich im Präsens und drängt sich in den gleichgültigen Lauf des Alltags. Momentan liegt es nahe, Vergangenes in die Gegenwart zu holen, auf dass es nicht vergessen werde: Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, vor 70 Jahren rissen die letzten Zuckungen des Nazi-Systems noch einmal Zehntausende in einen sinnlosen Tod. Aber vor 70 Jahren gab es auch Aufatmen: Die Alliierten erreichten die Tore der Vernichtungslager, gaben denen die Freiheit, die der Tötungsmaschinerie noch nicht zum Opfer gefallen waren.

Wie sich erinnern? Darüber gibt es zu Recht gesellschaftliche Debatten. Die Zeitzeugen sterben aus; das unmittelbar Erlebte ist auf geschichtliche Vermittlung angewiesen. Wie diese missbraucht wird, ist in diesen Tagen zu erleben, wenn die neue Banalität marschiert, den Bombenterror der letzten Kriegswochen gegen die deutschen Städte verzweckt, um ihre fragwürdigen Botschaften zu transportieren.

Erinnern ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses. Die deutsche Theaterlandschaft nimmt daran teil. Aber: Wie erinnert man sich auf der Bühne an den industriellen Vernichtungskrieg? An Schützengräben und Feuerstürme? Wie an die unvorstellbaren Gräuel der Lager? Wie an Gaskammern, Todeswände, Stehbunker und Verbrennungsöfen? Lange schien es undenkbar, das Furchtbare künstlerisch vermittelt auf einer Bühne zu thematisieren.

Adornos Diktum von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, wirkte praktisch wie ein Darstellungsverbot. Erst in den achtziger Jahren begannen vorsichtige Versuche, dem unsagbaren Leid den Ausdruck nicht mehr zu verweigern: Götz Friedrichs erschütternde Inszenierung von Leos Janaceks „Aus einem Totenhaus“ in Berlin war ein solches Beispiel. Peter Ruzickas „Celan“ thematisierte 1998 im reflexiven Rückbezug das Grauen des Holocausts in einem sperrig-komplexen Musiktheater. Aber von einer ausdrücklichen Thematisierung wie in Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“ von 1984 war die Opernbühne noch weit entfernt.

Erst Stefan Heuckes „Das Frauenorchester von Auschwitz“ – uraufgeführt 2006 am Theater Krefeld/Mönchengladbach – machte das Leben im KZ zum Gegenstand einer Oper. Im selben Jahr erklang in einer konzertanten Aufführung in Moskau zum ersten Mal eine Oper, von der die musikalische Welt bis dahin keinerlei Kenntnis hatte: „Pasażerka“ („Die Passagierin“) des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg. Der Komponist, enger Vertrauter von Dmitri Schostakowitsch, hat sein Werk selbst nie gehört: Er verstarb 1996. Die szenische Uraufführung der „Passagierin“ fand erst 2010 in Bregenz statt und war ein Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung.

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Nach einer Novelle von Zofia Posmysz, die selbst das KZ überlebt hatte, schildert Weinberg eine Begegnung: Auf einem Schiff meint die frühere KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden eine Lagerinsassin, Marta, erkannt zu haben. Sie versucht, die Identität der Passagierin zu erkunden. Gegenwart und Erinnerung verschränken sich, bis sich – ausgerechnet durch Musik – die Gewissheit verdichtet: Die Passagierin lässt die Bordkapelle den Lieblingswalzer des einstigen Lagerkommandanten spielen.

Schostakowitsch bezeichnete Weinbergs Oper als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“. So sieht sie auch Regisseur Anselm Weber in der Frankfurter Neuinszenierung – rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Bestialität des Lagerlebens, die nackte, menschenverachtende Brutalität lässt der Intendant des Bochumer Schauspiels nicht zu: Gewalt auf der Bühne droht immer ins Malerische abzugleiten.

In sorgfältigen Menschenstudien thematisiert Weber, wie die Gefangenen mit dem Horror leben: gebrochen bis zum Verlust des Gedächtnisses, getröstet von Gebet und winzigen Inseln gelebter Menschlichkeit, entschlossen bis zur Hingabe des eigenen Lebens, um sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen.

Katja Haß, die Bühnenbildnerin, hat für die Gleichzeitigkeit von Schiff und Lager, für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine überzeugende Bühnenlösung gefunden. Vor einer riesigen Schiffswand sehen wir auf einer Gangway Walter, einen deutschen Diplomaten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1960 nach Brasilien reist. Seine junge Frau Lisa im modischen Petticoat, die blonden Haare in Wellen gelegt: Man ahnt das „arische“ Weib von damals. Marta, die „Passagierin“: eine schlanke, elegante Frau in Schwarz. Sie zündet den Impuls des Erinnerns – da öffnen sich die Türen und aus dem Dunkel schälen sich drei Menschen in gestreifter Häftlingskleidung.

Anna-Lisa Franz, die ehemalige SS-Aufseherin, beharrt auf dem Recht auf Vergessen – aber es ist selbst für sie eine Illusion. Die Toten kommen wieder – die Schreckvision aller Gewaltmenschen bis hin zu de Schlächter Macbeth in Verdis Oper – und lassen sich nicht bannen: Die schwarze Frau zieht Lisa hinein in die Erinnerung; die Schiffwand dreht sich und öffnet sich zu einem Raum mit kalten Wänden.

Die Reling wird zum Wachtturm, die Schotten zum Lagertor. Wie es im Leben der Anna-Lisa Franz ein „Außen“ und „Innen“ gibt, so auch auf diesem Schiff: Das Äußere ist weiß, realistisch, gegenständlich. Das Innere ist der schmutziggraue Alptraum, die brutale Realität der Opfer. Das „Lieschen“ der Wirtschaftswunderzeit wandelt sich zur blonden Uniformierten. Die Frankfurter Inszenierung der „Passagierin“ hat also nicht – wie Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühne) in der deutschen Erstaufführung 2013 in Karlsruhe – auf realistische Elemente verzichtet, sie aber immer wieder in der Tiefe eines metaphorischen Raums gebrochen.

Weinbergs Oper klagt nicht an durch brutale, ungeschönte Szenen aus der Lagerqual. Aber das Libretto von Alexander Medwedew zitiert geradezu jene wohlbekannten Sätze, mit denen die Täter ihre Schuld relativierten: Befehl und Gehorsam, Pflicht und Korrektheit. Monströs ist die Verwunderung Lisas über den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Für den Regisseur Anselm Weber (Intendant des Bochumer Schauspielhauses) ist Fräulein Franz keine „blutige Stute“, die prügelt oder tötet. Ihre Mittel sind subtiler, perfider: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Marta spielte nicht mit – und Tadeusz auch nicht: Der Geiger, der den Lieblingswalzer des Kommandanten einüben soll, bevor er sich „in Rauch auflöst“, lehnt die Chance ab, Marta noch einmal zu sehen. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer der Bordkapelle und einem träumerischen Lied Martas: Sie nennt die Namen ihrer Mithäftlinge, die nicht vergessen werden sollten – ein bezeichnender Kontrast zu der Szene im Lager, in der die Menschen mit bloßen Nummern aufgerufen wurden.

Die kalten Zahlen, die auch auf dem Zwischenvorhang die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn Weber mit den „Kapos“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock ein Stück Realität zeigt. Mit bewegendem Spiel machen die Sängerinnen des Frankfurter Ensembles deutlich, wie Menschlichkeit im Verborgenen weiterlebt: Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Barbara Zechmeister und die beeindruckende Bronka von Joanna Krasuska-Motulewicz stehen für intensive Momente – und die hohe Ensemblekultur der Frankfurter Bühne.

Peter Marsh als Tadeusz in Weinbergs "Die Passagierin" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Brian Mulligan als Tadeusz in Weinbergs „Die Passagierin“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Tanja Ariane Baumgartner fügt mit der Lisa ihren stets reflektierten Rollenporträts ein weiteres, höchst gelungenes hinzu: Der Wechsel vom putzigen Fräulein zum camouflierten, schließlich hohnvoll ausbrechenden Sadismus der Aufseherin gelingt ihr szenisch wie stimmlich. Sara Jakubiak konkretisiert die „Passagierin“ Marta von einer fast schemenhaften Erscheinung zu einer starken, mutigen Frau im Lager; ihr poetisches Erinnerungslied am Ende der Oper singt sie mit feinen lyrischen Lasuren als einen sanften Appell, nicht zu vergessen.

Die Männer im Ensemble halten mit: Peter Marsh setzt seinen unverwechselbaren Charaktertenor für den konsternierten, um seine Karriere besorgten Diplomaten ein; Brian Mulligan verinnerlicht den Geiger Tadeusz, der als letztes Fanal des inneren Widerstands statt des geforderten Walzers vor dem Lagerchef die Chaconne Johann Sebastian Bachs spielt.

Der Frankfurter Chor war selten so glaubwürdig wie in dieser Produktion. Unter Leo Hussain brilliert das Orchester in den vielen kammermusikalischen Momenten ebenso wie in den schneidend harten Schlägen der Perkussionsgruppe oder in den verzerrten, in Mahler- und Schostakowitsch-Tradition stehenden parodistischen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik. Um noch einmal Adorno zu zitiere: Hier hat das „perennierende Leiden“ sein Recht auf Ausdruck gefunden.

Weitere Aufführungen: 14., 20., 22., 28. März; www.oper-frankfurt.de

 




Weil der Energieriese RWE drastisch sparen will: Industriedenkmal Koepchenwerk bedroht

Als hätte ich es geahnt. Vor ein paar Tagen verfasste ich einige Zeilen über drei Buchstaben (die sehen echt erbärmlich aus) und über ein industriehistorisch wertvolles Elektrizitätswerk, das nach seinem Konstrukteur Arthur Koepchen benannt wurde. Und heute lese ich, dass die Eigentümerin (früher war das mal die VEW), dass also RWE in Essen aufgrund des hohen Kostendrucks im Allgemeinen drastisch sparen will: Das Schieberhaus am Oberbecken mit dem Schriftzug RWE, die oberirdischen Druckrohrleitungen und das Krafthaus am Ufer des Hengsteysees stünden zur Disposition, berichtet das online-portal www.derwesten.de.

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Blöd nur, dass das ganze Ensemble des Koepchenwerks seit 1986 unter Denkmalschutz steht, auf den sich nun die gastgebende Stadt Herdecke beruft und beim Denkmalamt in Münster um Hilfe bittet. Tatsächlich können Denkmäler wieder aus der schützenden Liste genommen werden. Wenn beispielsweise ein Brand sie zerstört, oder wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse das notwendig macht – oder dem Eigentümer ist der Erhalt aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr zuzumuten.

Dann ist anscheinend bei der RWE die Armut ausgebrochen: Wie derwesten.de schreibt, musste das Unternehmen „2,5 Millionen Euro in den letzten rund 20 Jahren für Instandsetzungsarbeiten an den nicht mehr benötigten Gebäuden wegen Witterungs- und Altersschäden bereit stellen“.

Und weiter wird RWE-Sprecher André Bauguitte dort so zitiert: „Um langfristig den sicheren und wirtschaftlichen Betrieb der Anlage zu gewährleisten und angesichts der schwierigen Lage, in der sich RWE Power auch durch den Rückgang der Einsatzzeiten für das Pumpspeicherkraftwerk befindet, sind die finanziellen Anstrengungen nicht mehr zu vertreten.“

Da kommen mir ja die Tränen. 2,5 Millionen in 20 Jahren. 2,5 Millionen durch 20 ist? 125.000. (Uih, ich gestehe, ich hatte mich zunächst mit 25.000 schwerst verrechnet, hiermit korrigiert,. Das ändert aber nichts an meiner Einschätzung, dass dies für RWE nahe bei den Peanuts ankommt.) Also die geradezu erschütternde Belastung der RWE durch den Erhalt der Substanz im Koepchenwerk machte über zwei Jahrzehnte 125.000 Euro jährlich aus. Was mag wohl ein RWE-Chef im Jahr verdienen? Das kann man bestimmt irgendwo nachlesen.

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Dass kulturbewusste Menschen nicht gerade zahlreich zu denen zählen, die managend in Großunternehmen mit Zahlen jonglieren, überrascht mich nicht wirklich. Die argumentative Beliebigkeit allerdings überrascht mit schon: „Technisch und wirtschaftlich gibt es auch nach 75 Jahren keine Alternative zu Pumpspeicherkraftwerken. Bis heute hat die Anlage in Herdecke mit historischem Kern und moderner Technik nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Gerade im liberalisierten Strommarkt und besonders durch den Zubau von Windkraftanlagen mit ihrem stark schwankenden und entsprechend durch andere Quellen auszugleichenden Leistungsangebot sind die Anforderungen an das Pumpspeicherkraftwerk Herdecke in den letzten Jahren gestiegen.“ So heißt es auf einem pdf, das auf den Internetseiten der RWE die Vorzüge des Koepchenwerkes rühmt.

Klar, damit sind vermutlich nur die heutigen technischen Anlagen gemeint und nicht das denkmalgeschützte Ensemble. Aber der Energieriese kratzt mit seinen Sparplänen (2,5 Millionen in 20 Jahren) an einem absoluten Wahrzeichen der Region. Und das, um jährlich eine Summe Geldes einzusparen, die vermutlich sogar von den Portokosten übertroffen wird. „Das nachhaltige Nettoergebnis – die Kennzahl, die zur Errechnung der Dividende herangezogen wird – fiel auf 1,28 Mrd. Euro, wie der Konzern am Dienstag in Essen bekanntgab. Im Jahr zuvor hatte RWE 2,31 Mrd. Euro verdient.“ So schrieb die „Welt“ in diesen Tagen. Ja, schwere Zeiten in so einer Energiewende. Aber es ist immer noch das „Nettoergebnis“, von dem die „Welt“ da schreibt.

Technik hat Geschichte, Industrie hat Geschichte, die müssen in einer Industrieregion sichtbar bleiben. Wer leichtfertig ausradiert, was in Landschaft und Städten an die dynamische Entwicklung erinnert, die naturgemäß in Technik und Industrie stecken, der vergeht sich letztlich am eigenen Unternehmen. Und RWE wünscht sich ganz sicher, dass noch eine lange Unternehmenszukunft bevorsteht, während der man viel Zeit haben wird, auf eine ruhmreiche und innovative Vergangenheit zurückzublicken. Oder?




Mitten ins Herz der Finsternis: Der famose Roman „Butcher’s Crossing“ von John Williams

„Seine Sprache ist wie in Stein, wie in den Fels gemeißelt. Eindringlich, zeitlos, dramatisch“, schrieb ein amerikanischer Kritiker über John Williams und seine Romane, die erst jetzt – 20 Jahre nach seinem Tod – erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht werden.

„Stoner“ stand monatelang auf den Bestseller-Listen und begeisterte das Publikum. In seinem jetzt wiederentdeckten und endlich auch in Deutschland erscheinenden Roman „Butcher´s Crossing“ erzählt der 1922 Texas geborene und 1994 in Arkansas verstorbene Autor davon, wie der Mensch die Natur und die Schöpfung zur Hölle auf Erden macht.

9783423280495

Der von den Schriften des Natur-Philosophen Ralph Waldo Emerson entflammte Will Andrews möchte das einfache Leben in der freien Natur kennen lernen. Er kehrt Universität und Karriere den Rücken und macht sich im Jahr 1870 von Boston aus auf den Weg in den „wilden Westen“. Er landet in „Butcher´s Crossing“, einem kleinen Kaff in Kansas, irgendwo im Nirgendwo. Hier schließt er sich einer Gruppe von Büffel-Jägern an und gerät in ein von Strapazen und Entsagungen geprägtes Abenteuer.

Nachdem Will Andrews Hunger und Kälte und einen ganzen Winter in den verschneiten Bergen überstanden hat, kehrt er in eine Welt zurück, die sich genauso verändert hat wie er selbst.

Williams hat einen atemlos spannenden und vielschichtigen Roman geschrieben, eine Parabel über falsche Hoffnungen und wahnhafte Träume. Er nimmt den Leser mit auf eine von Blutrausch und vom Überlebenswillen geprägte Reise ins Herz der Finsternis. Grandios.

John Williams: „Butcher´s Crossing“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. DTV, München 2015. 365 Seiten, 21,90 Euro.




Tödliche Logik: „Hamlet“ als Oper von Ambroise Thomas in Bielefeld

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas' selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas‘ selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Es ist was krank am Hofe Dänemarks. Auf der Couch sitzen ein junger Mann und eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Um sie herum herrscht Ausgelassenheit: Man feiert die Krönung des neuen Königs. Aber der hagere Junge zeigt kein Interesse: Er notiert sich etwas in einem Büchlein. Vor dem schüchternen Versuch des Mädchens, ihn sacht zu berühren, zuckt er zurück. Die wirren Haare, der unstete Blick, die gesuchte Isolation: So sieht ein Außenseiter aus.

Hamlet ist an diesem Hof eine einsame Figur; einsam, weil er sich selbst, weil ihn offenbar eine Krankheit dazu macht. Wir finden ihn kurze Zeit später alleine auf der Couch, einem zentralen Bühnenrequisit Nanette Zimmermanns für Andrea Schwalbachs Inszenierung von „Hamlet“ am Theater Bielefeld. Ihm zur Seite: Ein in unauffälligem Braun gekleideter Herr. Ein Psychiater? Ein Therapeut?

Die Exposition wird sich schnell zuspitzen, wird die psychische Deformation Hamlets immer klarer offenbaren, wird zeigen, wie seine idée fixe nach und nach alle Personen seines Umfelds mit klebrigen Fäden an ihn bindet, und in seinem Gespinst fesselt, bis sie am Ende dem zupackenden Stahlzahn zum Opfer fallen, den er in der Hand hält.

Die Entwicklung vom nagenden Argwohn zur kranken Gewissheit hat Regisseurin Andrea Schwalbach in Bielefeld nicht aus Shakespeares wohlbekannter Tragödie gewonnen, sondern aus Ambroise Thomas‘ kaum bekannter Oper „Hamlet“. 1868 an der Pariser Opéra uraufgeführt, kleidet dieses Werk Shakespeare in die eleganten Gewänder einer grand opéra und setzt – basierend auf einer Adaption von Alexandre Dumas und dem Libretto von Michel Carré und Jules Barbier – den Akzent auf das Geflecht der Emotionen, Wünsche, Erwartungen und Ängste der Hauptpersonen. Ein psychologisches Kammerspiel, das oft genug mit einem Salontrauerspiel verwechselt wurde.

Eigentlich sollte die Opernwelt spätestens nach den verdienstvollen Aufführungen mit Siegfried Köhler am Pult in Saarbrücken und Wiesbaden 1973 und 1983 wissen, welch ein Juwel – nicht nur musikalisch – von Thomas hier gefasst und geschliffen wurde. Aber der Tunnelblick auf das Repertoire wirkt auch eine Generation später noch: Bielefelds „Hamlet“ kommt daher beinahe der Rang einer Wiederentdeckung zu.

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Schwalbach, wie stets in der Wahl ihrer Mittel sorgfältig und beziehungsreich bis zum Äußersten, entdeckt das Potenzial des Opernstoffs. Sie setzt eine fatale Verstrickung Hamlets in seine sinistre Innenwelt voraus, in der sich die Ahnung, seine Mutter und sein Onkel könnten den König, seinen Vater, ermordet haben, zur Gewissheit verdichtet und blutige Konsequenzen zeugt. Schwalbach gelingt das Meisterstück, zu zeigen, wie Hamlet mit jedem Indiz seine innere Logik bestätigt sieht. Jeder rationalen Kontrolle entzogen, führt sie ihn zu furchtbarer Gewissheit. Ein Psychogramm einer Verschwörungstheorie mit tödlichen Folgen.

Das funktioniert auch dank der vagen Formulierungen des Librettos. Sie kommen dem virtuosen Spiel mit mehrdeutigen Hinweisen entgegen, das Schwalbach inszeniert – vor allem das Fest mit dem scheinbar verräterischen Schauspiel des „Todes Gonzagas“ im dritten Akt.

Der Zuschauer wird Zeuge des inneren Verfalls Hamlets – und der Menschen um ihn herum: Er entzieht Ophélie ihre Lebenskraft, er zerrüttet seine Mutter Gertrude und er tötet schließlich, als sich der Kontrollverlust nicht mehr bremsen lässt. Eine Schlüsselrolle spielt der „Geist“ des Vaters (Yoshiaki Kimura), säkularisiert zum Therapeuten: Der Hinweis auf den Vatermord kommt nicht aus schaurigem Jenseits, sondern wird aus dem Tagebuch Hamlets vorgelesen.

Schwalbach hat am Theater Bielefeld eine Riege engagierter Darsteller, ohne die ihr differenziertes Konzept auf der Bühne verpuffen würde: Evgueniy Alexiev ist der hagere Hamlet mit wirrem Scheitel, dem dunkelblauen Anzug eines Aufsteigers – Petra Wilkes Kostüme zitieren beziehungsreich Modisches – und den eckig-exaltierten Bewegungen eines Menschen, der sein inneres Getriebensein in ausgreifender äußerer Gestik offenbart. Mit seiner dunklen Stimme fasst er die gequälte Seele Hamlets in passend aufgeraute, in der Höhe nicht immer abgesicherte Töne.

Cornelie Isenbürger legt die Ophélie nicht als die gebrochene „femme fragile“ in der Nachfolge Lucia di Lammermoors an, wie es die Musik nahelegen könnte. Kein Koloraturvögelchen also, wie die großen Interpretinnen der Vergangenheit die Partie gerne präsentiert haben. Sondern eine nach Zuwendung gierende junge Frau, die Hamlets empathielose innere Isolation und seine immer befremdlicheren Ausfälle endgültig in die Depression treiben. Auch stimmlich ist Isenbürger eine Ophélie aus Fleisch und Blut; ihre substanzreiche Stimme ist zur Schattierung in Farbe und Dynamik fähig.

Wie weit die seelische Deformation in diesem Biotop der Grausamkeit fortgeschritten ist, offenbaren äußere Wunden: Ophélie lässt schon bald die Pflaster an Armen und Oberschenkeln sehen; Gertrude demonstriert die blutigen Narben ihrer aufgeschnittenen Pulsadern. Zärtlichkeit und Zuwendung fehlen ihnen allen: Die Ehe zwischen Gertrude und Claudius, einem gemütlichen Blonden: eine Vernunftheirat. Ihr Kuss: förmlich. Die Beziehung zwischen Gertrude und Ophélie: geprägt von Scheu vor Berührung. Und wenn Hamlet und seine Mutter aufeinandertreffen, offenbaren die Reaktionen, dass diese Menschen eine lange Geschichte quälender Absenz jeder liebevollen Zuneigung hinter sich haben. Das fein schimmernde Metall in der schneidenden Stimme Melanie Kreuters passt zum Psychogramm dieser Figur.

Schwalbach vernachlässigt aber auch die Figuren der Peripherie nicht: Marcellus und Horatio (Lianghua Gong und Caio Monteiro) sind die stimmlich prächtig disponierten Freunde Hamlets, die sich erst einen Spaß machen, sich dann aber dem seelisch Abgründigen nicht entziehen könnten; der gebildete, diesmal erfreulich freie Tenor von Daniel Pataky ist fast zu edel für den unglücklichen Laërte, der wie Polonius (Moon Soo Park) ein Opfer von Hamlets verbissenem Rachetrieb wird.

Elisa Gogou spornt die Bielefelder Philharmoniker zu differenziertem Spielen an: Ambroise Thomas‘ elegante, expressive Musik fordert geschmeidige Phrasierungen, hält sich kammermusikalisch zurück, um der Gesangslinie die Priorität einzuräumen, blüht aber auch auf, wo sie Gounod’sche Glut und die Pracht eines Saint-Saëns für sich entdeckt. Die Dirigentin hat für die stilistischen Facetten einen Blick, führt die Musiker und den von Hagen Enke einstudierten Chor mit sicherer Hand. Der Besuch in Bielefeld lohnt sich.

Weitere Vorstellungen: 13. und 22. März, 11. April, 10., 18. und 26. Juni.
Info: www.theater-bielefeld.de




Ein Maler mit vielen Talenten – Haus Opherdicke zeigt Bilder von Oskar Kurt Döbrich

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Schön bunt und fast ein bißchen wie von Hundertwasser: Aquarell „Tecklenburg, Tor rechts vom Museum“ aus dem Jahr 1929 (Foto: Kreis Unna)

In der Bretagne entstanden 1970 seine letzten Bilder, formenreiche, zerklüftete Landschaften, sorgfältig in Tusche auf das Papier gebracht. Im selben Jahr starb Oskar Kurt Döbrichs mit 59 in Münster. Er hinterließ ein eindrucksvolles Oeuvre, aus dem nun rund 120 Arbeiten in Haus Opherdicke zu sehen sind.

Seit etlichen Jahren ist es in Schloß Cappenberg wie auch in Haus Opherdicke guter Brauch, Künstler zu präsentieren, deren Schaffen durch den deutschen Nationalsozialismus eine jähe Unterbrechung erfuhr und die danach oft nicht an ihre frühere Entwicklung anknüpfen konnten.

Wer um sein Leben fürchten mußte, floh, andere gingen in die „innere Emigration“. Doch auch Maler wie eben Oskar Kurt Döbrich, die für sich nicht den Rassenwahn der Nazis fürchten mußten und auch politisch unauffällig blieben, wollten ihre Kunst nicht verraten. Döbrich, so der Eindruck, rettete sich mit Portraits, Akten oder Landschaften über die Zeit, blieb im Stil konventionell, ohne sich indes ästhetisch anzubiedern.

Fünf Jahre lang war Döbrich Soldat, und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, daß sein Talent zwischen dem 22. und dem 34. Lebensjahr gleichsam auf Sparflamme kochte. Nicht vielen Künstlern gelang es, nach einer solchen Zeit durchzustarten, zumal die informelle abstrakte Kunst, die im Westdeutschland der Nachkriegszeit bald schon als das Moderne schlechthin galt, auch für sie meistens ganz neu war. In der Nazizeit hatte ihnen ja nicht nur die freie, künstlerische Betätigung gefehlt, sondern auch der Kontakt zu nationalen und internationalen Entwicklungen. (Manche schafften es trotzdem noch, Emil Schumacher, 1912 geboren, ist dafür ein Beispiel. Aber dies nur am Rande.)

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Die „Kleinstadtgasse“ (1935) aus der Sammlung Brabant machte die Museumsleute des Kreises Unna auf den Maler Oskar Kurt Döbrich aufmerksam. (Foto: Kreis Unna)

Er wollte immer Lehrer werden

Ob Oskar Kurt Döbrich nun viel berühmter geworden wäre, wenn es den deutschen Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, steht dahin. Offenbar war sein Wunschberuf stets der des Gymnasiallehrers, und in seiner Soldatenzeit – als Unteroffizier – legte er in Münster sein Biologieexamen ab. Flott war er nach dem Krieg entnazifiziert, wurde Studienrat, später Oberstudienrat und das ist keineswegs zu tadeln, belegt aber auch nicht eben einen Karriereknick.

Döbrich hat gemalt und in Linoleum geschnitten, radiert und gedruckt, er hat mit harter Feder feine Tuschestriche gezogen, mit Kohle und Kreide Flächenstimmungen geschaffen, aber auch aquarelliert und manchmal einfach einen Bleistift genommen. Er hat es bei alledem zu früher Meisterschaft gebracht und war gewiß ein Lehrer, bei dem man etwas lernen konnte.

Bei so viel technischem Können den persönlichen Stil herauszufinden, fällt indes nicht leicht. Vielleicht hätte der sich stärker ausgebildet, wenn nicht die Zäsur der Nazizeit gewesen wäre, vielleicht aber auch entsprang die stilistische Vielfalt dem Selbstverständnis eines der Wissensvermittlung sich verpflichtet fühlenden Pädagogen. Fast ausnahmslos ist das Oeuvre geprägt vom Arbeiten nach der Natur. Landschaften und Gebäude haben Döbrich offensichtlich stets interessiert, Bäume und Blumen hat er mit Hingabe auf die Unterlage geworfen.

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Döbrich schuf auch sehenswerte Karikaturen: Frau mit Pelzkragen (1932) (Foto: Kreis Unna)

Manchmal hat er auch Gefallen daran gefunden, sein Handwerk auf die perfektionistische Spitze zu treiben. In mehreren Stilleben aus den 30er Jahren beispielsweise ist ein gewöhnliches Küchenhandtuch mit regelmäßigem rotem Streifenmuster so detailverliebt ins Bild drapiert, daß man sich fast vor dem Werk eines niederländischen Renaissancemalers wähnen könnte. Nur liegen hier nicht die sattsam bekannten Luxuslebensmittel jener Epoche, die Hummer, Wachteln, Trauben usw. auf dem Tisch, sondern profane Dinge wie eine Streichholzschachtel oder eine einzelne Orange. In diesem Bildern herrscht noch frohe Farbigkeit; in den späteren „braunen“ Jahren geht Farbe weitgehend verloren, dominieren die „schnellen“ Techniken Tusche, Kreide und Kohle, was natürlich auch den Umständen geschuldet sein kann, der Soldatenzeit zumal.

Zwei Bilder in der Sammlung Brabant

Die Bilder der 30er Jahre indes, die Sigrid Zielke-Hengstenberg und Thomas Hengstenberg vom Fachbereich Kultur des Kreises Unna vor etlichen Jahren in der Sammlung Brabant erblickten, hatte Oskar Kurt Döbrich 1935 noch als (farbige) Gouachen auf Papier ausgeführt. Sie gaben seinerzeit den Anstoß, die Ausstellung zu planen, die nun endlich in Opherdicke zu sehen ist. Stadtlandschaftsbilder sind sie alle beide. Die „Kleinstadtgasse“ ist eng und in einigen Details mit einer Andeutung von Kubismus ein wenig aus der Perspektive gedreht, die trostlose Häuseransammlung an der Landstraße, die auch zwei Werbeschilder für „Shell“ und „Sarotti“ nicht wirklich aufhübschen können, strahlt hingegen fast schon so etwas wie Hoppersche Tristesse aus (indes fehlt die gelangweilte blonde Schöne im Hotelzimmer, aber dies nur am Rande).

Reproduktion, Oskar Kurt Döbrich

„Stilleben mit Büchern“ (und einem extrem realistischen Küchenhandtuch) von 1935 (Foto: Kreis Unna)

Mehrfach fühlt man sich an andere Künstler erinnert, erstaunlicherweise indes an solche, die teilweise erst viel später kamen. So könnte ein quietschbuntes „Kornfeld“ von 1946 – grünes Gras, gelbes Korn, rote Dächer, blauer Himmel – auch auf Cy Twomblys iPad entstanden sein, läßt ein „Brauner Krug“ von 1928 an die langweiligen Büromaschinen Konrad Klaphecks denken. Gewiß, solche Ähnlichkeiten müssen zufällig sein. Doch zeugen sie von einer intensiven Auseinandersetzung mit Techniken, Formen und Farben, die diesem Maler in besonderem Maße eigen ist.

Anfang der 50er Jahre – auch an Oskar Kurt Döbrich gingen die Entwicklungen natürlich nicht unbemerkt vorüber – versuchte er sich an abstrakten Formen. Aus dem Jahr 1952 sind kurvige Flächenkompositionen mit den Titeln „Grau und Schwarz“ und „Rhythmische Studie 6“ zu sehen.

Doch bald schon ist er wieder auf dem Weg zum Gegenständlichen, wie mustergültig seine „Komposition mit Figuren“ von 1954 zeigt. Die „Komposition 17“ von 1960 läßt an Lyonel Feiningers Erfurter Dom denken, und in mehreren holländischen Stadtansichten bricht sich das konkrete Bauliche unter rhythmischen Schraffuren Bahn – gerade so, als ob ein Schleier fortgezogen würde. In den italienischen Aquarellen ist der Maler Mitte der 60er Jahre wieder ganz gefangen von der Anmut des Ambientes, der er seine Kunst widmet. Die Welt, scheint diese Kunst zu sagen, ist viel zu schön, als daß man sie nicht malen müsste.

  • „Oskar Kurt Döbrich – Das Leben als große Wanderung“
  • Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede
  • 8. März bis 28. Juni 2015
  • Geöffnet Di-So 10.30 – 17.30 Uhr
  • Eintritt 4,00 €, Familienkarte 8,00 €, Jahreskarte 20,00 €, Kombikarte (mit Cappenberg) 30,00 €
  • Der umfangreiche, uneingeschränkt empfehlenswerte Katalog kostet 24,00 €.



Besseres Klima, leichterer Zugang, neue Akzente: Museum in Hamm öffnet nach Umbau

Am östlichen Rand des Ruhrgebiets steht eine kulturelle Festivität ins Haus: Nach 21 Monaten Bauzeit feiert die Stadt Hamm die Wiedereröffnung ihres Gustav-Lübcke-Museums.

Damit es sich auch lohnt, wird dieses Ereignis fast das ganze Jahr über zelebriert, sozusagen Stück für Stück. Die einzelnen Abteilungen der Dauerausstellung öffnen nach und nach in jeweils neuer Form, die erste größere Wechselschau („Sehnsucht Finnland“ mit skandinavischer Kunst) wird es im Oktober geben.

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

An diesem Sonntag beginnt der Reigen mit einem Tag der offenen Tür. Dann werden bereits die völlig umgestaltete Abteilung für Stadtgeschichte (auf verdreifachter Fläche) und Beispiele zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu sehen sein. Ein Herzstück des Museums, die immerhin revierweit größte Ägypten-Sammlung, wird ab 30. August wieder präsentiert.

Aber was heißt hier „wieder“? Auch hier sollen sich Umfang und Darstellung gründlich ändern. Die Abteilung Altes Ägypten profitiert gleichfalls vom Umbau, bei dem vor allem die Klimatechnik nebst Heizung und Lüftung aufwendig erneuert wurde. Folge: Hamm bekommt jetzt in allen wesentlichen Bereichen so manche Leihgabe, deren Überlassung vorher zu riskant gewesen wäre.

Insgesamt rund 5,1 Millionen Euro hat die Stadt ins Museum investiert. Durchaus erwähnenswert: Dieser Kostenrahmen wird höchstwahrscheinlich eingehalten, vielleicht sogar knapp unterschritten. Man wird es sehen, wenn die letzten Ingenieur- und Handwerkerrechnungen beglichen sind.

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Von den Ergebnissen der Sanierung sieht man als Besucher kaum etwas, denn die zeitgemäße technische Ertüchtigung hat sich vor allem in den „Eingeweiden“ des Museums vollzogen. Wer es genauer wissen will, kann sich einer Technikführung anschließen.

Das von Friederike Daugelat geleitete Haus mit seinen 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche bietet weitere Neuerungen, die der besseren Orientierung dienen: Die Besucher werden mit einem Farbleitsystem durch die einzelnen Bereiche geführt (Gold für Ägypten usw.) und mit neu gestaltetem Info-Material versorgt. Vor allem aber gibt es jetzt schicke Multimedia-Guides, die kostenlos ausgeliehen werden können und beim Rundgang per Ton und Film in die Museumsbestände einführen.

Überhaupt legt man offenbar großen Wert darauf, die Besucher nicht mit ihren etwaigen Fragen allein zu lassen. In der Abteilung für Kunst des 20. Jahrhunderts (trotz einzelner Glanzpunkte insgesamt wohl eher eine Kollektion aus der zweiten Reihe, wenn man ehrlich ist) eröffnet man den Zugang bevorzugt über die Künstler-Persönlichkeiten und erläutert lieber von Grund auf, was es mit der Kunst und Sammelschwerpunkten wie Expressionismus oder Informel auf sich habe. Man versucht also, anhand eines recht schmalen Ausschnitts aus der Sammlung, die weniger kundigen Besucher „da abzuholen, wo sie sind“, um eine nicht eben schmerzfreie Formel aus der populären Publizistik zu zitieren.

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum, seit 1993 im jetzigen Bau an der Neuen Bahnhofstraße ansässig, bietet also eine ausgesprochen vielfältige Mischung aus Gebieten der Kunst- und Kulturgeschichte, auch Archäologie und Angewandte Kunst (beides ab 14. Juni geöffnet) zählen noch hinzu. Geschärftes Profil sieht eigentlich anders aus. Hamm hat fast schon eine Wunderkammer.

Deutlich aufgewertet wird jetzt die Hammer Stadtgeschichte. Auch hier steht leichtere Faßbarkeit im Vordergrund. Die stadthistorische Präsentation wirkt liebevoll arrangiert, wenn auch hie und da noch etwas brav und bedächtig.

Die Chronologie reicht jetzt – anders als vordem – über den Zweiten Weltkrieg hinaus. So gibt es beispielsweise einen Raum zur „Wirtschaftswunder“-Zeit mit Kleinwagen, Jukebox und zeittypischem Wohnzimmer. Neu ist auch ein zeitungsgeschichtlicher Strang, bei dem man sich vom lokalen Platzhirschen („Westfälischer Anzeiger“) ausgiebig hat helfen lassen. Auch so eine Public Private Partnership.

Am Beginn des stadtgeschichtlichen Rundgangs geht es übrigens um den veritablen Mord an einem Kölner Erzbischof. Die Folgen dieser Bluttat führten anno 1226 (am Aschermittwoch) zur Gründung der Stadt Hamm. Dramatische Anfänge, fürwahr.

  • Gustav-Lübcke-Museum, 59065 Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 75 01
  • Am Sonntag, 8. März 2015, Wiedereröffnung mit einem Tag der offenen Tür ab 10:30 Uhr (Musik vor dem Museum) bzw. 11:30 Uhr (offizieller Festakt) bis 18 Uhr.
  • Reguläre Öffnungszeiten Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt: Dauerausstellung 2,50 Euro, ermäßigt 1,30 Euro, Kinder bis 15 Jahre frei.



Wundersam fröhlich: Milan Kundera feiert „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“

Es schien, als sei Milan Kundera literarisch verstummt, hatte doch der Autor, der 1975 seine tschechische Heimat verließ und seitdem in Paris lebt, viele Jahre keinen Roman mehr veröffentlicht. Doch jetzt, mit 85 Jahren, meldet er sich zurück. Mit einem Roman, der mit melancholischer Heiterkeit und humorvoller Eleganz ein ironisches „Fest der Bedeutungslosigkeit“ zelebriert.

Milan Kundera zählt zu jenen Autoren, die schon deshalb zeitlos allgegenwärtig sind, weil die Titel ihrer Romane – „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ – einen philosophischen Fantasieraum aufschließen und geradezu sprichwörtlich wurden. Und weil sie beim Schreiben immer auch über die Bedingungen und Absichten des Schreibens nachdenken.

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Und so ist es auch jetzt wieder, als schaue sich Kundera beim Formulieren zu und habe unendlichen Spaß daran, mit seiner Rolle als Erzähler zu jonglieren. So lässt er einen gewissen Ramon (eine literarische Figur, die seinem Erfinder sehr ähnlich ist) die von Kundera in seinen Werken schon mehrfach variierte existenzielle Philosophie der Negation auf den Punkt bringen: „Die Bedeutungslosigkeit“, sagt Ramon, „ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmsten Unglück.“

Die List der Dialektik weiß natürlich, dass – wenn nichts wirklich von Bedeutung ist – auch der Roman, an dem Kundera mit Hilfe von Ramon gerade feilt, nichts bedeutet, nur ein Zeitvertreib ist, ein Spiel, eine Illusion. Dies zu verstehen, macht aber auch frei und fröhlich. Und so wird ihm die Bedeutungslosigkeit zugleich auch zum „Schlüssel zur Weisheit“ und zum „Schlüssel zur guten Laune.“

Ja, Kundera ist wahrhaftig gut gelaunt, lässt Hegel und Stalin, Schopenhauer und Chruschtschow aufmarschieren, um sie zu karikieren und zu unfreiwilligen Zeugen der Bedeutungslosigkeit zu machen. Ob Krieg und Katastrophen, Literatur und Kunst, alles nur trostloser Tand.

Um noch einen letzten Erzähl-Walzer zu tanzen, lässt Kundera einige Herren durch Paris flanieren: Alain beobachtet junge Frauen und sinniert über die Erotik des Bauchnabels. Ramon würde sich gern eine Chagall-Ausstellung anschauen, kapituliert aber vor der langen Museumsschlange. Charles reißt politische Witze und organisiert Cocktailpartys, auf denen Caliban, ein Schauspieler ohne Engagement, als Aushilfskellner jobbt. Schließlich D´Ardelo, der sich eine erfundene Krebserkrankung zulegt und sich über seine eigenen Lügen amüsiert.

Ach ja, ein paar Frauen huschen auch noch kurz durchs Bilder-Gestöber: Eine junge Portugiesin, die, weil sie kein Französisch beherrscht, nur nonverbal kommuniziert. Oder eine schwangere Frau, die beim Versuch, sich zu ertränken, ihren vermeintlichen Lebensretter tötet und nun mit der Schuld weiterleben muss, aber ihrem verpfuschten Leben eine ganz neue Bedeutung geben kann.

Kundera umkreist seine Figuren, begegnet ihnen kurz und entlässt sie dann wieder in das Straßenlabyrinth von Paris, in die Freiheit und zum Fest der Bedeutungslosigkeit.

Milan Kundera: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 16,90 Euro.




Gescheiterte „Werktreue“: Fiasko mit Carl Maria von Webers „Freischütz“ in Aachen

"Brav! Herrlich getroffen!" - Fur den Aachener "Freischütz", von Martin Philipp einem Inszenierungsversuch unterworfen, gilt das nicht. Szene aus der Eröffnung der Oper. Foto: Ludwig Koerfer

„Brav! Herrlich getroffen!“ – Fur den Aachener „Freischütz“, von Martin Philipp einem Inszenierungsversuch unterworfen, gilt das nicht. Szene aus der Eröffnung der Oper. Foto: Ludwig Koerfer

An Webers „Freischütz“ entzündet sich Inszenierungs-Fantasie gerne: Das liegt am Libretto Friedrich Kinds, seinen Elementen der Kolportage, der Schauergeschichte, des Sentimentalen und des Fantastischen.

Es liegt an dem störrisch die Religion bemühenden, für metaphysisch unbeleckte Regisseure von heute nicht nachvollziehbaren Ende. Und es liegt sicher auch an der Repertorielast, die Webers meistgespieltes Werk beschwert. Irgendetwas Neues muss ja jeder finden, der sich dem Stück widmet.

Insofern gehört eine gute Portion Mut dazu, die Geschichte von Freikugeln, Jägersbraut und Gespensterschlucht samt wundersamer Errettung so zu erzählen, wie sie auf dem Blatt steht. Martin Philipp hat es jetzt in Aachen versucht – und ist so gründlich gescheitert wie kein Regisseur in den letzten Jahren, abgesehen vielleicht von Dominique Horwitz mit seiner unsäglichen „Freischütz“-Verstümmelung in Erfurt.

Am wenigsten ist das szenische Fiasko noch Detlev Beaujeans Bühne zuzuschreiben: Ein Soffittenrahmen, halb in einer Art Flecktarn, halb in Spiegeln, auf denen sich später die vervielfachten bösen Augen Samiels öffnen. Der einzelne kahle Stamm auf der Bühne erweist sich als funktionsloses Dekor: Erst klebt eine Herz-Jesu-Statue daran, später trägt er eine Aufhängung für eine tote Rehgeiß.

Die Wolfsschlucht beschwört nicht so sehr das Unheimliche als die theatralischen Mittel einer gymnasialen Oberstufen-Theater-AG: Blitz, Dampf und Windmaschine, dazu ein paar Schatten für das „Wilde Heer“. Hilfloser hat man diese Schlüsselszene schon lange nicht mehr gesehen.

"Nur ein keckes Wagen ist's, was Glück erringt": das gilt auch für den "Freischütz". In Aachen war das Wagnis gering. Woong-jo Choi (Kaspar) und Chris Lysack (Max). Foto: Ludwig Koerfer

„Nur ein keckes Wagen ist’s, was Glück erringt“: das gilt auch für den „Freischütz“. In Aachen war das Wagnis gering. Woong-jo Choi (Kaspar) und Chris Lysack (Max). Foto: Ludwig Koerfer

Die Menschen, die in wahrhaft biederem Biedermeier der Kostüme Kristopher Kempfs den Schauplatz bevölkern, sind vom Geist von Regie weitgehend befreit. Auch wenn der Chor nach dem erfolgreichen Schuss des „Bauern“ (der sicher singende Stefan Hagendorn ist Kilian) sich im Takt wiegend entfernt, auch wenn er im Finale dem Übeltäter kollektiv den Rücken zukehrt: Mehr als eine gestaltlose Menschenansammlung macht Philipp nicht daraus.

Vielleicht hätte jemand dem Max von Chris Lysack erklären sollen, welcher Charakter sonst leichten Sinns durch Wälder und Auen zog und nun die verzweifelte Frage nach einem lebenden Gott stellt. Vielleicht hätte man dem Ännchen Jelena Rakić mitteilen sollen, dass sie mit ihrer hübschen, aber leicht eingeengten Soubrettenstimme gerade nicht im „Schwarzwaldmädel“ unterwegs ist.

"Jetzt ist wohl ihr Fenster offen, und sie horcht auf meinen Schritt...": Katharina Hagopian als Agathe. Foto: Ludwig Koerfer.

„Jetzt ist wohl ihr Fenster offen, und sie horcht auf meinen Schritt…“: Katharina Hagopian als Agathe. Foto: Ludwig Koerfer.

Und vielleicht wäre es auch bei Kaspar angebracht gewesen, darauf hinzuweisen, dass es in der „Schreckensschlucht“ nicht um die Zubereitung von zugegeben etwa seltsamen Zutaten für ein nächtliches Grillen im Wald geht. Obwohl Woong-jo Choi noch am glaubwürdigsten die dunkel-verschlagene Seite einer gespaltenen Persönlichkeit ausdrückt: Den Dialog mit dem – als Figur getilgten – Samiel führt er mit sich selbst. Choi überzeugt als Sänger mit einem satten, messerscharf geführten Bassbariton, dessen leise angesetzte Warnung an Max, zu schweigen, dunkel-unheimliche Autorität ausstrahlt.

"Die Schlucht ist verrufen, und um Mitternacht öffnen sich die Pforten der Hölle": In Aachen blieb der Schrecken zahm. Foto: Ludwig Koerfer

„Die Schlucht ist verrufen, und um Mitternacht öffnen sich die Pforten der Hölle“: In Aachen blieb der Schrecken zahm. Foto: Ludwig Koerfer

Das Ganze schließt, wie es eben schließen muss: mit einem Eremiten in schwarzer Kutte und fast noch schwärzerer, lyrisch, doch dennoch nachdrücklich geführten Stimme (Vasilis Tsanaktsidis).

Der Regieeinfall des Abends ist die Rehgeiß, die zum dünn besetzten Jägerchor erst ausgeblutet, dann ausgeweidet und zum banalen Ende dem Probejahr-Paar auf einem Tischchen präsentiert wird. Zum „männlich‘ Vergnügen“ saufen die Waidmänner das Rehblut: Hätten wir’s gewusst, dass Jäger ein ganz blutrünstiges Gelichter sind?

Mehr Freude bereitet es, auf Webers Musik zu hören: Justus Thorau, neuer Erster Kapellmeister in Aachen, scheut das langsame Tempo nicht, erfüllt es mit Spannung und Bedeutung – auch das im Gegensatz zu den zähen, immer wieder durchlöcherten Dialogen auf der Bühne. Er hat eher die große Linie im Auge als den Akzent en détail, lässt die Klänge weich und klangsatt modellieren. Die Agathe von Katharina Hagopian stützt er, ohne ihren Atem an Grenzen zu führen. So kann die Sängerin – die als Persönlichkeit von der Regie ebenso wenig belichtet wird wie die anderen – vor allem ihr lyrisches Zentrum vorteilhaft entfalten: Ihre Tongebung ist stetig und flexibel, nur am Ende reicht die Energie nicht mehr für eine zuverlässige Stützung der Höhe.

Manchmal sollte Thorau ein wenig gelassener mit den Sängern atmen: Dann würde die Phrasierung in „Durch die Wälder…“ flexibler und Woong-jo Choi müsste bei „Nichts kann dich retten vom tiefen Fall“ nicht hetzen. Diese Details ändern nichts an der ansprechenden Leistung, die Thorau dem Sinfonieorchester Aachen abgewinnt. Der Klang, vor allem bei den Holzbläsern, vertrüge eine behutsame Politur, aber auf der anderen Seite stehen – auch bei Oboe oder Klarinette – schöne Soli. Das Solo-Cello hört man in Aachen deutlich über dem Niveau vergleichbarer Orchester. Der Chor unter Andreas Klippert und Elena Pierini erfüllt mit kompaktem Klang seinen Part.

Die Aachener Aufführung ist ein Beispiel dafür, wie durch vermeintliche „Werktreue“ das „Werk“ an Banalität und Langeweile verraten wird. Es bleibt dabei: Ohne eine reflektierte Hermeneutik bleiben die Bilder von damals blass.

Weitere Aufführungen zwischen 7. März und 30. Juni.

Info: http://theateraachen.de/index.php?page=detail_event&id_event_date=12313347




Betörend verstörend: Sibylle Bergs Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“

Das bloße Handlungsgerippe ist rasch erzählt: Partnerin eines zunehmend erfolglosen Theaterregisseurs lernt beim Aufenthalt in einem namenlosen Land der „Dritten Welt“ knackigen jungen Mann kennen und vögelt sich mit ihm die Seele aus dem Leib. Daraus erwächst erbärmliches seelisches Leiden.

Entscheidend ist natürlich auch auf dem literarischen Platz, w i e davon erzählt wird. Sibylle Bergs neuer Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ ist in die mittlerweile weithin üblichen Kürzest-Kapitel gegliedert, die das geneigte Lesepublikum nicht durch absatzlose Längen überfordern. Es sind gleichsam lauter gereihte Kolumnen. Es scheint fast so, als wäre es ein niedrigschwelliges Angebot.

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Wie in einem steten Wechselgesang nimmt der Roman die gleichermaßen deprimierenden Perspektiven des bislang innig ineinander verwobenen, höchst durchschnittlichen Paares ein: Chloe und der deutsch-finnische Theatermann Rasmus führen Klage über ihr Dasein und den Zustand der Welt, sie kotzen sich vielfach buchstäblich aus. Onanistische Phantasien und alkoholische Exzesse grundieren ihren öde gewordenen Alltag. Und man ahnt bald: Sie sollen für nichts Besonderes stehen, sondern just für eine typische Form der landläufigen „Beziehung“.

„Der Sex, unsere Todeszone“

Diesem Roman zufolge ist ja auch in den mittleren Jahren alles ein Elend. Allmählich sind Chloe und Rasmus älter geworden – und da macht Sex schon mal grundsätzlich gar keine Freude mehr, wie es hier heißt. Beispiel Chloe: „Ich vermute, wir wollen nicht ficken; keiner, der zehn Jahre mit einem Menschen zusammen ist, will das, aber wir fügen uns…“ Beispiel Rasmus, noch etwas entschiedener: „Der Sex, unsere Todeszone. Niemandsland. Vermintes Gebiet.“

Freilich bleibt und wuchert die allzeit pornographisch angestachelte Gier des Körpers, die sich jedoch nur auf junges Fleisch richtet und nicht auf Runzeln und ranzige Ausdünstungen. Zitat: „Keiner braucht alte Menschen mit ihren Weisheiten. Die Jungen wünschen sich nur, dass die Alten verschwinden, und damit haben sie recht.“ Punktum.

Also sollte man das sinnlose Rumgezerre an welken Geschlechtsorganen vielleicht besser ganz bleiben lassen. Und folglich verfällt Chloe den leiblichen Lockungen des deutlich jüngeren Benny, der dem Paar hernach auch nach Deutschland folgt, durch alle Niederungen und Quälereien einer unmöglichen Ménage-à-trois samt sadomasochistischen und bisexuellen Dreingaben. Wie man das heute im Bann pornographischer Vorstellungen so imaginiert. Eher peinlich als prickelnd.

Verfall der Mittelschicht

Doch es geht ja nicht nur um persönliche Befindlichkeiten. Rings um das besagte Dreieck wird in etlichen Bruchstücken der generelle Verfall der weißen europäischen Mittelschicht und ihrer mentalen Restbestände flott skizziert. Rasmus, mit einem wohlmeinenden, jedoch desolaten Theaterprojekt in der „Dritten Welt“ (sprich: schäbige Touristenhölle mit Prostitution und Drogen) betraut, bekommt zu spüren, dass die Probanden sich nur für das Bier interessieren, das es nach den Proben gibt. Wie denn überhaupt das ganze politisch korrekte Geseier sich erübrigt hat.

Sibylle Berg müht sich nach Kräften um größtmögliche Illusionslosigkeit. Es ist, als ob sie sich angestrengt den bösen, bösen Blick abverlangte, weil ihre Leser(innen) das von ihr genau so haben wollen. Reden Sie uns das Leben bitte richtig schön schlecht, Frau Sibylle. Aber bitte hin und wieder im launigen Tonfall, so dass es beinahe unterhaltsam und gefällig klingt. Betörend verstörend, sozusagen.

Doch das ganze Lamento fügt sich insgesamt etwas zu geläufig und virtuos, wo es doch auch öfter ins Stocken oder an den Rand des Verstummens geraten müsste.

Sibylle Bergs Befunde sind keineswegs unsinnig, aber auch nicht sonderlich originell. Doch Sätze wie „Wir wollen ficken, weil wir nicht sterben wollen“ sind ja so verdammt cool.

Schluss mit der Idiotie!

Und solche Ausrufe hören sich wie ein Gegenentwurf (oder auch „Aufschrei“) zu den unsäglichen „Fifty Shades of Grey“ an: „All das Zeug von Gasmasken, Peitschen, Kleppermänteln, mit dem Leute versuchen, Sex mit einer Bedeutung aufzuladen, die er nicht hat…wählt zwischen achthundert filigranen Peitschen, ihr Idioten, Sex wird nie mehr als Sex sein…“

Chloe und Rasmus taumeln unterdessen völlig ratlos durch die verdämmernden Tage. Taugliche Erklärungen gibt es nicht. Alles steht im Zeichen der Nichtigkeit und Vergänglichkeit. Am besten wär’s, denkt Chloe, die Leute würden aufhören mit dem Sex – und einfach etwas anderes tun. Dabei werden abermals die (wir?) Schwachsinnigen angesprochen: „…warum schreibt ihr keinen historischen Roman, ihr Idioten, rettet Kinder in Erdbebengebieten oder schließt euch einer Urban-Gardening-Gruppe an.“ Na, wie wär’s?

Sibylle Berg: „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“. Roman. Hanser Verlag. 256 Seiten. 19,90 Euro.




Familienfreuden XVII: Im Land des freien Willens

Es ist jetzt keine Überraschung. Schließlich kann man das in jedem Elternratgeber nachlesen. Und gut ist es ja im Prinzip auch. Nämlich: Unsere Tochter ist gerade auf Erkundungstour in das Land ihres freien Willens – und wir alle müssen mit. Sofort!

Kein "Nein" mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Kein „Nein“ mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Unsere Tagesmutter hat es letztens auf den Punkt gebracht: „Fiona wird einmal einen Job mit Weisungsbefugnis bekommen“, stellte sie lapidar fest. Und berichtete dann, wie unsere Tochter zwei andere zweieinhalbjährige Mädchen instruiert hatte, mit ihr eine Bank zu tragen – bis diese endlich da stand, wo sie sie haben wollte. Die beiden anderen Mädchen hatten ohne Widerspruch getan, was Fiona von ihnen wollte.

Ehrlich gesagt würden wir das auch gern manchmal tun. Denn wehe dem, der sich Fionas Ideen in den Weg stellt. Oder ich drücke es mal anders aus: Den Dickkopf hat sie sicher von uns beiden geerbt. Auch wenn wir nicht ganz so viel bei der Durchsetzung unserer Interessen schreien.

Aber: Wir sind die Eltern. Und damit auch immer wieder in der Rolle der Verhinderer, im-Weg-Steher, Bedenkenträger, des „Geht jetzt nicht“ oder schlicht des „Nein“. „Nicht immer Nein sagen“, ruft Fiona dann. Aber es hilft ja nix. Allein über die Straßen gehen, die Küche unter Wasser setzen oder auch noch stundenlang bauen, wenn wir zur Arbeit müssen – das alles sind nicht so richtig tolle Ideen. Und außerdem wollen wir ja auch nicht, dass Fiona zu einem kleinen Monstrum mutiert, das immer bekommt, was es gerade will.

Wille prallt auf Wille

Dumm nur, dass es am Tag gefühlte 234 Situationen gibt, in denen Wille auf Wille prallt. Die einschlägige Ratgeberliteratur hat uns einen kleinen Lichtblick beschert mit dem Tipp, Fiona vor Handlungsalternativen zu stellen, so dass sie das Gefühl bekommt, die Entscheidung selbst getroffen zu haben. Wenn sie also Freunden nicht Tschüss sagen will, schlagen wir vor, dass sie ein „Goodbye“ loslässt – und es klappt! Auch die Frage, ob sie abends lieber zuerst Zähne putzen oder den Schlafanzug anziehen will, lässt die Diskussion gar nicht erst aufkommen, ob ins Bett gehen überhaupt eine Option ist. Allerdings verknotet sich mein Gehirn bei dem Versuch, in jeder Situation interessante Alternativvorschläge zu finden. Wenn Fi sich gerade ein Glas Wasser über den Kopf schütten will – soll ich ihr dann vorschlagen, es stattdessen bei mir auszuprobieren?

Das Drama leben

Manchmal also kommt man nicht umhin, das Drama zu leben. „Nein“ zu sagen. Punktum. Und dann: Ohren zu und durch. Schreien. Weinen. Laufende Nase. Stampfen. Auch mal auf den Boden werfen. Schon mal gar nicht in den Arm nehmen lassen. Für Minuten, gefühlte Stunden. Wut ist ja auch mal ganz gut.

Aber – es gibt auch die schwachen Momente. Die, in denen man weich wie Butter ist, wie die Mädchen, die die Bank getragen haben. Es sind die Situationen, in denen Fi ihre ganze Weisungskompetenz zeigt.

Hooked on a feeling

Letztens zum Beispiel. Fiona wollte tanzen. Sie verlangte nach ihrem aktuellen Lieblingslied, „Hooked on a feeling“ von Blue Swede. Wenn das fordernde „ugachaka ugachaka“ das Wohnzimmer füllt, wissen Normen und ich schon, was wir zu tun haben: Fi stürmt die Couch, unsere Positionen sind rechts und links vor ihr. Jeder bekommt ein Kuscheltier zugewiesen. Wir hüpfen. Wir schwingen die Hüften. Wir lassen die Kuscheltiere fliegen. Und wenn der Sänger „Aaaaaah!“ ruft, werfen wir die Arme in die Luft und schließen die Augen vor lauter Inbrunst.

Ach ja. Manchmal kann nachgeben sooo schön sein!




Twittern im Theater: Das goldene Zeitalter für Social Media

KarteGestern war ich im Schauspiel Dortmund. Es war eine Einladung. Ich sollte mein Handy mitbringen, um damit während der Vorstellung zu fotografieren, zu filmen und Kurz-Texte darauf schreiben, so viele wie ich will. Dafür gab es freies W-Lan, ein Bier und eine Brezel. Es war mein erstes TweetUp, und es war – tja. Es war so, dass ich am Ende das Bedürfnis verspürte, mehr als 140 Zeichen zu schreiben. Also bitte, hier der Erfahrungsbericht.

Ein TweetUp ist eine Zusammenkunft von Twitterern, also Nutzern des gleichnamigen Microblogging-Dienstes, die während einer Veranstaltung über diese Veranstaltung kommunizieren – miteinander und mit dem Teil der Öffentlichkeit, der ihnen folgt. Damit man sich im Strom der ständig tickernden Tweets auch findet, wird vorab ein Hashtag bestimmt, den alle Twitterer in ihre 140-Zeichen-Kurznachrichten mit aufnehmen.

Der Hashtag hat das Zeichen einer Raute, #, er ist eine Art Code- und Schlagwort. An diesem Abend hieß der Hashtag #ZeitalterDo, denn das zu betwitternde Theaterstück hieß „The Return of Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Es war die Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison, ein Stück über die unerträgliche Leichtigkeit der Routine und Rituale, die unser Leben beherrschen.

Hundert Male gehen in dem Stück uniformiert gekleidete Menschen Treppen rauf und runter, durchgetaktet und doch variantenreich. Die Figuren – darunter Heine, Goethe, eine „Erklär-Bär“, diverse Nachrichten-Sprecher sowie Adam und Eva – agieren auf spontanen Zuruf der Regie. Jeder Abend verläuft etwas anders – und doch wurde jeder Gedanke in diesem Stück schon einmal gedacht, jeder Satz schon einmal gesprochen, so oder anders.

Sie ist verstörend beruhigend, diese Wiederkehr des Immergleichen, die Routinen und Rituale sind absolut verrückt und doch vertraut und gut. Wir haben uns in ihnen eingerichtet, und auch ein vermeintlich exzentrischer Ausbruch aus dem Alltag ist wenig originell, sondern eine vor-gedachte, vorgelebte Sollbruchstelle.

Kay Voges’ und Alexander Kerlins „Goldenes Zeitalter“ ist eine verstörend wahre, absolut unterhaltsame, nachdenklich machende, musikalisch und filmisch genial umgesetzte Allegorie auf das Leben. Mehr zum Stück bitte nachlesen in der Besprechung der Premiere von Anke Demirsoy oder Rolf Pfeiffers aktuelle Besprechung  – die Wiederaufnahme hat zwar einen anderen Untertitel und einige neue Szenen und Figuren, ist aber in Regiekonzept und Aussage deckungsgleich.

Ebenso neugierig wie auf das Stück, das ich noch nicht kannte, war ich auf das TweetUp: Wie würde ich mit der Möglichkeit umgehen, nonstop am Smartphone fummeln zu können? Was würde ich twittern, wieviel – und wie würde das die Konzentration und die Rezeption beeinflussen?

Zunächst bekamen wir Twitterer eine Einführung samt Vorstellungsrunde. Einer nach dem anderen nennt seinen richtigen und seinen Twitter-Namen und dazu einen persönlichen Hashtag, der das Befinden oder den eigenen Kontext angibt. „#Durst“, sagt einer, „#Ichfreuemichdassichdabeibin“. Die Kolleginnen und Kollegen fotografieren sich gegenseitig, fotografieren die Brezeln, den einführenden Dramaturgen und laden sie auf Twitter hoch. Soll ich auch schon? Ich fotografiere meine Eintrittskarte und schreibe dazu, dass man heute im Zuschauerraum trinken und fotografieren darf. Hm. Das haben die anderen auch schon getwittert.

Die meisten meiner Twitter-Kollegen stammen eher aus der Social-Media- denn aus der Kulturszene, und so hat man die Begleitmaterialien mit etwas mehr Infos versehen als für Theaterkritiker üblich: Die Twitterer erfahren zum Beispiel, dass das Schauspiel nur eine Sparte des Theaters ist und dass es auch noch Oper, Ballett, Philharmoniker und Kindert- und Jugendheater gibt.

Außerdem sagt die Mitarbeiterin aus der Öffentlichkeitsarbeit, dass es eine Burka-Szene geben wird und dass wir diese Bilder bitte nicht twittern sollen. Man wolle mit der Szene niemanden verletzen, und es könne ein falsches Licht auf die Inszenierung werfen, wenn diese Szene zusammenhanglos auf Twitter erscheine. Ich horche auf: Das ist neu. Von so einer Bitte habe ich noch nie gehört. Ich denke an den Kabarettisten Martin Kaysh, der 2013 mit Burkini ins Schwimmbad ging und daraus eine Nummer machte – aber das war vor Paris. Was ist von der Bitte zu halten? Wieso nimmt man die Szene ins Programm, hat aber gleichzeitig Angst, dass sie zu öffentlich wird? Die Gedanken dazu auf 140 Zeichen zu bringen – unmöglich. Ich twittere: Ok. Es wird eine Burka-Szene geben, aber mit der will man niemanden verletzen. Spannung steigt… #zeitalterdo“.Burka

Es ist nicht das erste TweetUp des Dortmunder Schauspiels, man sammelt schon seit etwa einem Jahr Erfahrungen mit dem Format. Regelmäßig werden Twitterer und Blogger eingeladen, von Proben oder Veranstaltungen zu berichten. Es gab sogar interaktive Inszenierungen, in die die Tweets der Zuschauer eingebunden wurden; in denen sich Zuschauer und Schauspieler auf digitalem Wege beeinflussten. Das ist an diesem Abend nicht so – von den Aktivitäten der Twitterer nehmen vor allem die Twitterer selbst Notiz und Teile des Publikums, die schon vorab durch Aushänge informiert wurden: Wundern Sie sich nicht, dass da eine ganze Zuschauerreihe am Handy spielt – die sollen das.

Dann geht es los. Ich habe mir vorgenommen, mein Handy wie einen Schreibblock zu benutzen. Gewohnt, während der Vorstellung ständig etwas später meist Unlesbares und Halbgares auf Papier zu notieren, will ich nun eben zum Handy greifen. Doch das funktioniert nicht. Meine Beobachtungen, Beschreibungen, Wertungen würden auf Twitter keinen Sinn ergeben, außerdem zögere ich, etwas zu veröffentlichen, das ich am Ende des dreistündigen Abends vielleicht ganz anders sehen werde. Ich schreibe etwas über das wiederkehrende Geräusch der Klospülung und erhalte sogar mehrere Retweets und „Favs„. Aber was soll irgendjemand damit anfangen, der nicht im Stück war?

kloDie Idee, der auf Twitter folgenden Öffentlichkeit von dem Stück in einer Sinn ergebenden Reihenfolge zu erzählen, gebe ich also schnell auf. Das entspräche schließlich auch nicht den Nutzungsgewohnheiten auf Twitter, wo sekündlich neue Tweets die alten verdrängen. Niemand wird meinen Botschaften in der von mir gedachten Reihenfolge folgen.

Es bleibt nur, auf griffige – und kurze! Zitate und Gedanken zu warten. Auf Witziges, Überraschendes, Aktuelles. Schlagzeilen schreiben, den Nachrichtenfaktoren folgen.

AdamDass die Schauspieler ihre Szenen in Dauerschleife wieder und wieder bringen, kommt mir entgegen: Wenn mir nach dem zweiten Durchgang auffällt, dass diese zwei Sätze ein schönes Video ergäben, halte ich beim nächsten Durchgang einfach drauf.

Die Qualität der Bilder aus dem dunklen Zuschauerraum ist erstaunlich gut, was an den großformatigen Bildern auf der Leinwand über der Bühne liegt. Wenig überraschend, dass ich dabei vor allem auf die spektakulären Bilder anspringe: Adam und Eva im Nackedei-Kostüm, der lustige Erklär-Bär, ein groß auf die Leinwand projiziertes vermeintliches Brecht-Zitat, mit dem das Schauspiel die aktuelle Diskussion um die Aufführung von Brechts Stücken kommentiert: „Der Urheber ist belanglos“.Brecht

Dann kommt die Burka-Szene, die wirklich gut ist: Drei Verschleierte stehen vorne auf der Bühne, dahinter riesengroß auf der Leinwand zwei wasserstoffblonde, gleich geschminkte und gekleidete Schauspieler, die da singen: „Ich bin anders als, du bist anders als, er ist anders als sie.“ Ich mache ein Video und lade es hoch. Es ist mein elfter Tweet aus der Vorstellung, vier weitere werden folgen, und ich finde nicht, dass da irgendetwas aus dem Zusammenhang gerissen ist – zumindest nicht mehr, als bei Twitter irgendwie immer alles aus dem Zusammenhang gerissen ist. Für den Kontext sorgt eigentlich nur der Hashtag.

Irgendwann, ich habe mich gerade in meinen Twitter-Rhythmus eingefunden, beginne ich damit, zu beobachten, was die anderen so twittern, verbreite ihre Tweets weiter, antworte und kommentiere. Phasenweise schaue ich minutenlang nicht auf die Bühne, dann wieder lange Zeit nicht aufs Handy. Das geht bei diesem Stück gut – es wird ja sowieso alles wiederholt.

Am Ende habe ich mich keine Sekunde gelangweilt und habe, anders als viele andere Zuschauer, meinen Platz nicht zum Bierholen verlassen. Wie wäre das ohne die Ablenkung durchs Twittern gewesen? Ich weiß es nicht. Und wie wäre es, über ein Stück zu twittern, das eine Geschichte erzählt, das sich entwickelt, das Beobachtung und Aufmerksamkeit erfordert? Ich kann und will es mir nicht vorstellen – genauso wenig kann ich mir vorstellen, mir parallel zum Twittern auch noch Notizen für eine ausführliche Kritik zu machen.

Twitter ist ein eigenes Medium, das einer eigenen Logik folgt. Als Medium der Theaterkritik ist es höchstens ergänzend geeignet, es bereichert die reflektierte Auseinandersetzung um spontane Eindrücke. In Zukunft, wenn Twitter in Deutschland populärer geworden ist, könnte es auch den gepflegten Zuschaueraustausch nach der Vorstellung ins Digitale verlagern bzw. erweitern – viele Menschen möchten nach einem Theaterabend gerne wissen, wie es anderen gefallen hat, haben aber Scheu, sich selbst in solche Diskussionen zu begeben.Danke

Als Medium der Kritik ist der Theatertwitter aber, zumindest von Seiten des Theaters, erstmal gar nicht gedacht. Es ist ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und soll vor allem die Botschaft transportieren, dass – ja, dass am Theater getwittert wird. Was, das spielt gar keine große Rolle.

Und genau das ist auch okay. Es ist gut. Es hat tatsächlich Menschen ins Theater gebracht, die dort vorher selten waren, und es erweitert die Öffentlichkeit für das Schauspiel. Und mir hat es Spaß gemacht.

Übrigens, wenn Sie mir auf Twitter folgen wollen, bitte hier entlang.




Letzte Fragen, laut und lustig – „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater

Premiere von „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater. Viel Bild, viel Ton – und irgendwann stimmt das Ensemble Liedzeilen aus einem berühmten Song der Puhdys an: 

„Jegliches hat seine Zeit / Steine sammeln, Steine zerstreu’n / Bäume pflanzen, Bäume abhau’n / Leben und sterben und Streit.“

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

„The Return of Das Goldene Zeitalter“ – Szene mit Uwe Schmieder und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das Lied entstand Mitte der 70er Jahre in der DDR und erklang auch im Film „Die Legende von Paul und Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Autor des Films und Songtexter war Ulrich Plenzdorf. Die Zeilen sind schön, wahr und uneingeschränkt zitierfähig; wenn man sie indes, wie es nun auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels geschieht, Mal um Mal gesungen hört, fragt man sich schon, wo der Rest geblieben ist. Denn recht eigentlich ist das Lied mit der Anfangszeile „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt“ ja ein Liebeslied voller Verletzlichkeit, ein Lied des unausweichlichen Abschieds und der Trauer darum, mit diesen sich zum Teil mehrfach wiederholenden Zeilen:

Meine Freundin ist schön. / Als ich aufstand, ist sie gegangen. / Weckt sie nicht, bis sie sich regt. / Ich hab‘ mich in ihren Schatten gelegt.

Ich habe mich gefragt, warum ich diese Zeilen nicht in Dortmund gehört habe, in dem drei Stunden mächtigen, pausenlosen Eigenprodukt „The Return of the Goldene Zeitalter“ von Alexander Kerlin und Kay Voges, wo die Steine-Zeilen, wie gesagt, wirkmächtig eingebaut sind. Gewiß, es steht Autoren frei, Zitate nach Belieben auszuwählen, und das haben die beiden auch getan. Aber trotzdem. Etwas Wichtiges fehlt.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Kaum wiederzuerkennen: Caroline Hanke und Björn Gabriel (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Freudloser Kreislauf

Während noch der Zuschauerraum sich füllt, geschieht schon etwas auf der Bühne. Wie aufgezogen steigen Figuren, mit blonden Perücken und blauen Mädchenschuluniform einheitlich ausstaffiert, rhythmischen Schlägen folgend eine Treppe herab, verschwinden hinter einer Tür, tauchen am oberen Treppenrand wieder auf und wiederholen ihren Abstieg; das Bild wird später in einem Video erklärt, es ist quasi die Bühnenadaption eines Kinderspielzeugs, einer Art Achterbahn, bei der Spielfiguren mechanisch zum oberen Punkt transportiert werden, um von dort eine vielfach geschwungene Bahn herabzusausen.

Unten angekommen, geht es von vorn los, ein endloser Kreislauf, Sinnbild – wenn man es denn auf die Theaterbühne stellt – eines in endlosen Wiederholungen im Grunde ereignislos dahingehenden Lebens. Dem indes steht der Titel der Veranstaltung entgegen. Das einem Zitat von Heinrich Heine entlehnte „Goldene Zeitalter“ liegt nach Meinung des Dichters noch vor uns und keineswegs in mythischer Vergangenheit. Es gibt also so etwas wie ein Menschheitsziel; darüber läßt sich trefflich philosophieren.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Hier nimmt die Legende von Adam und Eva ihren Anfang. In den Stoffpuppenkostümenstecken Caroline Hanke und Eva Verena Müller (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Video und Klanggewummer

Die Dortmunder Produktion im Großen Haus, wie könnte es anders sein, bietet zu diesem Zweck wieder reichlich Videoarbeit auf, manch zwerchfellreizendes Klanggewummer und viele, viele Wiederholungsschleifen, gleichzeitig aber auch eine Menge Schauspielerarbeit und ansehnliche, muntere Ideen.

Es wird nicht langweilig in den gut drei Stunden, die das Ganze dauert. Und das zwiespältige Angebot, den Saal nach Belieben zu verlassen und, gerne auch mit Kaltgetränken, wieder aufzusuchen, wird von der großen Mehrheit der Zuschauer nicht genutzt. Diese neue Sitte, „pausenlos“ zu spielen und dem Publikum das beliebige Kommen und Gehen zu gestatten, ist sowieso eher eine Unsitte, eine Selbstentwertung des Theaters, die hoffentlich bald wieder verschwindet. Aber wer weiß.

„Ich war – ich bin – ich werde sein“

Reflektorisches denn also zum großen Menschheitsgeneralthema, kräftig gewürzt mit den Zitaten großer Geister, mit etwas Lokalkolorit und mit Alltagserfahrungen der Überforderung und der Ernüchterung. Einer von vielen Heiterkeitserfolgen sind burlesk nachgespielte Tagesschauszenen am Küchentisch, die in der Diktion der griechischen Tragödie – Ortsmarke Theben – die Enttäuschungsträger der letzten Zeit zelebrieren: den ehemaligen Limburger Luxus-Bischof Tebartz-van Elst, den Steuerhinterzieher Uli Hoeneß, den Pädophilen Sebastian Edathy und noch einige mehr.

Die Geschichte von Adam und Eva und dem Apfel der Erkenntnis wird – nebst Kain-und-Abel-Exkurs -, als langgezogene Zweipersonennummer in weichen Stoffpuppenkostümen präsentiert, und auf dem Gipfel des Ganzen muß Uwe Schmieder in gänzlicher Nacktheit über die vorderen Zuschauerränge klettern und die Selbstvergewisserung seiner Existenz Mal um Mal triumphierend herausschreien. Bis zum dann doch herbeigesehnten Ende muß das Ensemble dann „Internationale Solidarität“ skandieren (das „Hoch die…“ wurde gestrichen), und selbst als der Eiserne Vorhang unten ist, ist es noch nicht vorbei, flimmern klangunterlegte Videosequenzen des just Vergangenen über das dunkle Metall. Solidarität? Wofür? Womit? Auch als langjähriger, hartgesottener Theatergänger ertappt man sich bei dem Gedanken, ob das alles wirklich sein muß.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Eva Verena Müller als hinreißend quengelige grüne Raupe (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nicht ohne Heiner Müller

Wenn Autoren so wie hier den Kosmos ihres Erkennens zelebrieren, führen sie natürlich auch dessen Grenzen vor. Und die sind nicht unendlich. Brecht muß immer wieder fürs Zitiertwerden herhalten, später auch Frank Castorf und Leander Haußmann und natürlich Heiner Müller, einer der letzten Welterklärer des Theaters, an dessen Lippen die Nachkommenschaft ergeben hängt. Auch am Begriff der Urheberschaft arbeitet sich das Stück ab, die, was nicht zu leugnen ist, in einem gewissen, wenn nicht gar dialektischen Verhältnis zur Veränderung der Welt dergestalt steht, daß sie in dem Maß an Bedeutung verliert, in dem die Welt sich tatsächlich im Sinne des Urhebers verändert. Konkreten Anlaß bietet das Aufführungsverbot, das der Suhrkamp-Verlag als Rechteinhaber gegen  Castorfs „Baal“-Inszenierung am Münchner Residenztheaters ausgesprochen hat, weil der in des Meisters geheiligten Zeilen zu viel Fremdtext eingebaut habe. Na gut.

Ein gänzlich humorfreier Feuerwehrmann fordert den Brandschutz ein („Alle reden vom Theater – aber wer redet vom Brandschutz?“), Joseph Beuys’ berühmte „Ja, ja, ja – nee, nee, nee“-Klangskulptur gelangt zum Vortrag, und es geschieht auf bunter Bühne einiges noch mehr; indes bleibt bei alledem doch unbeantwortet, was die Welt im Inneren zusammenhält. Beziehungsweise, welche Energie den Fortschritt vorantreibt. Könnte es vielleicht die Liebe sein? Liebe zwischen zwei Menschen, um die es den Puhdys in ihrem Lied geht und die man hier konsequent ausblendet? (Und die, das nur am Rande, wesentliche Antriebskraft des Theaters ist?) Es lohnt, darüber nachzudenken.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Videoeinblendung mit (von links) Uwe Schmieder, Eva Verena Müller, Björn Gabriel und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Jedenfalls hat dieses Stück, dessen Untertitel „100 neue Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ pfiffig klingt, aber trotz des Zählwerks mit seinen roten Zahlen am rechten Bühnenrand ein bißchen anmaßend ist, nicht geringen Unterhaltungswert. Zudem ist es wirklich ein Eigenprodukt und nicht die Verwurstung literarischer Vorlagen nach den Ideen eines selbstherrlichen Regisseurs.

Die Schauspieler-Riege – Björn Gabriel, Caroline Hanke, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder und Merle Wasmuth – zeigt unbedingten Einsatz, ohne indes darstellerisch ihre Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen. Und die Verwendung von Videotechnik schließlich, die man ja nicht uneingeschränkt lieben muß, ist hier über weite Strecken durchaus überzeugend.

Doch blieben etliche Plätze im Zuschauerraum bei dieser Uraufführung unbesetzt. Wer allerdings gekommen war, zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

Nächste Termine: 

Samstag, 7. März, Donnerstag, 30. April.
www.theaterdo.de