Können Saxophon-Klänge politisch sein? Eindrücke vom Moers Festival

Saxophone in verschiedenen Stimmlagen waren diesmal die dominierenden Instrumente der Festivaltage in Moers.

Sowohl Hayden Chisholm, Improviser in Residence Moers 2015, als auch Colin Stetson, Artist in Residence für die vier Festivaltage, sind herausragende Saxophonisten. Zusätzlich hat Hayden Chisholm angeregt, mit Frank Gratkowski, der am Pfingstmontag in der Formation Z-Country Paradise auftrat, einen seiner wesentlichen Lehrer des Instruments einzuladen. Hayden Chisholm eröffnete das Festival mit einer meditativen Komposition, die es ermöglichte, vom Stress der zurückliegenden Arbeitswoche zu relaxen und ganz auf dem Festival anzukommen. Einfach schön – genauer gesagt: in angenehmer Weise höchst ausgetüftelt schön.

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Wie Frank Zappa einmal einen Musiker, der in seiner Band mitspielen wollte, gefragt hatte „What can you do that‘s fantastic?“, so scheint Reiner Michalke auch das Programm für das Moers Festival zusammenstellen. Jedes einzelne Konzert beantwortet die Frage auf die eine oder andere Weise. Da Moers auch in diesem Jahr die ganze Bandbreite des New Jazz vom Solisten bis zum Orchester mit 80-köpfigem gemischtem Chor, vom Tanzbaren bis zum kaum Hörbaren, aufzeigt und längst über die Grenzen des Genres weit hinausgeht, kann in diesem Beitrag nur ein Teil des durchweg sensationellen und berichtenswerten Programms besprochen werden.

Exzeptionell, so dass sich geradezu der Eindruck aufdrängte, bei der Entstehung einer der Legenden von morgen dabei zu sein, waren die vier Aufritte von Colin Stetson – solo, im Duo, in einer Drei-Mann-Formation und im kleinen Orchester aus zwölf Personen. Mit Sarah Neufeld im Duo war Colin Stetson bereits vor einem Jahr im Nachtprogramm des Moers Festivals zu erleben. Für den Auftritt im Hauptprogramm 2015 haben die beiden ihr Repertoire nochmals erweitert. Ein glückliches Zusammenspiel, aber auch mit eingefügten Solo-Stücken. Sarah Neufeld, Geigerin der Gruppe „Arcade Fire“ und Gründungsmitglied des sechsköpfigen „Bell Orchestre“, präsentierte bereits einen Titel ihres nächsten, noch unveröffentlichten Soloalbums. Stetson, der mit seiner perfektionierten Zirkularatmung minutenlang Arpeggio-Bögen spielt, dabei ins Saxophon singt und schreit, es wie ein Urtier rufen lässt und mit den Klappen seines Instruments zugleich die Percussion liefert, ist ein Phänomen.

Einen Kontrast bildete an dem Abend die deutsche Viermanngruppe „The Nest“. Christoph Clöser, auch er Saxophonist, der sich am Freitag aber auf die Klarinette beschränkte, spielt seit 1997 bei „Bohren & der Club of Gore“ und prägte entscheidend die Richtung des Doom Jazz. Mit dem Seitenprojekt „The Nest“ klingt er weniger düster, zeigt jedoch umso mehr, dass er, wie lange schon vermutet wurde, in der Oberliga der Jazzwelt mitspielen kann.

Ein weiterer Vorzug von Moers ist es, einen der Musiker, die mit Bohren stets unsichtbar auf finsterer Bühne agieren, überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Schlagzeug wurde um einen mit leeren Glasflaschen gefüllten Getränkekasten erweitert. Thomas Mahmoud stampft mit dem Kasten auf oder tritt clownesk-trotzig gegen ihn; das kommt beim Publikum gut an. Wenngleich er während des Konzerts seinen Platz am Schlagzeug nicht verlassen hat, lautet die Instrumentenangabe im Programm zutreffend nicht „drums“, sondern „vocals, effects“. Mit seinem „Amore, amore, amore“ verbreitete er den Ohrwurm des Festivals.

Bleiben wir noch kurz bei den Männerbands. Das norwegische Duo „sPacemoNkey“ mit Morten Qvenild – bekannt durch Jaga Jazzist – an den Keyboards und Gard Nilssen, hochenergetisch am Schlagzeug, brachten abwechslungsreichen improvisierten Jazz.

Ein noch überzeugenderes Beispiel für ständig unter Strom stehende Männer boten anschließend „Pulverize the Sound“ – mit dem ruhelosen Trompeter Peter Evans und den ebenso hart und laut arbeitenden Tim Dahl am Bass und Max Jaffe an den Drums.

Dass aber die sicht- und hörbare körperliche Anstrengung eines Männer-Trios nicht auch für die Zuhörenden anstrengend sein muss, machte wieder einmal der Artist in Residence, Colin Stetson, deutlich, der mit Trevor Dunn am Bass und dem Schlagzeuger Greg Fox konzentrierte Glücksschübe an die Zuhörenden abgab.

Erstklassig war auch „Eivind Opsvik Overseas“, die Formation des norwegischen Bassisten, der nach New York gezogen ist. Der Oud-Spieler Ziad Rajab führte hingegen mit dem Neuseeländer James Wylie am Saxophon und dem Griechen Kostas Anastasiadis am Schlagwerk das Publikum in arabische Musikwelten.

Von Frauen geleitete Big Bands und Orchester

Im vorigen Jahr lud Festivalleiter Reiner Michalke mit Ava Mendoza, Julia Hülsmann und Johanna Borchert drei Frauen ein, die jeweils ein Quartett leiteten. In diesem Jahr leiten drei andere Frauen richtig große Formationen. Eve Risser aus Paris, Sara McDonald aus New York und Sofia Jernberg aus Stockholm.

Jeder der vier Festivaltage vom 22. Bis 25. Mai begann mit einem Orchester, bzw. einer Big Band. Eve Risser brachte am Samstag neben ihren Instrumentalisten einen 80-köpfigen gemischten Chor mit, für den sich die Bühne der Festivalhalle als zu klein erwies und der zeitweise aus einem der Gänge zwischen den Sitzreihen dirigiert wurde. Hymnische Klänge. Sara McDonald eröffnete mit den jungen Musikern der Big Band der Hochschule für Musik und Tanz Köln den Pfingstsonntag. Sofia Jernberg kam mit dem Trondheim Jazz Orchestra und dem Geiger Olav Mjelva. Jernberg folgt einer Tradition des Moers Festivals, für die es bereits in den vergangenen Jahren gute Beispiele gab, Stimmkunst über das hinaus, was üblicherweise als Gesang bezeichnet wird.

Darüber sollen aber die nicht von Frauen geleiteten Großformationen nicht unerwähnt bleiben, wie die von Michael Mantler, der „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ mit der „Nouvelle Cuisine Big Band“ und dem „Radio String Quartet“ in Moers vorstellte. Oder Mikko Innanen aus Finnland, dessen aktuelle Big Band sich „10+“ nennt.

Wie Jazz auf aktuelle Fragen der Zeit reagiert

In seinem Vorwort auf der Festival-Website beschreibt der künstlerische Leiter, Reiner Michalke, in knappen Worten das Auseinanderdriften der Welt – Terror, Krieg und Vertreibung, und auf der anderen Seite die Rauschzustände der Finanzspekulanten. Er spricht von der dem Festival „angeborenen Selbstverpflichtung zur Aktualität“ und vom künstlerischen Mandat der eingeladenen Musikerinnen und Musiker, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Ist das von der Musik zu viel erwartet? Nein. Das Festival hat in seinem Verlauf verschiedene Antworten nahegelegt.

Am offensichtlichsten sind wohl die internationalen Zusammensetzungen und Kooperationen, bei den Orchestern sowieso, aber auch unter den Trios oder Quintetten – bestes Beispiel vielleicht das „Ziad Rajab Trio“, dessen Musiker aus Aleppo (Syrien), Neuseeland und Griechenland stammen und die heute alle drei in Thessaloniki leben. Im Weltmaßstab hat Verständigung über Musik immer schon gut funktioniert (besser als zum Beispiel in häuslicher Nachbarschaft).

Aber auch in einem ganz anderen Sinne wird das Politische deutlich. Colin Stetson führt vielleicht mehr als jeder andere Künstler, der auf dem Festival aufgetreten ist, den Zuschauern die körperliche Kraftanstrengung vor Augen, die solche Musik erfordert. Vor jedem Stück muss er Luft holen wie ein Apnoe-Taucher vor dem Sinken in die blaue Tiefe (und blau ausgeleuchtet war auch die Bühne).

Erwartete das Publikum vom Künstler nicht immer schon, dass er alles gibt, und ist nicht die Haltung, seinen Mitmenschen etwas Unbezahlbares geben zu wollen, politisches Handeln? Niemand versinnbildlichte auf dem Festival so sehr wie Colin Stetson das Alles-Geben als Gegenmodell zu jener desaströsen Ökonomie-Auffassung, die nur dem Planeten alles entnimmt.

Nicht zuletzt wurde auch in Moers eine altbekannte Wirkungsweise von Musik wieder intensiv spürbar – ihre Emotionalität und Pathosfähigkeit, die es nicht nur schafft, Gefühle zu verarbeiten, sondern die auch Gefühle auszulösen vermag. Das wurde während des Festivals vielleicht an keiner Stelle so deutlich wie in Colin Stetsons Referenz an den Komponisten Henryk Górecki und seine Symphonie No. 3, opus 36, deren drei Sätze jeweils ein Klagelied beinhalten. Ergreifend. Die klassische Komposition von 1976 erweist sich als eine der aktuellsten. Pathos als Gegengewicht zum kalten Kalkül. Das ist vielleicht das Politischste an Musik, ihre Fähigkeit zu jenem Mitleiden, das den Finanzspekulanten ebenso zu fehlen scheint wie den Waffenproduzenten und Kriegstreibern.




Trauriger Mond und lustiger Urwald: Ballett am Rhein lässt das Barometer steigen

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Erst scheint nur ein kleiner, fahler Mond in die Szenerie hinein, in der sich die Tänzer des Ballett am Rhein zu Skrjabins Sonate Nr. 6 bewegen: Melancholisch klingt diese Musik und dazu entwickelt sich ein Liebesdrama zwischen zwei Männern (Marcos Menha und Chidozie Nzerem), in das sich immer wieder andere Tänzer einmischen und so das Beziehungsgefüge noch störanfälliger machen.

Die Uraufführung unter dem Titel „Verwundert seyn – zu sehn“, kreiert von Martin Schläpfer für Düsseldorf und Duisburg, wird von dem Pianisten Denys Proshayev live am Klavier begleitet und lässt tatsächlich beinahe so etwas wie Weltuntergangsstimmung aufkommen. Denn wie in Lars von Triers Katastrophenfilm „Melancholia“ wird der kleine Mond im Laufe des Stückes zu einem immer größeren Planeten, der am Ende fast den ganzen Bühnenhintergrund einnimmt. Wird er mit der Erde kollidieren und die Menschheit auslöschen?

Die Tänzer wiederum scheinen dies gar nicht wahrzunehmen, so verstrickt sind sie in ihre Beziehungsgeflechte. Frauen versuchen, die mal innige, mal gewalttätige Variante der Männerliebe zu stören, zu heilen, zu sprengen. Zustände von Einsamkeit und Schmerz wechseln mit solchen von Trost und Hingabe. Musikalisch hellt sich die Stimmung mit Liszts „Le bal de Berne“ etwas auf und mündet dann mit Skrjabins Sonate Nr. 10 wieder in den undurchdringlichen Mysterien des Weltalls.

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Ungleich heiterer beginnt der zweite Teil des Abends unter der Überschrift „Moves“, was auch die bunten Trikots der Tänzer anzeigen. Und doch ist Jerome Robbins Choreographie von 1959 ungewöhnlich, weil sie eines der wenigen Ballette ohne Musikbegleitung ist. Der Grund war profan, wurde doch der Komponist Aaron Copland mit der Musik nicht rechtzeitig fertig, also machte Robbins aus der Not eine Tugend und ließ sie einfach weg.

So knarzen die Sitze im Opernhaus, das Publikum hustet und die Füße der Tänzer scharren über den Boden. Die Geräusche des Tanzes entwickeln dabei aber einen ganz eigenen Rhythmus und die Bewegungssprache der Tänzer ist derart fesselnd, dass man nach einiger Zeit vergisst, dass etwas fehlt. Hier spricht der Tanz tatsächlich für sich selbst!

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Foto: Gert Weigelt/Ballett am Rhein

Der letzte Teil des Abends bildet dann eine Synthese. Hier gehören Musik und Tanz zusammen und Lebensfreude ist auch mit dabei. „Ein Wald, ein See“ heißt die Choreographie von Martin Schläpfer aus 2006, die damals in Mainz uraufgeführt wurde.

Der Wald klingt dabei eher nach einem Urwald, obwohl eine Eule über der Szene sitzt. Doch Instrumente wie Fujara, Wassertrommel oder Darabuka erzeugen beschwingte Klänge, die die Assoziation an südlichere Breitengerade hervorrufen.

Die Tänzer können ihrem Temperament freien Lauf lassen; sie zeigen nicht nur Natur, sie sind es: Manche Bewegungen wirken, als kräusele sich das Ensemble wie Wasser, andere erinnern an das Gebaren von Tieren. Es ist Raum für traumhafte Soli, leidenschaftliche Pas de deux und kraftvolle Sequenzen in der Gruppe. So steigt das Barometer dieses Tanzabends von melancholisch bis beschwingt stetig an und entlässt einen heiter in die Nacht.

Karten und Termine:
www.ballettamrhein.de




„Im großen Stil“: Abgründiger Kunstmarkt-Krimi in Wien und Berlin

Der Schlaf der Vernunft, das wusste schon Goya, gebiert Ungeheuer. Zum Beispiel einen Kunstmarkt, der seltsame Blüten treibt. Da tummeln sich dubiose Händler, notorische Fälscher und gewissenlose Gefälligkeitsgutachter, dreiste Diebe, großspurige Mäzene und milliardenschwere Sammler.

Wo Kunst zur Geldmaschine wird, sind auch Gier und Neid nicht weit. Das müssen auch die Wiener Inspektorin Anna Habel und der Berliner Kommissar Thomas Bernhardt erfahren. Nachdem fast zeitgleich ein Kunstgutachter in Wien und ein Kunsthändler in Berlin ermordet werden, versinken die beiden Polizisten in einem Sumpf aus Hass und Intrige, Geldgier und Rachsucht. Denn wo „Im großen Stil“ Kunst verkauft wird, wird nicht nur gefälscht und geklaut, gelogen und betrogen, sondern auch blutig gemordet.

Biele

„Im großen Stil“ ist der vierte Fall für das vom Krimi-Duo Bielefeld & Hartlieb erfundene Polizei-Gespann Habel & Bernhardt, das auf wundersame Weise immer wieder zusammen arbeiten und kompliziert verschlungene Mordfälle in kulturellen Gefilden aufklären muss. Mal geht es um den Literaturzirkus („Auf der Strecke“), mal ums Theatermilieu („Nach dem Applaus“), mal um noblen Wein („Bis zur Neige“). Jetzt ist der kriminelle Kunstmarkt an der Reihe.

Wohin die hyperaktive Habel in Wien und der mufflige Bernhardt in Berlin auch kommen, überall begegnen ihnen neue Rätsel: Sind die Bilder, die sich in der Villa des toten Kunsthändlers finden, echt oder falsch? Und welche von den Gutachten, die der ermordete Kunstexperte verfasst hat, sind nichts als Lug und Trug?

Draußen ist der schönste Frühling, und sowohl der melancholische Zyniker Thomas Bernhardt als auch die zum sympathischen Chaos neigende Anna Habel würden gern ihren Gefühlen freien Lauf lassen, sich frisch verlieben, das Leben genießen. Doch diese Momente des kleinen privaten Glücks bleiben rar. Zu vertrackt und zu verschachtelt sind all die Fährten, Fäden und Finten, die entwirrt und entschlüsselt werden müssen. Was haben der ehemalige Stasi-Mann und die eitle Schauspiel-Diva, der süffisant lächelnde Mäzen, die von muskulösen Personenschützern umringte Kunsthändlerin und der charmante Bilder-Sammler mit den Morden zu tun?

Wer befürchtet haben könnte, die literarisch-kriminalistische Berlin-Wien-Verbindung nutze sich allmählich ab, wird angenehm überrascht. Mit ironischem Lokalkolorit, psychologischem Feingefühl und tiefem Einblick in Abgründe des Kunstbetriebs werden die (ehemaligen Literaturkritiker) Claus-Ulrich Bielefeld und Petra Hartlieb immer besser. Ihnen auf der abgründig-mörderischen Schnitzeljagd zu folgen, ist einfach ein großer, anspielungsreicher, spannender Spaß.

Bielefeld & Hartlieb: „Im großen Stil.“ Diogenes Verlag, Zürich, 416 Seiten, 14,90 Euro.