Spannend wie ein Krimi: „Schuld und Sühne“ im Hamburger Schauspielhaus

Foto: Klaus Lefebvre

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Passionierte Leser kennen das Gefühl: Wenn einen ein Buch fesselt, wandert man darin herum wie in einem Haus, betritt neue Räume, trifft verschiedene Leute und hört ihre Stimmen. Im eigenen Kopf entfaltet sich die fremde Welt, die der Autor erdacht hat.

Ganz ähnlich inszeniert Karin Henkel Fjodor M. Dostojewskis großen Roman „Schuld und Sühne“ für das Hamburger Schauspielhaus. Auf die Drehbühne ist eine Art Bretterbude gezimmert, in deren Räumen sich das ärmliche Leben des Studenten Raskolnikow in einem Millieu aus Hungerleidern, Säufern, Huren und Proletariern abspielt. Seine Kammer ist karg, die gestreifte Matraze liegt auf einem kümmerlichen Drahtgestell.

In den anderen Zimmern sieht es auch nicht besser aus: Der lange Tisch ist überladen mit Schnapsflaschen, Jesus schaut mit blauen Augen von der Wand herab und ewige Lichtlein leuchten ihm. Männer in Kaftan und Pelzmützen schrummeln Livemusik.

Raskolinkow, ein dünner nervöser Hänfling mit strähnigem Haar, erinnert inmitten seiner verkramten Bude an Jonathan Meese. Denn er hält sich für ebenso genial wie ein Künstler und leitet aus diesem Umstand das Recht ab, „minderwertige“ Mitmenschen in Person der halsabschneiderischen Pfandleiherin Aljona Iwanowna ins Jenseits zu befördern.

Soweit die Theorie – in der Praxis ist er seiner eigenen Bluttat mit dem Beil von Anfang an nicht gewachsen und nun schauen wir ihm vier Stunden beim Kampf mit seinem Gewissen zu: Das ist, bis auf ein paar überflüssige Dehnungen, aber keineswegs langweilig, sondern mit ganz eigenem Rhythmus, beinahe musikalisch in Szene gesetzt.

Denn Raskolnikows inneres Ringen ist auf mehere Schauspieler verteilt (Jan-Peter Kampwirth, Lina Beckmann, Angelika Richter), die jeweils die widerstreitenden Stimmen in seinem Kopf verkörpern. Und in dem Untersuchungsrichter Porfiri Petrowitsch (Charly Hübner) hat der schuldige Student einen bühnenpräsenten Gegenspieler: So wird die Literaturinszenierung zu einem spannenden Krimi, obwohl man den Mörder die ganze Zeit kennt.

Foto: Klaus Lefebvre

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Was man aber nicht weiß: Wird Raskolnikow sich verraten? Schon bei seiner ersten Begegnung mit der Polizei fällt das nervöse Hemd sofort in Ohnmacht, im Laufe der Inszenierung wird er immer wieder von der Fallsucht, eine Anspielung an Dostojewskis Epilepsie, heimgesucht. Hilflos versucht er, ein paar gute Taten zu begehen, um sich von der Schuld reinzuwaschen. Einer verarmten Familie bezahlt er die Beerdigung des verunfallten Säufer-Vaters, seine Schwester möchte er aus den Klauen eines sadistischen Hausherrn retten.

Doch all das fruchtet so recht nichts: Das Muttersöhnchen zeigt immer mehr Nerven und die Dämonen in seinem Kopf setzen ihm unablässig zu. Jesus an der Wand werden schon die Augen schwarz übermalt, weil auch er das Elend nicht mehr ansehen kann: Nicht das soziale der Armen in St. Petersburg und nicht das seelische des Delinquenten, den seine Gewissensqualen zu einem letzten „Fall“ bringen.

Das Ende ist kurz und schmerzlos: Der Kommisssar sagt ihm die Tat auf den Kopf zu, Raskolinkow gesteht. Aus ist es mit dem Möchtegern-Revolutionär, dessen Visionen von einer besseren Welt sich gegen ihn selbst gewendet haben. Es war Mord.

Karten und Termine:
www.schauspielhaus.de




Großes Unbehagen: Jelineks „Schutzbefohlene“ bei den Mülheimer Stücketagen

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Das Unbehagen ist groß, wir winden uns auf unseren Theatersesseln in der Mülheimer Stadthalle. Im Mittelmeer ertrinken die Menschen und wir laborieren an unseren Luxusproblemen. Dabei stehen „Die Schutzbefohlenen“, so der Titel des Stückes von Elfriede Jelinek, direkt vor uns auf der Bühne.

Sie kommen aus dem Iran, aus Eritrea, aus Syrien, aus Afghanistan und erzählen die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Regisseur Nicolas Stemann hat sie in einem Projekt mit dem Hamburger Thalia Theater und dem Theater der Welt mit Schauspielern zusammengebracht. Gemeinsam arbeiten sie sich ab an dem Theatertext der Österreicherin Elfriede Jelinek. Die Inszenierung wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ging nun in den Wettbewerb der Mülheimer „Stücke“.

Im realen Leben suchten die „Schutzbefohlenen“ Asyl in einer Hamburger Kirche, hier auf der Bühne sind sie immer wieder hinter Stacheldrahtrollen verbannt, deren symbolisches Muster auf ihren T-Shirts wiederkehrt. Und sie stellen Forderungen: nach Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen – und nicht nur für die Europäer; nach Chancengleichheit für alle, nicht nur für die, die innerhalb des europäischen Rechtssystems stehen; nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen legal und illegal. Im Hintergrund schwappt das Mittelmeer über die Videoleinwand.

Eine aktuellere Inszenierung gibt es wohl zurzeit kaum. Sie macht das Dilemma in aller Schärfe greifbar, zeigt Ursachen wie Kolonialismus, Krieg, Kapitalismus und Globalisierung auf und spricht nicht nur über die Betroffenen, sondern lässt sie für sich selbst sprechen. Und doch macht sie gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie schwierig eine Lösung ist. Es wird auch hier keine gefunden. Vielleicht ist das von einer Theaterinszenierung aber auch zu viel verlangt: Wenn schon Politiker nicht recht wissen, was sie tun können oder wollen…

Wir, die wir hier schuldbewusst in unseren Theatersesseln sitzen, sind nicht so leicht bereit, unseren Wohlstand zu hinterfragen. Ihn zu teilen, ja darüber könnte man reden – doch wo ist hier die Grenze? Wo ist deine persönliche Grenze? Was bist du bereit zu geben, wo möchtest du helfen, wo schaust du lieber weg? „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hat Bertolt Brecht einst in der Dreigroschenoper geschrieben. Der Wunsch, sicher und gut zu leben, etwas aus sich und seinen Möglichkeiten zu machen, verbindet alle Menschen. „Doch die einen stehen im Dunkeln und die anderen stehn im Licht; und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Unser Reichtum ist ein Magnet, unser Rechtssystem mit allen seinen behördlichen Auswüchsen ist ein besserer Garant für Freiheit als viele andere Systeme. Deswegen sind wir ein Fluchtpunkt, ein Ziel. Das macht uns stolz, das macht uns Angst. Das weckt die hässlichen Seiten in uns: Den Wunsch, sich abzugrenzen, sich an seinen Besitz zu klammern. Wenn in Hamburg Pöseldorf Bürger skeptisch gegen ein Flüchtlingsheim sind und sagen: „Die Leute könnten hier ja nicht mal einen Kaffee trinken, das wäre für sie doch viel zu teuer“, dann zeigt Stemanns Inszenierung die zynischen Seiten des Phänomens.

Und Elfriede Jelineks Text? Manchmal wirkt er zu glatt, zu wortspielerisch, der existenziellen Schärfe des Themas nicht angemessen. Auf jeden Fall klingt dieser Abend noch lange nach, er geht über die bloße Kunst hinaus.

Die Mülheimer „Stücke“ laufen noch bis zum 4. Juni:
Karten und Termine:
www.stuecke.de