Dosierte Energie: Benjamin Moser beim Klavier-Festival Ruhr in Essen-Werden

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Haus Fuhr in Essen-Werden ist mit seinem intimen Saal ein idealer Veranstaltungsort für das Klavier-Festival Ruhr. Allerdings hat der Raum seine Tücken; er bildet das Spiel des Solisten sehr genau ab, verstärkt aber die Lautstärke überproportional, sobald sie über ein verhaltenes Mezzoforte hinausgeht. Dazu steht auf der Bühne ein Steinway, erfreulich präsent im Klang, aber für diesen Raum wünschte man sich manchmal einen weicher intonierenden Flügel.

Benjamin Moser, nun schon zum vierten Mal beim Klavier-Festival zu Gast, hätte seine liebe Mühe gehabt, die ausufernden Klangfluten zu dämmen – wenn er es denn versucht hätte. Aber er konnte die Schleusen nicht geschlossen halten; nicht bei Alexandre Skrjabins Fantasie op. 28, nicht in Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“. Wie auch: Skrjabin bläut dem Pianisten ständig „crescendo“ ein, um ihn dann beinahe unvermittelt auf „piano“ einzuschwören, sogleich aber wieder das Aufwachsen der Lautstärke einzufordern, Wer die Fantasie so steigern will, wie es in den Noten steht, landet eben beim Fortissimo „appassionato“. So geschehen auch unter den sorgfältig formulierenden Händen des Münchner Pianisten, der mit seinen 34 Jahren schon auf eine schöne Karriere blicken kann.

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Der Anfang des Konzerts war explizit „lyrisch“: Sieben von Edvard Griegs Klavierminiaturen, beginnend mit dem differenzierten Arpeggienspiel und der schwärmerischen Agogik von „An den Frühling“, über den drollig anhebenden, sich ins Dämonische auswachsenden „Zug der Zwerge“ bis zu den Fanfaren und majestätischen Umspielungen des „Hochzeitstags auf Troldhaugen“. Dazwischen macht Moser in „Heimweh“ deutlich, wie subtil er Innenspannung aufbauen und halten kann, auch wenn die Noten „einfach“ scheinen.

Skrjabins cis-Moll-Etüde op.2/1 schließt mit ihrem versonnenen Auf und Ab einer charakteristischen Achtelfigur an Griegs elegische Lyrismen an. In dem kurzen Stück bewegt sich Skrjabin kaum über die Region des Mezzoforte hinaus; Moser versucht sich in Delikatesse und verhaltenem Gestus, aber der Steinway zeigt ihm, wo’s langgeht: Direkter Klang, stählerne Resonanz, später, in der Fantasie, dann auch (zu) vollmundiges Pedal.

Moser hat die Abfolge klug gewählt, denn in der Etüde lässt er die Energie ahnen, die sich in den machtvollen Arpeggien und Repetitionen der Fantasie Bahn bricht. Und der Pianist macht deutlich, dass er es versteht, den Feuerbrand der Töne allmählich, klug dosierend zu entfachen.

Nach der Hommage an den vor 100 Jahren aus nichtigem Anlass verstorbenen Komponisten (ein Pickel verursachte eine Blutvergiftung) folgte Musik der französischen Zeitgenossen Skrjabins, Claude Debussy und Maurice Ravel.

Debussys „Childrens Corner“ hat Licht und Schatten – und das nicht nur im durchaus gekonnten claire-obscure der licht wirbelnden Schneeflocken des vierten und der bassdüsteren Lesart des zweiten Stücks („Jimbo‘s Lullaby“). Sondern auch in Mosers Lesart, der in der Puppenserenade den Klang zu füllig, den Rhythmus zu geschmeidig gestaltet und im abschließenden Cakewalk einen Schuss Spontaneität vermissen lässt.

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in "Femmes au bain" exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in „Femmes au bain“ exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons/public domain

Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ spielt Moser weit weniger entschieden als etwa Khatia Buniatishvili bei ihrem Mülheimer Klavier-Festival-Auftritt. Er achtet mehr auf Atmosphärisches, rückt die Musik vor allem in „Ondine“ in die Nähe eines Pointillismus, wie ihn Georges Seurat oder Hippolyte Petitjean in der Malerei etablierten.

Die flirrende Atmosphäre, die sich auf genau definierte Punkte zurückführen lässt, entspricht Mosers musikalische Auffassung: Flächen und Linien aus definiert gespielten Noten, die als Ganzes eine hundertfach in sich gebrochene Klangsphäre bilden. „Le Gibet“ fasst er eher als melancholisches Stimmungsbild auf als im Sinne einer Studie des Unheimlichen.

Aber in „Scarbo“ kommt das Abrupt-Spukhafte in scharf geschnittenen Akkorden, in der Grandezza des Zugriffs und in zugespitzter rhythmischer Energie zum Ausdruck. Wie Rauch durch das Schlüsselloch verschwindet der Nachtmahr, um herzlichem Beifall und zwei Zugaben – Debussys „clair de lune“ und einer weiteren Skrjabin-Etüde – Platz zu machen.




Neues aus dem Fegefeuer: „Die 7 Todsünden“ im Kloster Dalheim

Hier geht‘s heiß her: Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Sie haben die Ausstellung »Die 7 Todsünden« im Kloster Dalheim noch nicht gesehen? Da haben Sie etwas verpasst. Aber nur kein Neid: Überwinden Sie die Trägheit, gehen Sie einfach hin!

Kleine Augen und ein eckiges Kinn, auch die Nase zeigt spitz nach oben. So sieht er aus, der Neid. Dagegen die Habgier: Eine Hakennase prangt unter Schlitzaugen, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Die Schweizer Künstlerin Eva Aeppli formte die »Physiognomie der Laster« an Bronze-Köpfen. Sie sind die letzte Station vor dem Ausgang im LWL-Landesmuseum Kloster Dalheim in Lichtenau. Da haben die Besucher bereits 1700 Jahre Kulturgeschichte der Laster und Sünden hinter sich. »Die 7 Todsünden« ist die erste museale Beschäftigung mit dem Thema.

Sie beginnt schon im Klostergarten. Dort begrüßt ein Ortsschild den Eintretenden: »Bundesligastadt Paderborn«. Man wundert sich, bis man den von einem Ast hängenden roten Sandsack mit der Aufschrift »Zorn« wahrnimmt, und das Schild an der Rosskastanie, das den unschuldigen Baum als »geizigen Giganten« schmäht. Schließlich sei er wegen seiner kurzlebigen Blütenpracht und der ungenießbaren Früchte ein »Symbol barocker Verkommenheit«. Ob das stolze Ortsschild also für Hochmut steht?

Die Exponate im Garten deuten schon an, was während des Rundgangs immer wieder aufblitzt: Die so genannten Todsünden sind so tödlich gar nicht mehr. Allzu oft in der Kulturgeschichte wurden sie instrumentalisiert oder zumindest umgewertet. Was vorgestern noch tabu war, war gestern gesellschaftlicher Konsens – und wird heute wieder kritisch gesehen.

Gleich zu Beginn schreitet man durch das »Portal der sieben Sünden«, das uns »abholt«: Fotografische Alltagsszenen beweisen, wie die großen Laster sich heute manifestieren. Ein Selfie steht für den Hochmut, der schimpfende Autofahrer für den Zorn. Dazu allgegenwärtige Sprüche aus der Werbung: »Heute ein König!«, »Geiz ist geil!», «Der Duft, der Frauen provoziert.« Heute darf kokettiert werden mit den vermeintlichen Sünden. Sie klingen offenbar noch in uns nach, haben aber längst ihren Schrecken verloren. Das war einmal anders.

Eremitisch in der Wüste lebende Mönche waren es, die im 4. Jahrhundert zunächst acht »Hauptlasten« ausmachten, die den Asketen in Versuchung führen könnten – die Traurigkeit gehörte noch mit dazu. Davon zeugt das älteste Ausstellungsstück, eine beschriebene Keramikscherbe. Papst Gregor machte Ende des 6. Jahrhunderts den Hochmut als Wurzel alles Bösen aus und leitete sieben Kardinalsünden daraus ab. Seitdem gehörten sie fest zur katholischen Morallehre.

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Bohn

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Jörg Bohn

Das Gros der Objekte in diesem ersten Ausstellungsraum stammt allerdings aus dem Spätmittelalter, der Blütezeit der Lehre von den Lastern. Der Kanon der sieben Todsünden wurde populär über Predigten (in der Ausstellung ist ein Ausschnitt zu hören) und durch das Sakrament der Beichte (symbolisiert durch einen Beichtstuhl) aber auch über Abbildungen, Altarbilder oder anderen Kirchenschmuck.

Über die Kirchen gelangten die magischen Sieben in die weltliche Literatur und Kunst, etwa in Peter Dells holzgeschnitzte Statuetten, die die Sünden im frühen 16. Jahrhundert als Frauengestalten zeigen. Aus jener Zeit stammt auch das wohl skurrilste Stück: der gläserne Dildo einer Äbtissin aus dem Damenstift Herford. Unsterbliche, bis heute beliebte Heldenfiguren aus dem Spätmittelalter sind die personifizierte Sünde selbst, etwa Don Juan, die Mann gewordene zornige Wollust. Auch viele Märchenfiguren stehen für eine Sünde: die Frau des Fischers für Völlerei bzw. Maßlosigkeit, die Stiefmütter von Schneewittchen und Aschenputtel für Neid, Pechmarie für Trägheit.

Im Barock dann die erste Umwertung einer Sünde: Völlerei und Verschwendung galten (auch der Kirche) plötzlich als Statussymbole. Schuld war die Kirchenspaltung: Der Barock ist die sinnliche Antwort auf das nüchterne Erscheinungsbild des Protestantismus. Einen Raum weiter wird man sich daran erinnern angesichts der Fotos überladener Büffets und gedankenlosen Genießens in den 1950er Jahren: Nach den Entbehrungen des Krieges hatte man schließlich Nachholbedarf und fand am Schlemmen nichts Schlimmes. Das ist heute, im Zeitalter der Selbstoptimierung und Körperdisziplin, wiederum anders.

Mit der Industrialisierung begann die Beschleunigung des Lebens: Müßiggang konnte die erstarkende Wirtschaft nun wirklich nicht gebrauchen. Dabei war mit der Sünde der »Trägheit« ursprünglich gar nicht nur Faulheit gemeint, sondern Trägheit des Herzens, die Gleichgültigkeit z.B. gegenüber anderen Menschen, ausgedrückt etwa in dem biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Vielschichtig wird es in dem Teil der Schau, die die Zeit des Nationalsozialismus betrachtet: Die Nazis instrumentalisierten die Sünden geschickt, um ihre Gegner zu diffamieren (die geizigen oder habgierigen Juden) und nutzten die Popularität des Todsünden-Konzepts, um eigene Werte zu propagieren: »Die einzige Sünde heißt Feigheit«, hieß es auf einem Propagandaplakat. Der große Globus aus Adolf Hitlers »Führerbau« in München zeigt das Einstichloch eines Bajonetts, vermutlich von einem alliierten Soldaten – gleichermaßen ein Symbol für Hochmut und Zorn.

Nach dem Krieg machte die sexuelle Revolution Wollust salonfähig, wovon u.a. Ausschnitte aus Oswalt-Kolle-Videos zeugen. Rudi Dutschkes Lederjacke und seine Karteikarten stehen für den Zorn der 1968er. Wie dreidimensionale Mind-Maps hängen beleuchtete Schautafeln für jede Sünde im letzten Raum, zur Wut gibt es die Assoziationen »Wutbürger«, die Figur des »Hulk«, Anti-Stressbälle.

Am Ende kann man dann selbst eigene Gedanken zum Thema an die Wand heften. »Die einzige Sünde ist«, schrieb jemand, »definieren zu wollen, was eine Sünde ist.« Lektion gelernt.

 »Die 7 Todsünden« im LWL-Landesmuseum für Klosterkultur in Lichtenau-Dalheim; bis 1. November 2015; Tel. 05292/ 93 190; Katalog: Ardey Verlag, Münster, 29,90 Euro.