Aber hallo, Herr Tuchel!

Aber hallo und nun mal halblang, verehrter Thomas Tuchel. Was Sie und die BVB-Mannschaft heute (vor allem in der ersten Halbzeit) beim 4:0 gegen die zuvor hoch eingeschätzten Gladbacher entfacht haben, das, ja das… wäre selbst zu Jürgen Klopps besten Zeiten noch ein Ausreißer nach oben gewesen.

Also müssen wir wohl gleich mal auf die Euphorie-Bremse treten: Der Gegner hat halt manches zugelassen. Es war auch Fortune im Spiel. Es war nur die erste von 34 Bundesliga-Partien. Und was dergleichen Runterbringer-Sprüche mehr sind. Aber etwas hibbelig werden wir jetzt doch – und scharren schon mit den Füßen, um die nächsten Begegnungen möglichst rasch zu erleben.

Rasanter BVB-Konter, heute vom Sky-Bildschirm abgeknipst.

Rasanter BVB-Konter, heute vom Sky-Bildschirm abgeknipst.

Nähme man das heutige Auftaktspiel zur neuen Saison zum Maßstab, so müsste man ein wenig übermütig werden. Tabellenplatz zwei hinter den Bayern (die mit Hamburg den leichteren Widersacher hatten) hat man wahrlich nicht unbedingt erwarten dürfen. (Und auf Rang drei hat sich gleich Schalke positioniert, als sollte es ein besonders guter Jahrgang für den Revierfußball werden.) Übrigens sangen die Dortmunder Fans heute gegen Schluss das „Steigerlied“…

Man möchte es schon jetzt nicht mehr hören, dass mit Trainer Tuchel beim BVB „mehr Akribie“ und gleichsam Wissenschaftlichkeit einkehre. Es mag ja etwas dran sein, doch kommt bestimmt noch einiges hinzu, weit über Berechnung und Rationalität hinaus. Zwar spielen sie keinen reinen Hurra- und Husaren-Fußball mehr, wie so oft in der jüngeren Vergangenheit, doch fehlen keineswegs die schwunghaften, rasanten, ja magischen Momente.

Zugegeben, auch ich habe zu jenen gehört, die Henrikh Mkhitaryan schon beinahe abgeschrieben hatten, nachdem er in der vorigen Spielzeit eine dermaßen traurige und melancholische Gestalt zu sein schien. Wie ist der Mann nur aufgeblüht! Es möge andauern.

Auch ein zwischenzeitlich geschmähter Ilkay Gündogan findet offenbar zu einstiger Stärke zurück. Und eine Neuverpflichtung wie Julian Weigl, von den zuletzt eher desolaten Münchner „Sechzigern“ gekommen, erweist sich bislang als Glücksgriff und weckt weitere Hoffnungen. Tuchel findet offenbar die richtigen Worte und Gesten, um den Spielern Selbstvertrauen einzuflößen. Sollte er tatsächlich der ideale Klopp-Nachfolger sein?

Es fällt auf, wie jeweils das ganze Team den Torschützen und Vorbereitern gratuliert. Der Mannschaftsgeist stimmt, wenn man derlei Zeichen richtig deutet. Und ja: Da wird streckenweise feiner, ja sogar feingeistiger Fußball zelebriert. Und man ahnt sogleich, warum Thomas Tuchel bestimmte Spielertypen, denen man nicht gar so viel Intelligenz nachsagt, lieber nicht in den Vordergrund bringt. Wir wollen natürlich keine Namen nennen.

Eine Prognose für die Saison? Ach, nö. Genießen wir die Freude des Augenblicks und die Vorfreude auf mehr.




„Wir optimieren uns zu Tode“ – eine großartige Rede zur Eröffnung der RuhrTriennale

Hyung-Chul Han

Byung-Chul Han (© S. Fischer Verlag)

Neben mir sitzt ein älteres Ehepaar, das sich pausenlos scharf in Streit befindet. Vorn umarmt die Kunst die Ministerriege. Es wirkt befremdlich in dieser Umgebung eines Stadtteils, dem in letzter Zeit der Ruf zuteilwurde, ein Salafisten-Nest zu sein.

Der Koreaner Byung-Chul Han ist Autor und Essayist sowie Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er hält die großartige Rede zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Dinslakens ehemaliger Zeche Lohberg, gefolgt von einer Live-Talk-Show unter der Leitung von Bettina Böttinger. Festivalchef Johan Simons weist zur Begrüßung darauf hin, dass die RuhrTriennale auch ein Festival der Debatten sein werde. Man mutmaßt also eine große Lust des Publikums auf Thesen und Diskussionen.

Die Fähigkeit zum Fest verloren

Byung-Chul Han setzt einen starken Beginn, indem er das „Fest“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. „Ohne Fest haben keinen Bezug mehr zum Glück“, sagt er und stellt fest, dass die RuhrTriennale kein Fest ist, sondern ein Event. „Ein Fest betritt man wie einen Raum. Man verweilt. Die Zeit des Festes ist die Zeit, die nicht vergeht.“  Die Fähigkeit, Feste zu begehen, quasi erfunden von den Griechen, sei verloren gegangen. Es folgt die Beschreibung der Gesellschaft aus seiner Sicht. Er bedauert die Entpolitisierung der Kunst und der Politiker und selbst der Studenten. Es entstehe die Infantilisierung durch Smart-Phones. Die totale Infantilisierung führe zur totalen Macht des Kapitals und die Politik werde von der Ökonomie beherrscht. Großer Applaus. Ein seltsames Gefühl, seiner eigenen Unzulänglichkeit zu applaudieren.

Der Mann neben mir kommentiert: „Es ist Quatsch, was der sagt. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ – „Halt endlich mal die Klappe“, erwidert seine Frau.

Der wohltuende Rundumschlag des Philosophen hat etwas Reinigendes, wirkt wie ein gewürzter Wind, der durch die Wirklichkeit fegt.

„Wir optimieren uns zu Tode“, sagt Han. „In diesem Zustand ist keine Revolution mehr möglich. Es herrscht die Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde ist wie ein Zombie.“ Ich höre mich laut „Ja!“ denken.

Es folgt auf dem Podium eine Talkshow, bestehend aus Statements und Meinungen, wie wir sie aus den Fernsehtalkshows kennen. Zu Gast war auch der Vizebürgermeister Eyüp Yildiz, der im Vorfeld die Platzierung der RuhrTriennale in Lohberg kritisch kommentierte. Ob man denn die Bevölkerung mitnähme und was die Lohberger von der Kunst hätten. Mittlerweile sind alle im Gespräch.

Existenzberechtigung der Kunst

Der gesellschaftliche Hintergrund spielt naturgemäß immer mit, ob man will oder nicht. Man ist da, wo man ist, umgeben von Menschen und Problemen und wieder muss die Kunst ihre Existenzberechtigung erarbeiten, muss klarstellen, wozu sie nutze sei. Kunst kann etwas verändern. Das mutmaßen alle. Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel-Bochum, bestätigte dies. Die Aktionen, die zusammen mit dem Schauspielhaus in Bochum organisiert wurden, haben zu Zusammenhalt und Wertschätzung geführt.

Intervention auf Zeche Loberg

Intervention auf Zeche Lohberg

Vielleicht wäre es provokanter, an solchen Orten, wo das „Sub-Proletariat“ (ein Begriff, der immer wieder verwendet wird) seinen Ort hat, einen Sektempfang für die Kulturmenschen einzurichten, in angemessener Kleidung und Schnittchen, einem lyrischen Tenor lauschend, selbstverständlich zu hohen Eintrittspreisen. Das würde Diskussionen und Proteste hervorrufen, vielleicht mehr als eine Inszenierung, die sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit widmet. Die Kunst soll heute alles regeln, ob in Schulen oder im öffentlichen Raum.

Am kommenden Mittwoch (19.8. um 19.00 Uhr) zeigt die Triennale im „Reflektorium“ an der Jahrhunderthalle in Bochum einen Dokumentarfilm zu Byung-Chul Han: Der essayistische Film umkreist das Phänomen der Müdigkeit im Zeitalter des Neoliberalismus und die damit verbundenen Symptome wie Selbstausbeutung und Burnout.

Aus einem Interview in der ZEIT: „Politiker sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“

Mögen sich viele Gedanken während des Kunstfestes RuhrTriennale durch Debatten und künstlerische Genüsse entwickeln und in Erkenntnisse umsetzen.




RuhrTriennale: „Nomanslanding“ im Duisburger Hafen überwindet alles Trennende

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Sie kommt genau auf uns zu: Die andere Hälfte von „Nomanslanding“ (Foto: rp)

Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wenig spektakulär. Zwei halbierte Rieseneierschalen stehen da irgendwie auf dem Wasser und erinnern an Konzertmuscheln, was aber keinen Sinn ergibt, weil sie sich ja gegenüber stehen und deshalb kein Publikum beschallen können. Stege führen ans Ufer. Die Installation, um eine solche handelt es sich also offenbar, befindet sich im „Eisenbahnbassin“, einem Hafenbecken in Duisburg Ruhrort, das früher einmal der Eisenbahnhafen war und heute mehr oder weniger funktionslos ist. Hier steht das Wasser sehr still, was ein Grund gewesen sein mag, „Nomanslanding“ hier aufzubauen.

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Installation im Duisburger Eisenbahnbassin. Ab und zu schaut ein Ausflugsboot vorbei. (Foto: rp)

„Nomanslanding“ heißt das Gebilde, für das sich eine deutsche Übersetzung nicht eben aufdrängt. „Niemandes Landung“ vielleicht, „keines Menschen Landung“? Jedenfalls sind die beiden Rieseneierschalen im Duisburger Hafen neben Joop van Lieshouts phantasievollem Siedlungsgewürfel vor der Bochumer Jahrhunderthalle die bedeutendste skulpturale Arbeit der diesjährigen Ruhrtriennale. Der Begriff Skulptur indes hilft dem Verständnis nur begrenzt. Vor allem nämlich funktioniert „Nomanslanding“ als Inszenierung.

Und die läuft so ab: Bevor das Publikum sich (abgezählt und sicherheitstechnisch instruiert) über die beiden Stege zu den Muscheln begibt, wird es mit Schwimmwesten ausgestattet, muß es die Teilnahmebedingungen unterschreiben. Dann wird man im Rund der Halbkugel auf einer Sitzbank plaziert – und gewahrt kurze Zeit später fast zufällig, daß sich die eigene Halbkugel auf die andere zu bewegt. Aus einem unsichtbar bleibenden Soundsystem sind derweil Kriegsklänge und vielsprachige Textzeilen zu hören. Immer näher kommt die eine Halbkugel der anderen, schließlich berühren sie einander, es wird dunkel, der Soundtrack bleibt bedrohlich.

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Schwimmwesten sind für den Besuch der beiden Muscheln vorgeschrieben. Sie machen ein etwas mulmiges Gefühl. (Foto: rp)

Klagender Gesang ertönt, nach einer weiteren Kunstpause wird es heller im runden Raum, schließlich ergeht die Aufforderung die Hälften zu tauschen. Und nicht unberührt verläßt man das Geschehen, das kaum 30 Minuten dauerte, durch die Halbkugel von gegenüber.

Breit ist der Fundus an Metaphorik, der zur Deutung bereitsteht. An die Überquerung des Flusses Styx ist zu denken, der die Welt der Toten von der der Lebenden trennt, und wenn einem außerdem noch afrikanische Flüchtlingsboote und die dazugehörigen Katastrophennachrichten einfallen, liegt man sicher auch nicht falsch.

Indes, der teilnehmende Künstler Andre Dekker hebt es in seinen Erläuterungen zum Werk ausdrücklich hervor, ist der Bezug ein Gutstück konkreter. Die Arbeit bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach, will indes nicht Anklage sein, sondern Klage, will der Trauer um die vielen Todesopfer Raum geben. „Ein Klagelied, vielleicht auch ein Wiegenlied“, sagt Dekker. Nämlich dann, wenn aus der traurigen Gewißheit des Geschehenen die vergewissernde Geborgenheit des „Nie wieder!“ sich formt. Sinnliche Symbolhaftigkeit, wenn man so will – und sei es auch nur die Querung von etwas Wasser in einem Duisburger Hafenbecken.

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Gleich wird es duster. Die beiden Hälften stoßen aneinander. (Foto: rp)

Als die Arbeit 2014 zum ersten Mal in Sydney installiert wurde, jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das war auch für die Australier ein wichtiges historisches Datum, denn als Teil des Commonwealth hatte das Land auf britischer Seite an dem Krieg teilgenommen und hohe Verluste erlitten. Die Duisburger Zweitverwertung 2015 muß nun leider ohne runde Jahreszahl auskommen, und Glasgow im kommenden Jahr (die dritte Station) erst recht. Da kann man sich schon mal fragen, ob der erhebliche Aufwand gerechtfertigt ist. Die Antwort fällt nicht leicht.

Jedenfalls hat der Duisburger Hafen bis zum 13. September eine Attraktion zusätzlich zu bieten, und der Eintritt ist frei. Allerdings bleiben Zweifel, ob die komplizierte Besichtigungsprozedur mit großer Nachfrage, vor allem an Wochenenden, fertig wird. Und ob die alles in allem doch recht komplexe Technik bis zum Ende durchhält und kein Vandalismusopfer wird. Aber man soll nicht unken. Halten wir es mit Kaiser Franz und schau’n wir mal.

Noch ein paar Fakten: Die Künstlerinnen und Künstler, die sich „Nomanslanding“ ausgedacht haben, sind Robyn Backen (Australien), Andre Dekker (Niederlande), Graham Eatough (Großbritannien), Nigel Helyer und Jennifer Turpin (beide Australien).

  • Die Adresse ist Duisburg, „Am Eisenbahnbassin“, Autoparkplätze sind rar.
  • Geöffnet bis 13. September tgl. 13 bis 23 Uhr, Eintritt frei, „wetterfeste Kleidung empfohlen“.
  • Mehr Informationen: www.ruhrtriennale.de, www.urbanekuensteruhr.de

 

 

Zwei Strophen des Klageliedes, dem Programmzettel entnommen:

Verse 1

We will meet you at the river

We’ll draw closer on the tide

You can hear us in the water

From the shore to the other side

 

Verse 2

All our lives brought here together

To flow before your eyes

At last on Nomanslanding

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