Von Fledermäusen und Menschen: „Die Franzosen“ nach Proust auf der Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

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Ein letztes Mal blendet das Licht, das durch die alten Fabrikfenster hereinscheint, grell die Augen. Dann senkt sich die Dämmerung über die Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort von Krzysztof Warlikowskis „Die Franzosen“ nach Marcel Proust bei der diesjährigen Ruhrtriennale.

Nun übernehmen die Nachttiere die Herrschaft über den Raum. Ein flinker Schwarm Fledermäuse durchflattert eine Szenerie, in der sich der Abgesang auf ein dekadentes Europa in nahezu fünfstündiger Spieldauer entfaltet. Nun, Europa ist ja auch sehr alt, so braucht ebenfalls sein Niedergang einige Zeit; Zeit, bis die materiellen, seelischen, psychologischen, politischen und gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse greifen und ihr Gift entfalten.

Die kleinen Vampire und unfreiwilligen Mitspieler kümmert dies indes nicht, sie haben auch kein Sprachproblem: Die polnische Aufführung ist zwar deutsch und englisch übertitelt, doch in dialogreichen Szenen werden hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit der Zuschauer gestellt, wenn sie gleichzeitig die Aktionen der Schauspieler mitverfolgen möchten. Doch wer sagt, dass Proust einfach sein sollte? Dazu ist sein Werk schlicht zu komplex und fordert, dass man sich darauf einlässt, sonst hat man nichts davon.

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

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Warlikowski hat denn auch einige Themen aus dem vielschichtigen Romanzyklus stärker gewichtet und sich auf diese konzentriert: Die Dreyfus-Affäre und der damit zusammenhängende Antisemitismus nehmen reichlich Platz ein, zumal diese Fragen heute unter anderen Vorzeichen wieder virulent sind. Auch das Thema Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt die Inszenierung.

Nicht zuletzt blicken wir auf die Nachtseite der menschlichen Begierden, seien sie auf Männer oder Frauen gerichtet, und die Gewalt, die dies zwischen Menschen erzeugt. Tatsächlich wird hier in mancher Szene, beispielsweise zwischen Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska), statt mit Prousts psychologischem Florett mit gröberen Waffen gekämpft und handgreiflich gerungen, wenn es um Eifersucht geht.

Die Lebedame ist nicht mehr in Musselinstoff gehüllt, sondern trägt rote Dessous und Stöckelschuhe und Oriane de Guermantes (Magdalena Cielecka), die vornehmste aller adeligen Damen, sieht mit Designer-Mini, blondiertem Haar und High-Heels eher nach rotem Promi-Teppich mit einem Schuss ins Gewöhnliche aus, denn nach wahrer Aristokratie. Aber wo sind sie überhaupt geblieben, die Aristokraten? Aus Baron de Charlus (Jacek Poniedzialek) wird im Laufe des Stücks eine Art Karl Lagerfeld-Verschnitt, mehr haben wir Heutigen nicht mehr aufzubieten. Wenn das schon der Gipfel der europäischen Kultur und Lebensart sein soll…

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

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Deswegen tickt denn auch überm Bartresen, der die ganze Länge der Bühne einnimmt, unweigerlich die Uhr und der Geiger Morel (Piotr Polak) ist ganz profan zum DJ geworden. Die Aristokratie sitzt derweil in einer Art gläsernem Salonwagen wie in einer Zeitkapsel und ergeht sich in Klatschgeschichten.

Merkt denn keiner, dass draußen schon der Erste Weltkrieg heraufdämmert? Seine Auswirkungen muten dann eher an wie die der Tschernobyl-Katastrophe und der Berserker im Ganzkörper-Schutzanzug fegt den letzten Rest edles Porzellan mit einem Wisch vom Tisch. Da kann auch Phädra (Agata Buzek) nicht mehr helfen, die, wie um einen Rest klassische Bildung hochzuhalten, verzweifelt ihre Rolle deklamiert. Einst spielte Rachel diese Glanzrolle, die Geliebte Saint-Loups (Maciej Stuhr), der dann aber Gilberte, die Tochter von Odette und Swann heiratete…aber, ach, was, wer kennt noch diese alten Geschichten und diese längst vergessenen Leute? Selbst die Fledermäuse nicht und wenn, dann könnten sie es uns nicht erzählen, denn sie funken auf einer ganz anderen Frequenz als wir, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, diese feinen Töne in lärmenden Zeiten…

Karten und Termine:
www.ruhrtriennale.de




Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann – Creative Commons/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gergor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.