Aus Sicht der Drohne: Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ bei der Triennale

René Jacobs dirigierte Haydns "Schöpfung". Rechts neben ihm die Sopranistin Sophie Karthäuser (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

René Jacobs dirigierte in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Berittene Polizei musste für Ordnung sorgen, als es im Jahr 1798 zur halbprivaten Uraufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ kam. Groß war der Zulauf auch bei den weiteren Wiener Aufführungen, von denen die meisten in drangvoller Enge stattgefunden haben.

Haydns Meisterwerk traf nicht nur den Nerv der Epoche: Seine weltfreudige Religiosität, sein vom christlichen Dogma emanzipiertes Menschenbild, der tönende Optimismus des aufklärerischen Denkens hat Musikfreunde über alle Zeiten hinweg begeistert. Geist, Licht und Vernunft sind Kernworte des Librettos von Gottfried van Swieten, das auf biblischen Texten und auf John Miltons Dichtung „Paradise Lost“ beruht.

Auch im Duisburger Norden entfaltete Haydns Oratorium jetzt seine Zugkraft. Die Ruhrtriennale präsentierte „Die Schöpfung“ dort mit einem begleitenden Film von Julian Rosefeldt, in edler Besetzung zudem. Denn für die singuläre Aufführung im Duisburger Landschaftspark hatten sich namhafte Interpreten gewinnen lassen: der belgische Dirigent und Barock-Spezialist René Jacobs, das Collegium Vocale Gent und das B’Rock Orchestra. Wie gut das verfing, war schon eine Stunde vor Vorstellungsbeginn am Andrang auf die Parkplätze zu spüren.

Wer sich in Oper und Konzert über manch überflüssige, ja sogar störende Video-Installation geärgert hat, sah sich bei dieser Aufführung höchst angenehm enttäuscht. Der in München lehrende und in Berlin arbeitende Filmkünstler Julian Rosefeldt hat einen genialen Kniff gefunden, um „Die Schöpfung“ filmisch zu begleiten. Er zeigt uns Wüstenlandschaften aus der Perspektive von Kameradrohnen, gleichsam aus kosmischer Sicht, in einem ruhigen Gleitflug mit wenigen Schnitten.

Mögen Spötter ruhig behaupten, da könne man ebenso gut mit Google Earth um die Welt surfen und dazu eine Haydn-CD auflegen. Sie haben die Rechnung ohne die Komparsen gemacht, die in Zeitlupe durch die Szenerie laufen. Diese tragen weiße Schutzanzüge und Masken, wirken winzig klein und der Erde vollkommen entfremdet. Es könnten Abgesandte einer Spezies sein, die längst auf den Mars ausgewandert ist und nur noch gelegentlich zum ruinierten Heimatplaneten zurückkehrt, um nach dem Stand der Dinge zu sehen.

Marokkanische Landschaften und die verlassenen Filmkulissen der Atlas-Studios spielen in der Umsetzung von Jürgen Rosefeldt eine wichtige Rolle (Foto: Wonge Bergmann/ Ruhrtriennale)

Marokkanische Landschaften und die verlassenen Filmkulissen der Atlas-Studios spielen in der Umsetzung von Jürgen Rosefeldt eine wichtige Rolle (Foto: Wonge Bergmann/ Ruhrtriennale)

Mit gleichsam hypnotischer Kraft werden diese Bilder zum Kommentar, stumm und vielsagend zugleich. Während Chor und Orchester unter der Leitung von René Jacobs ein vielstimmiges Lob der Schöpfung anstimmen und uns mit der Imitation von Naturlauten erfreuen, sehen wir halb verrottete Filmkulissen in der marokkanischen Ödnis. Zerstörte Tempel, versteppte Weiten, vertrocknete Flussläufe. Auch hiesige Mondlandschaften sind zu sehen, geschaffen vom Braunkohle-Abbau in Garzweiler oder von der Schwerindustrie, wie Aufnahmen aus Bottrop, Essen und Duisburg zeigen. Eine gründlichere Verwüstung lässt sich nicht denken.

Die musikalische Qualität der Aufführung ist erwartungsgemäß hervorragend. Das B’Rock Orchestra klingt transparent und sprühend; der Chor ist punktgenau bei der Sache und verkündet Gottes Lob mit großem vokalem Glanz. Sophie Karthäuser (Sopran), Maximilian Schmitt (Tenor) und Johannes Weisser (Bass) sind ein ausgewogenes Solisten-Trio. Ihre Stimmen sind durchweg schlank, fern opernhaft-dramatischer Durchschlagskraft, aber ungemein textverständlich und wendig in allen Verzierungen.

Auszüge aus der Arbeit von Julian Rosefeldt wird die Triennale bis 26. September weiter zeigen. Sie sind unter dem Titel „In the land of drought“ („Im Land der Dürre“) im Schalthaus Ost im Duisburger Landschaftspark-Nord zu sehen. Der Eintritt ist frei.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.ruhrtriennale.de/de/land-drought)




Hamm kann seine Ägypten-Sammlung endlich im größeren Rahmen zeigen

Wo befindet sich die größte Ägypten-Sammlung des Ruhrgebiets? Die Antwort mag überraschen: in Hamm.

Auch in ganz Westfalen hat die Kollektion nicht ihresgleichen. Das lässt sich jetzt noch besser nachvollziehen: Ab Sonntag (30. August) kann man die wesentlichen Schaustücke auf verdoppelter Ausstellungsfläche sehen. Ein durchaus angemessener Rahmen.

Sarkophag wiegt 7,5 Tonnen

Der Umbau des Hammer Gustav-Lübcke-Museums hat der ägyptologischen Sammlung endlich einen eigenen, über 500 Quadratmeter großen Bereich beschert. Dank zeitgemäßer Klimatisierung erhält das Haus jetzt auch leichter Leihgaben, beispielsweise die Hauptattraktion der neu geordneten Schau, einen rund 4000 Jahre alten Granitsarkophag des Beamten Sechem-ka. Das imposante, 7,5 Tonnen schwere Stück bleibt als Dauerleihgabe des Roemer- und Pelizaeus-Museums (Hildesheim) in Hamm.

Hildesheimer Dauerleihgabe für Hamm: über 4000 Jahre alter Granitsarkophag des Sechem-ka. (Foto: Bernd Berke)

Hildesheimer Dauerleihgabe für Hamm: über 4000 Jahre alter Granitsarkophag des Sechem-ka. (Foto: Bernd Berke)

Ungleich kleiner ist ein weiterer Stolz des Museums: Zum Eigenbesitz zählt eine grünlich schimmerne Originalringplatte des weltberühmten Tutanchamun, die allerdings mit bloßem Auge so schwer zu erkennen ist, dass man eine fotografische Vergrößerung direkt darüber gesetzt hat. Gleichwohl meint man da eine Aura zu spüren…

Totenkult und Hieroglyphen

Kuratorin Carola Nafroth hat die beachtliche Ägypten-Abteilung in zehn dicht gestaffelte Themenfelder aufgeteilt. Da geht es z. B. um den Totenkult, um die Hieroglyphenschrift und um alltägliche Verrichtungen wie Handwerk und Schmuckherstellung. Ein kleiner Tempelnachbau erweist sich als geheimes Zentrum der Ausstellung. Auch nachpharaonische Epochen und ihre Protagonisten (Ptolemäer, Römer, Kopten) geraten noch kurz in den Blick.

Grabbeigabe: Schiffsmodell (ca. 2119 bis 1976 v. Chr.) (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Grabbeigabe: Schiffsmodell (ca. 2119 bis 1976 v. Chr.) (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Zu all diesen Bereichen gibt es prägnante Belegstücke, zwar nicht immer in Hülle und Fülle, doch in anregender Menge. Hie und da behilft man sich mit Repliken, doch überwiegen die Originalfunde. Spürbar ist das Bemühen, rundum eine „ägyptische“ Atmosphäre zu schaffen, so etwa mit Bilderfenstern, stilecht verzierten Säulen und Obelisken, auf denen kurze Einführungstexte stehen.

Als der „Mumienverein“ aktiv wurde

Wie kommt es überhaupt, dass gerade in Hamm derlei Schätze aus dem alten Ägypten gehortet werden? Nun, es gab direkte Kontakte zu frühen archäologischen Ausgräbern. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Ägyptomanie, die 1886 zur Gründung eines „Mumienvereins“ in Hamm führte. Erklärtes Ziel war es, eine veritable ägyptische Mumie in die Stadt zu holen. Um das kostspielige Vorhaben umzusetzen, wurden eigens „Mumien-Aktien“ zu je 20 Mark ausgegeben.

Götterfamilie: Osiris und Isis mit Horus. (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Götterfamilie: Osiris und Isis mit Horus. (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Tatsächlich gelang es, eine Mumie nach Hamm zu bringen. Zeitweise war sie – mangels Museum – in einer Gaststätte für ein paar Pfennige Eintrittsgeld zu besichtigen. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört, doch besaß man in Hamm, auch durch die Sammeltätigkeit Gustav Lübckes, mittlerweile etliche Kleinode aus Altägypten.

Museum ist jetzt wieder komplett

Mit der Neueröffnung der Ägyptensammlung ist das Museum jetzt wieder komplett. Sukzessive sind seit dem Frühjahr alle Abteilungen in veränderter Form wieder zugänglich gemacht worden: Stadtgeschichte, Kunst des 20. Jahrhunderts, Archäologie und Angewandte Kunst. Die ausgewählten Altertümer Ägyptens gelten freilich als Kernbestand, Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat und ihr Team betrachten diese Sammlung als eine Art Alleinstellungsmerkmal und rechnen auch mit Anreisen aus weiter entfernten Gegenden.

Besonderen Wert legt man in Hamm auf die Vermittlung. Beileibe nicht alle kennen sich mit dem Alten und Mittleren Reich Ägyptens aus, um nicht zu sagen: fast niemand weiß da richtig Bescheid. Deshalb gibt es, neben den schriftlichen Infos in der Ausstellung, zwei kostenlos ausleihbare Audioguides – einen für Erwachsene, einen speziell für Kinder (ab etwa 8 Jahren), übrigens mit der Stimme von „Benjamin Blümchen“. Sehr sinnvoll: Beide Rundgänge sind exakt aufeinander abgestimmt und dauern jeweils 60 Minuten, in denen man das gesamte Lübcke-Museum kennenlernt. Wohlan denn, ab September haben wir sicherlich wieder öfter mal Museumswetter.

Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Geöffnet Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Infos: www.museum-hamm.de




Auf zur fröhlichen Menschenjagd: Schauspiel Dortmund zeigt Spiel um Leben und Tod

"Wetten dass" war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Wetten, dass…?“ war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Das Kommando hat Pistolen, es hat Kalaschnikows, es hat Handgranaten. Es besteht aus drei Auftragskillern, die den Kandidaten einer TV-Show sechs Tage lang quer durch die Stadt jagen. Je später sie ihn töten, desto mehr erhöht sich ihr Preisgeld.

Schafft es der Kandidat hingegen, die mörderische Hatz zu überleben und noch während der Live-Show auf einen roten Knopf zu drücken, erhält er zur Belohnung eine Million Euro. Die Bevölkerung ist dabei ausdrücklich dazu aufgerufen, ihm entweder zu helfen oder ihn auffliegen zu lassen.

Das sind die Spielregeln der „Die Show“ („Die“ spricht sich dabei wie das englische Wort für Sterben). Es handelt sich um eine bitterböse Mediensatire, mit der das Dortmunder Schauspiel jetzt die neue Spielzeit eröffnete. Intendant Kay Voges hat das Stück gemeinsam mit den Dramaturgen Alexander Kerlin und Anne-Kathrin Schulz entwickelt. Ihre Vorlage war ein Fernsehspiel von Tom Toelle aus dem Jahr 1970. Wolfgang Menge schrieb dazu ein Drehbuch, das so realistisch wirkte, dass manche Zuschauer das Spiel für echt hielten und die fiktive Telefonnummer des Senders anriefen.

Der Theaterversion, die nun in Dortmund zu sehen ist, muss ein ungeheurer Aufwand vorangegangen sein. Wie viele Arbeitsstunden mag allein das Drehen der Videos gekostet haben? Beleuchter, Kostümbildner, Techniker, Kameramänner, die Band von Tommy Finke und nicht zuletzt die Schauspieler müssen bis an ihre Grenzen gegangen sein, um das Spektakel auf die Bühne zu bringen.

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Im Studio richtet Carlos Lobo das Publikum zum Klatschvieh ab, bevor das aalglatte Moderatoren-Duo Bodo (Frank Genser) und Ulla (Julia Schubert) die vergangenen sechs Tage resümiert. Sie lassen ein Feuerwerk von Video-Einspielungen, Expertengesprächen, Schleichwerbung und Studiogästen auf uns los.

Live kommt es dann zum Showdown zwischen Kandidat Bernhard Lotz (eine kolossale Kampfmaschine: Sebastian Kuschmann) und dem Killer-Trio, das uns aus Film und Fernsehen nur zu bekannt vorkommt (wunderbar schräg: Andreas Beck, Björn Gabriel und Bettina Lieder).

Bis ins kleinste Detail führen Voges und sein Team uns den täglichen TV-Wahnsinn vor: die ausgeweideten Emotionen, den auf Quote schielenden Menschen-Zirkus, das Gehechel des Echtzeit-Journalismus, sabbernd vor Gier nach jedem neuen Nachrichten-Schnipsel – fein beobachtet und virtuos persifliert. Doch je länger die „Die Show“ dauert, desto mehr stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn. Natürlich ist das alles widerlich. Aber haben wir das nicht schon vorher gewusst?

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit  dem japanischen Top-Hit "Surimi Sushi Bang" (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit dem japanischen Top-Hit „Surimi Sushi Bang“. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Schon nach der dritten dilettantischen Gesangseinlage von Castingshow-Stars sehnen wir uns nach der Fernbedienung. Es geht uns wie im wirklichen Leben: Wir möchten umschalten, oder besser gleich ganz ausschalten. Aber diesmal sind wir machtlos, können uns nicht entziehen. Hier heißt es durchhalten bis zum krachenden Finale. Feuerwerk, Konfettiregen, Zusammenbrüche, Siegerposen. Würg.

Das Publikum lacht an den richtigen Stellen. Es scheint die Satire zu goutieren und amüsiert sich dabei wie Bolle. Uns aber beschleicht der Verdacht, dass ein hoher Prozentsatz der Besucher sich privat exakt so verhält wie die Passantin auf dem Dortmunder Westenhellweg (die natürlich von einer Darstellerin gespielt wird). Vom Moderatoren-Team nach ihrer Meinung zur „Die Show“ befragt, sagt sie mit Nachdruck in die Kamera, dass diese natürlich entsetzlich sei, ein menschenverachtender Dreck, der eigentlich verboten werden müsste. „Sie werden die Sendung also nicht sehen?“, hakt das TV-Team nach. Da lächelt die Frau verschmitzt: „Das habe ich nicht gesagt…“

Bis 24. Januar 2016. Ticket-Hotline 0231/50 27 222. Informationen: www.theaterdo.de/detail/event/die-show/




Auf der Suche nach dem Wesen Westfalens – eine Schau wie aus dem Füllhorn

Was bedeutet heute noch das Wort „westfälisch“, was war und ist sein Wesenskern? Gibt es ein Gemeinschaftsgefühl der Einwohner Westfalens? Mit derlei gewichtigen Fragen hantiert jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte.

Rund 800 Exponate – hie und da kleinteilig gezählt – bietet man für die Schau „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ auf. Die historische Maßzahl leitet sich vom Wiener Kongress her, nach dem Westfalen anno 1815, fast schon exakt in seinen heutigen Grenzen, zum Bestandteil Preußens wurde.

Weitaus älter als das Rheinland

Harry Kurt Voigtsberger, Präsident der Nordrhein-Westfalen-Stiftung, hält dafür, dass es Westfalen sozusagen „schon immer“ (erste Erwähnung im 8. Jahrhundert) gegeben hat, während das Rheinland sich erst ganz allmählich als solches verstanden habe. Auch Dortmunds OB Ullrich Sierau gab sich bei der Pressevorbesichtigung amtsgemäß lokal- und regionalpatriotisch. An die Frage, ob nun Münster oder Dortmund die wahre Westfalenmetropole sei, wurde dabei jedoch nicht gerührt.

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Es schwirrten jedoch kleine Pfeile in Richtung Düsseldorf und Köln. Die Westfalen, so hieß es, halten, was die Rheinländer versprechen. Fast hätte man denken können, hier ginge es nicht in erster Linie um eine Ausstellung, sondern vor allem um eine regionalpolitische und touristische Maßnahme zur Stützung des manchmal etwas vernachlässigten Teils von NRW. Schirmherrin der Schau ist übrigens NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die auch zur Eröffnung sprechen wird.

Klischees und ihre Kehrseite

Es ist wohl nur folgerichtig, dass die Ausstellung gleich zu Beginn die Klischees aufgreift, die über Westfalen seit langer Zeit in Umlauf sind. Demnach sind die hiesigen Landsleute bodenständig, verwurzelt, stur, manchmal auch ein wenig rückständig und provinziell. Das alles kann man natürlich auch positiv wenden. Hier, so die wohlwollende Lesart, macht man eben kein überflüssiges Tamtam, man ist traditions- und kostenbewusst, während man am Rhein immer gleich loslegen will, koste es, was es wolle.

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Was aber bekommt man in Dortmund zu sehen? Nun, lauter angehäufte Schauwerte, überwiegend dicht an dicht. Hier steht ein Pferd, dort ein Kleinstwagen, dazwischen sieht man das Wohnzimmer eines Bergmanns und seine noch von Kohlenstaub geschwärzte Berufskleidung. In diesem Ambiente dürfen die Besucher sich auch vors alte Röhrenfernsehgerät setzen und betagte Broschüren durchblättern, wobei ihnen besagtes Pferd über die Schulter schaut und nicht etwa das Westfalenross darstellt, sondern ein Grubenpferd, das sein Gnadenbrot bekommt.

Hin und her durch die Zeiten

Einige Schritte weiter ist eine Dortmunder Kneipe der 1950er Jahre aufgebaut, nebenan prangen Dampfmaschinen- und Eisenbahnmodelle, die für die Zeit der Industrialisierung stehen. Eine mit Original-Mobiliar nachempfundene Amtsstube soll uns derweil in die Zeit des Freiherrn vom Stein zurückversetzen, der als preußischer Reformer auch die frühen Geschicke Westfalens bestimmte.

Noch ein Zeitsprung: Zwei Jungs aus Waltrop haben ihr heimisches Zimmer ins Museum gegeben – mitsamt jeweiliger Fan-Bettwäsche. Der eine steht auf den BVB, der andere auf Schalke. So dicht beieinander, wirkt das schwarzgelb-blauweiße Farbenspiel schon beinahe schockierend. Aber gut. Man ist ja tolerant. Beides gehört zu Westfalen.

Es ließen sich noch etliche, mehr oder weniger kuriose Exponate aufzählen, beispielsweise ein als zoologische Rarität präsentiertes Mischwesen („Gänseziege“), das allerdings auf einen Scherz des einstigen Münsteraner Zoodirektors Hermann Landois zurückgeht, der mit seinem bizarren Einfall Besucher anlocken wollte. Hübsche Anekdote. Landleben, Schützenfeste, Karneval und manches andere Thema werden gleichfalls gestreift.

Und. Und. Und. Kurzum: Man fühlt sich insgesamt ein wenig hin- und hergezogen und wähnt sich manchmal gar in einem Labyrinth.

Freihändige Leihgaben der Heimatvereine

Nun war zur Pressekonferenz noch keine Beschriftung der Ausstellungsstücke vorhanden, die Veranstalter haben terminlich „auf Kante genäht“. Somit bleibt zunächst der Eindruck eines Füllhorns, ja eines Wunderkammer-Sammelsuriums, das zuweilen reichlich assoziativ arrangiert worden ist. Mag sein, dass sich all dies im fertigen Zustand besser erschließt. Auch dürfte man sich dann besser in gewisse Einzelheiten vertiefen können. Ein Motto der Ausstellung lautet jedenfalls „Mach dir dein eigenes Bild“. Ja, diese Freiheit wird man sich wohl nehmen müssen.

Zu den 136 Leihgebern zählen zahlreiche westfälische Heimatvereine, deren Dachverband heuer sein hundertjähriges Jubiläum begeht. Die Vereine durften Stücke nach Gusto einreichen, das vielköpfige Ausstellungsteam (Kuratorinnen: Dr. Brigitte Buberl, Carina Berndt) musste dann halt zusehen, ob sie im Konzept unterzubringen waren. Keine leichtes Unterfangen, fürwahr.

Wandelbares Territorium

Die Schau ist in sechs Hauptbereiche gegliedert, welche da heißen: Prolog, Gewächshaus, Siedlung, Horizont, Archiv und Territorium. Klingt nach knirschender Kopfarbeit. Das „Territorium“ wird sich im Laufe der Ausstellungsdauer zweimal grundlegend verändern und vorherige Bestände ins Archiv auslagern. Anfangs steht der Aufbruch in die Moderne im Fokus, hernach wird es ab November u. a. um Wasser als Triebkraft gehen (Talsperren, Kanäle etc.) und schließlich ab Januar 2016 um Einwanderung und Integration in Westfalen. Man hat dies wohl aus nahe liegenden Gründen als Pflichtprogramm verstanden.

Nun verraten wir noch, was es mit dem genannten Kleinstwagen auf sich hat. Es ist ein Kleinschnittger-Cabrio aus den 50er Jahren, hergestellt im westfälischen Arnsberg. Das heute niedlich wirkende Fahrzeug hatte keinen Rückwärtsgang. Und was lernen wir daraus? In Westfalen blickt man nicht nur zurück, sondern oft auch ganz entschieden nach vorn.

„200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ 28. August 2015 bis 28. Februar 2016 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Tel.: 0231/2 55 22. www.mkk.dortmund.de in Kooperation mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Westfälischen Heimatbund.

Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 19,90 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm, außerdem Aktionen wie Westfälische Büffets und „Selfie“-Fotos an bestimmten Punkten der Ausstellung.

Die Schau wandert – in verkleinerter Form – ab Mai 2016 in neun weitere westfälische Orte: Wadersloh, Brilon, Höxter-Corvey, Lüdenscheid, Lüdinghausen, Bünde, Gescher, Minden und Paderborn.




Von Fledermäusen und Menschen: „Die Franzosen“ nach Proust auf der Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Ein letztes Mal blendet das Licht, das durch die alten Fabrikfenster hereinscheint, grell die Augen. Dann senkt sich die Dämmerung über die Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort von Krzysztof Warlikowskis „Die Franzosen“ nach Marcel Proust bei der diesjährigen Ruhrtriennale.

Nun übernehmen die Nachttiere die Herrschaft über den Raum. Ein flinker Schwarm Fledermäuse durchflattert eine Szenerie, in der sich der Abgesang auf ein dekadentes Europa in nahezu fünfstündiger Spieldauer entfaltet. Nun, Europa ist ja auch sehr alt, so braucht ebenfalls sein Niedergang einige Zeit; Zeit, bis die materiellen, seelischen, psychologischen, politischen und gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse greifen und ihr Gift entfalten.

Die kleinen Vampire und unfreiwilligen Mitspieler kümmert dies indes nicht, sie haben auch kein Sprachproblem: Die polnische Aufführung ist zwar deutsch und englisch übertitelt, doch in dialogreichen Szenen werden hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit der Zuschauer gestellt, wenn sie gleichzeitig die Aktionen der Schauspieler mitverfolgen möchten. Doch wer sagt, dass Proust einfach sein sollte? Dazu ist sein Werk schlicht zu komplex und fordert, dass man sich darauf einlässt, sonst hat man nichts davon.

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Warlikowski hat denn auch einige Themen aus dem vielschichtigen Romanzyklus stärker gewichtet und sich auf diese konzentriert: Die Dreyfus-Affäre und der damit zusammenhängende Antisemitismus nehmen reichlich Platz ein, zumal diese Fragen heute unter anderen Vorzeichen wieder virulent sind. Auch das Thema Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt die Inszenierung.

Nicht zuletzt blicken wir auf die Nachtseite der menschlichen Begierden, seien sie auf Männer oder Frauen gerichtet, und die Gewalt, die dies zwischen Menschen erzeugt. Tatsächlich wird hier in mancher Szene, beispielsweise zwischen Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska), statt mit Prousts psychologischem Florett mit gröberen Waffen gekämpft und handgreiflich gerungen, wenn es um Eifersucht geht.

Die Lebedame ist nicht mehr in Musselinstoff gehüllt, sondern trägt rote Dessous und Stöckelschuhe und Oriane de Guermantes (Magdalena Cielecka), die vornehmste aller adeligen Damen, sieht mit Designer-Mini, blondiertem Haar und High-Heels eher nach rotem Promi-Teppich mit einem Schuss ins Gewöhnliche aus, denn nach wahrer Aristokratie. Aber wo sind sie überhaupt geblieben, die Aristokraten? Aus Baron de Charlus (Jacek Poniedzialek) wird im Laufe des Stücks eine Art Karl Lagerfeld-Verschnitt, mehr haben wir Heutigen nicht mehr aufzubieten. Wenn das schon der Gipfel der europäischen Kultur und Lebensart sein soll…

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Deswegen tickt denn auch überm Bartresen, der die ganze Länge der Bühne einnimmt, unweigerlich die Uhr und der Geiger Morel (Piotr Polak) ist ganz profan zum DJ geworden. Die Aristokratie sitzt derweil in einer Art gläsernem Salonwagen wie in einer Zeitkapsel und ergeht sich in Klatschgeschichten.

Merkt denn keiner, dass draußen schon der Erste Weltkrieg heraufdämmert? Seine Auswirkungen muten dann eher an wie die der Tschernobyl-Katastrophe und der Berserker im Ganzkörper-Schutzanzug fegt den letzten Rest edles Porzellan mit einem Wisch vom Tisch. Da kann auch Phädra (Agata Buzek) nicht mehr helfen, die, wie um einen Rest klassische Bildung hochzuhalten, verzweifelt ihre Rolle deklamiert. Einst spielte Rachel diese Glanzrolle, die Geliebte Saint-Loups (Maciej Stuhr), der dann aber Gilberte, die Tochter von Odette und Swann heiratete…aber, ach, was, wer kennt noch diese alten Geschichten und diese längst vergessenen Leute? Selbst die Fledermäuse nicht und wenn, dann könnten sie es uns nicht erzählen, denn sie funken auf einer ganz anderen Frequenz als wir, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, diese feinen Töne in lärmenden Zeiten…

Karten und Termine:
www.ruhrtriennale.de




Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann – Creative Commons/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gergor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.




Die Babywälder füllen sich mehr und mehr

Man kennt ja das angeblich chinesische Sprichwort: Ein Mann müsse im Leben ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt, ein Buch geschrieben und einen Sohn gezeugt haben. Nun ja, das mit dem Sohn wurde hierzulande gendermäßig mit „Kind“ getauscht, aber ansonsten sind das doch hehre Ziele. Zumindest das Baumpflanzen gut neun Monate nach der Zeugung setzt sich immer mehr durch – im „Babywald“, wie das Phänomen heißt.

Pflanztag im Hasper Babywald. (Foto Pöpsel)

Pflanztag im Hasper Babywald. (Foto: Pöpsel)

Meist in Kooperation mit den Krankenhäusern der Region sind vor etwa 15 Jahren die ersten Babywälder entstanden. In einem Forstbezirk oder bei Landwirten können die Eltern eines Neugeborenen, aber auch Paten, Großeltern oder Freunde einen Baum pflanzen, an dessen Stützpflock ein Schildchen mit dem Namen und dem Geburtstag des Kindes genagelt wird. Daraus ensteht dann nach und nach ein neuer Wald oder eine Streuobstwiese wie in Hagen-Haspe.

Pflanzen im Babywald kann man zum Beispiel in Gelsenkirchen und in Neuenrade, in Iserlohn, Herdecke und Menden, und wenn das Pflanzgebiet in Schwerte-Wandhofen mit 400 Bäumchen nicht schon ausgefüllt wäre, ginge der Betrieb auch dort weiter.

In Hagen-Haspe zum Beispiel begann man vor 13 Jahren zusammen mit dem Evangelischen Krankenhaus „auf dem Mops“, eine Fläche nahe der Hinnenwiese mit jungen Obstbäumen zu füllen. Die Bepflanzer müssen vorher eine Gebühr überweisen und sich entscheiden zwischen Apfel, Kirsche oder Pflaume. Zwei Mal im Jahr gibt es dann einen Pflanztag, und dabei helfen das Forstamt und die Freiwillige Feuerwehr.

Für die Obstbäume gibt es sogar eine Anwachsgarantie: Wenn ein Apfelbäumchen nicht so recht will, dann wird es eben durch einen neuen ersetzt. Und weil in Haspe so fleißig gepflanzt wird, ist der erste Babywald schon voll. Im letzten Herbst begann man deshalb auf einer anderen Wiese, und das Schönste ist: Wenn das im Babywald gewürdigte Kind einmal größer ist, dann darf es aus Herzenslust die Äpfel, Pflaumen oder Kirschen von seinem eigenen Baum ernten und verzehren.




Aseptische Ereignislosigkeit: Die „Orfeo-Installation“ der Ruhrtriennale

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Die arme Eurydike. Isoliert hockt sie in Zimmern herum, die wie eine Vorhölle aus Plastik anmuten, wie ein aseptischer Albtraum zwischen Disneyland und Reha-Klinik. Sprechen kann sie nicht, denn eine Gummimaske mit wulstigen Lippen nimmt ihr Gesicht und Alter.

Geklont wurde sie offenbar auch, denn wir, die Besucher der Ruhrtriennale, begegnen auf unserem Gang durch das Labyrinth neongrell erleuchteter Zellen rund einem Dutzend Eurydikes mit wasserstoffblonden Perücken, die hier ein ebenso rätselhaftes wie freudloses Dasein fristen.

Von Orpheus weit und breit keine Spur. Aber die Musik, die der Komponist Claudio Monteverdi dem sagenumwobenen Sänger der griechischen Mythologie auf den Leib schrieb, begleitet uns als Soundtrack auf dem Weg. Sein Meisterwerk „Orfeo“, das als erste Oper der Musikgeschichte gilt, hallt durch die Weiten der Mischanlage der Essener Zeche Zollverein, wenn auch nur auszugsweise und häufig von elektronischen Klängen überlagert. Gespielt vom 2006 in Berlin gegründeten Solistenensemble Kaleidoskop, lassen die himmlisch reinen Harmonien uns andere Sphären ahnen, gewissermaßen Luft von anderen Planeten, ohne die wir in der seelenlosen Banalität dieser Umgebung womöglich erstickten.

Für die 1977 geborene deutsche Regisseurin Susanne Kennedy, die für die jüngste Produktion der Ruhrtriennale erneut mit dem niederländischen Performance-Duo Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot zusammen gearbeitet hat, bildet Monteverdis Meisterwerk die Folie für eine Installation, die gut und gerne auch für die Kasseler Documenta taugen könnte. Mit Monteverdi als Stichwortgeber schuf sie eine rund 80-minütige „Sterbeübung“, die von den Besuchern in Gruppen zu maximal acht Personen zu absolvieren ist. Bewusst lässt sie die Figur des Orpheus links liegen, um sich auf die vermeintlich vernachlässigte Eurydike zu konzentrieren und uns so zum Nachdenken über Leben und Tod zu bringen.

Ein bisschen geht es dabei zu wie im Yoga-Unterricht, denn vieles dreht sich um die Kunst des Loslassens, die Orpheus bekanntermaßen nicht beherrschte, trachtete dieser Tropf doch danach, die verstorbene Eurydike durch seinen Gesang der Unterwelt zu entreißen. Und schaute dann auch noch im falschen Moment zurück. Wir aber sollen es besser machen, sollen das Unvermeidliche akzeptieren, wenn unsere Zeit gekommen ist. Dazu fordern uns Texte auf, die mal über Kopfhörer zu hören sind, mal über Video-Leinwände flimmern oder auf handgekritzelten Zetteln an den Wänden haften.

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röter/Ruhrtriennale)

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Wer kein Englisch versteht, ist bei dieser „Orfeo“-Installation übrigens ähnlich arm dran wie Zuspätkommer und alle, die kein festes Schuhwerk tragen oder nicht gut zu Fuß sind. Weder bietet das Triennale-Team Übersetzungen an, noch gibt es bei der „Sterbeübung“ Sitzgelegenheiten: Sie muss buchstäblich durchgestanden werden. Eine komfortable oder gar angenehme Erfahrung soll dieser „Orfeo“ keineswegs sein. Diesen Anspruch hatte die Regisseurin im Vorfeld formuliert. Dass sie ihn einlöst, kann freilich auch als zweischneidiges Schwert betrachtet werden. Der Besucher muss sich dieser Produktion aussetzen, ihre Ereignislosigkeit ertragen, denn über weite Strecken kann er nichts weiter tun, als verlegen herumzustehen und den starren Blick der Zombie-Eurydikes zu erwidern.

Wenn wir endlich sitzen dürfen, sind wir in einem Wartezimmer wie beim Hausarzt. Wir warten auf unseren Aufruf, mit zunehmend mulmigen Gefühlen. Denn keiner derer, die von den stummen Eurydikes durch zwei symbolbehaftete Türen hinaus geführt werden, kehrt zurück. Sie verlassen das Spiel, nehmen den Ausgang. Was mag sich hinter den letzten beiden Türen verbergen? Was haben jene gesehen, die uns verlassen? Wo gehen sie hin? Es kann keine Antworten geben. Für heute scheiden wir mit der inständigen Hoffnung, dass der Tod, wenn er uns holt, im Gegensatz zu Eurydike wenigstens keine Söckchen mit Delfin-Aufdruck trägt.

Bis 6. September 2015. Ticket-Hotline: 0221/280 210, Informationen und Termine: www.ruhrtriennale.de/de/orfeo




Portraitist der jungen Bundesrepublik – Bilder von Hans Jürgen Kallmann in Haus Opherdicke

02_RGB

Junger Orang-Utan, 1970, Tempera, Pastell (Bild: Kreis Unna)

Der Kopf von Bert Brecht ist so groß, daß er kaum auf das Blatt paßt; der Kopf von Franz Josef Strauß füllt kaum die Hälfte des Blattes und ähnelt in seiner halslosen Rundheit einer Bowlingkugel. Zufall? Vielleicht schon, zwischen den beiden Pastellen liegen fast 30 Jahre. Vielleicht aber auch nicht. Der Maler Hans Jürgen Kallmann, der von 1908 bis 1991 lebte und dem der Kreis Unna nun in Haus Opherdicke eine Ausstellung ausrichtet, hatte Humor.

Kallmanns Kunst ist anspruchsvoll, aber nicht sperrig, war es wohl auch zu keiner Zeit. Natürlich probierte der junge Mann vieles von dem aus, was in den 20er, 30er Jahren in der Malerei als modern galt, versuchte sich in impressionistischen und expressionistischen Bildauffassungen – doch wenn man durch die Bilderschau im Obergeschoß wandert, sieht man schnell, daß größte Stärken in der Abbildung von Menschen und Tieren liegen.

„Entarteter Künstler“

Den Tieren verdankt Hans Jürgen Kallmann sozusagen seine Einordnung als „entarteter Künstler“, 1937 bereits. Wenn Geschichten wie diese im mörderischen Rassenwahn der deutschen Nationalsozialisten nicht einen so ernsten Hintergrund hätten, müßte man über sie lachen. Eins der Kallmann-Bilder nämlich, die die Nazis aus Ausstellungen in Köln und Berlin entfernten, zeigte eine „Hyäne in der Nacht“, an der den Machthabern mißfiel, daß eine „rassisch minderwertige“ Tierart Hauptthema eines Bildes war. Auf so was muß man erstmal kommen. Hans Jürgen Kallmann konnte mit dem Stigma des „entarteten Künstlers“ einigermaßen leben, wenngleich er bis zuletzt Angst vor Diffamierung und weiterer Repression hatte.

11_RGB

Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1963, Pastell (Bild: Kreis Unna)

Und nach dem Krieg kam die große Zeit für den Künstler. Politisch unbelastet und dem angesagten Informel der Wirtschaftswunderzeit gegenüber eher ablehnend gestimmt, wurde er schnell zu einem der gefragtesten Portraitisten der jungen Bundesrepublik. Konrad Adenauer, der erste Kanzler, hatte mehrere Sitzungen bei Kallmann, in denen 17 Pastelle entstanden sowie das Ölbild, das im Bundeskanzleramt die Reihe der deutschen Kanzler eröffnet. Die Pastelle, die ähnlich wie Fotoserien verschiedene Perspektiven ausprobieren, gefielen „dem Alten“ – im Entstehungsjahr 1963 war Adenauer 89 Jahre alt – übrigens besser als das naturgemäß recht statuarische Endprodukt in Öl, erinnert sich die Witwe des Künstlers Dr. Gerda Haddenhorst-Kallmann. Sie hat er übrigens 1977 in Öl und im Profil gemalt und das Bild „Gerda in Burgunder“ genannt. Wahrscheinlich ist das burgunderfarbene Kleid der Gemahlin gemeint, doch läßt die Zubereitung „in Burgunder“ durchaus auch ans Essen denken. Ein „lecker Mädchen“ mithin in rheinischer Lesart. Der Maler hatte Humor.

Leuchtende Trompete

Den Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884-1963) hat er gemalt, den Philosophen Ernst Bloch (1885-1977), Papst Johannes XXIII (1881-1963) und viele mehr. Nicht alle Bilder entstanden nach persönlichen Begegnungen in Sitzungen. Louis Armstrong beispielsweise malte Kallmann in starker expressionistischer Verknappung, ein konzentrierter Mensch vor dunklem Grund, dessen Trompete, mit großen Händen gespielt, gelbgolden hervorleuchtet.

12_RGB

Der Schauspieler Max Proebstl in der Rolle des Falstaff, 1962, Öl auf Leinwand (Bild: Kreis Unna)

Überhaupt, die Künstler: Da geht die Reihe von der Opernsängerin Grace Bumbry bis zum Dirigenten Hans Knappertsbusch, vom Autor Rolf Hochhuth bis zur Schauspielerin Tilla Durieux (1880-1971).

Pastelle geraten nach der Natur, hin und wieder jedoch genehmigt sich der Künstler eine pointiertere Deutung seines Gegenübers, wenn er etwa den italienischen Schauspieler Lino Ventura (1919-1987) mit einer momenthaften, jedoch überaus charakteristischen abwägend-zögerlichen Gesichtsmimik zeigt, die optisch durch die vorgestülpte Unterlippe geprägt wird; oder wenn er sich – eine ungewöhnliche Anordnung – im Gespräch mit dem österreichischen Schauspieler Helmut Qualtinger (1928-1986) abbildet und Qualtingers Kopf in dem Bild viel, viel größer ist, als es nach der Natur sein könnte. Vermutlich ist dies eine tiefe Verbeugung des Malers vor dem intellektuellen Bühnenberserker, der an der Welt litt, dem Alkohol zugewandt war und zu früh starb.

Bilder aus Ismaning

Thomas Hengstenberg als Leiter des Fachbereichs Kultur und Sigrid Zielke-Hengstenberg als Kulturrefentin haben die rund 90 Arbeiten in Haus Opherdicke sinnhaft zusammengestellt und klug gegliedert. Die meisten von ihnen sind Leihgaben des Kallmann-Museums in Ismaning, wo der Künstler seit den frühen 60er Jahren lebte.

Bilder wie die jetzt gezeigten, die zahlreichen Pferdebilder zumal, gefallen vielen Menschen auch heute noch. Würde man sie deshalb gefällig nennen, wäre das ungerecht, weil dem Wort eine gewisse Geringschätzung anhaftet. Hans Jürgen Kallmanns Bilder sind harmonisch in Farbe und Strich, handwerklich untadelig, souverän proportioniert und, so weit es die Portraits betrifft, von psychologischer Genauigkeit. Außerdem bieten sie ein oft vergnügliches Wiedersehen mit berühmten Köpfen von früher. Ein großes Aufregerthema jedoch ist dieses Oeuvre nicht. Wer sich über Kunst aufregen will, braucht nicht nach Opherdicke zu kommen.

  • Hans Jürgen Kallmann, Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede.
  • 23. August bis 22. November 2015
  • Geöffnet Di-So 10.30 – 17.30 Uhr
  • Eintritt 4 €, Katalog 24 €
  • www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de



Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Klänge aus Arbeitswelt und Alltag bewahren – Tagung zum europäischen Projekt in Dortmund

Wer weiß noch, wie ein Webstuhl, eine Registrierkasse, ein Wählscheibentelefon oder eine mechanische Schreibmaschine geklungen haben? Eben. Längst nicht mehr alle.

Also ist es wohl an der Zeit, solche flüchtigen Geräusche zu sammeln und als kulturelle Zeichen für Mit- und Nachwelt zu bewahren. Was es damit auf sich hat, war jetzt Thema einer internationalen Expertentagung in Dortmund.

Anlass für Bilanz und Ausblick: Seit nunmehr zwei Jahren läuft das rund 500.000 Euro schwere EU-Projekt „Work with Sounds“, bei dem sechs Museen Klänge der Arbeit und des Alltags (Küchengeräte etc.) aufgenommen und systematisch erschlossen haben. Die Zusammenarbeit neigt sich vorerst dem Ende zu. Eine Fortführung ist noch fraglich. Reizvoll könnte es es sein, wenn noch mehr Länder mit anderen Traditionen mitwirkten. Dem ersten Ideengeber und Anreger des Projekts, Torsten Nilsson vom Arbetetsmuseum im schwedischen Norrköping, wäre es bestimmt recht.

(Nicht nur) akustische Kostprobe im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern: Wenn die alte Dampflok faucht, verschwindet auch schon mal ein Fotograf im Nebel... (Foto: Bernd Berke)

(Nicht nur) akustische Kostprobe im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern: Wenn die alte Dampflok faucht, verschwindet auch schon mal ein Fotograf im Nebel… (Foto: Bernd Berke)

Beteiligt waren bisher Arbeits- und Industriemuseen aus Krakau (Polen), Bistra (Slowenien), Tampere (Finnland), Brüssel (Belgien) und Norrköping (Schweden) sowie das Dortmunder LWL-Industriemuseum, wo heute eine auch optisch besonders imposante Klangkostprobe vorgeführt wurde: Eine alte Dampflokomotive machte ordentlich Zisch-, Fauch- und Pfeif-Geräusche. So herrlich sinnlich klingt kein ICE. Wie denn überhaupt die meisten Klänge der digitalen Jetztzeit seelenloser anmuten als die industriellen Vorläufer.

Unter den bisher rund 600 Tonaufnahmen (etwa 100 pro Museum) gab es zwar die eine oder andere Doublette, doch hat sich längst erwiesen, dass sich vermeintlich gleiche Geräusche in verschiedenen akustischen Umgebungen und Kontexten verändern. Manche Städte haben ihre ganz eigene Melodie. Doch auch derlei Unterschiede gehen tendenziell verloren. Ach, Europa!

Kenner der Materie achten freilich auf feine Differenzen und versichern, dass ein Webstuhl von 1920 anders rattert als einer von 1940. Überdies haben sich im Laufe des Projekts verschiedene Schwerpunkte ergeben. In den skandinavischen Ländern überwogen Geräusche der Holzverarbeitung, im Ruhrgebiet halt Klangfolgen (oder auch „Krach“) aus der Schwerindustrie. Apropos: Auch das „Lärmbewusstsein“ unterliegt historischem Wandel.

Bei all dem geht es nicht etwa um pure Nostalgie. Sicherlich weckt das eine oder andere Geräusch schwindender Gewerke vor allem bei Älteren wehmütige Erinnerungen, doch drehte sich die Tagung nicht zuletzt um konkrete praktische Nutzanwendungen.

So könnten etwa Museen von der akustischen Feldforschung profitieren und ihre Präsentationen künftig öfter gezielt mit Sounds anreichern – ein bislang arg vernachlässigter Weg, Besucher anzusprechen. Auch ist es denkbar, die Wahrnehmung von Demenzkranken mit klanglichen Erinnerungen anzuregen. Überhaupt wurde bei der Dortmunder Tagung in vielerlei Richtungen debattiert, so manche Disziplin konnte wahrscheinlich Sinnreiches beitragen.

Na klar, man kann sich die gesammelten Tonbeispiele selbst anhören. Die bisherigen Resultate des Projekts stehen online und sind frei zugänglich. Mehr noch: Man darf all diese Töne auch kopieren, kreativ verwandeln (schon entstehen erste Kompositionen) und bei Bedarf sogar kommerziell verwenden. Doch in erster Linie sind Künstler, Schulen und andere Bildungseinrichtungen eingeladen, sich zu bedienen.

Wie überall üblich, so werden auch für www.workwithsounds.eu die Klickzahlen registriert. Und welches Geräusch wurde mit Abstand am häufigsten aufgerufen? Der belgische Zahnarztbohrer. Worauf das wohl schließen lässt?




Symbiose im lokalen Journalismus: Wenn Rentner sich empören, frohlocken Redakteure

Es gibt ein Genre im Journalismus, auf das offenbar zunehmend zurückgegriffen wird. Wir wollen es mal probehalber „Rentner-Aufreger“ nennen. Oder auch Senioren-Empörung. Gewiss, auch ich bin nicht mehr der Allerjüngste und habe ein Herz für ältere Mitbürger. Nun aber dies:

Im Zeichen der personellen Ausdünnung von Print-Redaktionen ist es nur folgerichtig, dass die Kolleg(inn)en im Lokalteil noch mehr als ehedem auf Thementipps aus der Bevölkerung angewiesen sind. Da trifft es sich im Sinne einer Symbiose, dass viele Senioren wie die Spürhunde auf Ärgernisse aus sind. Man denke nur: Es soll unter ihnen sogar einige Querulanten geben.

Polyglotte Briefkasten-Beschriftungen (Foto: BB)

Polyglotte Briefkasten-Beschriftungen (Foto: BB)

Jedenfalls scheint es so, als müssten diese Kameraden nur mal eben kurz in der Redaktion anrufen und ein wenig mosern – und schon eilt „ein Reporter“ (so nennen viele die Zeitungsleute allesamt) herbei, um sich alles „in den Block diktieren zu lassen“ (so hätten sie’s gern).

Bei akuter Personalnot lassen Redakteure so etwas dann gern auch mal ohne jede zusätzliche Recherche und ohne Gegenstimme laufen. Die andere Seite (Stadt, Firma, Institution etc.) kann sich ja in der nächsten Ausgabe immer noch äußern. Auf diese Weise hat man schon zwei Berichte zur selben Sache beisammen. Das füllt. Das räumt ganz prächtig. Und wieder einmal ist auf wundersame Weise genau so viel passiert, dass es exakt in die Zeitungsspalten passt.

...und noch ein paar Sprachen. (Foto: BB)

…und noch ein paar Sprachen. (Foto: BB)

Ich weiß nicht, wie es in anderen Landstrichen ausschaut. Jedenfalls finden sich auf den Stadtteilseiten einer gewissen Ruhrgebiets-Regionalzeitung (viele sind ja nicht mehr übrig) täglich (jawohl, tagtäglich!) die dürftigen Resultate, garniert mit den immergleichen, fast durchweg reichlich dilettantischen Fotos:

Rentner stehen mit vorwurfsvollem Blick und – je nach Temperament – dito Gesten vor oder neben Spuren und Anzeichen jenes Vorfalls, der sie aufbringt und der nun aber auch gefälligst die Leserschaft zur Weißglut bringen soll. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die überwiegende Mehrheit des Publikums solcher sublokalen Hervorbringungen in derselben Altersgruppe vermutet, wie die Beschwerdeführer.

Das schier unendliche Spektrum der Anlässe für Unmutsbekundungen reicht von der vermüllten Straßenecke über die angeblich vielfach missachtete Tempo-30-Zone bis zum Buschwerk, das den Bürgersteig überwuchert. Jüngst waren vermeintlich absurde Berechnungen für Grundstücksabgaben der Renner. Grundmuster: Rentner zeigt auf Stichstraße, die ihm zugerechnet wird und – nach seiner Ansicht – die Kosten unnötig in die Höhe treibt. Sie fühlen sich beinahe schon enteignet. Und werden pampig.

Unterdessen wähnt sich die Zeitung „ganz nah am Leser“. Hier deckt sie gnadenlos Missstände auf, am liebsten mit Stoßrichtung gegen die Bürokratie. Gewiss, da gibt es auch tatsächlich manchen Sachverhalt, über den man sich echauffieren könnte.

Auf Dauer bekommt man freilich den Eindruck, dass hier jede(r) – thematisch ziemlich ungefiltert – jeglichen Zorn öffentlich loswerden kann. Immerhin werden meist keine Wutausbrüche und Kraftworte gedruckt, wie sie im Internet längst üblich sind. Insofern fungieren Journalisten noch als „Gatekeeper“. Aber sonst stehen manche Tore sperrangelweit offen.




„Ein junger Mann mit Schmerzen zu sein“ – Arno Geigers „Selbstporträt mit Flusspferd“


Geiger_24761_MR2.indd
Julian ist Student der Veterinärmedizin, Eigentlich würde er gerne erwachsen werden, aber sonderlich Kluges ist ihm dazu noch nicht eingefallen. Karate vielleicht, das verleiht Kontrolle. Aber sonst?

Einstweilen suhlt sich Julian in Selbstmitleid, denn er durchlebt gerade seine erste Trennung. Außerdem ist er jung und braucht Geld. Unter anderem, um Schulden beim Vater der Verflossenen auszulösen für den Mietzins, den dieser im Nachgang für die bei seiner Tochter verbrachten Nächte erhebt.

Also nimmt der gute Julian einen Ferienjob an und kümmert sich bei einem verschrobenen Professor um ein Zwergflusspferd. Das wenig possierliche, aber Julian schnell an sein gequältes Herz wachsende Tier frisst, gähnt, taucht, schläft, stinkt vor sich hin und bestimmt so den Rhythmus von Julians Sommer. Da bleibt genug Zeit, um sich nebenbei mehr oder weniger aussichtslos in Aiko, die Tochter des Professors, zu verlieben und beunruhigt die Katastrophenmeldungen in den Nachrichten zu verfolgen. Theoretisch bliebe auch genug Zeit, um seinen Platz in der Welt zu finden, aber ach. Ach.

Soweit das doch recht dürftige Handlungsgerüst von Arno Geigers neuem Roman „Selbstporträt mit Flusspferd“. Willkommen im beliebtesten Genre für larmoyantes Selbstmitleid: dem Coming-of-age-Roman. Fast will es scheinen, als hätte dieses Genre dem Oeuvre des gefeierten Schriftstellers Geiger noch gefehlt, so spürbar ist das Werk von dem Willen getragen, sich um jeden Preis auch damit in die Literaturgeschichte einzureihen. Bedauerlich kommt beim Lesen recht schnell der Punkt, an dem man sich fragt, ob er mit diesem Willen nicht deutlich übers Ziel hinausgeschossen ist.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ist für seine vorherigen Werke vielfach ausgezeichnet worden, 2005 erhielt er gar die hohen Weihen des Deutschen Buchpreises für „Es geht uns gut“. Alltagshelden und ihr mal mehr, mal weniger spannendes Leben sind sein bevorzugtes Sujet. War es diesmal sein Ziel, das Porträt eines Langeweilers zu schreiben?

Bis knapp zur Hälfte liest es sich noch ganz gut, man weiß zwar nicht so ganz, warum man das jetzt unbedingt lesen sollte, aber man bleibt dran in der Hoffnung, man werde schon verstehen, worauf es hinausläuft. Nur leider wartet man vergebens. Irgendwann weiß auch der begriffstutzigste Leser, dass Julian sich leid tut und warum. Hingegen wird er nicht wissen und auch nicht erfahren, warum es so schwer ist, sich aus dem Lamento zu befreien. Dabei graust es Julian „vor einer Zukunft, in der er zurückblickt auf Tatenlosigkeit“, doch er findet den Weg an sich selbst vorbei nicht. Da hilft auch die gewünschte Beziehung zu Aiko nicht. Stereotypen wiederholen sich und sonst nichts.

Julians Ganztagsbeschäftigung ist am Anfang und am Ende dieselbe: „Ein junger Mann mit Schmerzen zu sein.“ Sein Ego kann er nur im Vergleich mit anderen bemessen, und das fällt nur in den seltensten Fällen zu seinen Gunsten aus. Es bedarf schon eines zerschlissenen Bademantels, in dem seine Mitbewohnerin durch die Küche schlurft, damit er sich erhabener fühlen kann. Weltfremdheit muss man sich leisten können und Julian kann es ganz offensichtlich nicht. Im Gegensatz zum Flusspferd haltenden Professor, dessen Figur ein gewisses Potential hat, aber um dessen Selbstporträt geht es hier nicht.

Die Idee, das Flusspferd zum Spiegelbild der eigenen Befindlichkeiten zu machen, trifft es da ganz gut. Denn das Flusspferd ist in erster Linie nur eines: lethargisch (und wenn der gute Julian noch so sehr die „Schönheit dieses rundlichen, schwarzgrünen Geisterwesens“ verklärt. ) Natürlich verleiht das Tier eine gewisse exotische Komponente, doch letzten Endes ist auch mit Flusspferd Julians Alltag nicht einmal surreal, sondern einfach nur banal. Diese Banalität durchdringt letzthin alles, auch Geigers schönen flüssigen Erzählstil. Lichtblicke sind die sich gegen die allgegenwärtige Lethargie wehrenden Nebenfiguren, angefangen beim bereits erwähnten Professor über seine einen trotzigen Bezug zur Gegenwart lebende Tochter bis zum pragmatischen Freund Tibor, der findet, Verzicht eh nichts bringt, weil „der Kuchen so oder so aufgefressen wird“.

Richtig unangenehm wird das Buch an den Stellen, an denen Julian das Elend aus den Nachrichten für seine persönliche Betroffenheits-Profilierung missbraucht. Natürlich schreckt ihn das Weltgeschehen, aber es reicht ihm, einfach alles nur schrecklich zu finden und zu verurteilen, um zu einem besseren Gefühl seiner selbst zu finden. Das Fehlen von politischem Bewusstsein ist zum einen erschreckend, zum anderen wohl typisch für unsere Zeit, in der jeder auf eine schreckliche Nachricht erstmal damit reagiert, sich selbst in eine gewünschte Position zu bringen und diese zu verbreiten. Auch an diesen Stellen bleiben in Summe nur epische Selbst-Bespiegelungen und handelsüblicher Narzissmus.

Arno Geiger: „Selbstporträt mit Flusspferd“. Roman. Hanser Verlag, 288 Seiten, €19,90.




Die Sinnlichkeit der Moderne – ein Konzert ehrt den Triennale-Begründer Gerard Mortier

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Johan Simons, der neue Intendant der Triennale, weiß, wem er zu Dank verpflichtet ist. Dem „Freund und Vorbild“ Gerard Mortier, der, nicht zu vergessen, auch entscheidender Wegbereiter war.

Mortier, Gründungsintendant des Ruhrgebietsfestivals (2002 bis 2004), hat den Jüngeren von Beginn an ins Regieboot geholt, auch und gerade, wenn es um die Inszenierung der neu erdachten „Kreationen“ ging. 2014 starb Mortier; ihm hat Simons nun das erste Konzert der Triennale gewidmet, mit Werken der Moderne, für die sich der Geehrte zu Lebzeiten stets eingesetzt hatte.

Moderne heißt in diesem Fall Musik des 20. Jahrhunderts, der Bogen spannt sich von Ferruccio Busoni über die Zwölftöner Berg und Webern, hin zu Messiaen und Giacinto Scelsi. Überwiegend kammermusikalisch besetzt, erweist sich dabei das Klangforum Wien als Meister farbenprächtiger Vielseitigkeit. In der Duisburger Gebläsehalle tönt es schroff und geschmeidig, dramatisch und bisweilen auch ein wenig kühl. Denn das Orchester mag das Sinnliche hervorheben, kann indes den analytischen Zugang zu dieser Musik nicht überspielen.

Das liegt nicht zuletzt an den beiden Dirigenten, die im Wechsel am Pult stehen. Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico bringen Klarheit ins Notengeflecht, setzen exakte Akzente. Lineare Verläufe können atmen, rhythmische Passagen sind kraftvolle Kontrapunkte, Klangfelder öffnen sich in aller Transparenz.

Entsprechend gelingt es nur bedingt, sich dem klingenden Geschehen ganz und gar hinzugeben. Am liebsten noch lassen wir uns von den süffig morbiden „Altenberg Liedern“ Alban Bergs umspülen. Rausch und Exaltation, aber auch sanfte Elegie inbegriffen. Zumal die Sopranistin Sarah Wegener mit wunderbar warmer Stimme oder geheimnisvollem Flüsterton die Texte Peter Altenbergs interpretiert. Und wenn sie die höchsten Höhen erklimmt, wähnen wir uns ohnehin ins Sphärische katapultiert.

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters.  Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Anderes wirkt bodenständiger, dafür mutet es fremd an. Was Wunder, wenn etwa Busoni in seiner Studie für Streicher, sechs Bläser und Pauke indianisches Melos einflicht. „Gesang vom Reigen der Geister“ nennt er dies, 1915 komponiert, eine Musik, die zwischen Exotismus, einem Rest Romantik und neuer Sachlichkeit pendelt. Indisches Couleur wiederum lässt Scelsi knapp 60 Jahre später in „Pranam I“ erklingen, in Form einer virtuosen Lautmalerei, die Natalia Pschenitschnikova gekonnt umsetzt, während ein Tonband percussive Akzente liefert, alles eingebettet in große Klangflächen.

Als Meister der Farbe aber erweist sich zum Schluss der große französische Mystiker Olivier Messiaen, dessen Werk Gerard Mortier immer wieder in den Mittelpunkt der Triennale stellte. In den „Couleurs de la Cité Céleste“ will der Komponist nichts weniger als die Farben des Himmels in Klang umsetzen. Mit Flöten, Trompeten, Posaunen und Tuba, mit Xylophonen und Gongs, Glocken und Klavier. Orchester und Dirigent Cambreling loten sorgsam das dynamische Spektrum aus, arbeiten rhythmisch genau. Die Musik mit ihren stilisierten Vogelgesängen und riesenhaften Spreizklängen ist überwältigend. Großer Beifall.




Klugheit und Kraft bei der RuhrTriennale

Dass der Gründungsintendant Gerard Mortier nicht vergessen wird, dafür sorgte endlich eine Hommage in der Gebläsehalle Duisburg. Der jetzige Intendant Johan Simons hat diesen Abend zu Ehren seines verstorbenen Freundes eingerichtet. Das Klangforum Wien musizierte Werke von Scelsi, Busoni, Berg, Webern und Messiaen, Lieblingskomponisten von Mortier. Es dirigierten Emilio Pomàrico und Sylvain Cambreling.

Simons betonte in seiner kurzen Einführungsrede die Klugheit des ersten Triennale-Intendanten, seine umfassenden Kenntnisse in der Musik, der Architektur, der Literatur und auf vielen anderen Gebieten. Er sei ihm immer ein Freund gewesen und einmal sogar Dramaturg bei der Umsetzung des Buches „Milch und Kohle“ von Ralf Rothmann, unterfüttert mit dreizehn Arien von Verdi. „Sentimenti“ ist bis heute in Erinnerung. Es war ein würdevoller Abend und man hatte das Gefühl, gleich käme Mortier, der Meister der Vermittlung, auf die Bühne, um sich bei Künstlern und Publikum zu bedanken.

Tanz-Kreationen im Salzlager

Am Samstagabend kam die Tanzproduktion „Model“ zur Premiere. Richard Siegal bereist die Welt und schöpft daraus. Er konfrontiert das Publikum mit seinen unterschiedlichen und kraftvollen Tanz-Kreationen, dieses Mal im Salzlager auf Zollverein in Essen. Partner ist das Bayrische Staatsballett. Ballett? Ja genau, hier bewegt sich der klassische Tanz in neuen Welten, abseits der Schwäne und ohne Dornröschen.

Model

Szene aus der Produktion „Model“ (Foto: Ursula Kaufmann/RuhrTriennale)

Es ist ein formaler Kraftakt, sieht nach Arbeit aus an einem Ort, der (wie fast alle der RuhrTriennale) dafür einmal vorgesehen war. Es war laut und grell und Schweiß wurde ohne Sonneneinstrahlung produziert.

Zehn Tänzerinnen und Tänzer, naturgemäß eine Verbindung von Grazie und Kraft, machen die Bühne zu einem Exerzierfeld für Bewegungen. Das Publikum ist im Zustand freudiger Erregung, von freudig erregter Zustimmung. Ich bin weniger enthusiasmiert.

Teil zwei warnt vor dem Einsatz von Stroboskop-Licht. Ohrstöpsel kann man sich zum Schutz gegen zu viel Lärm mitnehmen. Es ist aber kein Lärm, sondern eine Puls steigernde Musik, ein Sound, der an Krieg und Zerstörung, an Schwerindustrie und Herzschlag erinnert. Lichteinsätze fliegen durch den Raum und über die Gesichter des Publikums. Es geht zur Sache. Es werden LED-Texte eingeblendet: „For the rejected inferno and for the elected paradise.” Daneben sieht man das Angesicht eines Säuglings. Die Worte „nice“ und „easy“ werden kurz durch die Halle gejagt. Gnadenlos und zornreich geben die Tänzer alles.

Draußen regnet es wie Bindfäden. Die Nacht bricht herein. Das Leben geht weiter, sanft und hässlich, schön und böse – wie immer.

Erstmals ein Festivalzentrum

Zum ersten Mal hat die RuhrTriennale ein Festivalzentrum eingerichtet, das täglich Besucher empfängt. Die Großinstallation vor der Jahrhunderthalle wurde vom Atelier Van Lieshout aus Rotterdam konzipiert und eingerichtet. Verschiedene Skulpturen laden zur Besichtigung.

WCs im Festivalzentrum

WCs im Festivalzentrum (Foto: Rolf Dennemann)

Das Refektorium lädt zu Musik, Film und Performance. „The good, the bad and the ugly“ heißt diese komische und gleichzeitig ernste Installation im Kunstdorf. Sogar die Toiletten haben industrielles Flair. So schnell ist die Vergangenheit Vergangenheit – Schwerindustrie als Folie für modernes Design.




Passionsspiel in der großen Halle – „Accattone“ nach Pasolini bei der RuhrTriennale

„Accattone“ in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken: die erste große Produktion der diesjährigen Ruhrtriennale, bei der Festspiel-Intendant Johan Simons Regie führt und Philippe Herreweghe das Collegium Vocale Gent dirigiert. Vorlage des Stücks ist der gleichnamige Film von Pier Paolo Pasolini aus den 60er Jahren, in dem Gewalt, Prostitution und Armut allgegenwärtig sind. Am Wochenende war Premiere: Ein großes Spektakel, das die große Wirkung indes schuldig bleibt.

Johan Simons (c) Julian Röder

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons hockt auf Schienen, die zum Bühnenbild von „Accattone“ in der Kohlenmischhalle in Dinslaken gehören. (Foto: Ruhrtriennale/Julian Röder)

Im Mittelpunkt steht der Zuhälter Accattone und sein Niedergang bis zum suizidalen Unfalltod, den er, sterbend, als seine Befreiung empfindet. Eine düstere Geschichte in Gestalt einer christlichen Passion, was anzunehmen in Sonderheit die vom Collegium Vocale vollendet schön dargebotenen Bachschen Kantaten nahelegen. Sie trösten über einen Abend hinweg, der davon abgesehen wenig Erbauliches bietet.

Zugige Kohlenmischhalle

Das Theaterspiel – zu sehen gibt es eine Fassung von Koen Tachelet – hat Johan Simons gerade so inszeniert, wie man es von ihm kennt, frontal, burlesk und mit einigen grotesk überzeichneten Charakteren ausstaffiert. Mit solchen hemdsärmelig wirkenden Stilmitteln weiß Simon erstaunlich subtile Geschichten zu erzählen, weiß bedrückend klarzumachen, wie nah sich Liebe und Gewalt, Sexualität und Einsamkeit sein können.

Doch die riesige, zugige Kohlenmischhalle mit an die 200 Metern Raumestiefe braucht er dafür nicht wirklich. Die wenigen Situationen, in denen überhaupt einmal die Tiefe des Bühnenraums für Abgänge und ähnliches genutzt wird, hätte man ohne dramatische Verluste auch anders realisieren können. Das Collegium Vocale sitzt in den ganzen zweieinhalb Stunden der quälend langsam sich voranbewegenden Inszenierung auf seinem Podest, friert (wie die zahlreichen zum Einsatz gelangenden schwarzen Schals vermuten lassen) und musiziert – wie gesagt – vorzüglich.

Ein schmutziges Spiel

Eine Bühne im eigentlichen Sinn gibt es nicht, Darstellerinnen und Darsteller müssen sich auf staubiger Schotterfläche abarbeiten, fallen, liegen, hocken auf dieser unwirtlichen Unterlage und werden im Lauf der Vorführung immer dreckiger. Man hat Mitleid mit ihnen und fragt sich immer wieder, ob das für ein vollständiges Stückverständnis wirklich sein muß. Um so anerkennenswerter indes, daß das Ensemble hier eine durchaus respektable Leistung abliefert, allen voran Steven Scharf in der Titelrolle. Nicht so schön ist, daß die Deutschkenntnisse der niederländischen Darsteller ihre Grenzen haben, was dem Fluß der Dialoge nicht eben guttut.

Das soll mal reichen. Das Collegium Vocale Gent war am 16. August noch einmal zu hören, „Ich elender Mensch“ war der Abend überschrieben, und dies ist auch der Titel der ersten Kantate in „Accattone“. Ein weiterer Auftritt des Collegiums ist am 21. August, Titel: „Ich hatte viel Bekümmernis“. Beides in der Bochumer Jahrhunderthalle.

  • Weitere Termine: 19., 20., 22., 23. August, 20 Uhr, Kohlenmischhalle, Zeche Lohberg, Dinslaken
  • www.ruhrtriennale.de



Die Unternehmer-Familie Quandt und ihr Bezug zum Ruhrgebiet

Vor einigen Tagen ist Johanna Quandt, eine der reichsten Frauen der Republik, gestorben. Die Familie lebt zwar im hessischen Bad Homburg und mehrt dort ihr Vermögen mit den BMW-Besitzanteilen, aber es gibt seit langer Zeit eine enge Beziehung zum Ruhrgebiet. In Hagen gehörte das Unternehmen Varta zum Quandt-Kerngeschäft, und in Ennepetal lebte Günther Quandt, Johannas Schwiegervater, bis zu seinem Tod im Winter 1954.

Der Unternehmer war eng mit dem NS-Regime verbunden – geschäftlich und privat. Der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte ihm seine hübsche und zuvor schon untreue Frau Magda ausgespannt, und als nach der Scheidung Ende 1931 die Hochzeit mit Goebbels anstand, wurde sogar auf Quandts Gut Severin in der Nähe von Parchim (Mecklenburg) gefeiert – mit Adolf Hitler als Trauzeugen und Quandts ältestem Sohn Harald (10) als „Blumenkind“ in SA-Uniform. Die Braut war jene Magda Goebbels, die 1945 ihre fünf Kinder ermordete und sich dann selbst tötete.

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Günter Quandt wurde nach dem Krieg als nationalsozialistischer Mittäter von den Alliierten interniert, und als er 1948 frei kam, erwarb er in Ennepetal-Milspe eine Unternehmervilla von der Witwe Stockey als Wohnsitz für sich allein. Die Wahl fiel vermutlich auf diesen Standort, weil er nahe an der Varta-Zentrale in Hagen lag. Über Weihnachten 1954 unternahm Quandt eine Reise nach Ägypten, wo er am Tag vor Silvester starb.

Sein zweiter Sohn Herbert heiratete später die kürzlich verstorbene Johanna, die ihr Vermögen bereits vor ihrem Tod an die beiden Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt verschenkt hatte.

Zufälligerweise gibt es noch eine indirekte Verbindung nach Ennepetal: Günther Quandts erste Ehefrau Magda besuchte als junges Mädchen eine katholische Klosterschule in Vilvoorde bei Brüssel, bevor sie mit ihrer Familie nach Berlin zog, und diese Stadt Vilvoorde ist seit mehr als vier Jahrzehnten die belgische Partnerstadt von Ennepetal.

Quandts Villa ging nach seinem Tod von den Erben in den Besitz der Stadt Ennepetal über, die dort zeitweise ihr Bauamt einrichtete. Heute gehören Park und Villa einem privaten Investor.




Aber hallo, Herr Tuchel!

Aber hallo und nun mal halblang, verehrter Thomas Tuchel. Was Sie und die BVB-Mannschaft heute (vor allem in der ersten Halbzeit) beim 4:0 gegen die zuvor hoch eingeschätzten Gladbacher entfacht haben, das, ja das… wäre selbst zu Jürgen Klopps besten Zeiten noch ein Ausreißer nach oben gewesen.

Also müssen wir wohl gleich mal auf die Euphorie-Bremse treten: Der Gegner hat halt manches zugelassen. Es war auch Fortune im Spiel. Es war nur die erste von 34 Bundesliga-Partien. Und was dergleichen Runterbringer-Sprüche mehr sind. Aber etwas hibbelig werden wir jetzt doch – und scharren schon mit den Füßen, um die nächsten Begegnungen möglichst rasch zu erleben.

Rasanter BVB-Konter, heute vom Sky-Bildschirm abgeknipst.

Rasanter BVB-Konter, heute vom Sky-Bildschirm abgeknipst.

Nähme man das heutige Auftaktspiel zur neuen Saison zum Maßstab, so müsste man ein wenig übermütig werden. Tabellenplatz zwei hinter den Bayern (die mit Hamburg den leichteren Widersacher hatten) hat man wahrlich nicht unbedingt erwarten dürfen. (Und auf Rang drei hat sich gleich Schalke positioniert, als sollte es ein besonders guter Jahrgang für den Revierfußball werden.) Übrigens sangen die Dortmunder Fans heute gegen Schluss das „Steigerlied“…

Man möchte es schon jetzt nicht mehr hören, dass mit Trainer Tuchel beim BVB „mehr Akribie“ und gleichsam Wissenschaftlichkeit einkehre. Es mag ja etwas dran sein, doch kommt bestimmt noch einiges hinzu, weit über Berechnung und Rationalität hinaus. Zwar spielen sie keinen reinen Hurra- und Husaren-Fußball mehr, wie so oft in der jüngeren Vergangenheit, doch fehlen keineswegs die schwunghaften, rasanten, ja magischen Momente.

Zugegeben, auch ich habe zu jenen gehört, die Henrikh Mkhitaryan schon beinahe abgeschrieben hatten, nachdem er in der vorigen Spielzeit eine dermaßen traurige und melancholische Gestalt zu sein schien. Wie ist der Mann nur aufgeblüht! Es möge andauern.

Auch ein zwischenzeitlich geschmähter Ilkay Gündogan findet offenbar zu einstiger Stärke zurück. Und eine Neuverpflichtung wie Julian Weigl, von den zuletzt eher desolaten Münchner „Sechzigern“ gekommen, erweist sich bislang als Glücksgriff und weckt weitere Hoffnungen. Tuchel findet offenbar die richtigen Worte und Gesten, um den Spielern Selbstvertrauen einzuflößen. Sollte er tatsächlich der ideale Klopp-Nachfolger sein?

Es fällt auf, wie jeweils das ganze Team den Torschützen und Vorbereitern gratuliert. Der Mannschaftsgeist stimmt, wenn man derlei Zeichen richtig deutet. Und ja: Da wird streckenweise feiner, ja sogar feingeistiger Fußball zelebriert. Und man ahnt sogleich, warum Thomas Tuchel bestimmte Spielertypen, denen man nicht gar so viel Intelligenz nachsagt, lieber nicht in den Vordergrund bringt. Wir wollen natürlich keine Namen nennen.

Eine Prognose für die Saison? Ach, nö. Genießen wir die Freude des Augenblicks und die Vorfreude auf mehr.




„Wir optimieren uns zu Tode“ – eine großartige Rede zur Eröffnung der RuhrTriennale

Hyung-Chul Han

Byung-Chul Han (© S. Fischer Verlag)

Neben mir sitzt ein älteres Ehepaar, das sich pausenlos scharf in Streit befindet. Vorn umarmt die Kunst die Ministerriege. Es wirkt befremdlich in dieser Umgebung eines Stadtteils, dem in letzter Zeit der Ruf zuteilwurde, ein Salafisten-Nest zu sein.

Der Koreaner Byung-Chul Han ist Autor und Essayist sowie Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er hält die großartige Rede zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Dinslakens ehemaliger Zeche Lohberg, gefolgt von einer Live-Talk-Show unter der Leitung von Bettina Böttinger. Festivalchef Johan Simons weist zur Begrüßung darauf hin, dass die RuhrTriennale auch ein Festival der Debatten sein werde. Man mutmaßt also eine große Lust des Publikums auf Thesen und Diskussionen.

Die Fähigkeit zum Fest verloren

Byung-Chul Han setzt einen starken Beginn, indem er das „Fest“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. „Ohne Fest haben keinen Bezug mehr zum Glück“, sagt er und stellt fest, dass die RuhrTriennale kein Fest ist, sondern ein Event. „Ein Fest betritt man wie einen Raum. Man verweilt. Die Zeit des Festes ist die Zeit, die nicht vergeht.“  Die Fähigkeit, Feste zu begehen, quasi erfunden von den Griechen, sei verloren gegangen. Es folgt die Beschreibung der Gesellschaft aus seiner Sicht. Er bedauert die Entpolitisierung der Kunst und der Politiker und selbst der Studenten. Es entstehe die Infantilisierung durch Smart-Phones. Die totale Infantilisierung führe zur totalen Macht des Kapitals und die Politik werde von der Ökonomie beherrscht. Großer Applaus. Ein seltsames Gefühl, seiner eigenen Unzulänglichkeit zu applaudieren.

Der Mann neben mir kommentiert: „Es ist Quatsch, was der sagt. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ – „Halt endlich mal die Klappe“, erwidert seine Frau.

Der wohltuende Rundumschlag des Philosophen hat etwas Reinigendes, wirkt wie ein gewürzter Wind, der durch die Wirklichkeit fegt.

„Wir optimieren uns zu Tode“, sagt Han. „In diesem Zustand ist keine Revolution mehr möglich. Es herrscht die Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde ist wie ein Zombie.“ Ich höre mich laut „Ja!“ denken.

Es folgt auf dem Podium eine Talkshow, bestehend aus Statements und Meinungen, wie wir sie aus den Fernsehtalkshows kennen. Zu Gast war auch der Vizebürgermeister Eyüp Yildiz, der im Vorfeld die Platzierung der RuhrTriennale in Lohberg kritisch kommentierte. Ob man denn die Bevölkerung mitnähme und was die Lohberger von der Kunst hätten. Mittlerweile sind alle im Gespräch.

Existenzberechtigung der Kunst

Der gesellschaftliche Hintergrund spielt naturgemäß immer mit, ob man will oder nicht. Man ist da, wo man ist, umgeben von Menschen und Problemen und wieder muss die Kunst ihre Existenzberechtigung erarbeiten, muss klarstellen, wozu sie nutze sei. Kunst kann etwas verändern. Das mutmaßen alle. Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel-Bochum, bestätigte dies. Die Aktionen, die zusammen mit dem Schauspielhaus in Bochum organisiert wurden, haben zu Zusammenhalt und Wertschätzung geführt.

Intervention auf Zeche Loberg

Intervention auf Zeche Lohberg

Vielleicht wäre es provokanter, an solchen Orten, wo das „Sub-Proletariat“ (ein Begriff, der immer wieder verwendet wird) seinen Ort hat, einen Sektempfang für die Kulturmenschen einzurichten, in angemessener Kleidung und Schnittchen, einem lyrischen Tenor lauschend, selbstverständlich zu hohen Eintrittspreisen. Das würde Diskussionen und Proteste hervorrufen, vielleicht mehr als eine Inszenierung, die sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit widmet. Die Kunst soll heute alles regeln, ob in Schulen oder im öffentlichen Raum.

Am kommenden Mittwoch (19.8. um 19.00 Uhr) zeigt die Triennale im „Reflektorium“ an der Jahrhunderthalle in Bochum einen Dokumentarfilm zu Byung-Chul Han: Der essayistische Film umkreist das Phänomen der Müdigkeit im Zeitalter des Neoliberalismus und die damit verbundenen Symptome wie Selbstausbeutung und Burnout.

Aus einem Interview in der ZEIT: „Politiker sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“

Mögen sich viele Gedanken während des Kunstfestes RuhrTriennale durch Debatten und künstlerische Genüsse entwickeln und in Erkenntnisse umsetzen.




RuhrTriennale: „Nomanslanding“ im Duisburger Hafen überwindet alles Trennende

IMG_5970

Sie kommt genau auf uns zu: Die andere Hälfte von „Nomanslanding“ (Foto: rp)

Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wenig spektakulär. Zwei halbierte Rieseneierschalen stehen da irgendwie auf dem Wasser und erinnern an Konzertmuscheln, was aber keinen Sinn ergibt, weil sie sich ja gegenüber stehen und deshalb kein Publikum beschallen können. Stege führen ans Ufer. Die Installation, um eine solche handelt es sich also offenbar, befindet sich im „Eisenbahnbassin“, einem Hafenbecken in Duisburg Ruhrort, das früher einmal der Eisenbahnhafen war und heute mehr oder weniger funktionslos ist. Hier steht das Wasser sehr still, was ein Grund gewesen sein mag, „Nomanslanding“ hier aufzubauen.

IMG_5960

Installation im Duisburger Eisenbahnbassin. Ab und zu schaut ein Ausflugsboot vorbei. (Foto: rp)

„Nomanslanding“ heißt das Gebilde, für das sich eine deutsche Übersetzung nicht eben aufdrängt. „Niemandes Landung“ vielleicht, „keines Menschen Landung“? Jedenfalls sind die beiden Rieseneierschalen im Duisburger Hafen neben Joop van Lieshouts phantasievollem Siedlungsgewürfel vor der Bochumer Jahrhunderthalle die bedeutendste skulpturale Arbeit der diesjährigen Ruhrtriennale. Der Begriff Skulptur indes hilft dem Verständnis nur begrenzt. Vor allem nämlich funktioniert „Nomanslanding“ als Inszenierung.

Und die läuft so ab: Bevor das Publikum sich (abgezählt und sicherheitstechnisch instruiert) über die beiden Stege zu den Muscheln begibt, wird es mit Schwimmwesten ausgestattet, muß es die Teilnahmebedingungen unterschreiben. Dann wird man im Rund der Halbkugel auf einer Sitzbank plaziert – und gewahrt kurze Zeit später fast zufällig, daß sich die eigene Halbkugel auf die andere zu bewegt. Aus einem unsichtbar bleibenden Soundsystem sind derweil Kriegsklänge und vielsprachige Textzeilen zu hören. Immer näher kommt die eine Halbkugel der anderen, schließlich berühren sie einander, es wird dunkel, der Soundtrack bleibt bedrohlich.

IMG_5964

Schwimmwesten sind für den Besuch der beiden Muscheln vorgeschrieben. Sie machen ein etwas mulmiges Gefühl. (Foto: rp)

Klagender Gesang ertönt, nach einer weiteren Kunstpause wird es heller im runden Raum, schließlich ergeht die Aufforderung die Hälften zu tauschen. Und nicht unberührt verläßt man das Geschehen, das kaum 30 Minuten dauerte, durch die Halbkugel von gegenüber.

Breit ist der Fundus an Metaphorik, der zur Deutung bereitsteht. An die Überquerung des Flusses Styx ist zu denken, der die Welt der Toten von der der Lebenden trennt, und wenn einem außerdem noch afrikanische Flüchtlingsboote und die dazugehörigen Katastrophennachrichten einfallen, liegt man sicher auch nicht falsch.

Indes, der teilnehmende Künstler Andre Dekker hebt es in seinen Erläuterungen zum Werk ausdrücklich hervor, ist der Bezug ein Gutstück konkreter. Die Arbeit bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach, will indes nicht Anklage sein, sondern Klage, will der Trauer um die vielen Todesopfer Raum geben. „Ein Klagelied, vielleicht auch ein Wiegenlied“, sagt Dekker. Nämlich dann, wenn aus der traurigen Gewißheit des Geschehenen die vergewissernde Geborgenheit des „Nie wieder!“ sich formt. Sinnliche Symbolhaftigkeit, wenn man so will – und sei es auch nur die Querung von etwas Wasser in einem Duisburger Hafenbecken.

IMG_5986

Gleich wird es duster. Die beiden Hälften stoßen aneinander. (Foto: rp)

Als die Arbeit 2014 zum ersten Mal in Sydney installiert wurde, jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das war auch für die Australier ein wichtiges historisches Datum, denn als Teil des Commonwealth hatte das Land auf britischer Seite an dem Krieg teilgenommen und hohe Verluste erlitten. Die Duisburger Zweitverwertung 2015 muß nun leider ohne runde Jahreszahl auskommen, und Glasgow im kommenden Jahr (die dritte Station) erst recht. Da kann man sich schon mal fragen, ob der erhebliche Aufwand gerechtfertigt ist. Die Antwort fällt nicht leicht.

Jedenfalls hat der Duisburger Hafen bis zum 13. September eine Attraktion zusätzlich zu bieten, und der Eintritt ist frei. Allerdings bleiben Zweifel, ob die komplizierte Besichtigungsprozedur mit großer Nachfrage, vor allem an Wochenenden, fertig wird. Und ob die alles in allem doch recht komplexe Technik bis zum Ende durchhält und kein Vandalismusopfer wird. Aber man soll nicht unken. Halten wir es mit Kaiser Franz und schau’n wir mal.

Noch ein paar Fakten: Die Künstlerinnen und Künstler, die sich „Nomanslanding“ ausgedacht haben, sind Robyn Backen (Australien), Andre Dekker (Niederlande), Graham Eatough (Großbritannien), Nigel Helyer und Jennifer Turpin (beide Australien).

  • Die Adresse ist Duisburg, „Am Eisenbahnbassin“, Autoparkplätze sind rar.
  • Geöffnet bis 13. September tgl. 13 bis 23 Uhr, Eintritt frei, „wetterfeste Kleidung empfohlen“.
  • Mehr Informationen: www.ruhrtriennale.de, www.urbanekuensteruhr.de

 

 

Zwei Strophen des Klageliedes, dem Programmzettel entnommen:

Verse 1

We will meet you at the river

We’ll draw closer on the tide

You can hear us in the water

From the shore to the other side

 

Verse 2

All our lives brought here together

To flow before your eyes

At last on Nomanslanding

Cast off the line untied




Wandel des Ruhrgebiets auf 50000 Luftbildern

Zuerst habe ich „unseren“ Dortmunder Vorort angepeilt. Anfangs haben sich dort noch Wiesen und Felder erstreckt, man kann wohl von dörflichen Strukturen sprechen. Dann sind nach und nach einzelne Straßenzüge entstanden. Und immer mehr Industrie ringsum.

Doch der Weltkrieg hat immense Lücken gerissen, man sieht die Schneisen der Zerstörung. Hernach, vor allem in den 1960er Jahren, breiteten sich große Siedlungen aus. Andernorts sind zwischenzeitlich Hallen oder Stadien aus dem Boden gewachsen oder es haben sich künstliche Seen gleichsam aufgetan. Derweil sind gigantische Stahlwerke vom Boden getilgt worden. Kurzum: Fast nichts ist auf Dauer so geblieben, wie es war.

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Solch imposanter, buchstäblich raumgreifender Wandel hat – nicht nur im Zeitraffer des Online-Zugriffs – etwas Gespenstisches. Beileibe nicht jede Veränderung macht zukunftsfroh. Erst recht nicht die allseits wuchernden Verkehrswege der 70er Jahre.

Und woher stammen diese An- und Einsichten? Nun, in die Stadt- und Landschaftsentwicklung des Ruhrgebiets kann man sich jetzt anhand eines reichhaltigen Foto-Schatzes vertiefen. Der Regionalverband Ruhr (RVR) hat gestern rund 50 000 Luftbilder ins Netz gestellt, die den örtlichen und chronologischen Vergleich über die Jahrzehnte hinweg erlauben. Die Zeitstufen, die man unmittelbar aufrufen kann: 1926, 1952, 1969, 1990, 1998, 2006, 2009 und 2011-2015. Es gibt also noch Ergänzungsbedarf.

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der damals neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Die Nutzer werden vor allem markante Punkte des Reviers ansteuern und vorzugsweise das Werden und Wachsen der eigenen Umgebung erkunden. Über die Stadtplan-Darstellung kann man sich punktgenau dem gewünschten Ziel nähern und sodann aus der Luft die früheren Zustände betrachten. Es ist, als würde man quasi archäologische Schichten der regionalen Zeitgeschichte freilegen. Aus der Vergangenheit mögen sich überdies raumplanerischen Impulse fürs Hier und Jetzt ergeben.

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild - mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der "Roten Erde". (Luftbild: RVR)

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild – mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der „Roten Erde“. (Luftbild: RVR)

Gerade beim Herabschauen aufs Ruhrgebiet zeigt sich, wie sehr diese diffus entgrenzte Stadtlandschaft aufgewühlt, zersiedelt, zerschnitten, vermengt und vielfach geschunden worden ist. In neuerer Zeit sind auch Beispiele für Korrekturen am stellenweise desolaten Erscheinungsbild erkennbar. Doch das alles wird noch lange dauern. Es bleibt noch Arbeit für Generationen.

Aber möchte man denn schon wissen, wie die Luftbilder des Jahres 2025 oder 2040 aussehen werden? Mh. Ich weiß nicht so recht. Da wird mir auf einmal konservativ zumute. Lieber hätt’ ich’s nicht so schnell und abrupt.

_________________________________________

Netzadresse: http://www.luftbilder.geoportal.ruhr




Von Wattestäbchen und anderen Tücken – Frank Goosen beim Festival Ruhrhochdeutsch

„Richtig erwachsen bisse erss, wenn de en ganzet Paket Wattestäbchen brauchss, um die Kotze Deiner Blagen aussem Kindersitz zu pulen“. Ein Freund klarer Ansagen und plastisch-drastischer Geschichten, die so krass wie wahr sind, sollte man schon sein, wenn man zum Festival Ruhrhochdeutsch geht. Seit Ende Juni steht wieder das schöne historische Spiegelzelt vor den Dortmunder Westfalenhallen.

IMG_20150808_184904Schon zum sechsten Mal bietet das Dortmunder Theater Fletch Bizzel dort einen umfassenden Querschnitt, vor allem durch die ruhrische Kabarettszene. Wiederkehrende Ensembleauftritte wechseln sich ab mit Gastauftritten lokaler Helden. Am vergangenen Wochenende philosophierte Frank Goosen über Durst und Heimweh, wobei der Durst wohl bei Temperaturen gefühlt wie kurz vorm dritten Aufguss überwogen hat. Für Goosen war es trotz fußballerischer Differenzen ein Heimspiel.

„Durst und Heimweh“ heißt sein neues Kabarett-Programm. Durst soll ja schlimmer sein als Heimweh, aber am schlimmsten ist für Goosen beides zusammen. Und zusammen kommt beides gerade für Ruhrgebietsmenschen meist, wenn man(n) sich auf Reisen begibt. Nun ist man ja gerade im Ruhrgebiet ständig unterwegs, Stillstand gibbet bekanntermaßen nur auffe 40. Müsste Herrn Goosen eigentlich sehr entgegen kommen, denn wie er gleich zu Beginn erklärte, fühlt er sich eh am wohlsten auf den Autobahnen des Reviers. „Flüsse und Berge trennen doch nur, Autobahnen verbinden“. Natur an sich ist ja eh völlig überbewertet, die ist ja nicht mal von Hand gemacht wie so eine ordentliche ruhrische Autobahn.

Zum Glück für den Zuschauer spielen Goosens Geschichten aber nicht nur auf der Autobahn. Aber vom Reisen erzählen sie. Seine Geschichten spielen überall und jederzeit, durch alle Lebensabschnitte. Los geht es mit den ersten Ferien, die bei Goosens vor allem mit „de Omma anne See“ führten. Nach Helgoland zum Beispiel, wo er die Grundregeln des Goosenschens Universums lernte: „Watt der Junge will, datt kriechta auch“. Logischerweise nicht ganz einfach für nachfolgende Reisebegleitungen. Bei den Klassenfahrten mit den üblichen weithin bekannten, über alle Generationen hinweg ähnlichen Nebenwirkungen ging es noch so halbwegs, aber der erste Urlaub mit Freunden und unterschiedlichen Vorstellungen war da schon schwieriger. Dies im übrigen ein Interrail-Urlaub, die nicht immer subtilen Erinnerungen teilt er wohl mit vielen seiner Generation.

Und dann der erste Beziehungsurlaub…. – nirgendwo zeigt sich mehr Konfliktpotential. Über all diese Stationen geht es im Programm zurück zu dem einzigen Urlaub, den man zweimal im Leben macht: dem Familienurlaub. In fortgeschrittenem Alter dann am anderen Ende der Befehlskette und vor der schwierigen Aufgabe stehend, einen Kompromiss zu finden zwischen Kinder-Bespaßung und Massentourismus-Allergie. Nicht nur Familie Goosen findet diesen Kompromiß zuverlässig im Staate Dänemark und deswegen war mir die Exkursion ins Dänenland, mitsamt den Tücken seiner ausgefeilten Mini- und Fußballgolfplätze auch eine ganz besondere Freude. Wirklich außerordentlich bedauerlich, dass wir nicht mehr in den Schulferien in den Urlaub müssen. Die Goosensche Performance im fliederfarbenen Strandstuhl des Grauens würde ich nur zu gerne einmal sehen.

Für uns traf es sich bei diesem Programm, dass wir an diesem Abend Urlaubsziel waren. Wir hatten Besuch von Freunden aus Bayern, die Herrn Goosen bisher „nur“ anhand seiner Bücher kannten und mehr als einverstanden damit waren, mit einem Live-Auftritt des Revier-Chronisten gleich mal die volle Dosis Ruhrpott verabreicht zu bekommen. Es passte gut, dass Frank Goosen zwischendurch immer wieder den „Jungen vonne Bochumer Alleestrasse“ durchschimmern ließ: „Da kommt mein wahres Niveau wieder durch“. Unsere Gäste waren begeistert, selbst an der Stelle, als es gegen bayrisches Klosterbräu-Bier ging, denn „Menschen, die keinen Geschlechtsverkehr haben, kann man ja prinzipiell nicht trauen.“ (Zugegeben, Herr Goosen hat es ein klein wenig weniger vornehm formuliert).

Dafür kann man den Programmen des Frank Goosen sicherlich immer trauen. Dem Buchautor sowieso, aber auch den Kabarettisten mit direktem Draht zum Publikum, den hat der gelernte Tresenleser einfach drauf. Für ihn braucht es nur ein wohlgesinntes Gegenüber, eine Bühne ohne störendes Gedöns und der Bochumer nimmt den ganzen Saal gestenreich, oft genug freihändig ausse Lameng realitätsnah erzählend mit, diesmal eben auf die Reisen seines Lebens.

Frank Goosens Termine und anderes auf seiner Homepage
Das Festival Ruhrhochdeutsch geht noch bis in den Oktober, weitere Infos auf Ruhrhochdeutsch.de

P.S. @ Herrn Goosen: Falls Sie den Gag mit dem Komasaufen doch nicht aufgeschrieben haben – ich glaub, ich krieg das noch hintereinander…




Feine Töne, dicke Mauern – Klangkunst in Haus Kemnade

Kemnade_klingt! Wenigstens hier und da. Und ein Logo hat die Klangschau auch. (Foto: Kunstverein Bochum)

Kemnade_klingt! Wenigstens hier und da. Und ein Logo hat die Klangschau auch. (Foto: Kunstverein Bochum)

Wenn sich das batteriebetriebene Motörchen in Gang setzt, dann lässt es an federndem Stab eine kleine Holzkugel über die Stahlsaiten des alten Klaviers tanzen, und einige unbeholfene Töne entstehen. Der Motor wird elektronisch ein- und ausgeschaltet, entsprechend schwingen oder schweigen die Saiten. Fünf historische Klaviere im Raum sind mit einer solchen technischen Installation ausgestattet, so dass, wenn im Wechsel sie erklingen, der Eindruck von Kommunikation entsteht.

Stephan Froleyks, Jahrgang 1962, der am Niederrhein und in Münster lebt, hat sich diese Klanginstallation ausgedacht, die die Besucher ins Grübeln bringen kann über Klang, Geräusch, Musik, über Signale jenseits der Stille. Zu sehen und zu hören ist sie bis zum 18. Oktober in Haus Kemnade in Hattingen. Acht Künstlerinnen und Künstler präsentieren in Museumsräumen, in denen Musikinstrumente der Sammlung Grumbt ausgestellt sind. Arbeiten unter dem Titel „Kemnade klingt!“.

In den Siebzigern war Kemnade bekennend multikulti

Für den Bochumer Kunstverein als Ausrichter ist dieses Projekt fast schon eine Nummer zu groß. Deshalb preist sein künstlerischer Leiter Reinhard Buskies voller Dankbarkeit die beiden privaten Hauptsponsoren, die Beckumer Marianne-Blumenbecker-Stiftung und die Herdecker Richard-Dörken-Stiftung. Und man erinnert sich, dass es in dem alten Wasserschloss schon oft „geklungen“ hat – seit den frühen 70er-Jahren nämlich, als hier das „Ausländer-Festival“ unvergeßliche multikulturelle Musikmarken setzte.

kemnade05

Der Ruhrsandstein klingt – jedenfalls vor dieser Mauer, für die Denise Ritter einen speziellen Soundtrack geschaffen hat. Der O-Ton dafür kam aus dem Steinbruch Grandi in Herdecke. (Foto: Stadt Hattingen)

Zurück zum Kemnade-Sound von heute, der nun aus dem Museum kommt und entschieden minimalistischer ist als das vielfältige Festivalgeschrammel von einst. Sparsamkeit prägt das Bild, was weniger einem Arte-povera-Konzept als der ökonomischen Notwendigkeit geschuldet zu sein scheint. So müssen in Simone Zauggs Installation „Luegit vo Bärg u Tal“ Aluleitern die Alpen geben. Oben auf ihnen sind Lautsprecher mit Bewegungsmeldern installiert, und wenn diese Bewegung melden, weil ein Ausstellungsbesucher, was ausdrücklich erlaubt ist, eine Leiter erklommen hat, dann erklingt nämliches Volkslied aus der Konserve, gesungen von der Berner Künstlerin (Jahrgang 1968) persönlich. Der Titel, man ahnte es, ist Schweizerdeutsch und lautet übersetzt in etwa „Blick vom Berg ins Tal“. Wenn zeitnah mehrere Leitern erklommen werden, wird der Gesang polyphon. Dann grüßen sich gleichsam die Alpengipfel, und das klingt schön und seidig durch den Raum und ist leider schnell wieder vorbei. Bis der Bewegungsmelder wieder anschlägt.

Vielstimmiges produziert auch Mathilde ter Heijnes Anordnung von Transistorradios. Leise beginnend ballen historische Brandreden verschiedener Politiker sich schließlich zu einem aufwühlenden Crescendo. Man erkennt die Absicht, doch die Optik des Werks enttäuscht, bietet nicht mehr als kümmerliche Gerätschaften und Strippengewirr auf einigen Quadratmetern Museumsboden. Auch wenn dies fraglos eher eine Veranstaltung für die Ohren ist, wäre etwas visuelle Sinnlichkeit nicht zu verachten.

Grillen im Lautsprecher machen Geräusche

In der Arbeit des Wahlberliners Nik Nowak (Jahrgang 1981) sieht man die Klangerzeuger gleich gar nicht. Dabei sind sie zugegen, und originell sind sie zudem. Nowak nämlich fängt – in zugesichert artgerechter Haltung! – typische Geräusche von Grillen ein, die er verstärkt und durch Frequenzbearbeitung für das menschliche Ohr hörbar macht. Die Grillen sitzen derweil unsichtbar in ihrem Terrarium – in einem zackigen, feindselig wirkenden Lautsprecher-Kubus aus schwarzem Schaumstoff.

Torsten Bruch (Jahrgang 1973) zeigt zwei Videoarbeiten, in denen zum einen vier Chinesen „Die Gedanken sind frei“, zum anderen eine Strophe für Strophe wachsende Kombo das Kinderlied „Laurentia“ singen. Das ist lustig und auch hintersinnig, aber nicht unbedingt eine Kunst, die größere Aha-Erlebnisse zeitigt.

kemnade03

Haus Kemnade beherbergt unter anderem die Musikinstrumentensammlung Grumbt. Einige dieser Instrumente erklangen für Tommy Finkes Musikstück. (Foto. Stadt Hattingen)

Schließlich trifft man im Inneren des alten Wasserschlosses auf die Klanginstallation von T.D. Finck von Finkenstein. Er hat, ist zu erfahren, im Haus Klänge alter Instrumente gesammelt, diese im Studio überarbeitet und zu einem recht süffigen Soundtrack mit lockerer Rhythmusunterlage verrührt. Wir erleben also das Werk eines Musikers, und da kann es nicht mehr erstaunen, dass sich hinter dem barocken Namensungetüm der in Bochum recht bekannte Musiker Tommy Finke verbirgt, der ab der kommenden Spielzeit im Dortmunder Schauspielhaus als musikalischer Leiter die Nachfolge Paul Wallfischs antreten wird.

Draußen vor der Burg hat Dodo Schielein, 1968 in München geboren, eine Art Akustik-Parcours geschaffen; „music for ears/Musik für zwei Ohren“ hat er ihn genannt, eine „Handlungsanweisung“ (Untertitel). Die real existierenden Handlungsanweisungen finden sich auf wetterfesten Informationstafeln am Wegesrand, und mit Kemnade hat das nur wenig zu tun. Schielein lehrt die Menschen, sich der akustischen Wahrnehmung ihrer Umwelt bewusst zu werden oder auch sie zu beeinflussen, indem sie beispielsweise die Hände zu Ohrmuscheln formen.

Der Ruhrsandstein klingt

Und schließlich ist da noch Denise Ritter (Jahrgang 1971), die von langen Pausen unterbrochen das alte Kemnader Gemäuer mit einem speziellen Soundtrack beschallt. Ihr geht es um eine intensivere Wahrnehmung von Stein, Gebäude, Naturraum und Umgebung in ihrer engen Bezüglichkeit – und ein wenig auch im Unterschied zu dem, was heutzutage in dem alten Gemäuer geschieht. Der Mix aus Museum, Naherholungsziel, Standesamt, Baudenkmal und Gaststätte scheint ihr eine „kuriose Nutzung“ zu sein, wiewohl alternativlos. Der Sound – im Studio nachbearbeitet – kommt aus dem Steinbruch „Grandi“ in Herdecke, der als einer der letzten noch Ruhrsandstein abbaut – das lokale Material, aus dem auch Kemnade einst errichtet wurde. Wie immer man dies findet: Indem sie den Ausstellungsort akustisch reinszeniert, ist Denise Ritters Arbeit die einzige, die sich dezidiert mit ihm befasst.

Politisch-kritische Valeurs sind bei den ausgestellten Arbeiten nicht sehr ausgeprägt, sieht man einmal von Bruchs „Die Gedanken sind frei“ singenden Chinesen oder Mathilde ter Heijnes gesammelten Reden ab. Eher beschleicht einen wiederholt das Gefühl, es mit etwas blutleeren Fingerübungen zu tun zu haben, mit fein hergebastelten Arbeitsproben. Allerdings haben sparsam ausgeführte, konzeptionelle Arbeiten wie diese es auch besonders schwer, zu bestehen, sind sie doch der Möglichkeit beraubt, Ideenarmut hinter bombastischer Inszenierung zu verstecken. Jedenfalls bleibt der Kemnader Schau das Verdienst, eine tonlose Sammlung von Musikinstrumenten um etliche Töne zu bereichern. Für einige Zeit jedenfalls.

  • Haus Kemnade, An der Kemnade 10, 45527 Hattingen
    Tel. 02324 – 30268
  • Anfahrt: A 43, Abfahrt Witten-Herbede, Richtung Hattingen
  • Bushaltestelle: Hattingen, Haus Kemnade [Linie CE31]
  • Öffnungszeiten:
    Do. – So., 11 – 17 Uhr (Nov. – April)
    Do. – So., 12 – 18 Uhr (Mai – Okt.)



Einladung zur Neugier: Die RuhrTriennale will uns alle umarmen

Die RuhrTriennale öffnet ihren neuen Reigen und will umschlingen. „Seid umschlungen!“ ist das Motto und Festivalintendant Johann Simons öffnet seine Arme, besonders für die, die „eigentlich nicht ins Theater“ gehen. Ein schwieriges Unterfangen, aber ein notwendiger Ehrgeiz, der hier im Ruhrgebiet erfolgreich sein wird. Je weniger abgehoben die Kunst daherkommt, desto größer der Drang des Menschen, seiner Neugier freien Lauf zu lassen. „Das machen die also für mich“, wäre der richtige Ansatz und so soll es in der Saison 2015 sein.

R.Dennemann

Backstage.

Die Pressekonferenz fand in der Turbinenhalle auf dem Gelände der Jahrhunderthalle in Bochum statt, ein Ort, wo derzeit für „Rheingold“ geprobt wird. Intendant Simons hegt zu Wagner eine Hassliebe und lobt das revolutionäre Potential des Komponisten, der sicher von so einer Umgebung angetan wäre.

An den Wänden der Halle hängen Kleider, ein Bord mit Fotos der Darsteller wie in einem Filmbüro. Ich sitze am Regietisch, wo noch aufgeschlagene Notenbündel liegen – Arbeitsplatz also für die Vorbereitungen dieser RuhrTriennale. Über Geld wird nur am Rande gesprochen. Für Simon ist Sprache ein zentrales Thema und davon haben wir glücklicherweise in Europa viele. “Über Ökonomie reden führt nicht zu einer Einheit“, sagt er. Über Geld spricht nur die Vertreterin der Bundeskulturstiftung, die sich glücklich schätzt, die Eröffnungsinszenierung „Accattone“ mit 800.000 € fördern zu dürfen, die im neuen Spielort, der Kohlenmischanlage in Dinslaken, zur Premiere kommt, einer Halle, die für Simons wie eine Wüste wirkt.

R. Dennemann

Reflektorium

Der Musiker und Komponist, Gast der Triennale, ein Schubladenuntauglicher, spricht von der Wüste in ihm selbst bei seiner Suche nach Inspiration, die neue Klagräume hervorbringt. Er sagt den Satz „Zwischen den Stühlen zu sitzen ist der beste Zustand zu wachsen“. Das zeichnet immer wieder die Projekte der RuhrTriennale aus, dass sie eben nur selten Schubladen für Einordnungen öffnen.

Vor der Jahrhunderthalle entsteht derzeit ein Kunstort als Festivalzentrum, das „Reflektorium“. Bei freiem Eintritt gibt es ein umfangreiches Surround-Programm, an dem viele lokale und regionale Kräfte beteiligt sind.

Nachdem Johan Simons zur ersten Triennale 2003 mit „I Sentimenti“ einer der seitdem besten Inszenierungen geliefert hatte, kann jetzt wieder man auf Gefühle hoffen – eine Linie zum ersten Leiter Gerard Mortier, dem ein Konzert am 16. August in Duisburg gewidmet ist.

Freuen wir uns also auf die neue Saison mit Entdeckungen, viel Erbauung und Erkenntnisgewinn – dem ganzen kritisch und weltoffen zugeneigt, die Umschlingungen entgegennehmend.

Infos: https://www.ruhrtriennale.de/




Festspiel-Passagen III: Katharina Wagner beleuchtet „Tristan und Isolde“ im Geist der Zeit

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

Von wegen ertrinken und versinken in des Weltatems wehendem All. Katharina Wagner holt „Tristan und Isolde“ ihres Urgroßvaters aus Wellen und Wogen, Düften und Lüften der Metaphysik gnadenlos herunter in das desillusionierende Ergebnis einer Dreiecksgeschichte: König Marke, ein senffarben gekleideter Pate mit Hut und Pelzkragen, zerrt Isolde weg von der Leiche Tristans, stößt sie im Hintergrund aus dem Raum. Aus der Traum.

Die immer noch junge Wagnerin, demnächst wieder „Alleinherrscherin“ am Grünen Hügel, hat sich in ihrer mit Spannung erwarteten Regiearbeit – die erste seit dem Mainzer „Tiefland“ 2011 – konsequent allem verweigert, was die Geschichte in jene ahnungsvoll-kunstreligiösen Sphären driften ließe, die Wagnerianer so innig lieben. Passend zitiert das Programmheft aus Thomas Manns „Leiden und Größe Richard Wagners“: „Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, – niemand nennt ihn, ruft ihn an.“ Genau: Es gibt nur diese entsetzliche, unerbittliche, zehrend-sehrende, allgewaltige Liebe.

Man könnte nun, um die „Religion“ zu retten, mit wagnerischem und mit gut christlichem Hintergrund einwenden, dass eben genau diese unbedingte, anarchische Liebe, die den Anderen und nichts sonst im Blick hat, das Göttliche, Transzendente präsent setze. Ist der Gott Jesu Christi nicht der Gott, der von sich behauptet, die Liebe selbst zu sein? Lässt uns nicht die Liebe für den Moment der ekstatischen Vereinigung all-eins werden, untertauchend, verhauchend im wehenden All? Ist dann der Tod nicht alles andere als eine absolute Lebensgrenze, sondern eine transformierende Macht? Nein. Bei Katharina Wagner sind die Wege zur Liebe Labyrinthe, die nicht umsonst an Giovanni Battista Piranesis monströse „Carceri“ erinnern, ereignet sich die „Nacht der Liebe“ im grellen Punktlicht der Suchscheinwerfer auf Gefängnismauern, gebiert der Sehnsuchtsschrei der Liebe im dritten Aufzug nur Wahn und Trug im undurchdringlich grauschwarzen Nebel von Kareol.

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Reinhard Traub hat diese hoffnungslosen Bilder souveränn ausgeleuchtet – vom schummrigen Chiaroscuro des ersten bis zum stickigen Dampf des dritten. Wenn das Zwielicht im ersten Aufzug mehr als Konturen freilegt, schweben vier Personen vor einer an M.C. Escher erinnernden Raumkonstruktion – nur ist deren absurde Logik in willkürlich wirkende Konstellationen von Treppen, Brücken, Gängen und Pfeilern aufgelöst. Isolde ist dem „Eigenholde“ wie eine wilde Megäre auf der Spur, aber Stege fahren weg und unterbrechen Gänge; Treppen, die bisher im Nichts endeten, haben plötzlich Anschluss in begehbaren Raum.

Als die beiden endlich zusammenkommen, ist sofort klar: Ein Liebestrank ist nicht vonnöten, hier herrscht die pur brennende Leidenschaft. Kreisförmig verbinden sich die Arme, das Elixier wird in die Tiefe gekippt. Isolde setzt sich den Brautschleier auf, der sie wie eine Zwangsjacke umschließt; wie von Sinnen zerreißen ihn die beiden dann: Tristans bedachtsam-bedrückte Zurückhaltung verwandelt sich, dem Puls der Musik folgend, in enthemmte Raserei.

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der "Liebestrank" wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der „Liebestrank“ wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Für den zweiten Akt konkretisieren die Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert die Dreiecksform: Tiefschwarze Mauern umgrenzen ein Gefängnis, auf ihrer Krone patrouillieren die gelben Gefolgsleute Markes. Sie richten ihre „Zünden“ auf das Paar, das unter eine Zeltplane in einer Ecke die Geborgenheit sucht. Eine „Nacht“, die nur im Wunschdenken existiert: Das Paar schmückt seine Zuflucht mit künstlich leuchtenden Sternchen wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Ausweg, der sich öffnet, ist ein projizierter: Tristan und Isolde stehen Seit‘ an Seite und blicken auf ferne, schattenhafte Gestalten am Ende eines Tunnels. Die „Nacht der Liebe“ – eine bloße Vorstellung, ein schwarzes Irrlicht in der ausweglosen Gefangenschaft der Welt. Die Liebenden erkennen das: An den Metallgerippen, die sie wie eine stählerne Klammer zu umschließen beginnen, reißen sie sich die Arme blutig.

Aber der Tod kommt nicht – den spendet erst Melot mit einem Springmesser. Der Einbruch Markes ist ein Fanal der Brutalität. Von dem milden König mit der balsamischen Stimme ist nur letztere geblieben: Georg Zeppenfeld – er verbrachte seine ersten Bühnenjahre in Münster und Bonn – ist der stimmschönste Sänger des Abends. Sein Monolog ist eine Wohltat, nicht weil er mit Timbre und Stimmführung ästhetische Erwartungen erfüllt, sondern weil er mit den Mitteln des Gesangs seinen Charakter expressiv ausdeutet. Er lässt hinter dem schönen Ton die Heuchelei, die Abgründigkeit des Willens zur Gewalt erkennen.

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Tot, alles tot: Die unbehausten Männer, die da zu Beginn des dritten Teils in undurchdringlichem Nebel um eine Leiche kauern, erinnern an die Gruppe der „fremden“ Holländer-Mannen in Katharina Wagners erster Inszenierung in Würzburg 2002. Sie haben Tristan schon mit roten Grablichtern umstellt; das Warten auf ein Schiff zieht sich quälerisch lange hin, die Englischhorn-Elegien klingen nicht mehr elegisch-bukolisch, sondern depressiv und trauernd.

Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden, aber sie sind nicht lebendig: Es sind geisterhafte Gestalten, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen, ins Dunkel stürzen, den Kopf verlieren. Auch Markes Erscheinen trägt irreale Züge: Unvermittelt knallt grelles Licht auf ein gelbes Dreieck, gebildet aus seinen Leuten. Erschütternd real ist nur das Ende: Der „Liebestod“ dürfte für Isolde ein dauerhaftes Sterben in der giftigen Welt Markes werden, der „sein Weib“ an sich gerissen hat.

Katharina Wagner dekonstruiert radikal und konsequent, was Richard sich noch philosophisch zurechtgemacht hatte: die transzendierende Macht der Liebe, die lösende Macht des Todes. Bei ihr bleibt nicht einmal der Glaube einer säkularisierten Kunstreligion. Die Liebesnacht – ein Pubertätstraum; die Liebesverklärung – eine Elendsprojektion. Das ist Moderne in der Endphase: nicht illusions-, sondern visionslos. Aus der bedrückenden Brutalität herrschender Machtverhältnisse gibt es nicht einmal mehr den Tod als Ausweg. Eine glaubenslose Welt verhärtet in der nihilistischen Macht des Faktischen. Der „Holländer“ Harry Kupfers, vor dreißig Jahren an gleichem Ort, lässt grüßen.

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Oblag es also Christian Thielemann wenigstens musikalisch an Traditionen anzuknüpfen, die Transzendentalität des „Tristan“ wenigstens musikalisch zu retten? Mitnichten. Zwar liegen Welten zwischen der analytischen Auffassung, die etwa sein zum Antipoden hochstilisierter Kollege Kirill Petrenko vertritt, und Thielemanns sinnlich-gelöst fließender, großbogiger Interpretation. Aber der neue „Musikdirektor“ Bayreuths spielt nicht einfach die Rolle des „deutschen Kapellmeisters“ nach. Die Jahrzehnte, die ihn von Furtwängler und Knappertsbusch trennen, sind vernehmbar: Das Bayreuther Festspielorchester klingt frei, schlank und strömend, selbst die großen Aufschwünge rauschen nicht bassdonnernd über die Sänger hinweg.

Thielemann arbeitet am Detail, sorgt für rhythmische Präzision und für genaue Phrasierungen – etwa bei den Bläsern des Beginns des zweiten Aufzugs. Aber er hat auch eine Tendenz zum Weichzeichnen: Die fiebrige Ekstase des dritten Aufzugs war im letzten Bayreuther „Tristan“ bei Peter Schneider entschiedener, schutzloser zu erleben.

Auch Thielemanns Hang zur schönen Stelle fordert wieder ihren Tribut, wenn er das Tempo verlangsamt, um einen Übergang, einen pastos sinnlichen Augenblick, ein harmonisches Raffinessement auszustellen. Sicher, damit markiert er musikalisch wichtige Momente – aber manchmal bedarf es schon Thielemann’schen Tiefblicks in die Partitur, um den Verdacht der Willkür zu entkräften. Die „Buhs“, die ihm am Premierenabend entgegenschallten, hatten wohl andere Gründe als die der Leistung des Dirigenten Thielemann. Vielleicht mag als Hinweis genügen, dass sein Parkplatz mit dem hübschen Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“ und dem berühmten Porsche drauf ein vor der Vorstellung viel fotografiertes Motiv war.

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild "Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann". Foto: Werner Häußner

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“. Foto: Werner Häußner

Wagners Oper als eine Herausforderung zu bezeichnen, ist für die Sänger alles andere als ein Gemeinplatz: Vor der Uraufführung in München vor 150 Jahren, galt sie als unsingbar. Der plötzliche Tod des Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, galt lange als Beleg für die „mörderische“ Rolle – der jene der Isolde nicht nachsteht. So ist das Publikum in der Regel gewillt, jede auch noch so unvollkommene Darbietung mit dankbarem Beifall zu bedenken. Anders ist etwa der Jubel für Evelyn Herlitzius wohl kaum zu erklären: Ihre Isolde macht im Temperament der Attacke, in der wuchtigen Entschlossenheit des Spielens, in der mörderischen, gellenden Anstrengung der Töne nur annähernd wett, was ihr an Schliff und Schmelz fehlt. Ihr Vibrato ist das einer dramatischen Stimme in der Endphase, wie schon ihre „Isolde“ am Aalto-Theater in Essen 2013 nahegelegt hatte. Ihre Artikulation lässt weite Teile des Textes in der Sinuskurve kaum fokussierter Töne verschwinden. Das Publikum raste: Was zählt, ist die Exaltation, das unmittelbar theatrale Ereignis, nicht mehr die Kunst des formvollendeten Singens. Der überragende Georg Zeppenfeld erhielt nicht annähernd so viel Beifall.

Christa Mayer hielt sich als Brangäne tapfer und mit großem Ton neben den Eruptionen der Herlitzius. Ihr Profil bleibt im Konzept Katharina Wagners randständig: Ihre gehemmte Zerknirschung im dritten und ihre verzweifelte Sorge im ersten Aufzug sind deutlich ausinszeniert, lassen sie dennoch nicht aus dem Schatten einer Nebenfigur heraustreten.

Stephen Goulds Tristan dürfte momentan schwer zu übertreffen sein. Die Ökonomie des Krafteinsatzes, die gelöst gesungenen Momente des Elegischen und des Innerlichen, die klug disponierten Ausbrüche des dritten Aufzugs sind eine Klasse für sich. Iain Patersons rustikaler Bassbariton passt zu einem Kurwenal, der salutierend sein Bekenntnis zu Tristan hinausruft.

Raimund Nolte als schlangenhaft-eleganter Melot, Tansel Akzeybek – der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto – überzeugt als sicherer Hirt und als Steuermann. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – als handfester Steuermann ergänzt das Ensemble mit markanter Stimme.

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der "Nemorino" des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Was in Bayreuth ausblieb, ist die Sensation. Kein Skandal, keine Empörung, keine revolutionärer Umsturz der Tristan-Rezeptionsgeschichte. Was sich einstellte, ist viel mehr: Katharina Wagner und ihr Team verbinden eine durchdachte, wirkungsvolle Bildsprache mit einem tragfähigen Konzept jenseits genialisch daherkommender Ausflüsse dekonstruktivistischer Ideologien, assoziativ arbeitenden Material-Fetischismus‘ oder privatmythologischer Verstiegenheit. Der „Tristan“ ist eben eine zeitlose Geschichte, die soeben in Bayreuth im Geist der Zeit beleuchtet wird.

Am Freitag, 7. August, wird die Inszenierung Katharina Wagners live aus dem Bayreuther Festspielhaus in viele Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz live übertragen. Beginn ist um 16 Uhr, ab 15.45 Uhr gibt es ein Vorprogramm.

Info über die Kinos in der Region: http://www.wagner-im-kino.de/land/deutschland/de-NW

Der Bayerische Rundfunk bringt auf BR Klassik die Übertragung als Live-Stream am 7. August ab 16 Uhr. Aus rechtlichen Gründen ist dieses Angebot nur in Deutschland verfügbar. Der Videostream ist bis 31.12.2015 nachzuschauen.

Info: www.br.de/radio/br-klassik/themen/bayreuther-festspiele-br-sendungen100.html

Am Samstag, 8. August, 20.15 Uhr, wird „Tristan und Isolde“ in 3sat gezeigt.

Info: http://www.3sat.de/page/?source=/musik/182785/index.html




Die Typen mit den bauchigen Taschen

Zu beklagen ist ein weit verbreitetes Phänomen unserer Tage, das sich in einem Gegenstand manifestiert. Gemeint ist die große blaue Ikea-Tasche (siehe die geknipste Formlosigkeit eines erschlafften Exemplars).

Diese dumpfen Leute haben schon so oft vor uns in der Schlange ihr Wesen getrieben. Sie rücken vorzugsweise mit besagter Tasche oder anderen XXL-Tüten an, die sie ungemein bau(s)chig vollgepfropft haben. Beispielsweise mit ca. 77 kleinen Pfandflaschen.

Da passen soooo viele Pfandflaschen hinein... (Foto: BB)

Da passen soooo viele Pfandflaschen hinein… (Foto: BB)

So stehen sie dann vor dir am Rückgabeautomaten und legen Flasche um Flasche ein, all der Wartenden nicht achtend. Nicht nur einer steht da vor uns, sondern einer nach dem anderen. Am allerliebsten zur ohnehin belebtesten Zeit. Es ist zum Ananas-auf-die-Theke-Hauen.

Es handelt sich wohlgemerkt nicht um die Bedürftigen, die das Pfandgeld etwa zum Leben und Überleben bräuchten. Nein, es sind mehrheitlich die, die für sich auch noch den letzten Cent herausholen wollen, obwohl sie schon alles Nötige haben. Diese wandelnden Anspruchshaltungen bedienen sich ungerührt der Welt ringsum. Sie nehmen sich eh alle Freiheiten; was ihre grundsätzliche Unzufriedenheit allerdings nicht mindert.

Die wohlstandsverwahrlosten Schnäppchenjäger also, jene Spezies des rücksichtslosen Selbstversorgertums. Mit ihrer ständigen, stets bauernschlau und doch unendlich dümmlich auf dem Sprung befindlichen Gelegenheiten-Nutzerei geht eine bestürzende Achtlosigkeit einher. Minimales Beispiel: Werden bestimmte Flaschensorten nicht vom Automaten akzeptiert, so nehmen sie sie keinesfalls wieder mit, sondern lassen sie einfach auf dem Boden liegen. Sollen doch mindere Knechtsgestalten das Zeug wegräumen. Mit dieser Haltung schlurfen sie durchs Dasein. Sollen wir sie schlurfen lassen?




Auto des Wirtschaftswunders: Vor 60 Jahren feierte Volkswagen die erste Million

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Zehn Jahre nach Kriegsende. Das Wirtschaftswunder war in vollem Gang. Endlich konnte man sich wieder etwas leisten. Für viele Deutsche rückte der Traum vom eigenen Auto in greifbare Nähe. Und dieser Traum hatte eine Form: rundlich, bucklig, wie ein kleines Insekt. Am 5. August 1955 feierte Wolfsburg ein Fest: Eine Million Volkswagen waren vom Band gelaufen – die meisten von ihnen von dem Modell, das später als „Käfer“ weltberühmt wurde. Im Ruhrgebiet sorgten die fröhlich knatternden Wagen da schon für die ersten Staus …

Die „New York Times“ beschrieb schon 1938 eine kühne Vision: Bald sollten, so der Artikel, die deutschen Autobahnen „Tausende und Abertausende von glänzenden kleinen Käfern“ bevölkern. Ein eingängiges Bild: Bänder durch die Landschaft, auf denen lauter metallene Käferchen entlangkrabbeln. Der Begriff „Käfer“ für den deutschen „KdF“-Wagen wurde wohl mit diesem Vergleich geschaffen.

Es sollte allerdings bis weit nach 1945 dauern, bis das Auto auf den Straßen zum Alltag gehörte. Im Krieg war an die von Hitler angedachte Massenproduktion des „Volkswagens“ nicht zu denken. Und nach 1945 kam die Produktion nur allmählich in Gang. Erst ab 1946 konnten Privatpersonen – gegen Bezugsschein – einen Volkswagen kaufen. 5.000 Mark kostete er – je nach Kaufkraftberechnung wären das heute um die 20.000 Euro.

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Die Herstellung des robusten und sparsamen Wagens in der typischen Buckelform und mit dem geteilten Fenster im Heck („Brezelkäfer“) kam richtig in Schwung, als im Werk Wolfsburg die Kriegsschäden beseitigt waren, die Währungsreform 1948 für neuen Schwung sorgte und der Export in die USA startete.

Fast 20.000 Fahrzeuge verließen im Reformjahr 1948 die Fabrik, für die Hitler mit großem Propaganda-Getöse 1938 den Grundstein gelegt hatte. Dass 1955, am 5. August vor 60 Jahren, der einmillionste Volkswagen vom Band lief, unterstreicht die Erfolgsgeschichte des Wagens, der wie kaum ein anderes Produkt zum Symbol für das Wirtschaftswunder und den sozialen Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten wurde. Den Jubiläums-VW, einen 30-PS-Käfer, überzog von Goldstaub durchsetzter Lack; die Chromteile trugen geschliffene Steine aus Südamerika: Sichtbares Zeichen des Stolzes der Autobauer auf ihren Erfolg.

Meistgebautes Auto der Welt

Bis 1973 entwickelte der VW-Konzern das Modell weiter, das in den sechziger Jahren – wohl in Abgrenzung zu anderen Volkswagen-Typen wie dem VW 1500, der 1961 auf den Markt kam – auch in Deutschland „Käfer“ genannt wurde.

Als am 1. Juli 1974 der letzte seiner Art mit der Nummer 11 916 519 in Wolfsburg vom Band lief, wurde das in der Öffentlichkeit als Ende einer Epoche wahrgenommen. Fast zwölf Millionen „Volkswagen Typ 1“ – wie der Käfer intern hieß – sind dort hergestellt worden. Schon 1972 erreichte der Käfer den Rang des meistverkauften Autos der Welt: Er löste Fords Modell T „Tin Lizzy“ auf diesem Platz ab. Heute nimmt ihn der Nachfolger des Käfers, der VW Golf, ein.

Dennoch: Die Geschichte des motorisierten Krabbeltiers ist noch nicht zu Ende. Die Form ist einfach zu einzigartig, zu attraktiv, um sie im Design-Archiv verschwinden zu lassen. Bis 1978 baute VW den Käfer in Emden weiter, danach belieferte Volkswagen de México mit in Puebla produzierten Wagen den deutschen Markt. Bis 1980 baute Karmann in Osnabrück die Cabriolet-Version – sie war lange Zeit das erfolgreichste Cabrio der Welt! Erst 1985 bot Volkswagen in Deutschland keine Käfer mehr an. Produziert – und hin und wieder von Importeuren auch in Deutschland angeboten – wurde das Erfolgsmodell noch bis 2003: Der letzte von 21.529.464 gebauten Käfern ist im „Zeithaus“ der Autostadt in Wolfsburg ausgestellt.

Unsterbliches Design

Bis heute lebt das Design in veränderter Form weiter: Mit dem Werbeslogan „Eine Legende wird erwachsen.“ bietet VW den „Beetle“ als „Kultauto“ in einer modernen Form an. Erst im April hat Volkswagen auf der New York International Auto Show vier neue Versionen präsentiert. Im November 2014 hatte VW den Beetle und das Beetle Cabriolet mit fünf verschiedenen modernen EU-6-Motoren vorgestellt. Umgerechnet kostet der Wagen, ausgestattet mit modernster Technik, heute nicht mehr als sein Urahn im Jahr 1946: Wer einen der nur noch dezent buckligen Beetles fahren will, ist ab 18.000 Euro dabei.

Nicht mit zu verkaufen sind Gefühle. Das nostalgische Fahrgefühl, das Schwelgen in Erinnerungen verbinden sich nur mit den Modellen aus der Kindheit und Jugend derer, die den Käfer in seinen Glanzzeiten erlebt haben. Wer denkt noch an den Stolz über das erste Auto in den fünfziger Jahren, das Hochgefühl, mit einem vollgepackten Volkswagen zum ersten Mal über die Alpen ins Sehnsuchtsland Italien in den Urlaub zu fahren, die Freude am chromblitzenden Gefährt, das jeden Samstag poliert und gewienert wurde?

Rund 50.000 alte Käfer sind noch fahrbereit; das charakteristische Knattern des alten, zuverlässigen VW-Motors in den Straßen ist selten geworden.




Frauen an die Macht – zumindest im EN-Kreis

Wenn am Abend des 13. September in Nordrhein-Westfalen die Stimmen der Wahlen der Bürgermeister und Landräte ausgezählt sind, dann ist dieser Abend auch ein Gewinn für den Vormarsch der Frauen in der Politik – zumindest im Ennepe-Ruhr-Kreis. Darauf deuten jedenfalls die Kandidaturen hin.

Gut 320.000 Einwohner hat der Kreis im Süden von Dortmund und Bochum, und diese Einwohner verteilen sich auf neun Städte. In Ennepetal kandidieren für den Bürgermeister-Posten die beiden Frauen Anita Schöneberg (SPD) und Imke Heymann (CDU / Grüne / FDP / Freie Wähler) gegeneinander – das Amt wird also auf jeden Fall weiblich besetzt werden.

In Breckerfeld bewirbt sich unter anderem die ehemalige WR-Redakteurin Dr. Petra Kappe (SPD) um die Nachfolge des Amtsinhabers Klaus Baumann, allerdings wird sie es in der bisher CDU-geführten Kleinstadt nicht leicht haben.

In den Städten Gevelsberg, Wetter und Sprockhövel wurden die Bürgermeister bereits zusammen mit den Gemeinderäten gewählt, dort errangen allerdings jeweils Männer die begehrten Positionen.

In Herdecke bewirbt sich die parteilose Amtsinhaberin Katja Strauss-Köster erneut und mit guten Chancen als Bürgermeisterin, in Hattingen hat der Journalist Dirk Glaser ebenfalls die Unterstützung mehrerer Parteien, und in der größten Stadt des Kreises, in Witten, will Bürgermeisterin Sonja Leidemann wiedergewählt werden – allerdings gegen den Willen ihrer SPD, die einen eigenen Kandidaten aufgestellt hat und die nun der Bürgermeisterin mit einem Partei-Ordnungsverfahren droht.

Auch um den Posten des Landrates beziehungsweise der Landräten des Ennepe-Ruhr-Kreises bewirbt sich mit Dr. Babett Bolle (CDU) eine Frau. Der bisherige Landrat und Sozialdemokrat Dr. Armin Brux tritt nicht mehr an, für ihn möchte sein Parteifreund Olaf Schade aus Hattingen, bisher Referent der Landtagspräsidentin in Düsseldorf, gewählt werden. Dazu müsste Schade aber Frau Dr. Bolle in den Wahlkabinen übertrumpfen.