Die Illusionen sind dahin – „Raketenmänner“ von Frank Goosen in Oberhausen

Raketenmänner, Theater Oberhausen

„Raketenmänner“ in Oberhausen, Szene mit Torsten Bauer und Anja Schweitzer (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Wie soll man sie nennen? Mitmenschen, Nachbarn, Allerweltsgestalten, Normalos? Das Personal wirkt ziemlich durchschnittlich.

Eine Frau, die weiß, dass ihr Mann fremdgeht, ein Mann, der gerne fremdgehen würde, ein unglücklicher Angestellter, den der Vorgesetzte mobbt, ein alternder Platzwart, zwei alte Freunde, die sich nicht mehr richtig verstehen, eine Demente, ein sterbender Kinobesitzer – sie bevölkern das erste Theaterstück des Bochumer Autors und Kabarettisten Frank Goosen, das in Oberhausen Premiere hatte und, auf den ersten Blick etwas unverständlich, „Raketenmänner“ heißt.

Eine alte Schallplatte

Doch ist der Titel flugs auch im Stück erklärt: „Raketenmänner“ lautet der Titel einer fiktiven Langspielplatte, die ein gleichfalls fiktiver Stefan Moses in den 70er Jahren aufnahm. Dieses Album geistert nun durch die sich reihenden Szenen, ist für den jungen Wenzel (Thieß Brammer), der mutig einen Laden mit Vinyl-Schallplatten übernommen hat, eine unerwartete Begegnung mit familiärer Vergangenheit, ist für die meisten anderen eine verklärende Erinnerung, Sinnbild für Träume und Sehnsüchte. „Bass, Gitarre, Schlagzeug, manchmal ein Klavier. nichts Besonderes“, erinnert sich Gaby (Anja Schweitzer) im Verlauf des Stücks, „ich kann das irgendwie nicht richtig erklären“. Es war wie eine Verheißung, gleichwohl: Die Raketen zündeten nicht, sie alle blieben auf der Erde mit ihren tiefgrauen Problemen.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Hartmut Stanke pflegt das Grün als Platzwart (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Stellenweise lustig

Eine gewisse Nähe zum Kabarett ist in der Inszenierung des Oberhausener Intendanten Peter Carp unübersehbar, und würde Frank Goosen selber vortragen, kämen einige Episoden wohl noch kerniger über die Rampe.

Doch muss einem Missverständnis vorgebeugt werden: Trotz des Personals, das einem aus Goosens Themenkosmos bekannt vorkommt, trotz einer zumindest vorstellbaren Verortung im Ruhrgebiet und trotz Dialogen, die kurz und klar sind und oft auf Pointen zielen, ist dieses Stück nicht wirklich lustig. Wenn schon nicht eine Lebensbilanz à la Becketts „Das letzte Band“, so ist es doch so etwas wie die illusionslose Ermittlung eines Zwischenstandes der „Generation Goosen“, die jetzt so um die 50 Jahre alt ist. Und wer in dem freien Journalisten Kamerke (Torsten Bauer), der wie zufällig durch die Episoden treibt und mit den Leuten redet, ein Alter Ego des Autors zu erblicken glaubt, liegt sicher nicht ganz falsch.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Im Plattengeschäft gibt es noch richtiges Vinyl, auch die Platte „Raketenmänner“. Szene mit Thieß Brammer und Torsten Bauer. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Sehnsucht nach den Sternen

Das Theaterstück ist die Fortschreibung eines gleichnamigen Romans und, wenn man so will, eine Variation auf die Geschichte „The Rocket Man“ des amerikanischen Science-fiction-Autors Ray Bradbury, der durch den später verfilmten Roman „Fahrenheit 451“ berühmt wurde. Sie erzählt 1951 bereits von einem Astronauten und seiner Sehnsucht nach den Sternen und der Unendlichkeit des Alls, während er noch daheim im trauten Kreis der Familie sitzt. Der Elton John-Hit „Rocket Man“ ist ebenfalls von dieser Geschichte inspiriert.

Eine verwahrloste Bühne

Nach der Pause, wenn die Zahl der Einzelepisoden abnimmt und die Gespräche länger werden, hat sich auch das Bühnenbild (Manuela Freigang) geändert. Die alte plüschige Guckkastenbühne, die in der ersten Hälfte nur einen schattigen Hintergrund bildete, dominiert nun die Szene, und deutlich erkennt man jetzt ihre völlige Verwahrlosung. Die Bühne des Lebens, plakativ ruiniert – ist die Bilanz denn wirklich gar so düster?

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Junge Menschen, alte Platte: Laura Angelina Palacois, Eike Weinreich. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Nun, zumindest träumt hier keiner mehr, und in diesem Punkt unterscheidet sich Goosens Personal grundlegend beispielsweise vom dem Yasmina Rezas („Der Gott des Gemetzels“), die in ihren Stücken ja auch sehr sorgfältige Gesellschaftsbilder zeichnet, deren Personal jedoch immer wieder in Widerspruch zwischen eigenen (mitunter absurden) Idealvorstellungen und den Widrigkeiten der Welt gerät.

In den eigenen Stiefeln sterben

Doch wenn die Menschen keine Träume mehr haben, dann muss eben ein Wunder geschehen. Oder zumindest etwas Wunderbares. Deshalb darf der todkranke Kinobesitzer, dessen Liebe zu den guten alten Wildwestfilmen sich auf nachfolgende Generationen übertrug, in seinen Stiefeln sterben, wie es im Westen halt Brauch war. Und schließlich singen alle zum leisen, treibenden Trommelschlag „Do Not Forsake Me, Oh My Darlin“ aus Fred Zinnemanns Western-Klassiker „High Noon“ („Zwölf Uhr mittags“) mit Gary Cooper in der Hauptrolle. Will vielleicht auch sagen: Das haben wir zusammen erlebt, das kann uns keiner nehmen.

Ein gefühltes Viertelstündchen dauerte es, bis sich das Oberhausener Ensemble mit dem neuen Stück warmgespielt hatte, dann aber war sein Auftritt überzeugend. Dankbarer, anhaltender Applaus.




Erinnerungstheater aus dem Revier – Neue Einblicke in die Sammlung des Ruhr Museums

Vor allem für Auswärtige sei’s gesagt: Das Ruhr Museum beherbergt die wohl umfangreichste Sammlung zur hiesigen Regionalgeschichte und befindet sich seit einigen Jahren auf dem Gelände der Essener Zeche Zollverein, welche bekanntlich als Unesco-Weltkulturerbe firmiert. Punkt.

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Nach und nach werden die gesamten Bestände gesichtet, sukzessive ausgestellt und sorgsam katalogisiert. Dabei treten, gleichsam Stück für Stück, neue Einsichten und Erkenntnisse zutage. Jüngste Frucht der Bemühungen: Jetzt ist – unter dem Titel „Arbeit und Alltag“ – ein Konvolut aus dem Kernbesitz zu sehen, nämlich rund 350 Exponate aus der Kollektion zur Industriekultur und Zeitgeschichte.

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Was dabei zum Vorschein kommt, ist nicht etwa aus der eh schon lohnenden Dauerausstellung des Hauses abgezweigt worden, sondern stammt aus den reichhaltigen Depots. Praktisch alle Schaustücke waren bislang noch nicht öffentlich zu sehen.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Frank Kerner und Axel Heimsoth. Sie und ihr Team haben wahrlich gewichtige Stücke ausgewählt, die von der heute unvorstellbaren Härte der Arbeit künden, beispielsweise eine tonnenschwere Gießpfanne, die einst bei Hoesch in Dortmund zum Einsatz kam. Kohle und Stahl stehen natürlich im Zentrum der Abteilung „Betrieb“, sie machten das frühere Ruhrgebiet aus.

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Ungleich schwerer als heute war freilich auch die Hausarbeit, damals noch eindeutig Sache der Frauen. Wir sehen frühe Haushaltsgeräte für Waschtag, Küche und Näharbeiten. Jedes Stück enthält eine Geschichte, wenn man sie zu lesen und zu deuten weiß. Nicht alles, aber vieles ist spezifisch fürs Ruhrgebiet, so auch jenes schwarze Brautkleid einer Bergmannsfrau, das kostensparend auch im späteren Alltag getragen werden konnte.

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Die zahlreichen Signaturen aus den recht sinnvoll angeordneten Bereichen Betrieb, Individuen (Kleidung, Porträts, Hygiene), Haushalt, Freizeit (Vereine, Vegnügen, Spielzeug) und Gesellschaft (Schule, Kirche, Herrschaft, Weltkriege) bescheren immer wieder kleine Aha-Erlebnisse. Aus all dem ergibt sich ein Kaleidoskop der alten Zeiten im Ruhrpott.

Man sollte hierzu möglichst den Katalog lesen, der viele Exponate einzeln erläutert. Da finden sich einige Prachtstücke eingehend beschrieben, so eine der ganz frühen, mit Gas beheizten Duschen der Firma Vaillant (um 1910), eine Schulbank von 1893, eigens konstruiert für den privathäuslichen Unterricht in den gehobenen Schichten oder ein gänzlich stählerner Altar aus einer Essener Kirche, der auf besondere Weise vom materiell grundierten Selbstbewusstsein der Region zeugt.

Über die historische Erzählung hinaus, entfalten manche Objekte auch ästhetische Qualitäten. Man schaue sich etwa die zerbeulten Weißblech-Kaffeeflaschen an, die von den Bergleuten unter Tage verwendet wurden. Sie wirken, derart gruppiert wie hier, als gehörten sie zu einer künstlerisch inspirierten Installation.

Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter spricht von einem „Erinnerungstheater“, das von manchen der Objekte angeregt werde. Tatsächlich begegnen einem hier etliche Gegenstände, die man kennt, wenn man schon lange im Revier lebt, „Gelsenkirchener Barock“ inbegriffen. Zumal die Zeitzeugnisse aus den 50er und 60er Jahren dürften noch viele Besucher zuinnerst ansprechen.

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba "Bodensee" Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba „Bodensee“ Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Vor allem ältere „Ruhris“ werden hier vertraute Zeichen der herkömmlichen Identität dieser oftmals geschundenen Gegend finden. Und noch ein Stichwort wirft Grütter in die Debatte: „Verlusterfahrung“. Ja, es ist wahr: Ein Großteil der ausgestellten Gegenstände hat mit längst oder unlängst versunkenen Lebenswelten zu tun, insofern auch mit Wehmut.

Wie alle Sammlungen, so hat auch diese ihre Vorgeschichte. Schon um 1903 gab es in Essen Pläne zum Aufbau einer industriegeschichtlichen Sammlung, die jedoch durch mancherlei Fährnisse und Widrigkeiten über Jahrzehnte hinweg nicht zustande kam. Ja, wesentliche Bestände der Krupp-Werke wanderten gar nach München ab, wo sie einen Grundstock des Deutschen Museums bildeten. Immer diese Münchner…

Über einige Zwischenstationen (z. B. das heimattümelnde Ruhrlandmuseum der NS-Zeit, das Ruhrmuseum neben dem Folkwang-Museum in der Goethestraße) gelangte man schließlich aufs Areal der Zeche Zollverein. Den Rückstand beim Sammeln industrieller Zeugnisse hat man derweil vielfach einigermaßen aufgeholt, wenn nicht gar wettgemacht.

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Erst gegen Ende der 1970er Jahre, als die Montanindustrie deutlich schwächelte und der erzwungene Strukturwandel sich abzeichnete, wurde sich das Revier selbst historisch und ging allmählich auf betrachtende Distanz zur eigenen Geschichte. Zugleich begannen sich die Historiker überall mehr und mehr für Alltagsdinge zu interessieren, die vordem missachtet worden waren. Erst jetzt wurde dementsprechend gesucht und gesammelt.

Aus solchen Entwicklungen erklärt sich der Zuschnitt der heutigen Sammlung, die nicht zuletzt durch Zeitungsaurufe rapide angewachsen ist. Und der Zustrom hört beileibe nicht auf: Allwöchentlich werden dem Museum, etwa bei Haushaltsauflösungen, viel mehr Objekte angeboten, als es jemals beherbergen kann.

Da heißt es klug und besonnen auswählen. Nicht alles, was persönlich bedeutsam ist, muss der Allgemeinheit etwas sagen und in ein Museum gehören. Direktor Grütter über den Zustand, um den die meisten Leiter von Kunstmuseen ihn beneiden dürften: „Wir haben kein Geldproblem, wir haben ein Platzproblem.“

„Arbeit & Alltag“. Industriekultur im Ruhr Museum. 26. September 2015 bis 3. April 2016. Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog 29,80 (im Museum 19,80) Euro. Infos: www.ruhrmuseum.de

Ruhr Museum. UNESO-Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (Gebäude A 16), Essen, Gelsenkirchener Straße 181. Adresse für Navi-Systeme: Fritz-Schupp-Allee 15. Kostenlose Parkplätze A 1 und A 2.




„Weltkunst“ ohne Grenzen – Wuppertal zeigt die famose Sammlung des Eduard von der Heydt

Von einem veritablen „Großereignis“ spricht Wuppertals Museumsdirektor Gerhard Finckh, der zwar zu schwelgen weiß, aber nicht zu maßlosen Übertreibungen neigt. Man zeige – in bislang beispielloser Breite – wesentliche Teile der bedeutendsten deutschen Kunstsammlung, die hauptsächlich in den 1930er und 40er Jahren aufgebaut wurde.

Konkreter: Wuppertal würdigt den Mann, dem es quasi seine grandiosen Museumsbestände und seinen bleibenden Rang in der Kunst-Landschaft verdankt. Wenn man es pathetisch sagen mag: Alle Stockwerke des Hauses sind nun von Sammlergeist des Eduard von der Heydt erfüllt.

Vincent van Gogh: "Kartoffelsetzen" (1884). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Vincent van Gogh: „Kartoffelsetzen“ (1884). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Seit 1962 trägt das Museum den Namen Von der Heydts. Er hat der Stadt nicht nur unermasslichen Kunstbesitz vermacht, sondern auch ein Millionenvermögen, das in eine Stiftung zum Ankauf weiterer Werke eingeflossen ist. Glückliches Wuppertal! Jedenfalls in dieser Hinsicht.

Eduard von der Heydt war, wie schon sein Vater August, ein Wuppertaler Bankier, der nach und nach in London, der Schweiz, den Niederlanden, Berlin und Paris wirkte; ein Mann von europäischem Format also. Aufbauend auf der Kunstsammlung seines Vaters (erst konventionell mit Marees, Makart und Courbet, dann auch schon kühner ausgreifend), trug er eine famose Kollektion der Moderne zusammen. So zählte er zu jenen Pionieren, die schon sehr zeitig Picasso-Bilder erwarben.

Paul Cézanne: "Liegender weiblicher Akt" (um 1886/90). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paul Cézanne: „Liegender weiblicher Akt“ (um 1886/90). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Doch nicht nur das. Durchaus gleichberechtigt kamen künstlerische Arbeiten aus Asien, Afrika und Ozeanien hinzu. Etliche Fotografien aus Von der Heydts großbürgerlichen Villen und sonstigen Wohnsitzen bezeugen solch hierarchieloses Nebeneinander im Sinne einer übergreifenden „Weltkunst“-Idee. Von der Heydt besaß selbst ein Gespür für Qualität, ließ sich freilich auch eingehend von Fachleuten beraten. Man konnte ja nicht alles selbst wissen.

Erstmals in dieser üppigen Form werden nun Eduard von der Heydts Sammlungen wieder zusammengeführt. Rund 320 Exponate repräsentieren die etwa 3500 Stücke, die Eduard von der Heydt erwerben konnte. Skulpturen und Bildnisse aus Asien und Afrika kamen nach dem Zweiten Weltkrieg ins Züricher Rietberg-Museum (Villa Wesendonck), während die überwiegend moderne Kunst ins Wuppertaler Museum zuteil wurde. Jetzt kooperieren beide Institute, um die Gesamtschau zu ermöglichen. In chronologischer Folge werden Aspekte der Sammlerbiographie und der Museumsgeschichte aufgefächert.

Buddha auf dem Schlangenthron, Kambodscha, Khmer-Reich, 12. Jhdt. Sandstein. (Foto: Museum Rietberg, Zürich)

Buddha auf dem Schlangenthron, Kambodscha, Khmer-Reich, 12. Jhdt. Sandstein. (Foto: Museum Rietberg, Zürich)

Einige gekonnte Inszenierungen der „Weltkunst“-Schau lassen Kontexte der Sammelzeit aufleben. Immer wieder sieht man hier Originale, die schon auf besagten historischen Fotografien auftauchen. Es ist, als träten sie plastisch aus jener Historie hervor, als würden sie ungeahnt lebendig.

Ein Saal lässt beispielsweise ahnen, wie Von der Heydts Sammelstücke vor der majestätischen Meereskulisse im holländischen Zandvoort (wo er einen Bank gründete) gewirkt haben mögen. Eine weitere Vergegenwärtigung betrifft den Monte Verità, die traditionelle Kultstätte damaliger Lebensreformer, die Eduard von der Heydt kurzerhand kaufte, um dort u. a. ein Hotel zu betreiben. Die künstlerische Ausstattung des (hier teilweise stilgerecht nachempfundenen) Speisesaals hatte wahrhaft museale Qualitäten.

Maske batcham (Kamerun, Bamileke, Bamendjo, 19. Jhdt., Holz). (Museum Rietberg, Zürich)

Maske batcham (Kamerun, Bamileke, Bamendjo, 19. Jhdt., Holz). (Museum Rietberg, Zürich)

Ach ja. Wir haben bislang noch kaum Künstlernamen genannt. Nun, man müsste ja auch weite Teile der Moderne durchbuchstabieren, von Van Gogh bis Picasso, von Odilon Redon bis Moholy-Nagy, von Hodler bis Jawlensky, von Modersohn-Becker bis Beckmann. Um doch nur wenige zu nennen. Schon beim Presserundgang mussten, um die Fülle zu bewältigen, tatsächlich Meister wie Edvard Munch auch schon mal „links liegen gelassen“ werden, sonst wäre der Termin zeitlich ausgeufert.

Alexej von Jawlensky: "Die schwarzen Augen" (1912). (Von der Heydt -Museum Wuppertal)

Alexej von Jawlensky: „Die schwarzen Augen“ (1912). (Von der Heydt -Museum Wuppertal)

Zu all den Werken der Europäer gibt es faszinierende Beispiele für afrikanische und asiatische Kunst, die nicht etwa unter soziologischen, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten gesammelt wurde; wie denn überhaupt Eduard von der Heydt vor allem der Schönheit huldigte und mit der Kunst keinen hehren Bildungsauftrag für die einfachen Leute verfolgte. Das unterschied ihn von Karl Ernst Osthaus, der ein paar Jahrzehnte zuvor von Hagen aus zum sendungsbewussten Botschafter der Moderne wurde.

Die Ausstellung, kuratiert von Antje Birthälmer, verschweigt auch nicht Eduard Von der Heydts notgedrungenes Lavieren im „Dritten Reich“. Die Familie zählte zum engeren Kreis um Kaiser Wilhelm II., der einen reaktionären Kunst-Geschmack hatte, sich aber nie kritisch zur fortschrittlich orientierten Sammeltätigkeit der Banker geäußert haben soll.

Spürbar ist ein abwägendes Bemühen um geschichtliche Gerechtigkeit. Nach 1946 wurde Von der Heydts zunächst zwiespältig erscheinendes Verhalten in der NS-Zeit gerichtlich untersucht. Es sieht so aus, als hätte er sich einigermaßen anständig verhalten und jedenfalls keine Kunst-„Schnäppchen“ auf Kosten drangsalierter jüdischer Mitbürger an sich gebracht.

Eduard von der Heydt als "Buddha vom Monte Verità", um 1930. (Foto: Privatarchiv)

Eduard von der Heydt als „Buddha vom Monte Verità“, um 1930. (Foto: Privatarchiv)

Ein überaus kompliziertes Diagramm soll außerdem veranschaulichen, wie Eduard von der Heydt staatliche Geldflüsse, gedacht für deutsche Spionage, teilweise umgeleitet hat, um Juden vor der Verfolgung zu retten. Allerdings herrscht auf diesem Felde immer noch Klärungsbedarf. Abermals soll ein Symposion im Rahmen der Ausstellung der schwierigen Wahrheit näher kommen.

Im Laufe des Rundgangs fragt man sich gelegentlich, was dieser Sammler denn eigentlich für ein Mensch gewesen sei. Eine Fotografie zeigt Eduard von der Heydt als eine Art Buddha im Schneidersitz. Er wirkt freundlich, aber letztlich auch unnahbar. Aus seinem Privatleben drang wenig bis nichts nach außen; ganz so, als hätte er – im Reich einer vermeintlich reinen Ästhetik – über allem geschwebt.

„Weltkunst. Von Buddha bis Picasso. Die Sammlung Eduard Von der Heydt“. 29. September 2015 bis 28. Februar 2016. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Katalog 25 Euro. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Info-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de / www.weltkunst-ausstellung.de




Wie die Neue Philharmonie Westfalen finanziell gerettet werden soll

Musikalisch ist die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) längst erfolgreich, finanziell soll es das größte Landesorchester wieder werden. Den Weg dafür machte der Kreistag Unna frei: Er verzichtete auf sein Recht, den bestehenden Fusionsvertrag bis einschließlich 2021 zu kündigen.

Damit ist das notwendige zeitliche Fenster zur Umsetzung eines mittelfristig tragbaren Finanzierungskonzeptes geschaffen. Was genau geleistet werden soll und muss, hatte Landrat Michael Makiolla in seiner Funktion als Vorstandsmitglied im Trägerverein des Orchesters schon im Juni beschrieben.

Damals hatte Michael Makiolla nicht nur über den Abschluss eines lange verhandelten Haustarifvertrages (mit unterm Strich finanziellen Einbußen bei den Musikern) berichtet, sondern alle Eckpunkte erläutert.

Makiolla war es auch, der bereits in der Mitte der 1990er Jahre darum gerungen hatte, dass die Fusion des Westfälischen Sinfonie Orchesters mit dem Gelsenkirchener Grabenorchester gelang. So konnte damals, als Makiolla noch Kreisdezernent für Soziales und Kultur war, die Existenzbedrohung für das WSO abgewendet werden. Für den Kreis Unna hatte es stets eine besondere Bedeutung, denn die Anfänge des WSO reichten bis in die frühe Nachkriegszeit zurück. Symbolhaft schufen damals Hubert Biernat, der spätere Landrat und sein Freund Alfred Gleisner die Voraussetzungen für ein erstes kulturelles Highlight im noch kriegszerstörten Umfeld.

Was jetzt geschehen muss:

• Die Neue Philharmonie Westfalen senkt die Zahl der Musiker-Planstellen von 124 auf 114. Das bedeutet eine dauerhafte Einsparung von rund 600.000 Euro/Jahr.
• Die Musiker verzichten bis 2021 auf große Teile ihres Weihnachtsgeldes. Dies führt zu einer durchschnittlichen Einsparung von rund 300.000 Euro/Jahr.
• Die Musiker verzichten auf tarifliche Nachforderungen für die Jahre bis 2014. Das spart insgesamt 760.000 Euro.

Hintergrund:

• Die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) entstand 1996 durch die Fusion des vom Kreis Unna mitfinanzierten Westfälischen Sinfonieorchesters (WSO) und dem vor allem am Musiktheater in Gelsenkirchen spielenden Philharmonischen Orchester.
• Das NPW ist das größte der drei Landesorchester (neben der Nordwestdeutschen Philharmonie und der Philharmonie Südwestfalen).
• Finanziert wird der Klangkörper von der Stadt Gelsenkirchen (3/6), der Stadt Recklinghausen (2/6) und dem Kreis Unna (1/6). Dazu kommen Zuschüsse vom Land und vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).
• Generalmusikdirektor ist seit Sommer 2014 Rasmus Baumann.
• Die Zahl der Musikerplanstellen beträgt derzeit (noch) 124.
• Im Kreis ist die Neue Philharmonie vor allem für die Sinfoniekonzerte (9 Veranstaltungen) in der Konzertaula Kamen und ihre Kinderkonzerte (8) bekannt.




44.000 Tickets – Intendant Johan Simons zieht positive Bilanz seiner ersten Ruhrtriennale

Pressekonferenz anlässlich der Programmvorstellung der diesjährigen Ruhrtriennale durch die Kultur Ruhr GmbH Intendant Johan Simons Bild: Stephan Glagla | pottMEDIA

Triennale-Intendant Johan Simons hat Bilanz gezogen. (Foto: Stephan Glagla/pottMEDIA/Ruhrtriennale)

Die Ruhrtriennale nähert sich ihrem Ende. Deshalb zog Intendant Johan Simons jetzt eine erste Bilanz. Wie nicht anders zu erwarten, war das Festival sehr erfolgreich, alles in allem wurden 44.000 Eintrittskarten verkauft.

Es gibt der Zahlen etliche mehr; genannt sein sollen noch die Verkäufe für Simons’ großformatige eigene Regiearbeiten „Accattone“ (6500 Karten) und „Das Rheingold“ (6020 Karten). Bemerkenswert ist die kurzfristige Vermehrung der Zeit-„Slots“ bei „Orfeo“ in der Kokerei Zollverein von 400 auf 460. Zur Erläuterung: Pro Zeitslot wandern in Viertelstundenabstand acht Zuschauer durch eine fein installierte Alltagshölle, in welcher (Haus-) Frauen mit ausdruckslosen Gummimasken ein freudloses Dasein fristen. Der Durchgang dauert rund eine Stunde, an zentraler Stelle spielt ein Orchester ebenfalls mit Gummimasken Monteverdi-Musik, und diese Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ist für die einen banal und für die anderen ein geniales Kunstwerk. Auf jeden Fall ist es ein Kunstwerk mit arg begrenzter Kapazität.

Portale der Maschinenhalle nach der Restaurierung: Portal im Südgiebel

Spielt hier im nächsten Jahr die Ruhrtriennale? Portal der Jugendstil-Maschinenhalle auf Zeche Zollern. (Foto: Martin Holtappels/LWL)

Dortmund darf hoffen

Die nächste Triennale findet vom 12. August bis zum 25. September 2016 statt. Was Johan Simons schon in der Pipeline hat, verrät er natürlich nicht. Ein bißchen hat er aber doch gesagt, beispielsweise zu der Frage, ob es im nächsten Jahr neue Spielorte geben wird: „Ich hoffe, es wird Dortmund!“

An der Jugendstilhalle auf Zeche Zollern hatte die Triennale ja beizeiten Interesse gezeigt, letztlich wurde es 2015 aber nichts mit diesem Spielort. Jetzt scheint die Halle als markanter Dortmunder Ort wieder in der Diskussion zu sein, zusammen mit der Phoenix-Halle am Phoenixsee, die ihrer Bestimmung als Eventstandpunkt entgegendämmert.

Kein Dinslaken, kein Wagner

Zeche Lohberg in Dinslaken, das Hallenmonstrum, in dem „Accattone“ lief, hat 2016 Pause. Da derzeit aber wieder fraglich ist, was dauerhaft aus dem gigantischen Schuppen werden soll, will Simons für 2017 noch keine Prognosen wagen.

Und was macht der Triennale-Ring? Nach „Rheingold“ ließe sich doch trefflich weiter an im bosseln. Doch eine Wagner-Inszenierung sei für 2016 definitiv nicht auf dem Plan, so der Intendant.

Musikalische Lesereise durch die Theater des Ruhrgebiets

Bis zur nächsten Triennale ist jetzt bald Pause – aber doch nicht ganz. Mit einer kleinen Tournee durch die Theater des Reviers möchte Johan Simons dem Publikum in Erinnerung bleiben. Deshalb gibt es – die Termine stehen unten – musikgeschichtliche Lesungen aus dem dicken Sachbuch-Bestseller „The Rest is Noise“ des Musikkritikers Alex Ross. Lesen werden Mitglieder der jeweiligen Ensembles unter Simons’ Regie; zudem spielen Musiker der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Carl Oesterhelt bei dieser „literarisch-musikalischen Etappenreise“. Ein Abend soll um die drei Stunden dauern, eine Pause haben und 15 Euro Eintritt kosten. Und entspannt soll es zugehen, sagt Simons, gerne mit Getränken und ein paar Tischchen im Zuschauerraum.

Wir sind gespannt. Und die Kontaktaufnahme zu den Theatern der Region, die in der Planung früherer Triennale-Intendanten schlichtweg nicht vorkamen und sich deshalb übergangen fühlten, ist eine ausgezeichnete Idee, aus der mehr werden könnte.

Hier noch die Termine von „The Rest is Noise“:

  • Schauspiel Essen 5.11.2015
  • Schloßtheater Moers 3.12.2015
  • Schauspiel Dortmund 21.01.2016
  • Theater Oberhausen 04.02.2016
  • Theater a.d. Ruhr Mülheim 17.03.2016
  • Schauspielhaus Bochum 07.04.2016

www.ruhrtriennale.de




Ein Held wird versteigert – „Peer Gynt“ im Bochumer Prinzregenttheater

PeerGynt2 kl (c) Sandra Schuck

Helge Salnikau spielt Peer Gynt (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Der Auktionator spricht die hereinströmenden Gäste persönlich an. Gleich beginne die Versteigerung von Erinnerungsstücken Peer Gynts, vom Rentier bis zum Papierschiff. Zudem komme eine Skulptur des Helden aus Fleisch und Blut unter den Hammer.

„Peer Gynt – Memorabilia 1867 bis heute“ heißt die Auktion in dem Vierpersonenstück, das Romy Schmidt als ihre jüngste Regiearbeit nun auf die Bühne des Bochumer Prinzregenttheaters stellt. Doch der Zweieinhalbstündler, der hier gespielt wird, ist nach wie vor „Peer Gynt“. Und stammt von Henrik Ibsen, mehr oder weniger.

Der Wert der Liebe

Vielleicht war es ja so: Romy Schmidt, die neue Chefin des Prinzregenttheaters, fragte sich, wie man dieses Stück heute dem Publikum „verkaufen“ könnte. Da es ja durchaus um Werte geht, letztlich um den unermesslichen Wert des Geliebtseins, kam sie auf die Idee mit der Memorabilia-Versteigerung als Rahmenhandlung. Die Lose und ihr Aufruf markieren nun Abschnitte der Handlung, und diese preiswerte Methode ist sicherlich auch den begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Hauses geschuldet.

PeerGynt3 kl (c) Sandra Schuck

Corinna Pohlmann ist als Aase, Solveig, Ingrid, die Grüngekleidete und Kapitän zu sehen. Im Hintergrund: Ismail Deniz als Versteigerer (links), Helge Salnikau. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

So beginnt der Abend mit verwobenen Aktionssträngen: Zum einen sind da der grandiose junge „Nichtsnutz“ (Helge Salnikau) und seine Mutter (Corinna Pohlmann), die ihn schilt, weil er sich um nichts kümmert und die reiche Bauerntochter Ingrid verschmäht. Zum anderen ist da der etwas sinistre Auktionator (Ismail Deniz), der immer wieder unterbricht, Rentier, Festtagstrollschwanz oder Solveigs Blumenkranz als Lose aufruft und sie dann einem anonymen Telefonbieter aus Norwegen zuschlägt.

So geht das eine ganze Weile, garniert mit einigen amüsanten Kabbeleien. Corinna Pohlmann schlüpft je nach Bedarf in die Rollen von Solveig, Ingrid, Trollprinzessin und Schiffskapitän.

Unglaublicher Körpereinsatz

Vierte Person auf der Bühne ist Yotam Schlezinger, Sidekick in den Auktionsszenen und daneben zuständig für Musik (Gitarre) und Sound. Herzige Schlager („Dreams are my reality“) und einige Male Motive aus Griegs Bühnenmusik sind mit gutem Sinn für Proportion eingearbeitet, kurzum: Das Konzept wird schnell deutlich und hat Unterhaltungswert.

Letztes Versteigerungslos, um auch das noch zu erzählen, ist der verarmte, gealterte Herumtreiber Peer Gynt selbst, für den die immer noch liebende Solveig 15.000 Euro auf den Tisch legt und ihm so das Leben rettet. Das konnte man sich natürlich denken, da er ja als letzte Position auf der Liste stand. Immerhin hat sie ihm zum Schätzpreis bekommen, quasi ein Schnäppchen.

Helge Salnikau zeigt in der Titelrolle einen unglaublichen Körpereinsatz, erklimmt wiederholt scheinbar mühelos ein steiles, im Zentrum des Spielraums errichtetes Gebilde aus Gerüststangen (Bühne und Kostüme: Sandra Schuck). Mal steht es für eine Berglandschaft, mal für eine Behausung, je nachdem. Sein mimisches Repertoire indes bleibt übersichtlich. Für die selbstverliebten Schwärmereien des jungen Helden scheint ihm nur ein Gesichtsausdruck zur Verfügung zu stehen, während ihm die differenzierte Zeichnung des alten Mannes nach der Pause besser gelingt. Doch bleibt das unerfreuliche Gefühl, dass Romy Schmidts Inszenierung an der Durchzeichnung dieses doch auch prototypischen Menschen Peer Gynt wenig Interesse entwickelt hat.

Zu preisen ist in jedem Fall der Fleiß der Darsteller, die während der gesamten Aufführung mit nur kurzen Unterbrechungen auf der Bühne stehen oder aus dem Zuschauerraum heraus agieren. Insbesondere Corinna Pohlmann zeigt mir vielen flotten Rollen- und Bekleidungswechseln echte Kondition. Ihr und ihren Kollegen galt sicherlich der größte Teil des freundlichen Beifalls.

 




Vom Hörspiel zum Buch: „Task Force Hamm“ als Sammelbecken polizeilicher Problemfälle

E_Schmidt_Task Force Hamm_02.indd Tatort Hamm? In der ARD? Noch nie gesehen? Aber gehört vielleicht schon. Die „Task Force Hamm“ gehört zu den Ermittlerteams des ARD Radio-Tatorts und wird im Rahmen dieser Hörspielserie vom WDR ins Rennen geschickt. Jeden Monat gibt es in den Rundfunkanstalten der ARD ein neues Tatort-Hörspiel, in denen ein Ermittlerteam mit starken regionalen Bezügen Verbrechen aufklärt. Zu den beliebtesten Teams dieser Radio-Reihe gehört die Task Force Hamm.

Der Erfinder des Hammer Teams, Dirk Schmidt, verfasste bisher zahlreiche Kriminal-Hörspiele und Drehbücher. Seine „Task-Force Hamm“ fand großen Anklang und hat eine Reihe treuer Fans. Mit „Ertränkt, Erhängt, Erschossen“ liegt nun der erste Fall in gedruckter Form vor. Adaption mal andersrum. Meistens liegt ja erst ein Buch vor, welches dann verfilmt oder vertont wird. Aber das Wagnis hat sich durchaus gelohnt. Von kleinen Einschränkungen abgesehen.

Ausgerechnet Hamm, mag sich nun so mancher denken. Hamm – die unbekannte, unspektakuläre, gerne ignorierte Stadt. Nicht mehr ganz Ruhrgebiet, noch nicht so ganz Münsterland und auch sonst fallen einem dazu allenfalls die Stichworte Kraftwerk und Elefant ein. Aber genau aus diesem Grund ist Hamm für den WDR der Ort des Geschehens.

Hochgestellte Herren der Landespolizeibehörde haben beschlossen, es ist Zeit für eine Konzentration. Es gehe nicht länger an, dass in Ungnade gefallene Polizisten, die man aus den verschiedensten Gründen nicht einfach rausschmeißen kann, dauernd quer durchs Land und somit diverse Abteilungen in Unruhe versetzt werden. Vielleicht macht es das Ganze handelbarer, wenn man sich einfach eine Behörde ausguckt, in die man all diese gescheiterten Existenzen versetzt. Dann hat man zwar noch immer ein Problem, aber man versucht es mal mit der Losung: Besser ein großes Problem als viele kleine.

Und so erwischt es die kreisfreie Polizeibehörde Hamm. Sie wird zum Sammelbecken für die ungelösten Problemfälle der Polizei. In der zur „Strafkolonie“ gewordenen Mordkommission finden sich zusammen: der spielsüchtige Hauptkommissar Scholz, der Haus, Hof und seine Ehe dem Gott des Rouletts geopfert hat. Der gutmütige, aber ziemlich schlicht gestrickte Hobby-DJ Latotzke, der einzige gebürtige und somit ortskundige Hammer – bei der Polizei nur dank „Vitamin B“. Der zu Aggressionen neigende Kollege Ditters, der nicht so recht weiß, ob er Männlein oder Weiblein oder vielleicht einfach nur schwul ist.

Zusammengehalten wird diese Chaoten-Truppe mehr schlecht als recht vom Dienststellenleiter Vorderbäumen. Der Chef wartet auf dem Abstellgleis, während seine Klage gegen vorzeitige Pensionierung läuft und beschäftigt sich derweil vorzugsweise mit einem Nebenerwerb als Möbelhändler.

Kommissar Scholz jedenfalls nimmt trotzig die Herausforderung Hamm an und setzt all seinen verbliebenen Ehrgeiz darein, den ersten Mord, der auf seinem Tisch landet, restlos aufzuklären. Die „Task Force Hamm“ wird zur Leiche des Metzgers Terjung gerufen. Zunächst weiß man nicht einmal, ob der arme Mann erhängt, erschossen oder ertränkt wurde. Klar ist zunächst nur: der Verdächtigen gibt es viele und starke Emotionen sind im Spiel. Vom enttäuschten Vater über die aus dem Katalog georderte mit dem Metzger ganz frisch verheiratete Thailänderin bis hin zum verschwundenen Zockerkumpel, der sich gemeinsam mit Terjung wohl mit Geldgebern angelegt hat, denen man besser nicht im Dunkeln begegnet. Scholz besinnt sich auf seine durchaus respektablen Fähigkeiten als Ermittler und bringt erstmal seine Truppe auf Trab…

Dass es sich hier um ein ausformuliertes Drehbuch handelt, merkt man durchaus. Dies stört aber vornehmlich nur an Stellen, an denen man das Gefühl hat, die Handlung wurde unnötig in die Länge gezogen. Die ARD-Radio-Tatort-Hörspiele dauern lediglich 55 Minuten und um das Ganze auf normale Buchlänge zu bringen, wurden hie und da Erklärungen eingefügt, die man jetzt auch als Leser nicht unbedingt zum Verständnis gebraucht hätte.

Aber davon abgesehen, ist der Krimi gut zu lesen. Subtiler Wortwitz wechselt sich ab mit brachialem Humor, die Grenzen zur Stammtisch-Peinlichkeit werden aber recht geschickt eingehalten. Bierernst ist der Krimi nicht zu nehmen, was der Vielzahl der behandelten Themen und teilweise auch sehr aktuellen Problemen nicht immer gut bekommt. Was es gar nicht gebraucht hätte: Den Ton des Märchenonkels auf den letzten Metern, als es um die Katharsis des zweifelnden Ditters geht. An dieser Balance dürfte zu arbeiten sein, aber grundsätzlich betritt mit der Task Force ein etwas anderes, durchaus liebenswertes Team die Krimi-Bücherszene.

Dirk Schmidt: „Ertränkt, erhängt, erschossen – Task Force Hamm“. Grafit-Verlag Dortmund, 205 Seiten, € 9,99




„Das ist doch keine Kunst“ – Strips und Cartoons in der Ludwiggalerie Oberhausen

01 Das ist doch keine Kunst, 2015 © Ruthe, Sauer, Flix

Bilder von Ralph Ruthe, Joscha Sauer und Felix Görmann hängen jetzt in Oberhausen im Schloß. Dieses Motiv ziert den Katalog. (Foto: Ludwiggalerie Oberhausen/Ruthe, Sauer, Flix)

In der Ludwiggalerie im Oberhausener Schloß hängen jetzt Cartoons und Comics an den Wänden. Ralph Ruthe, Joscha Sauer und Felix Görmann („Flix“) heißen die Zeichner, die man namentlich möglicherweise nicht kennt, deren bunte Bildgeschichten jedoch weit verbreitet sind, in Zeitungen und Zeitschriften, im Internet oder auch in Büchern auftauchen. Im Museum jedoch erwartet man Cartoons und Comics eher nicht. Gehören sie überhaupt dort hin?

Dr. Christine Vogt, Direktorin der Ludwig-Galerie, würde diese Frage jederzeit heftig bejahen und vielleicht auf vergangene Projekte verweisen. Ralph König und Walter Moers („Das kleine Arschloch“, „Käpt’n Blaubär“), die beiden wohl bedeutendsten deutschen Zeichner der Gegenwart, hatten in Oberhausen bereits ihre Einzelausstellungen. Ruthe, Sauer und Flix entstammen in gewisser Weise einer nachfolgenden Generation, sind alle in den 70er Jahren geboren, jetzt schon etliche Jahre erfolgreich im Geschäft und bieten sich somit für eine Nachfolge an.

02 Ralph Ruthe, Frühreif!, 2014 © www.ruthe.de

„Frühreif“-Dreibilderstrip von Ralph Ruthe, 2014 (Foto: Ludwiggalerie Oberhausen)

Kurz und klassisch

Ralph Ruthe erzählt seine Geschichten bevorzugt mit dem Einzelbild. Auch wenn er einmal mehrere Bilder verwendet, zielt er doch auf die eine Pointe und den spontanen Lacher. Ganz offenbar ist er ein Freund des gnadenlosen Kalauers, wenn er beispielsweise den Postboten zum Bauern schickt, weil der „ein Feld bestellt hat“. Andere Arbeiten sind poetischer, stiller, doch ein Lacher ist eigentlich immer drin. Von Ruthe stammt übrigens der meist dreibildrige Strip „Frühreif“, dessen Held ein neunmalkluger Bengel in den Wirren der beginnenden Pubertät ist und der unter anderem in der Wochenendbeilage der WAZ läuft.

Akribische Handwerker

Alle drei Zeichner, das macht diese Museumsschau deutlich, sind akribische Handwerker, die offenbar noch ganz altmodisch mit Stiften auf Papier zeichnen und nicht auf das iPad. Vorentwürfe und verschiedene Ausführungen hängen hier nebeneinander, man ahnt die Widrigkeiten, die die Animation der später so schwerelos auftretenden Strichmännchen und –weibchen in manchen Schaffensphasen bereitet. Entwurfsarbeiten sind übrigens meistens größer als die letztlich gedruckten Comics und Cartoons.

06 Joscha Sauer, NICHTLUSTIG 2, 2004 © Joscha Sauer

Abgründiges aus der Reihe NICHTLUSTIG von Joscha Sauer, 2004 (Foto: Ludwiggalerie Oberhausen)

Sensenmann und Lemminge

Eine gewisse Abgründigkeit durchzieht das Werk Joscha Sauers. Immer wieder kommt bei ihm der Sensenmann ins Spiel, haben die Lemminge Probleme mit ihrem selbstmörderischen Lebensentwurf. Und dem Hahn auf dem Hof reicht das Krähen nicht mehr, weshalb er dem Bauern bei Sonnenaufgang mit der Wasserspritze auf die Pelle rückt. Sauers Skizzenbuch, Blätter daraus sind in einer Vitrine zu sehen, hat die Anmutung eines wüsten Underground-Comics, doch seine Cartoons sind auf geradezu bedächtige Weise komponiert und ausgeführt.

Konservative Pinselführung

Konventionalität in der Ausführung fällt allerdings bei allen drei Artisten ins Auge. Auch Flix, der vor einigen Jahren dazu überging, dem männlichen Personal seiner Comics trapezförmige glatte Nasen zu verpassen, erzählt ansonsten mit eher konservativem Malduktus. Gleichwohl ist er von allen Dreien der experimentierfreudigste. Perspektiven und Formate wechseln heftig, außerdem scheint er Spaß an vielen schön widergegebenen Bilddetails zu haben. Besonders eindrucksvoll gerieten „Handtuchbilder“ aus der Vogelperspektive, die viele leicht bekleidete Frauen im Freibad auf ihren Handtüchern liegend zeigen. Das eine Männchen im Bild, das von so viel Weiblichkeit geradezu erschlagen dumm dasteht, muss natürlich sein, sonst wäre das Bild nur ein Bild und noch keine Geschichte. Aber Comics und Cartoons erzählen nun einmal abgeschlossene Geschichten, und seien sie noch so kurz. Auch die schnell hingeworfenen Animationszeichnungen von Flix, die in einer Vitrine liegen und ein bisschen an altmeisterliche Skizzenbücher denken lassen, zeugen von dessen Könnerschaft.

04 Flix, Faust, 2010 © www.der-flix.de

Faust von Flix, 2010 (Foto: Ludwiggalerie Oberhausen)

Die meisten in Oberhausen ausgestellten Arbeiten sind lieb und nett, enden keineswegs unerwartet. Amerikanische Zeichner wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton, die in anstoßerregenden Strips einst Drogenexzesse und sexuelle Obsessionen zu Papier brachten, finden hier nicht ihre Nachfahren. Das ist kein Vorwurf, nur eine einordnende Feststellung.

Und gehört das nun ins Museum oder nicht? Unbestreitbar sind Bilder, die für Printmedien geschaffen werden, dort auch am besten präsentiert. Es ist für sich genommen nicht sinnvoll, verkürzt gesagt, Seiten aus einem Comic-Strip herauszunehmen und gerahmt an die Wand zu hängen. Die Oberhausener Schau erzählt jedoch eine Menge mehr über die drei Zeichner und ihr Werk, und angesichts der klugen und stilsicheren Präsentation verblasst die Frage nach der Sinnhaftigkeit recht bald.

  • „Ruthe Sauer Flix – Das ist doch keine Kunst. Comics und Cartoons zwischen Shit happens, Nicht lustig und Schönen Töchtern“
  • Bis 17. Januar 2016. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad Adenauer Allee 46.
  • Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 8 Euro.
  • Der empfehlenswerte Katalog erschien im Carlsen-Verlag und kostet 29,80 Euro.
  • www.ludwiggalerie.de



Aus Köln in die Provence – eine interessante musikalische Geschäftsidee

Wenn der Sommer kommt und das Musizieren in deutschen Konzert- und Opernhäusern ausfällt, dann haben die Musikanten Zeit und kommen auf interessante Ideen. In der Provence zum Beispiel sieht man immer im August und September ähnliche Plakate, auf denen ein „Kammerensemble Cologne“ für ein Konzert in der jeweiligen Dorfkirche wirbt.

Konzert in der Dorfkirche für 20 Euro. (Foto: H.H.Pöpsel)

Konzert in der Dorfkirche für 20 Euro. (Foto: H.H.Pöpsel)

Das sind mehr oder weniger junge Leute, die mit ihren Instrumenten über das Land ziehen und sich das Leben in einer wunderschönen Landschaft, das gute Essen und den Aufenthalt bei meist sonnigem Wetter durch ihre Auftritte in den mittelalterlichen Städten und Dörfern Südfrankreichs verdienen. Sie werben mit dem Namen Köln und spielen Mozart und Vivaldi, Telemann und Bach. Musiziert wird fast immer in der Dorfkirche, manchmal auch im Gemeindesaal, und wer die Lebenshaltungskosten an der Côte d’Azur kennt, der wird sich auch nicht über den Eintrittspreis von zwanzig Euro für Erwachsene wundern.

Modern würde man das eine „Win-Win-Situation“ nennen. Die Musiker verdienen sich den Sommer, die Touristen und einheimische Musikfreunde bekommen ein ausgereiftes Konzerterlebnis, und die schöne Stadt Köln wird noch bekannter, als sie eh schon ist. Viva Colonia.




Unter Kriminellen – Johan Simons inszeniert „Das Rheingold“ bei der Ruhrtriennale

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Über dem Orchester schwebt Walhall, Amtssitz von Götterchef Wotan. Doch die Baufinanzierung bereitet Probleme. (Foto: Ruhrtriennale/ Michael Kneffel)

Bochum. Als bekannt wurde, daß Johan Simons sich gleich in seiner ersten Triennale-Spielzeit an Wagners Oper „Das Rheingold“ wagen würde, ging ein Raunen durch die Reihen. Simons galt bis dato nicht unbedingt als Opern-Experte.

Doch wer so flockig wie Simons mit spröden Jelinek-Stoffen umzugehen weiß, der kann wahrscheinlich auch Wagner. Nun ist „Das Rheingold“ einige Male über die Bühne der Bochumer Jahrhunderthalle gegangen, und man kommt nicht umhin, dem Theatermann aus den Niederlanden zu bestätigen, daß er seine Arbeit wirklich gut gemacht hat.

Ein wenig Gigantomanie

Vieles an der Produktion ist gigantisch: Der wuchtige Klangkörper von MusicAeterna aus Perm im Ural mit Teodor Currentzis am Dirigentenpult, der seine Musiker aufstehen läßt, wenn sie maximalen Schalldruck erzeugen müssen; die Jahrhunderthalle selbst natürlich, aber ebenso auch das Bühnenbild von Bettina Pommer, das von einer über alles sich erhebenden weißen Schloßfassade dominiert wird, die in die Jahrhunderthalle paßt wie vor hundert Jahren schon eingeplant. Nun neigen, wie man hört, Wagner-Inszenierungen immer wieder einmal zu einer gewissen Gigantomanie, so daß diese in Bochum für sich genommen damit noch nichts Besonderes wäre.

Simons und Wagner passen gut zueinander

Was aber wirklich unerhört ist (und jemanden in die Tasten greifen läßt, der sich sonst eher im Sprechtheater zu Hause fühlt), ist die unglaubliche Konvergenz von Wagners Kunst und dem Inszenierungsstil Johan Simons, der seine Herkunft vom Straßentheater weder verleugnen kann noch will. Seine Methode, die durch grelle Überzeichnungen der Akteure geprägt ist, wendet er auch hier an, und sie funktioniert prächtig. Das hier ist Oper, aber ebenso ist es Schauspiel. Unvergeßlich bleibt Leigh Melrose, der den Alberich gibt, den notgeilen, frustrierten und leider auch ein bißchen blöden Nibelungenfürsten. Sogar ohne Gesang wäre Melrose ein Erlebnis mit seiner sorgfältigen Rollenzeichnung und seinem athletischen, präsenten Spiel. Und wie er vor, während und nach wüsten Raufereien mit den Rheintöchtern, mit Wotan (Mika Kares) oder mit Loge (Peter Bronder) noch so wundervoll singen kann, ist geradezu unbegreiflich.

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Die Rheintöchter heißen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde (Anna Patalong, Dorottya Láng und Jurgita Adamonyté). und sie necken Alberich (Leigh Melrose), der sich an Gummipuppen anbarbeitet. (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Kohlenpott-Metapher

Während das sinnbildhafte Oben des Stoffes von der weißen Schloßfassade symbolisiert wird, läßt der Urgrund, wo die Nibelungen in ewiger Nacht hausen, ein Bergwerk assoziieren. Nicht Rheingold, sondern schwarzes Gold wird hier gewonnen, die üblich Kohlenpott-Metapher. Und da Alberich nun im Besitz des goldenen Ringes und einer geilen Tarnkappe ist, kann er mit schier unermeßlicher Macht viel Böses anrichten.

Die Ordnung der Welt bricht zusammen, in einem (insgesamt gesehen etwas schwachen) Intermezzo mit Gesellschaftskritik aus dem Megaphon verlassen viele Musiker die Bühne, weil sie’s irgendwie leid sind, erheben sich auch die Zuschauer links und rechts vom Bühnengeschehen, um dem Elend nicht weiter beiwohnen zu müssen. Hallo, liebe Frau Kritikerin von einer bedeutenden überregionalen Tageszeitung: Das sind Statisten! Das gehört zum Stühück! Das ist Absicht! Und deshalb geht es nach einigen Minuten auch mit Wagner wieder weiter, und alle Zuschauer sind wieder auf ihren Plätzen. Und die Musiker auch.

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Blick aus der Vogelperspektive auf das zerklüftete Bühnenbild von Bettina Pommer (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Ungeklärte Baufinanzierung

Spätestens mit diesem Zwischenspiel werden zwei konkurrierende erzählerische Linien erkennbar, die letztlich nicht verwoben sind. Da ist zum einen die globale Kapitalismuskritik (wenn es denn eine war) im kühnen Break, da ist zum anderen eine veritable Krimihandlung, die sehr viel stärker überzeugt. Trefflich ließe sich darüber streiten, wer in dieser wüsten Fantasy-Handlung der größte Schurke ist. Nichts Göttliches gibt es hier zu sehen, eher schon eine Parabel krimineller Inkompetenz.

Der Plot, mit Verlaub, ist irre: Obergott Wotan hat sich von den Riesen Fasolt und Fafner (Frank van Hove und Peter Lobert, beide ganz toll) die Götterresidenz Walhall errichten lassen, ohne auch nur einen Gedanken an die Baufinanzierung zu verschwenden. Sein alter Kumpel Loge hatte angedeutet, daß ihm schon irgendetwas einfallen würde, um sich vor der Zahlung zu drücken. Als Sicherheit dient den Riesen einstweilen Wotans Schwägerin Freia, die in nuttigem Outfit auf der Terrasse steht und immer deutlicher spürt, daß die Sache übel ausgehen wird.

Schließlich kommt Loge, doch eine Idee hat er nicht, außer eben, dem Nibelungen den Schatz abzutricksen. Was schließlich auch gelingt. Und das ist eigentlich eine Geschichte aus dem Luden-Milieu, wo Frauen geldwert hin und her verschoben werden. Hier haben alle Dreck am Stecken und zumindest einer (Alberich) sinnt auf Rache – so ein Mafia-Film schreit nach Fortsetzung.

Der Gesang der  Rheintöchter, einfach nur schön

Das Niederträchtige in dieser Handlung hat Johan Simons deutlich herausgearbeitet. Fast könnte man meinen, er und Wagner hätten sich vorher zusammengesetzt und das alles, stilvoll bei einigen Flaschen Rheingau-Riesling, zusammen ausbaldowert.

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Freia (Agneta Eichenholz, links) und Fricka (Maria Riccarda Wesseling) haben angesichts der Riesen kein gutes Gefühl. (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Der Stoff hätte auch noch brachialere Umsetzungen zugelassen; vermutlich, aber das ist eine Spekulation, hat sich Johan Simons zurückgehalten, um nicht der Schönheit der Musik zu schaden. Ach, der Gesang der Rheintöchter, fließend und schwerelos, nur schön. Woglinde, Wellgunde und Floßhilde heißen sie übrigens, gesungen werden sie von Anna Patalong, Dorottya Láng und Jurgita Adamonyté. Den übergrifflichen Raufereien mit dem geilen Alberich leihen sie übrigens nur ihre schönen Stimmen, während für das Physische täuschen echt gemachte Gummipuppen zur Verügung stehen (resp. liegen).

Bettina Pommers Bühne, eher eine dreigeteilte Pfütze als ein Strom, läßt im Wasser Reste einer Stuckdecke erahnen, und schief und tief baumelt ein Kristalllüster darüber. Hätte man es vorher nicht gelesen, käme man wohl nicht darauf, daß es sich hier um die Reste eingestürzter Altbauten handeln soll. This is the end, doch ein imaginiertes Ende mit dem Anbeginn der Welt, um das es vorgeblich im „Rheingolds“ geht, zu verknüpfen, ergibt nicht wirklich einen Sinn, ist höchstens dialektisch wertvoll.

Ein Fall von Wagner-Delir?

Man weiß manchmal ja auch gar nicht, ob Richard Wagner das alles so bierernst gemeint hat. Verfolgt man (mühelos, dank tadellos funktionierenden elektronischen Texttafeln in Deutsch und Englisch) das gnadenlos alliterierende Libretto in seiner altertümelnden Künstlichkeit, vermeint man manches Mal den Meister vom grünen Hügel augenzwinkernd vor sich zu sehen. Ist vielleicht auch nur Wagner-Delir; doch das soll sich ja erst nach der achten Stunde einstellen. Aber bei Ungeübten…?




Fast ein Krimi – „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder in Bochum

Das Stück beginnt, wie könnte es heutzutage anders sein, mit großen Köpfen auf einer Videowand. Andrei aus Bulgarien skypt mit seiner schwangeren Frau im heimischen Dorf.

Erst auf den zweiten Blick gewahrt man den echten Andrei (Matthias Kelle), der sein Telefonat rechts in der Kulisse offenbar heimlich führt, geschützt unter einem Blätterdach. Er wähnt sich in Gefahr; von Unruhe im Fleischwerk erzählt er seiner Frau daheim, von nicht ausgezahltem Lohn und von geheimen Streikplänen. Und schon wissen wir, wo Christoph Nußbaumeders sein neuestes Stück „Das Fleischwerk“ angesiedelt hat.

"Das Fleischwerk": Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

„Das Fleischwerk“: Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

Immer wieder findet der aus Niederbayern stammende Bühnenautor des Jahrgangs 1978 die Themen seiner Dramen bei den kleinen Leuten, den Ausgebeuteten und Entrechteten. Hier sind es osteuropäische Arbeitskräfte, die in der deutschen Fleischindustrie für Hungerlöhne schuften und überdies noch um ihren Lohn betrogen werden. Und bei einem so didaktisch daherkommenden Einstieg fragt man sich als Zuschauer schon, was das wohl werden wird: Investigative Theaterarbeit, Bildungsfernsehen, Schulfunk? Zunächst sieht es durchaus danach aus.

Ein LKW-Fahrer lernt dazu

Nachdem das Videogespräch beendet ist, schickt Regisseur Robert Schuster nämlich seinen Star auf die Bühne, den Schauspieler Bernd Rademacher, der rein optisch etwas von Mike Krüger hat und den LKW-Fahrer Daniel Rabanta gibt. Er saß, stellt sich nach und nach heraus, wegen eines Totschlagsdelikts im Gefängnis und fand nach der Entlassung einen Job als Schweinekutscher. Für ihn ist das eine ganz neue Welt, die ihm (und uns) sogleich mit Nachdruck erklärt wird – vom unglücklichen Schweinemäster Weidenfeller (Günter Alt), vom Schlachthof-Vorarbeiter Georgi (Matthias Eberle) und in gewisser Weise auch von seiner Schwester Gabi (Anke Zillich), die sich um ihren antriebsschwachen Bruder sorgt und ihm damit auf die Nerven geht.

Doch dann verlässt die Handlung den Pfad der Belehrungen. Der zwielichtige Schlachthof-Subunternehmer Akif (Roland Bayer) kommt ins Spiel, der mit Rabanta Schnaps trinkt und vorsätzlich den Tod des aufrührerischen Andrei in der Gaskammer des Fleischwerks herbeiführt. Angetrunken fährt Rabanta des nachts eine junge Frau an, er nimmt sie mit zu sich nach Hause und versorgt ihre Wunden. Bald stellt sich heraus, dass sie Andreis Witwe Susanna (Minna Wündrich) ist, die von der Arbeiterin Valentina (Veronika Nickl) einen Brief bekam. Sie nimmt blutige Rache an Akif. Rabanta stirbt an Lungenkrebs, Gabi spricht letzte Worte, das Licht geht aus (und wieder an). Und das Publikum ist etwas unschlüssig, was es da in zwei Stunden ohne Pause eigentlich zu sehen bekommen hat.

Schauspielhaus Bochum   Foto: Jürgen Landes

Im Schauspielhaus Bochum erlebte „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder seine Premiere – genau genommen allerdings auf der Rückseite des Gebäudes, in den Kammerspielen. (Foto: Jürgen Landes/Schauspielhaus Bochum)

Subunternehmer, Frauenarzt

Eine aktionsreiche Handlung, ganz ohne Frage, hat Nußbaumeder sich ausgedacht, einen Krimi im Fleischverarbeitungs-Milieu. Doch ein Krimi ist dies nur, weil es Verbrechen gab, nicht etwa, weil deren Auflösung zu irgendeinem Zeitpunkt spannend gewesen wäre. Der fade Nachgeschmack hat sicherlich aber auch mit der Inszenierung zu tun, die sich personell zu sehr auf den tadellos aufspielenden Bernd Rademacher verlässt. Auf eine ähnlich differenzierte Zeichnung des verbrecherischen Subunternehmers Akif Kral verzichtet sie jedoch leider. Hart und unnahbar gibt ihn Roland Bayer und blendet so die tragischen Dimensionen der Person weitgehend aus. Was wäre er geworden, wenn sich die Dinge normal entwickelt hätten, fragt Rabanta ihn bei einem ihrer Schnapstreffen. „Frauenarzt in Teheran“ antwortet Akif, und das scheint er ernst zu meinen. Doch dieser Wortwechsel bleibt ein textlicher Solitär.

Blutleerer Schlachthof

Eigentümlich wirkt das durchaus aufwendige Bühnenbild (Sascha Gross, auch Kostüme), das einerseits aus Rabantas etwas verwahrloster Junggesellenbehausung besteht, andererseits aber auch diverse elektrische Förderanlagen aufbietet. Sie werden nach vorne gezogen, prominent aufgestellt und in Gang gesetzt, wenn Fleischwerkszenen zur Vorführung gelangen. Sie bleiben im wörtlichen wie im übertragenen Sinne völlig blutleer, wirken zudem auch im Betrieb kaum bedrohlicher als eine Tiefkühltruhe, und man fragt sich nach dem Sinn des erheblichen technischen Aufwands.

Nicht zu sehen gab es an diesem Abend, was man nach Titel und Inhaltsankündigung auch hätte erwarten können: den empörten Aufschrei der Tierschützer, der Globalisierungsgegner, der Veganer, und man hat ihn auch nicht vermisst. Überhaupt hatten nicht sehr viele Menschen irgendwelche Erwartungen an dieses Stück. Die Zahl der leeren Plätze im Zuschauerraum war am Premierenabend beunruhigend hoch.




Durch Nacht zum Licht: Die Triennale feiert Nonos „Prometeo“ in Form eines Kirchgangs

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil einer Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil der Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Der Weg ist nicht immer das Ziel. Mitunter kann er mühselig sein, uns verunsichern, ja höchst irritieren. Umso schöner, wenn es dann erreicht ist, das hehre, glänzende Ziel, auf dass wir uns denn in Seligkeit hingeben. Wie jetzt bei der Triennale. Wo das Publikum gewissermaßen durch eine nebelnasse Nacht zum Licht geführt wird. Behutsam, in kleinen Gruppen. Und am Ende einer Schleuse wartet die ultimative Symbiose von Werk und Spielstätte: Luigi Nonos „Prometeo“ in der Duisburger Kraftzentrale.

Soviel Kirchgang war nie. Denn drinnen verschachteln sich harte Holzbänke, die an Gottesdienstaskese gemahnen, zum Sitzgruppenlabyrinth. Heizstrahler an den Füßen inklusive, die indes nach und nach ihren Dienst einstellen. Dünne Platzkissen sollen das Exerzitium, das satte 140 Minuten währen wird, ein bisschen angenehmer machen. Vorn dirigieren Ingo Metzmacher und Matilda Hofman aus Partituren groß wie Folianten, die auf Pulten breit wie Altäre liegen. Sie koordinieren die Einsätze der Vokal- und Instrumentalsolisten, des Chores (Schola Heidelberg), des Ensemble Modern Orchestra und der Live-Elektronik (Experimentalstudio des SWR).

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Nono nennt sein Werk, entstanden Anfang der 1980er Jahre, tatsächlich in einer Kirche uraufgeführt, eine „Tragödie des Hörens“ Dabei bezieht sich die Tragödie durchaus auf den Prometheusstoff, die allerdings eben nur hörend erfahren werden kann. Denn Musiktheater bedeutete für den italienischen Komponisten keine Interaktion oder Szenerie im herkömmlichen Sinne. Das Publikum darf sich allein auf die Klänge konzentrieren, auf das gesprochene, gemurmelte, hervorgestoßene, auch gesungene Wort, auf die Verbreitung im Raum. Und weil diese Art der Rezeption ungemein schwierig ist, weil der Musik insgesamt ja die Linearität abgeht, heißt es immer wieder „Ascolta“! (Höre!).

Vorn musizieren Chor und Orchester, neben und hinter uns, auf kleinen Emporen, weitere Sänger sowie Streicher- und Bläsergruppen. Die Elektronik tut ein übriges, um das Wandern des Tönenden zu untermauern, arbeitet mit Hall-, Echo- und Geräuscheffekten. Solisten und Ensembles liefern Sprachfetzen, etwa aus dem „Prometheus“ des Aischylos, aus Texten von Hölderlin, Walter Benjamin oder Hesiod (Libretto von Massimo Cacciari). Zudem erklingen Melodiefragmente, rhythmische Ausbrüche, vor allem aber üppige Klangschichtungen. Und alles in gehöriger Langsamkeit, als sei das hier ein archaisches Ritual, eine Unterweisung im richtigen Hören.

Dirigent Ingo Metzmacher mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Dirigent Ingo Metzmacher (r.) und Matilda Hofman mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Nun, nach den ersten 20 Minuten tröpfelten manche dem Ausgang zu, einmal sogar eine größere Gruppe. Nonos radikaler Ansatz, so scheint’s, ist ohne weiteres kaum zu vermitteln, trägt nicht über die Zeit. Ob die intellektuell anspruchsvollen Aufsätze im Programmheftchen da weiterhelfen, bleibt eine diskutable Frage. Dass der Komponist die Mehrchörigkeit der alten Venezianer und franco-flämischen Schule genauestens studiert hatte und geschickt in die Moderne des seriellen Komponierens zu transformieren wusste, sei unbenommen. Dass zudem Chöre, Solisten und Orchester das Spiel der Klänge wirkmächtig umsetzen, sei herzlichst anerkannt. Doch Nonos Denken wirkt wie aus ferner Zeit. Sein Schüler Helmut Lachenmann jedenfalls hat mit dem Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das kompositorisch die Emanzipation des Geräuschs vorantreibt, einen weit interessanteren Vorstoß gewagt.

Die Triennale aber lässt Nono feiern wie einen Heiligen. In einer „Industriekathedrale“. Und wir, die wir aus dem Dunkeln ins Helle geführt werden wie Auserwählte, sollen uns berauschen lassen, uns gleichzeitig (bewundernd?) der industriellen Vergangenheit stellen – die Zusammenhänge lernt, wer’s Programm liest. Einst hieß es für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet: „Wandel durch Kultur“. Die Triennale weckt mit hehrer Kultur allerdings eher manch nostalgisch angehauchte Seele. Musiktheater für Sentimentale – ach, vielen Dank.

 

 




Die Sache mit dem Schulspartag

Vor einigen Tagen hat Stefan Laurin bei den „Ruhrbaronen“ über das Bochumer Privatunternehmen Cheersmed berichtet, das mit (nach seiner Ansicht) zweifelhaften Bewegungsprogrammen in etliche NRW-Schulen vordringt und dort kräftig Werbung machen darf. Da sind kritische Nachfragen schon mal angebracht; auch wenn man weiß, dass Laurin sich liebend gern an allem abarbeitet, was esoterisch oder anthroposophisch anmutet.

Auf den ersten Blick weniger anrüchig ist jener lang geübte Brauch, nach dem die Sparkasse Dortmund in den Schulen der Stadt zum „Schulspartag“ aufruft, als wäre dies just eine Veranstaltung der Schulen oder wenigstens eine gemeinsame Aktion von Sparkasse und jeweiliger Schule. Auch könnte man meinen, der Schulspartag sei eine höchst offizielle Institution wie etwa der Weltspartag.

Ausschnitt aus dem Handzettel der Sparkasse Dortmund. (Repro: BB)

Ausschnitt aus dem Handzettel der Sparkasse Dortmund. (Repro: BB)

Unter der Überschrift „Unser Schulspartag“ (wer ist wohl mit „unser“ gemeint?) werden also von der Sparkasse Handzettel und Spardosen verteilt, verbunden mit der Aufforderung: „Liebe Eltern! Der **. September ist ein Schulspartag in der *****-Schule. Bitte geben Sie Ihrem Kind an diesem Tag die Schulspardose mit in die Schule.“

Es folgen Angaben darüber, wie man dem Kind ruckzuck ein Sparbuch bei der Sparkasse einrichtet, dessen Grundstock sich möglichst in der Spardose befinden sollte. „Danke für die Mithilfe und auf eine schöne Schulsparaktion – Ihr Schulsparteam“. Und wieder klingt all das so, als wären auch Schulleitung und Kollegium am Spartag quasi beteiligt.

Am besagten Schulspartag entsteht denn auch ein – von den Sparkassen-Leuten geschickt genutzter – sanfter Gruppendruck von ganz allein, sollten einzelne Kinder in der Klasse sich etwa nicht oder nicht sofort beteiligen. Ach, du machst nicht mit?

Nun ist die Sparkasse ein vergleichsweise seriöses, öffentlich-rechtliches Unternehmen mit (noch) ziemlich vielen Filialen in der Stadt und ausgeprägten Förderprogrammen, ohne die beispielsweise manche Kulturveranstaltung darben müsste. Freilich befinden sich die Sparkassen auch im kommerziellen Wettbewerb mit anderen Instituten und versuchen, mit dem Schulsparen frühzeitig einen Fuß in die Türen der Elternhäuser zu bekommen.

Man setzt dabei auf emotionale Bindung. Ist erst ein Sparkonto eröffnet, bedeutet dies meist eine Perspektive auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht fürs Leben. Dann bleibt man der Bank eben treu, die man schon als Kind gekannt hat. Man hängt geradezu daran.

Bei mir hat’s seinerzeit übrigens auch nachhaltig funkioniert. Auch ich habe mein erstes Sparkassen-Sparbuch aus Kinderzeiten bis heute aufbewahrt. Und jetzt ratet mal, wo ich noch heute mein Konto habe.




Das Unheil der Liebe – Auftakt zu Luc Percevals Zola-Trilogie bei der Ruhrtriennale

Foto: C.Smailovic

Szene aus „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ (Foto: Carmin Smailovic)

Luc Perceval, seit Jahren Garant für außergewöhnliche Inszenierungen, baut für die Ruhrtriennale eine Trilogie nach dem Romanzyklus von Emile Zola, „Les Rougon-Macquart“ (1893). Teil 1 – „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ wurde jetzt in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführt.

Man sitzt im Halbfreien, zwar ein Dach über dem Kopf, aber der Wind fegt etwas Wirklichkeit in die unglückselige Szenerie. Es geht im ersten Teil um Liebe und die ist in diesem Fall ein reiner Unglücksfall. Oder ist das Unglück programmiert? Wird man in Situationen hineingeboren? Sind Herkunft und Stand von vorneherein Schicksal, dem kaum zu entkommen ist? Das Thema klingt heutig und es wird in der Bildungsstatistik täglich betont.

Auf der Bühne gibt es ein Oben und ein Unten, allerdings bewegen sich die Figuren auf dem oberen kleinen Hügel immer am Rande des Abrutschens. Unten ist mehr Ruhe, herrscht halbwegs vornehmes Unglück. Wie ein verbeultes Schiff, festgeklemmt in unruhiger See, im Auf und Ab – zeigt uns die Szenerie Versatzstücke von Beziehungen.

Gabriele Maria Schmeide gibt die Gervaise, eine Wäscherin. Wenige glückliche Momente werden vom Überlebenswillen überdeckt, der sich ums Brot dreht, also ums Auskommen mit dem Einkommen. Da liebt man, wen man braucht und sie ist auf der ewigen Suche nach Glück, das anhält. Ihre Männer sind kein Halt, ihre Kinder kommentieren das zerrüttete Familienbild. Allein sie zu erleben in dieser Rolle, ist ein Erlebnis.

Die besser gestellte Familie des Dr. Pascal ist auf dem absteigenden Ast. Stephan Bissmeier vergöttert seine Ziehtochter vergöttert und gibt sein Geld gedankenlos für Schönes aus. Auch hier Unheil – Verzicht, Verzweiflung, Verstoß. Der Ruf ist hin und somit auch die Liebe. Welch ein Sittenbild!

Die Inszenierung ist gutes Stadttheater mit ausgezeichneten SchauspielerInnen des Hamburger Thalia-Theaters. Die Aufführung in der Gießhalle gibt dem Ganzen einen atmosphärischen Mehrwert. Moderner Schnickschnack findet nicht statt. Es ist, wie es war oder vielleicht immer noch ist. Paare verlassen das Stück in engerer Nähe als vorher. Haltet Euch fest und genießt die glücklichen Momente!




Kochen vs. Theater 40:2

Jeglichen Tag liest man in der Zeitung von Phänomenen, die sich beispielsweise binnen Jahresfrist um 1,8 Prozent gesteigert haben. Donnerlittchen!

Und dann knüpfen die Redaktionen schwerwiegende Überlegungen an diese Entwicklung, denn sie ziehen stets gern die „Immer mehr“-Nummer durch. Auch wenn’s nur schmale 1,8 Prozentpunkte sind. Andernfalls gäb’s ja manchmal wenig zu schreiben. Irgendwie muss man ja für Panik sorgen, für Exaltation und dampfenden Betrieb. „Welchen Aufreger haben wir denn heute?“

Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus (Bild) gehen? (Foto: Bernd Berke)

Der Kulturpessimist fragt: Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus gehen? (Foto: Bernd Berke)

Nun aber die grazile Überleitung zu einem wirklich exorbitanten Zahlenverhältnis. Als es jetzt in einer Dortmunder Grundschule daran ging, sich für bestimmte nachmittägliche Arbeitsgemeinschaften zu entscheiden, haben gleich rund 40 Kinder (bzw. ihre Eltern) die „Koch-AG“ gewählt – und nur ganze zwei die „Theater-AG“.

Welche Bewandtnis es wohl damit hat?

Man kann sich in wildwüchsigen Mutmaßungen ergehen. Wird das Wort „Theater“ schon so selbstverständlich mit diffiziler Hochkultur assoziiert, dass die Vielen lieber nicht nähertreten mögen? Erinnert es sogleich an Streit und Hader („Jetzt mach’ hier kein Theater!“)? Hat hier der reine Nützlichkeits-Aspekt überwogen, der zunächst einmal fürs Kochen sprechen mag? Hat gar der schnöde Elternwunsch obsiegt, die Kleinen sollten öfter in der Küche helfen? Haben die zahllosen Kochshows im Fernsehen die Wahl beeinflusst?

Dabei hat man doch immer gedacht, dass Kinder sich gerne verkleiden und Rollenspiele lieben.

Die Folge des auffälligen Votums ist jedenfalls eine Aufstockung auf zwei Koch-AGs – und die Streichung der Theatergruppe. Sollen wir nun das alte Lied vom Kulturverfall anstimmen? Gemach! Nicht von ungefähr spricht man auch von Kochkultur. Aber man stutzt dennoch.

Um die Leser(innen) zu schonen, belassen wir es bei diesem kurzen Beitrag. Es gibt freilich Leute, die mit diesem Thema ein ganzes Feuilleton zu füllen vermöchten. Um es mal stilblütenhaft zu wenden: Hierbei könnte man den Klammeraffen des Kulturpessimismus reichlich Zucker der Zukunftsangst geben. Hehe, gut gesagt, wie?




Den „Piefke“ gab es wirklich: Vom Heldennamen zum Schmähbegriff

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Der „Piefke“ gilt als österreichisches Schimpfwort für den typischen preußischen Großkotz: arrogant, besserwisserisch, militaristisch. Doch wer glaubt, das Wort sei nur ein typisierender Sammelname für all die unsympathischen Zeitgenossen nördlich der Mainlinie, der irrt.

Den Piefke gab es wirklich: Johann Gottfried Piefke war ein preußischer Militärmusiker von hohem Ansehen. Der Komponist von „Preußens Gloria“, heute noch ein beliebter Marsch, wurde vor 200 Jahren, am 9. September 1815 in Schwerin an der Warthe im damaligen Kreis Posen geboren.

Ins österreichische Schimpfwörterverzeichnis geriet Piefke, glaubt man den legendarisch verbrämten Erzählungen, ohne eigenes Zutun: Der fast Zwei-Meter-Mann sei bei der Siegesparade nach der österreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866, abgehalten auf dem Marchfeld bei Gänserndorf, mit seinem ebenso langen Bruder Rudolf an der Spitze der vereinigten Musikkorps einmarschiert. „Die Piefkes kommen“, sollen da die Soldaten und die Wiener Schlachtenbummler gerufen haben. Seither hat sich der „Piefke“ zum Synonym für den halb belustigenden, halb bedrohlichen Deutschen entwickelt.

Johann Gottfried Piefke war damals schon über ein Jahr lang „Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps“; ein einmaliger Titel, den vor und nach ihm niemand mehr getragen hat. Wilhelm I. ehrte damit den Schöpfer der beiden Düppeler Märsche, des „Düppeler Sturm Marsches“ und des „Düppel-Schanzen-Sturm-Marsches“. Beide entstanden im Schleswig-Holsteiner Krieg 1864 gegen Dänemark. Bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen, so eine weitere Piefke-Legende, soll der Königliche Musikdirektor mit Beethovens Yorck’schem Marsch den Sturm begleitet haben – mit dem Degen dirigierend. Damals war Preußen mit den Habsburgern verbündet. Piefke erhielt die Goldene Medaille des Kaisers von Österreich-Ungarn, Theodor Fontane würdigte den „Tag von Düppel“ mit einem Gedicht – den Musiker eingeschlossen: „‘Vorwärts!‘ donnert der Dirigent, Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.“

So eindeutig, wie solche Erzählungen wollen, ist die Zuordnung des „Piefke“-Begriffs zu dem preußischen Militärkapellmeister freilich nicht. Vorher schon verwendet etwa der Berliner Schriftsteller Adolf Glaßbrenner die Kunstfigur in diversen satirischen Publikationen. So annonciert er etwa im „Komischen Volkskalender für 1849“ die „nächste deutsche Kunstausstellung“, unter anderem mit dem Bild „Rellstab, an einer Tonne Weißbier dichtend … Hintergrund Die Villa Piefke bei Tivoli“. Oder er vermerkt für den 6. Mai: „Der Bürger, Schlächtergesell Piefke, heirathet die frühere Fürstin von Dämelhagen-Mottenau-Schimmelburg-Strohfelde-Pilzethal“. Im „Kladderadatsch“ stellt Glaßbrenner den Piefke neben satirische Figuren wie Strudelwitz und Pudelwitz oder Schulze und Müller.

In Wien rangierte „Piefke“ derweil als Wiener Grantler, wie Piefke-Forscher Hubertus Godeysen in seinem Buch „Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung“ niedergelegt hat. Im Duett mit Pufke zog er in der Zeitschrift „Der Humorist“ über Tagesereignisse her – und die Sottisen wurden offenbar so populär, dass sogar Johann Strauß senior nach den beiden Figuren eine Polka benannt hat. Nach der Niederlage von Königgrätz änderte sich das: Piefke mutierte zum Zerrbild eines preußischen Großmauls. Im Dritten Reich stand in der „angeschlossenen“ Heimat des „Führers“ der „Piefke“-Spottname unter Strafe: Bußgelder und Haftstrafen sollten die Schmähung eindämmen – mit wenig Erfolg, wie die Urteile und die medialen Aufforderungen zum Wohlverhalten belegen.

Der originale Piefke konnte freilich nichts dazu. Er nutzte sein ererbtes musikalisches Talent für die Weiterentwicklung der preußischen Militärmusik. Mit 19 Jahren trat er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt an der Oder an. Drei Jahre später schickte man den begabten Jungen zum Studium an die Berliner Musikhochschule. 1843 zu seinem Regiment zurückgekehrt, ging er mit diesem 1852 nach Berlin, wo sein Talent schnell bekannt wurde: Die Militärmusik bestritt damals unter anderem Platzkonzerte, Bälle, Festkonzerte und viele andere Gelegenheiten mit populärer musikalischer Untermalung. Piefke beherrschte so gut wie alle Instrumente, die in seiner Kapelle benutzt wurden, und feilte unermüdlich daran, den Klang der Militärmusik zu verbessern. Ab 1860 war wieder Frankfurt/Oder sein Wirkungsort, wo er 1884 starb und unter hohen militärischen Ehren auf dem Alten Friedhof – heute der Kleistpark – beigesetzt wurde.

Piefke schrieb über 60 Märsche, unter ihnen als die bekanntesten den „Königgrätzer Marsch“, „Preußens Gloria“ und den „Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch“. Seine beiden Düppeler Märsche waren in Berlin Gassenhauer. In der Musikszene war Piefke hochgeschätzt. Hans von Bülow schrieb über ihn: „Seine aufgeführten Werke von Beethoven und Wagner waren Leistungen, wie sie in dieser Sphäre meisterhaft nicht einmal gedacht werden können und gereichen dem Dirigenten und der Kapelle zur höchsten Ehre.“ Zu den Bayreuther Festspielen 1876 erhielt er als einziger Militärmusiker eine Einladung. Schon im Juli 1876 soll er bei einem Platzkonzert in Frankfurt/Oder Teile aus dem „Rheingold“ in eigener Bearbeitung dem begeisterten Publikum vorgestellt haben. An dem gebildeten Feingeist in Uniform lag es also nicht, dass sein Name bis heute in Österreich herhalten muss, wenn es um deutsche Unkultur geht.




Nachtstücke und falscher Jubel – Martin Schläpfer choreographiert Mahlers 7. Sinfonie

"Die Reise nach Jerusalem" als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik. Foto: Gert Weigelt

„Die Reise nach Jerusalem“ als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik des Finales. Foto: Gert Weigelt

Paukengedröhn, Fanfarengetön: Im Orchestergraben bricht sich ein protzender, prunkender Jubel Bahn, als wären dort Streicher und Bläser und Schlagwerker ganz kirre geworden. Die Musik überschlägt sich, kommt kaum zu Atem, knallt plakativ die Freudenausbrüche aneinander. Und oben, auf der Bühne? Da stehen einige Tänzer im Halbdunkel, wohlgeordnet in Reih’ und Glied, und machen – erstmal nichts.

Jetzt ahnen wir zumindest, im Duisburger Haus der Rheinoper sitzend, vom letzten Satz aus Gustav Mahlers 7. Sinfonie klanglich überwältigt, dass diese ganze Happy-end-Stimmung offensichtlich eine Farce ist, falsches Getöse, um den Jubel an sich zu denunzieren. Zwar lichtet sich alsbald die Szenerie, das vortreffliche Corps de ballet weiß so elegant wie sprungmächtig, so dynamisch wie anmutig, bisweilen in ganz klassischer Manier, den Überschwang zu zelebrieren.

Doch mit dem Einbruch des düsteren Trauermarschthemas aus dem ersten Satz der Sinfonie kippt die Stimmung: eine blonde Ballerina (Anne Marchand) ringt mit einem Hocker, unter dem sie bisweilen wie gefangen liegt. Nichts mehr von gleißender Glückseligkeit. Dann setzt Mahlers Finale zur letzten Raserei an. Auf der Bühne hetzt sich eine Menge bei der „Reise nach Jerusalem“ fast zu Tode. Hinten plötzlich Menschen in langen Mänteln, wie Aufseher in einem Lager, die Musik zieht noch einmal Luft, ein Schlag, Licht aus.

Es ist durchaus logisch, dass Martin Schläpfers Choreographie „7“, die tänzerische Deutung von eben Mahlers 7. Sinfonie, dieses Pseudo-Jubelfinale in Düsternis und Verzweiflungsraserei enden lässt. Geben doch die vier Sätze zuvor allen Anlass, die dunkle, groteske Seite des Daseins auf die Bühne zu bringen. Der Komponist selbst spricht ja in zwei Fällen von Nachtmusiken, das derbe Scherzo nennt er schattenhaft, und der dumpfe Trauermarsch des Beginns, mit der traurigen Tenorhornmelodie, ist eine klare Vorgabe.

Derber Tanz in Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Derber Tanz in klobigen Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Schläpfer lässt zur schaurigen Einleitung Tänzer auf die Bühne kriechen, ungelenke gekrümmte Wesen, schmerzbeladene und zerbrochene Gestalten. Nach und nach erst finden sie gewissermaßen zum aufrechten Gang. Später, im skurrilen Scherzo, stürzt ein Trio herbei, von Ausstatter Florian Etti in Stiefel gesteckt, die Füße auf den Boden knallend, teils in gebückter Haltung, als führten sie einen derben Bauerntanz auf.

Wenn Mahler nun seine wilde Welt mit ihren Banalitäten und ihrem Schmerz verlassen will, driftet er ab ins Sphärische. Streicherklang, Harfenglissando, Kuhglocken, über allem Trompetenseligkeit in höchsten Höhen. Dann führt Schläpfer Paare zusammen, zeigt glückliche Menschen. Doch ach: Mitunter entpuppen sich die Partner als die falschen, durchzieht Rivalität und Eifersucht, bis hin zur Machismo-Brutalität, die Szenerie.

Selbst die 2. Nachtmusik, eigentlich eine hübsche Serenade mit Mandoline und Gitarre, entwickelt ihre Schattenseiten. Zwei Paare necken sich wie im idyllischen Schäferspiel, und doch gibt es, wenn die Musik sich dunkel färbt, sanfte Zweifel.

Schläpfers Mahler-Deutung ist eine, die den Pessimismus, das Leid aus der Musik herausliest. Nur ab und an gibt es Hoffnungsschimmer, als winzige Inseln von Glückseligkeit. Diese Interpretation verdeutlicht zudem, dass die 7. des Komponisten weit mehr im Schatten der „Tragischen“ (Nr. 6) steht als im Faustischen der Nummer acht.

Entsprechend derb naturalistisch, teils brachial in den Klangballungen, oder mit herbem Serenadenton spielen die Duisburger Philharmoniker unter Wen-Pin Chien das Stück. Ziemlich analytisch geht der Dirigent dabei zu Werke, die Strukturen betonend, alles Skurrile, Groteske, Dunkle, Schmerzbehaftete teils überdeutlich herauskehrend. Manchmal leiden darunter die dynamischen Proportionen, andererseits bleibt noch im dichtesten polyphonen Geflecht alles transparent.

Mögen auch hier und da die Trompeten Mühe haben, Mahlers höchste Höhen sicher zu erreichen, bleibt doch der Gesamteindruck einer hochspannenden, in sich geschlossenen Interpretation. Bildmacht und orchestrale Kraft fügen sich zum aufregenden Ganzen. Großer Applaus.

Weitere Infos: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/b-17.1045217

Video-Ausschnitt aus der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=O72cLnIWxKE




Verführung durch die Macht: Klaus Manns „Mephisto“ im Düsseldorfer Schauspiel

Wenn Theaterfotos honorarpflichtig sind, zeichnet schon mal die Rezensentin: "Mephisto"-Ansicht von Eva Schmidt.

Wenn Theater-Pressefotos honorarpflichtig sind, dann zeichnet schon mal die Rezensentin selbst: „Mephisto“-Ansicht von Eva Schmidt.

Der Schauspieler lebt in der Garderobe. Die Lämpchen am Frisierspiegel leuchten, wenn er mit wechselnden Gesichtern hineinblickt.

Manchmal ist es die weiße Maske des Teufels mit eckigen Augenbrauen, die ihm entgegengrinst. Da schaudert es den Schauspieler vor der dunklen Seite in sich selbst und er führt lieber einen lustigen Stepptanz auf. Denn es ist für ihn ein Leichtes, die Charaktere zu wechseln wie die Kostüme.

Seine Beziehung zur Außenwelt besteht ohnehin nur in einem roten Vorhang, der sich manchmal öffnet. Dann blickt der Schauspieler in einen dunklen Raum, geblendet von den Scheinwerfern, die auf ihn gerichtet sind. Die Menschen, die dort sitzen, sind für ihn nur Schemen. Doch er muss für sie leuchten – wie ein Glühwürmchen.

Die Theatergarderobe als Schauplatz für ein Stück über die Verführung des Künstlers durch die Macht: Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat Regisseur Thomas Schulte-Michels diese Szenerie gewählt, um Klaus Manns Roman „Mephisto“ in Szene zu setzen. Er erzählt die Geschichte von Hendrik Höfgen, der im dritten Reich zum Star wird, weil er Karriere auf der Bühne machen will. Das gelingt ihm auch, doch verstrickt er sich: Wen verrät er, wem hilft er in der Diktatur?

Kann man sich als Künstler einfach raushalten aus der Politik? Gewiss nicht. Und so wird aus dem Komödianten ein Mitläufer. Als Vorbild für „Mephisto“, die Paraderolle von Höfgen, galt Gustaf Gründgens, der Goethes Teufel auf unvergleichliche Weise interpretierte – während der Nazizeit und nach dem Krieg. Nach ihm ist der Platz am Düsseldorfer Schauspielhaus benannt, wo er von 1947 bis 1955 Intendant war. In der zweiten Premiere der Saison steht dort nun wieder ein Stoff zur Nachkriegsgeschichte und Nachkriegsschuld auf dem Programm, der ebenfalls im Umfeld der Familie Mann angesiedelt ist.

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: E. Schmidt)

Moritz Führmann spielt Höfgen als cleveren Manipulator: Für seinen Vorteil schlüpft er in jede Rolle, sei es die des Schmeichlers, Liebhabers oder Bewunderers. Er macht sich klein, er bläst sich auf. Doch er kann auch arrogant und fordernd sein, zum Beispiel wenn es um seine Gage geht. Wenn es ihm opportun erscheint, liebäugelt er mit dem Kommunismus, doch lieber wäre er vom Großbürgertum anerkannt. Leider kann er in diesen Kreisen nicht wirklich reüssieren, denn er bleibt doch immer nur ein Komödiant.

Lustvoll spielt Führmann auch die quälende, die ausschweifende Seite dieser im Grunde unsicheren Existenz aus. Wenn er sich von seiner Geliebten und Domina mit der Peitsche traktieren oder vor seiner Frau Barbara die Hosen runterlässt, genießt er die Scham, ergötzt er sich an der eigenen Demütigung. Führmann setzt das ganz physisch um, dieses Sich-klein-Machen, aber auch das Über-sich-Hinausschießen. Die Schwäche und ihre Zwillingsschwester, die Grausamkeit.

Menschen umschwirren „Mephisto“ wie Motten das Licht: Da die Hauptfigur Höfgen so sehr im Mittelpunkt steht, bleiben für den Rest des Ensembles leider nur Nebenrollen übrig, die Aufstieg und Fall der Hauptrolle illustrieren müssen. Dirk Ossig, Sven Walser, Andreas Weissert, Maya Alban-Zapata, Anna Beetz, Katharina Lütten, Louisa Stroux und Hanna Werth geben Kollegen, Weggefährten, Ehefrau, Geliebte und den Theaterdirektor mit Hingabe und Spiellust, doch Höfgen ist ihr Hexenmeister bei diesem Tanz auf dem Vulkan. Er ist der Geist, der stets verneint, so ist denn alles, was man Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, sein eigentliches Element…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Unter dem Joch der Militär-Junta: „Tristan und Isolde“ in der Dortmunder Oper

König Marke (Karl-Heinz Lehner, links) behandelt Tristan (Lance Ryan) als Verräter (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

König Marke (Karl-Heinz Lehner, l.) und Tristan (Lance Ryan). (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Ein bekanntes Zeichen warnt uns, ein gelbes Dreieck mit einem markanten Pfeil. Vorsicht, Hochspannung. Der Aufkleber ziert einen Stromkasten, den Brangäne und Isolde umklammern. Dann holt Isolde ein Beil hervor, schwingt es, als wäre sie Elektra, und schlägt auf den Kasten ein. Sie löscht das Licht, ruft Tristan herbei.

Was dann geschieht, ist mehr als ein Ausbruch rausch- und wahnhafter Liebe. Richard Wagner propagiert im zweiten Aufzug seiner Oper „Tristan und Isolde“ die radikale Abkehr von einer verhassten Welt. Bewusstseinsauslöschung und Todestrunkenheit sind die Ideale, die in dieser Nacht gedeihen.

Im Orchestergraben der Dortmunder Oper, die jetzt mit Wagners Meisterwerk in die Spielzeit startete, heizt Generalmusikdirektor Gabriel Feltz die fiebrigen Schübe an, mit denen sich die Leidenschaft der Hauptdarsteller Bahn bricht. Seine Vorliebe für Tempo-Überdehnungen einerseits und abrupte Beschleunigungen andererseits wirkt hier ausnahmsweise nicht befremdlich, sondern den Seelenvorgängen der Figuren entsprechend. Wagners Überwältigungsmusik mildert die buchhalterischen Tendenzen des Dirigats. Nach der anfänglichen Raserei der Liebesnacht, die Feltz nur mit einiger Mühe zusammen halten kann, beginnt die Musik zu schillern und zu schweben, von Harfen umrauscht. Auch mit Lautstärke-Exzessen hält Feltz diesmal angenehm zurück. Das hilft den Sängern, die einen rund vierstündigen Parforceritt zu überstehen haben.

Die „Bayreuth-Besetzung“, auf die das Theater im Vorfeld der Premiere wiederholt und medienwirksam hingewiesen hatte, bezieht sich auf Lance Ryan, der die Titelpartie bereits auf dem legendären Hügel sang, und auf die Isolde der Engländerin Allison Oakes, deren Auftritte in Bayreuth sich bislang auf die Gerhilde und Gutrune aus dem „Ring“ beschränken. Ihr überzeugendes Rollendebüt sowie die glänzende Brangäne der ebenfalls Bayreuth-erfahrenen Mezzosopranistin Martina Dike heben diesen Abend auf ein insgesamt gutes musikalisches Niveau.

Rache für Morold: Isolde (Allison Oakes) fordert Tristan (Lance Ryan) heraus (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Rache für Morold: Isolde (Allison Oakes) fordert Tristan (Lance Ryan) heraus. (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Die mädchenhaften Farben, die Allison Oakes der Isolde bei aller vehementen Attacke geben kann, nehmen ebenso für die Sopranistin ein wie ihr moderates Vibrato und ihre Textverständlichkeit. Ihre Stimme wirkt bis in extreme emotionale Ausbrüche hinein sicher geführt, zeigt nur wenige Härten und Kälte nur dort, wo die Figur dies verlangt. Mit Martina Dike hat sie eine herausragende Brangäne an ihrer Seite. Ihr warmer Mezzosopran lässt Brangänes Empathie inwendig umso stärker beben, je mehr noble Zurückhaltung sie sich auferlegt. Sie, die mit ganzem Herzen mit ihrer Herrin fürchtet und leidet, will mit ganzer Kraft das Gute, kann das Verderben jedoch nicht aufhalten.

Lance Ryan ringt zwei Akte lang mit der Titelpartie, die er mit verformten Vokalen, unsteter Tongebung und mit Überzeichnungen präsentiert. Indes besitzt der Sänger genug Erfahrung, um sich alle Kraft für den dritten Akt aufzusparen, den er dann doch respektabel stemmt. Solide Größen sind Karl-Heinz Lehner als König Marke und Sangmin Lee als Kurwenal.

Von der Inszenierung sei zuletzt gesprochen, denn sie ist ein ödes Ärgernis. Intendant Jens-Daniel Herzog fällt nichts Besseres ein, als Marke und die Seinen zur fettleibigen Militär-Junta herabzuwürdigen. In trostlosen Amtsstuben wird unentwegt geraucht und mit Pistolen gefuchtelt. Fiese Passkontrollen, Flüchtlinge, Folterszenen – es bleibt uns nichts erspart. Die Bühne von Mathis Neidhardt und die Kostüme von Sibylle Gädeke verströmen einen unbestimmt osteuropäischen Charme. Die Romantik aber nimmt vor solch plattem Politisieren Reißaus.

Zwei gegen den Rest der Welt: König Marke (Karl-Heinz Lehnet) sieht das nicht gern (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Zwei gegen den Rest der Welt: König Marke (Karl-Heinz Lehnet) sieht das nicht gern. (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Der Liebestrank zeitigt in Dortmund übrigens ungeahnte Folgen. Tristan und Isolde entbrennen nicht nur in wahnsinniger Leidenschaft, sondern verhalten sich plötzlich wie Vierjährige, die auf einem Kindergeburtstag zuviel Cola getrunken haben. Tristan hüpft wie ein Flummi, setzt sich die Offiziersmütze falsch herum auf, will die Thermoskanne als Fernrohr benutzen und grinst, als wäre er irre. Auch Isolde treibt plötzlich Allotria. Sollten wir etwa auf Thomas Manns Zauberberg gelandet sein? Fast möchte man die Liebenden darum beneiden, sich in der Liebesnacht die Augen verbinden zu können. Wir indessen müssen zusehen, wie der verwundete Tristan über die Drehbühne robbt, bis uns schwindelig wird. Ach Isolde, lösche die Zünde.

Weitere Vorstellungen bis 17. April 2016. Karten: 0231/ 50 27 222. Informationen: www.theaterdo.de/detail/event/16018/)

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Mozarts Requiem inmitten von Klangräumen – ein Triennale-Konzert der experimentellen Art

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Die Triennale wäre nicht sie selbst, würde auf ihren Konzertprogrammen nur das stets Gehörte, das sattsam Bekannte stehen. Und so hat sich das Festival vor allem dem Neuen in der Musik verschrieben. Kompositionen des Repertoires finden oft nur insofern Beachtung, als sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt werden. Dann mag sich ein anderer Blickwinkel, besser gesagt, ein veränderter Höreindruck einfinden.

Dieses andere Hören soll nicht zuletzt auf der besonderen Akustik der Industriehallen fußen, die mancher in allerernstestem Verklärungseifer als Kathedralen apostrophiert. Nun, so gesehen, passt das jüngste Triennale-Konzert namens „Klangräume“ zur riesigen Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, bekommen wir doch überwiegend Sakrales zu hören.

Alles Klingende kreist dabei um Mozarts Requiem, das sich selbst gewissermaßen nackt präsentiert. Denn das ChorWerk Ruhr, diesen Abend maßgeblich prägend, bringt uns nur des Komponisten Fragment zu Gehör, die unvollendete Totenmesse also, mit all ihren Brüchen oder Auslassungen in der Instrumentation.

Doch der radikale Blick aufs Original ist nur die eine Seite. Weil dieses unfertige Ganze nun kombiniert wird mit „Sieben Klangräume“ von Georg Friedrich Haas – moderne Musik, zwischen einzelne Requiem-Stücke platziert. Sodass nun ein seltsames Zwitterwesen zu hören ist, ein Homunkulus einerseits der scharfen Kontraste, aber auch, zum anderen, der sinnfälligen Verstärkung von Befindlichkeiten.

Erwähnt sei nur das „Lacrimosa“ (Tag der Tränen, Tag der Wehen), von dem Mozart acht Takte nur geschrieben hat, dem der Klangraum V, „Atmung“ folgt: Erst die stockende Musik, dann ein eher unregelmäßiges Atmen, verbunden lediglich mit ein paar Geräuschen. Haas lässt des Menschen Ende auf der Intensivstation suggerieren, so eindringlich beklemmend wie des Klassikers Tonfolgen.

Einen ähnlich starken Effekt bewirkt der Klangraum II, nach Mozarts „Tuba mirum“ (Laut wird die Posaune klingen), wenn Haas’ Musik mehr und mehr in allerschwärzeste Bassregionen hinabfließt. Hinzu kommt ein weiterer Kunstgriff: Der Chor zitiert aus einem sehr weltlichen Schreiben des Wiener Magistrats an Mozart – singend, brabbelnd, flüsternd, mal nur Satzfetzen hervorstoßend, mal auf nur einem Wort beharrend – sodass bisweilen der Eindruck entsteht, hier will sich das Diesseits ins Jenseitige hineinfressen.

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Eigentlich gilt die Musik des Abends aber zuerst dem Sphärischen. Wie es die beiden Stücke des Ungarn György Ligeti sehr eindringlich beweisen. „Ramifications“ für 12 Soloinstrumente steht am Beginn, ein Werk der minimalen Veränderungen, der weiträumigen Verästelungen, sehr statisch, und doch voller Bewegung. Ähnliches gilt für den himmelwärtigen Ausklang, das „Lux aeterna“ für 16 Chorstimmen, die sich in einem mikrotonalen Raum voneinander wegbewegen und wieder zueinander finden. So erleben wir ein großes klingendes Fluidum, dessen Farbspektrum unendlich scheint.

Dies zelebriert das ChorWerk Ruhr in größter Präzision, wenn auch die Soprane bisweilen leicht übersteuern. Aber welches Ensemble verfügt schon über derart schwarze Bässe, die bei Bedarf noch mühelos im Falsett glänzen. Die Bochumer Symphoniker wiederum, alle übrigens unter Leitung von Florian Helgath, glänzen bei der Klanggestaltung. In Mozarts „Requiem“ indes, das der Dirigent schlank und straff musiziert sehen will, fehlt es dem Orchester mitunter an artikulatorischer Genauigkeit. Stilsicher hingegen die vier Solisten, an erster Stelle der markige Bass von Tareq Nazmi, neben Dominik Wortig (Tenor), Ingeborg Danz (Alt) und Sibylla Rubens (Sopran).

Viel Beifall für ein Konzert, dessen experimenteller Charakter verhindert, uns ganz dem Jenseitigen hinzugeben. Hinzu kommt: Akustisch ist die Halle Zweckel für die Sphärenklänge nicht das Nonplusultra. Einst hörten wir das „Lux aeterna“ mit dem ChorWerk im Dortmunder Konzerthaus. Dort wurde das Stück zur Offenbarung.

 

 




„Endlich Dortmund!“ – ein Stadtführer in Klecks- und Kritzel-Optik

Noch’n Stadtführer über Dortmund? Und dann noch einer, der sich „Endlich Dortmund!“ nennt; ganz so, als hätten wir alle seit jeher auf ihn gewartet. Aber vielleicht ist ja vor allem gemeint, dass man mit seiner Hilfe endlich richtig in der Stadt ankommt.

Am Werk war jedenfalls ein recht junges fünfköpfiges Team (Jahrgänge zwischen 1983 und 1990). Da der Band offenbar vorwiegend für (studentische) Neuankömmlinge gedacht ist, hat der Verlag auch auf ein möglichst frisch-fröhliches Erscheinungsbild geachtet, man könnte auch von Klecks- und Kritzel-Ästhetik sprechen. Einige Male finden sich ringförmig gedruckte Kaffeeflecken im Text. Echte fallen dann nicht mehr so auf. Der praktische Nutzen ist nicht zu leugnen.

Layout 1Es herrscht allzeit ein launiger, „flotter“ Tonfall, der von etwaigen Problemen und Schattenseiten in der Kommune lieber nichts wissen will. Die Gentrifizierer von morgen wollen halt feiern und gepflegt konsumieren, drum wird hier gern mal die „stylische Retro-Location“ (O-Ton) angepriesen, Empfehlungen versieht man derweil mit einfallslosen Prädikaten wie „cool“, „angesagt“ oder „kultig“.

Zwar enthält das Buch zahllose Fotos, doch sind sie allesamt nur im „Briefmarkenformat“ zu sehen. Somit entfallen schon mal einige optische Reize. Ob das hippe Publikum, das hier offenbar angesprochen werden soll, die anfängliche Tour durch alle Stadtteile goutiert, erscheint fraglich. Was wollen „Studis“ in Asseln oder Kirchlinde? Sie suchen auch in Dortmund wenigstens einen Hauch vom Prenzlberg-Flair. Deswegen hätten z. B. Kreuz- und Kaiserviertel noch prominenter hervorgehoben werden müssen. Wenn schon, denn schon.

Wer die Stadtteile samt Zentrum hinter sich gebracht hat, ist schon auf Seite 60 angelangt. Nun geht’s aber „endlich“ (!) zur Sache, besser: zu ganz vielen, zumeist zielgruppengerechten Sachen. Fahrradstrecken, Bioläden, Restaurants (Currywurstbuden inbegriffen), Kneipen, Cafés, Sport und Kultur. Das ganze Programm halt. Rauf und runter. Wer etwas genauer reinschaut, wird manche Stätten doppelt und dreifach finden, beispielsweise den „Salon Fink“ am Nordmarkt, der in (mindestens) drei Rubriken genannt wird. Die Betreiber werden es zu schätzen wissen.

Was macht man im Winter, was macht man sonntags? Auch dazu gibt es einige Tipps. Und immer nur das Positive: Liest man hier nach, könnte man glatt glauben, Dortmund sei eine Kinometropole, in der man alle wichtigen Filme gezeigt bekommt. Das stimmt aber nun gar nicht.

Immerhin: Mit diesem Buch wird man als Neuling sicherlich auch ein paar Entdeckungen in der Stadt machen können. Das Wichtigste und auch das Übliche stehen in aller Kürze drin, doch fehlen echte „Geheimtipps“ und manche Abschnitte werden wohl rasch veralten. Aber es gibt einen Ausgleich: Vorsichtshalber gilt diesem Buch, das im Juni erschienen ist, das Deutsche Fußballmuseum bereits als „neu eröffnet“, obwohl es doch erst gegen Ende Oktober starten wird. Da wird die Aktualität rasant links überholt.

Ansonsten hat man an (beinahe) alles gedacht: an typische touristische Mitbringsel aus Dortmund, an ein (freilich etwas dürftiges) Ruhri-Wörterbuch sowie an fiktive Dortmund-Bilder in Literatur, Film und TV, ein notgedrungen knappes Kapitel also.

Und was finden wir am Schluss? Raum für „Deine Dortmund-Notizen“, hübsch vorliniert wie im Schulheft. Alsdann, lasset uns mitkritzeln. Oder etwa nicht?

„Endlich Dortmund!“ rap Verlag, Freiburg. 268 Seiten, Taschenbuch. 15,90 Euro.




Von der Kunst in der Fremde – Gine Selles Roman „Ausflug ins Exil“

CoverGine Selle ist bildende Künstlerin – eigentlich. Nun legt die Dortmunderin ihren ersten Roman vor. „Ausflug ins Exil“ handelt von Chile heute und Deutschland gestern, von starken Frauen und der Kunst, das Leben zu meistern.

Gine Selle: Schon ihr Schaffen als bildende Künstlerin ist ungewöhnlich vielfältig. In den vergangenen Jahren arbeitete die 49-Jährige mit Fotografie, Film und Audios. Sie malt und zeichnet, lithographiert und collagiert, knüpft und kopiert. Sie verschickt künstlerisch gestaltete Postkarten an Phantasie-Adressen und schaut, was mit ihnen passiert („Das Rückkehrer-Projekt“). Ebenso breit ist ihr Themenspektrum: Sie beschäftigte sich mit Kommunikation im Allgemeinen und Höhlenmalerei im Besonderen, mit Familienkonstellationen, mit dem Bayerischen Wald (ihrer zweiten Heimat) und, als ausgebildete Heilpraktikerin, mit Medizin-Themen. Das klingt wahllos, ist es jedoch nicht. Der rote Faden durch ihr Werk drängt sich nicht sofort auf, bleibt aber stets sichtbar. Es geht, immer wieder, um die oder das Fremde, um Verfremdung und das Vertrautwerden.

bücklinge-swKlDass diese Künstlerin nun einen Roman vorlegt, überrascht nur auf den ersten Blick: Schon mit ihren ersten literarischen Gehversuchen gewann sie vor einigen Jahren den ersten Preis in einem Kurzgeschichtenwettbewerb. Seitdem feilte sie an ihrem Stil, belegte Literaturkurse und ließ sehr langsam den ersten Roman wachsen. Nun ist er fertig – ein Episodenroman, pendelnd zwischen Deutschland und Chile, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erlebtem und Fiktion.

„Ausflug ins Exil“, so der Titel, basiert auf Gine Selles Erlebnissen und Erfahrungen bei einem Kunst-Aufenthalt in Chile. Es ist die teils unglaubliche, teils phantastische, mal traurige, mal schockierende Geschichte ihrer chilenischen Gastgeberin, die der Deutschen in langen Gesprächen ihr Leben und ihre Erfahrungen im deutschen Exil schilderte. Gine Selle verwebt diese Geschichten mit ihren eigenen Erlebnissen, mit ihrer Sicht auf das heutige Chile.

Illustrationen: Gine Selle

Illustrationen: Gine Selle

Olinda, so heißt die chilenische Gastgeberin, war als junge Frau vor Augusto Pinochets Militär-Diktatur geflohen und im Ruhrgebiet gestrandet. Dort fand sie ihr Zuhause in der linken Szene, agitierte gemeinsam mit deutschen Freunden und mit ihrer kleinen Familie, der dieses Engagement zwischen Politik und Party nicht immer gut bekam.

Die deutsche Künstlerin Karla kommt unter ungleich bequemeren Bedingungen in die chilenische Fremde: Sie wird für ein Mauer-Kunst-Projekt nach Chile eingeladen und verbringt mehrere Wochen in dem Land, das sie nie zuvor besucht hat. Sie saugt das Leben in dem Küstenort Vina del Mar bei Valparaiso begeistert in sich auf, beißt sich aber auch an den Stories ihrer Gastgeberin fest. Die bietet verlässlich neues Geschichten-Futter und impft Karla mit ihrem ganz speziellen Blick, dem Blick einer ehemaligen Exilantin auf die veränderte Heimat.

„Episodenroman“ nennt Gine Selle ihren Roman – und tatsächlich erzählt jedes der 31 Kapitel auf den 291 Seiten eine eigene kleine Geschichte. Und doch ist dieser Roman mehr als eine Ansammlung amüsant geschriebener Kurzgeschichten. Geschickt knüpft die Autorin Erzählstränge über mehrere Geschichten, baut Spannung auf und hält sie aufrecht. So wie Karla sich mehr und mehr fesseln lässt von Olindas Geschichten, lässt sich auch der Leser gerne und ganz ein auf die Lebenswege dieser beiden Frauen, die sich nur an einem winzigen Punkt für wenige, aber sehr fruchtbare Wochen kreuzen.

Ein Künstler-Roman ist dieses Buch in dreifacher Hinsicht: Erstens wurde es von einer Künstlerin geschrieben, zweitens handelt es von einer Künstlerin – und drittens enthält es Illustrationen. Das Buch ist bevölkert von charmanten kleinen Litographie-Lebenwesen, die auch auf grafischer Ebene von Fremdheit und Kommunikation, Phantasie und Parallelwelten erzählen.

Eine Vorstellung des Romans gibt es am Samstag, 12. September (18 Uhr) im Jazzclub „domicil“ in Dortmund, Hansastraße. An diesem Tag wird ebenfalls eine Ausstellung von Gine Selle in der domicil-Galerie eröffnet.

Gine Selle: „Ausflug ins Exil“. Episodenroman. Epubli Verlag 2015, 12,80 Euro. Zu beziehen unter gineselle.de oder bei epubli.de.




Videospiele, Spiegelungen: „Glückliche Tage“ und „Das letzte Band“ im Dortmunder Theater

Merle Wasmuth mit Publikum

Merle Wasmuth als Winnie, Publikum (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Glückliche Tage“ und „Das letzte Band“ – zwei kurze, intensive Stücke von Samuel Beckett, düstere Lebensbilanzen alle beide, haben jetzt den Weg auf die Studiobühne des Dortmunder Theaters gefunden.

Merle Wasmuth ist die monologisierende Winnie in ihrem halben Erdengrab, Ekkehard Freye ihr im Publikum sitzender, sie mit einigen sparsamen Stichworten versorgender Mann Willie. Freye ist im Anschluß auch Krapp, der Mann mit den alten Tonbändern, und beide Darsteller muß man für ihr intensives, nuanciertes Spiel loben. Denn leicht haben sie es nicht.

Den Ausstattern des Bühnenspiels – das Programm nennt Pia Maria Mackert für Bühne und Kostüme, Michael Deeg für Video, Rolf Giese für Licht und Joscha Richard für Videoassistenz – hat es gefallen, den Bühnenraum vom Zuschauerraum mit einer Spezialfolie vollständig abzuteilen, in der sich das Publikum spiegelt, wenn es beleuchtet wird, die aber auch durchsichtig ist, wenn die Szenerie dahinter Licht bekommt und die Zuschauer im theatergemäßen Dunkel sitzen.

Spiel mit Licht und Technik

Man ahnt die Möglichkeiten: Mit unterschiedlichen Beleuchtungen lassen sich Bühnengeschehen und Publikum – oder Teile davon – zu einer Art Gesamtbild mischen, was verblüffende Effekte zeitigt und durchaus nicht immer sinnfrei ist. Wenn etwa Winnies stilisierter Erdhügel sich im Verlauf des Monologs unmerklich von rechts nach links über die Bühne bewegt, um schließlich an einen Haufen von Totenschädeln zu stoßen, dann verschwindet das Bild der blaß geschminkten Frau am Ende der Fahrt, löst sich auf im Spiegelbild des Publikums. Wirklich bemerkenswert, was technisch heute alles möglich ist.

Ekkehard Freye

Ekkehard Freye als junger Krapp in der Videoprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Doch verbessert diese ausgebuffte Lichttechnik das Stückverständnis? Oder schärft sie die Intensität? Gemeinhin bieten gerade diese beiden Beckett-Einakter Schauspielerinnen und Schauspielern Möglichkeiten für fulminante Auftritte, für die Darbietung intensiver Bühnenkunst, wobei dahingestellt bleiben muß, wie diese Rollen „richtig“ anzulegen sind.

Hier jedoch stellt sich zunächst der Eindruck ein, Merle Wasmuth müsse gegen die inszenatorischen Zauberkunststückchen anspielen, um Intensität zu gewinnen. Das geht zu Lasten der Charakterisierung Winnies, sie bleibt nicht nur im wörtlichen Sinne blaß. Schuld an der Blässe hat aber auch die Lichtführung, die wohl wegen der technischen Zwänge recht steil von oben erfolgen muß und das Gesicht der Darstellerin deshalb stets etwas verschattet zeigt. Immerhin jedoch ließ Marcus Lobbes (Regie) ihr ihren Text, dem konzentriert zu folgen auch in dieser Inszenierung noch ein Gewinn ist.

Anders als Winnie hat Krapp im „Letzten Band“ keine Probleme, erkennbar zu bleiben; den alten, verbitterten, sich als einen Gescheiterten Erlebenden spielt Ekkehard Freye gut ausgeleuchtet und gespiegelt in der ersten Stuhlreihe sitzend; als jungen, arroganten Krapp erlebt ihn das Publikum per Videoprojektion. Kann man machen.

Weitergehende Aktualisierungsversuche sind nicht festzustellen, wofür man dankbar sein muß. Krapp und Winnie überzeugen auch so – wenn man sie nur läßt. Das Publikum dankte mit reichem Applaus.

Weitere Termine: 11., 23. September, 1., 25., 28. Oktober
Informationen und Karten Tel. 0231 5027 222
www.theaterdo.de




Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt – Andreas Maiers Roman „Der Ort“

Allmählich wird das abgelegene Friedberg in der Wetterau zum literarischen Ort. Je mehr der Schriftsteller Andreas Maier („Wäldchestag“) Kindheits- und Jugenderinnerungen in verdichtete Sprache überführt, umso mehr reiht sich der hessische Flecken ein in die Historie bedeutsamer Provinznester.

Mit „Das Zimmer“, „Das Haus“ und „Die Straße“ hat Andreas Maier nach und nach immer weitere Kreise um sein Herkommen gezogen. Sein neuester Roman heißt „Der Ort“ und spielt in den frühen 1980er Jahren, als der Protagonist sozusagen auf dem ersten Scheitelpunkt seiner Pubertät anlangt, sich lesend (was sind das noch für Zeiten gewesen!) von allem und allen in ungute Einsamkeit zu entfernen scheint, während er doch zugleich einem regen Kollektiv, einer bestimmten „Szene“ angehört, und zwar keineswegs als randständiger Außenseiter.

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Stimmig, feinsinnig und mit Erfahrung angefüllt schildert Maier den gleitenden, gleichwohl auch schmerzlichen Übergang aus den späten Kinderjahren in die Jugendzeit. Noch spielen die Mädchen Gummitwist und dergleichen, doch lockt zumal eine gewisse Katja Melchior schon auf andere, durchaus aufregende Weise. Die Jahre, die ihr kennt…

Auch der Ort verändert sich. Es ist die Zeit, in der nach und nach alle Umgebung durch Trassen und Umgehungsstraßen durchpflügt, umzingelt und nachhaltig geprägt wird. Fast unmerklich und doch machtvoll kündigt sich ein Verlust an.

Im Leben der Jugendlichen ist derweil alles randvoll mit Ahnungen, es ist ein Ansammeln vordem ungeahnter Gefühlslagen. Da dämmert eine neue Lebensrolle herauf, fast wie aus dem Nichts.

In wechselnden Konstellationen und Choreographien kreisen die jungen Leute Tag für Tag umeinander, klären auf Partys ihre mehr oder weniger subtilen Hierarchien, üben die Regeln des Sich-Näherns und des Entfernens ein.

Alles, was da geschieht, wirkt überaus gültig – und dermaßen erschöpfend, so dass so manche Schulvormittage vertrödelt werden müssen. Entschiedener noch: Es bilden sich Rituale heraus, mit denen die Jugendlichen sich gezielt künstliche Ohnmachten zuzufügen, sich in Trance versetzen. Dabei kommen sie sich doch so unverwundbar vor. Vielleicht müssen sie sich gerade deshalb betäuben?

Wie befremdlich auf einmal der gewöhnliche Alltag wird. Die eigene Unterhose kommt dem Erzähler ebenso seltsam vor wie das gesamte elterliche Ambiente, ja überhaupt das Leben der Erwachsenen am Ort und überall. Mag sie auch betrüblich grundiert sein, so hat die Distanz doch auch ihre sanft komischen Seiten. Und die Eltern, die Lehrer? Sind bei all dem rundweg sprach- und machtlos.

Das Gefühl der schier grenzenlosen Freiheit führt auch – eher noch spielerisch – zur ersten Politisierung, die sich dort und damals gegen rechtslastige CDU-Typen richtete. Wie lang ist das her!

Es ist beileibe nicht das erste Buch, das dieses ungeahnte, alsbald nicht mehr wiederkehrende Jugendgefühl beschreibt. Es ist vielmehr die Fortsetzung einer großen, langen Tradition. Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt, hat eben viele, viele Vorläufer. Es bleibt, wenn es so beschrieben wird wie hier – für alle Zeit spannend.

Allerdings flüchtet der Erzähler willentlich vor dem landläufigen Jungsein. Alles kommt ihm so gespielt und aufgesetzt vor, wie ein tausendfältiges Klischee. Ihm ist gar, als habe er seine Hände verloren und als müsse er reglos verharren. Ein Schluss, der auf Erstarrung hinzudeuten scheint. Aber wer weiß.

Andreas Maier: „Der Ort“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 154 Seiten. 17,95 Euro.

Auszug aus einer Lesung des Autors hier




Alte Zechen, alte Schlösser – die Ruhrtriennale im Vergleich mit anderen Sommerfestivals

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Gleich kommt Musik: Haus Bothmer ist eine Spielstätte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. (Foto: rp)

Jene rußig-grauen Zeiten, da tief die Briketts durch das Ruhrgebiet flogen, sind bekanntlich vorbei. Die Industrie wurde etwas sauberer und viel logistischer, doch die Kultur setzt nach wie vor auf alte Werte und Orte, wirkt zwischen Hochöfen, in Gebläsehallen und gigantischen Kohlemischanlagen. Dieses Verharrungsvermögen ist eigentlich erstaunlich, denn gerade von der Kultur könnte man doch erwarten, daß sie sich neue Terrains erobert.

Doch nein, sie verharrt. Und dies keineswegs nur im Ruhrgebiet, wo das Land eher grau als grün ist, sondern stärker noch auf dem platten Land, wo in nach wie vor wachsender Zahl alte Schlösser, Güter und Ritterburgen mit Kulturveranstaltungen prunken.

Vor etlichen Jahren gab sich der Pianist und Kulturmanager Justus Frantz recht erfolgreich daran, aus Schleswig-Holstein ein einziges großes Sommerfestival zu machen, der Erste war er auch damals schon nicht, und mittlerweile festiwallt es, wohin immer man schaut. Mit klarer Wachstumstendenz – auch das Musikfestival von Mecklenburg-Vorpommern leistet sich mittlerweile eine Anne-Sophie Mutter oder einen Klaus-Maria Brandauer, und der unvermeidliche Götz Alsmann ist mit seiner Band gleich an mehreren Spielorten zu Gast.

Da reizt es natürlich schon, ein bißchen zu vergleichen zwischen dem Projekt Ruhrtriennale und dem ländlichen Kulturtreiben der Flächenländer. Und nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, daß auch bei uns so manches Schloß musikalisch umspielt wird, Nordkirchen zum Beispiel. Aber das eine große Musikfest auf dem Lande hat NRW eben nicht.

Picknick-Laune in Mecklenburg-Vorpommern

Also schau’n wir mal. Auf dem Land, erster Eindruck, dominiert der Mainstream, das zu Herzen gehende kunstvolle Geläufige. Über die Stars freut man sich auch noch, wenn man sie wegen einer recht nachlässigen Bestuhlung kaum sieht, und wenn die Musik eher aus den Lautsprechern als von der Bühne zu kommen scheint, macht selbst das eigentlich nichts. Man ist ja, zweiter Eindruck, in entspannter Picknick-Laune und genießt die Musik eher en passant, als erbaulichen Abschluß des Tages, jedoch nicht als dessen einzigen Programmpunkt.

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Garant für Elementarkomfort: Klappstuhl auf nicht ganz ebener Wiesenfläche beim Konzert in Bothmer. (Foto: rp)

Lustige Strohhüte

Eine weise Festivalregie inszenierte im frisch renovierten Schloß Bothmer, gelegen zwischen Boltenhagen an der Ostsee und Klütz, einen Picknicknachmittag, zu dem das zahlende Publikum Tische und Stühle, Speisen und Getränke mitbringen konnte und dies in reicher Zahl tat. Manche wollten auch auf Tischschmuck und Kerzenständer nicht verzichten, und viele, viel trugen der gelassenen Tageslosung gemäß lustige Strohhüte. Ob die Leute nun, Frauen wie auch Männer, tatsächlich so entspannt waren oder sich lediglich um die angesagte entspannte Eigenoptik bemühten, fragte man sich da manchmal schon.

Wenig Gastronomie

Das Triennale-Publikum jedenfalls ist ganz anders. Hier gehen die Leute zum Konzert wie zur Schicht. Und anschließend wieder nach Hause. Die Gastronomien der Spielorte beschränken sich selbst in der Bochumer Jahrhunderthalle auf zwei Tresen, entspanntes Picknick-Geschehen nach Art der Landfestivals ist so gut wie unbekannt. (Es mag Ausnahmen geben.) Dabei wären beispielsweise die Wiese vor der Halle Zweckel in Gladbeck oder auch der neu gestaltete Grünbereich vor der Dinslakener Kohlenmischanlage keineswegs picknickungeeignet.

Auf der Wiese wird gebechert

Auf jeden Fall jedoch ist Triennale-Kultur nüchtern wahrzunehmen, was für Landfestivals offenbar nicht gilt. Hier klirren die Pappbecher, auch während der Vorstellung. Aber natürlich läßt sich nicht alles mit allem vergleichen. Ein mehr oder minder stark alkoholisiertes Triennale-Publikum wäre eine grauenhafte Vorstellung, während es bei der gut verstärkten Land-Musik zumindest nicht stört. Landfestivals finden ja per Definition in einer freudig-friedvollen Grundstimmung statt, der aggressive Elemente fremd sind.

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Beliebt bei Festvals in Ost und West ist das Feuerwerk – hier über Haus Bothmer. (Foto: rp)

Eingekaufte Produktionen

Die Künstler kann man vergleichen, die eingekauften Produktionen, die mehr oder weniger ja eigens für Festivals geschaffen werden und denen man nun landauf, landab immer wieder begegnet. Höhepunkt im Musikprogramm von Haus Bothmer in Mecklenburg-Vorpommern war der „Sommernachtstraum“ in der Vertonung Mendelssohn-Bartholdys, bei dem Klaus-Maria Brandauer den Sprecher und „Entertainer“ (könnte man vielleicht sagen) gibt. Vielerorts war diese Produktion schon zu erleben, was keine Rolle spielt, wenn man sie noch nicht kennt.

Auch die Triennale kauft ein, Auftritte des Collegium vocale aus Gent zum Beispiel. Weitaus spektakulärer jedoch waren und sind seit Mortiers Zeiten die Eigenproduktionen, von denen etwa Bernd Alois Zimmermanns revolutionäre Oper „Die Soldaten“ es als Produktion der Ruhrtriennale hinterher bis an den Broadway schaffte. Spätestens hier hören die Vergleichbarkeiten auf, es soll in diesem Aufsatz ja mehr um das Drumherum gehen.

Elende Autofahrerei

Was das elitäre Metropolenfestival Ruhrtriennale und die schwelgerischen Musikfeste auf dem Lande ganz unerwartet eint, ist die elend lange Anreise zu den Konzerten. Gerade so wie die mecklemburgischen Schlösser und Herrensitze im ganzen Land verteilt sind, verteilen sich auch die postindustriellen Spielstätten der Triennale über das westliche Revier. Das ist lästig und vom Raumangebot her nicht zwingend, doch einem Plan geschuldet. Schlösser wie Zechen sollen zumindest einige wenige Male im Jahr kultureller Mittelpunkt sein, das rechtfertigt ihre alten Funktionen längst enthobene Existenz und macht sie auf eigentümliche Art vergleichbar. Bemerkenswert ist da übrigens auch, dies aber nur ganz am Rande, oft die architektonische Ähnlichkeit der Spielstätten, die daher rührt, daß die Industriearchitektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen ausgeprägten Retrostil pflegte und alte Burgen gern zu Vorbildern nahm (oder Malakowtürme).

Alle lieben Feuerwerk

Feuerwerk erfreut sich stets großer Beliebtheit bei Festivalmachern, weil auch das nicht zahlende Publikum etwas davon hat und man so eine gewisse Gemeinnützigkeit andeuten kann. Und auch die Pest des heutigen Kulturbetriebs hat unterschiedslos alle Festivalbühnen erreicht: Die allzu tiefe Verbeugung vor den Sponsoren aus der Industrie, für die ihr Einsatz ein (an sich nicht zu kritisierendes) Geschäft mit klarer Kosten-Nutzen-Rechnung ist.

Bei der Ruhrtriennale, auch das ein Ereignis mit starkem Zumutungscharakter, trat zudem noch die Bundeskulturstiftung auf und brüstete sich damit, die „Accattone“-Produktion mit 800 000 Euro gefördert zu haben. Niemand aber stellte sich auf die Bühne und dankte den Steuerzahlern (und Zahlerinnen natürlich), die den Löwenanteil eines jeden öffentlichen Festivals finanzieren.




Thomas Mann auf der „Kö“: Unterhaltsame Saisoneröffnung in Düsseldorf

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: Eva Schmidt)

Ein Teil des „Kö“-Bogens ist immer noch eine Baustelle, im Moment haben die Graffiti-Künstler den Gustav-Gründgens-Platz am Stadttheater im Griff und sprühen bunte Bodengemälde aufs Pflaster. Doch zur Saisoneröffnung unternimmt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Zeitreise ins Jahr 1954: Damals sah die „Königsallee“, so der Titel des gleichnamigen Stückes nach dem Roman von Hans Pleschinski, noch ein wenig anders aus, obwohl sie schon lange Düsseldorfs „Prachtstraße“ war.

Auch das Hotel Breidenbacher Hof, in dem die Handlung größtenteils angesiedelt ist, steht nach wie vor am gleichen Platz. Doch um Mode, High Society oder Shopping geht es in „Königsallee“ gar nicht, sondern um deutsche Nachkriegsgeschichte und dies am Beispiel des Nobelpreisträgers Thomas Mann. Tatsächlich war der Autor im August 1954 auf kurzer Lesereise im Rheinland, in Köln und Düsseldorf, wo anschließend ihm zu Ehren ein Empfang im Künstlerverein Malkasten gegeben wurde, wie der „Zauberer“ in seinem Tagebuch notiert.

Diese wohl nicht ganz so zentrale Begebenheit in Thomas Manns Leben hat der Autor Hans Pleschinski zu einem Roman aufgeblasen, indem er eine Begegnung zwischen Thomas Mann und einem ehemaligen jugendlichen Schwarm Klaus Heuser hinzugedichtet hat, der ursprünglich aus dem Rheinland stammte. Außerdem treten Weggefährten und Widersacher sowie enttäuschte Familienmitglieder wie zum Beispiel Golo Mann (Jakob Schneider) auf, die alle in mehr oder weniger schwieriger Beziehung zu dem bewunderten Genie stehen.

Ilja Richter hat den Roman für das Düsseldorfer Schauspielhaus dramatisiert, Wolfgang Engel führte Regie. Und dies ist ganz unterhaltsam geraten, denn die Verdichtung für die Bühne führt zur Konzentration des Stoffes gegenüber dem etwas weitschweifigen Roman. Zudem gelingt es der Inszenierung, die Atmosphäre der 50er Jahre und das Ringen mit der Nazi-Vergangenheit plausibel zu machen. Wie die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin stehen wuchtige schwarzgraue Quader auf der Bühne (Olaf Altmann), die zugleich als Hotelgänge fungieren. Denn Klaus Heuser (Harald Schwaiger) und sein Freund Anwar Batak Sumayputra (Yung Ngo) aus Asien haben unwissentlich im selben Hotel wie Thomas Mann Quartier genommen.

Heuser, seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen, machen sogleich die Stickigkeit und spießige Nachkriegsmoral zu schaffen, die er durch sein freieres Leben in Asien gar nicht mehr gewohnt ist. Auch bekommen ihm und seinem Liebhaber die scharfen Schnäpse und großen heimatlichen Biere nicht besonders; Schwaiger und Ngo spielen dieses Pärchen mit Leichtigkeit und Ironie und bieten mit ihrem Bekenntnis zur schwulen Lebensweise ein Gegenbild zu Thomas Manns „geheimer“, sublimierter Homosexualität. Zudem gelingt ein Blick von außen auf die Verstrickungen der Nazi-Zeit, die beispielsweise durch die Figur des Mitläufers Prof. Betram (Artus-Maria Matthiessen) verkörpert wird.

Bücherverbrennung, Exil, anti-intellektuelle Ressentiments: Nur schwach übertüncht von kriecherischer Bewunderung für den Groß-Schriftsteller schwappt die ganze braune Soße wieder nach oben, was besonders Erika Mann (Claudia Hübbecker im charakteristischen Hosenanzug) zu schaffen macht. Dramatisch fassbar wird dies durch die Figur des Conférenciers (Martin Reik), der mit einer transportablen Musikanlage zwischen den Szenen schauerliche Medleys von „Wenn bei Capri die rote Sonne…“ bis „An allem sind die Juden schuld“ abnudelt.

Und Thomas Mann selbst? Tatsächlich hat die Hauptfigur, distinguiert gespielt von Reinhart Firchow, gar nicht mal so übermäßig viel Text, abgesehen von einer Ansprache an die Nachkriegsdeutschen gegen Ende. Doch wie dabei sein Gesicht mit der runden Brille im Halbschatten liegt, fühlt man sich in eine der zahlreichen Spielfilme oder Dokumentationen zur Familie Mann versetzt, so dass der Dichter von den Toten auferstanden scheint. Bei Abercrombie&Fitch auf der „Kö“ ist er allerdings noch nicht gesichtet worden…

Karten&Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de