Triennale-Nachlese: „Die stille Kraft“ des Niederländers Louis Couperus in Essen

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus' "Die stille Kraft". Foto: Werner Häußner

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“. Foto: Werner Häußner

Das Wasser, dieses unheimliche Wasser, diese kraftvolle, unausweichliche Urgewalt: Zu Beginn der Aufführung ist die Grenze zwischen Trocken und Nass exakt über die Bühne gezogen; genau an der Trennlinie spielt jemand Klavier. Doch wenn das geregelte Leben zerbricht, stürmt das Wasser die Bühne, tobt sich in einem Gewitter aus, lässt die Planken aus Tropenholz dampfen, dünstet aus den Ritzen und hüllt die Welt in Nebel.

Ein Bild, das nicht die Atmosphäre des Monsunregens in Indonesien – dem Schauplatz von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – illustrieren will, sondern das als große Metapher die Bühnen-Einrichtung von Jan Versweyveld im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen dominiert. Das Wasser, ein naturhafter Akteur, der für das Unbewusste ebenso stehen kann wie für die unheimlichen, unaufhaltsamen Dynamiken, die in dem Schauspiel nach dem Roman des niederländischen Autors Krisis und Katastrophe hervorrufen.

„Die stille Kraft“ gehört zu den letzten Produktionen der ersten Triennale von Johan Simons. Ein vergessener Stoff, geschrieben im Jahr 1900 von einem damaligen Erfolgsautor, der wie Thomas Mann in Deutschland in großen Romanen den Zerfall der bürgerlichen Kultur und Familie in Augenschein nimmt.

„De stille Kracht“ spielt zwar in Indonesien, thematisiert aber ebenso die Brüchigkeit europäischer Lebenskonzepte wie eine Kolonialgeschichte oder den „Clash“ unvereinbarer Kulturen. Das Unbehagen an der ach so dauerhaft scheinenden, sich selbst so sicheren Gesellschaft Europas wird greifbar im Kontrast zu der geheimnisvollen, sich nicht rational aussprechenden asiatischen Welt.

Der Ruhrtriennale ist zu danken, auf diesen Autor aufmerksam gemacht zu haben, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. „Die stille Kraft“ ist 1993 einmal in deutscher Sprache erschienen, beim Aufbau-Verlag, aber längst nicht mehr erhältlich. Simons plant, auch 2016 und 2017 Bühnenadaptionen von Romanen Couperus‘ zu spielen und leistet damit, was eine vornehmes Ziel der Triennale ist: den Blick zu weiten für andere kulturelle Welten.

Es würde zu kurz greifen, die Geschichte auf einen vermeintlich unvermeidbaren Konflikt westlicher und östlicher Kulturen zu reduzieren, so reizvoll das unter aktuellen Vorzeichen auch wirken mag. Und Regisseur Ivo van Hove meidet folglich allzu explizite Anspielungen, deutet nur in Kostümen (An D’Huys) oder durch asiatisch geprägte Schauspieler den „exotischen“ Aspekt an. Denn tatsächlich geht es um das Scheitern eines europäischen Rationalismus, der heute zum ökonomisch-pragmatischen Utilitarismus degeneriert ist.

Der Unterschied wuchert in der Seele

Der Protagonist Otto von Oudijck, Kolonialverwalter der (erfundenen) Region Labuwangi auf Java, verbindet positivistisches Denken mit einer protestantischen Ethik, die das Wohl der Menschen will, es aber auf „vernünftige“ Aspekte reduziert: Als die Eingeborenen einen Brunnen mit einem Opferfest einweihen wollen, verweigert er die Zustimmung, weil er ein Ritual einige Wochen nach Inbetriebnahme für sinnlos erachtet.

Gijs Scholten van Aschat gibt diesem Mann, der sich im zufriedenen Mittelmaß eingerichtet hat, keine unsympathischen Züge, im Gegenteil: Er will das Beste für Land und Leute, aber er sieht und hört nicht, was sich außerhalb seines rational abgesteckten Horizonts zusammenbraut. Wir sehen ihn, wie er vor seinem Schreibstuhl kniet, wie er seine Akten aus dem Wasser zieht, wie er versucht, sich mit den Kladden gegen den Regen zu schützen. Noch am Ende, als er von der „stillen Kraft“ überwältigt, in einem einheimischen Dorf lebt, versucht er, das Wasser zu bändigen, zu ordnen: Er gießt es in Gefäße, die er in einer exakt geraden Linie voreinander setzt. Ein wunderbares Bild des Scheiterns – und des inneren Vorbehalts.

Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – und das ist, zumindest in dieser klugen Einrichtung Peter van Kraaijs für die Bühne, ein Vorzug – verteilt keine Moralwerte, urteilt nicht, lässt seine Menschen in einer Ambivalenz, die auch tragische Züge ihres Unvermögens nicht verdeckt. Leonie van Oudijck etwa, die Frau des wackeren Kolonialbeamten, glüht in der wunderbaren Darstellung durch Halina Reijn vor sexueller Gier, lebt sie ungeniert und schrankenlos aus mit ihrem Stiefsohn Theo und dem dunkel-geheimnisvollen Halbindonesier Addy de Luce. Aber in dem Moment, in dem ihr Mann die javanische Prinzessin (formvollendet: Marieke Heebink) demütigt, weil er „dem Recht“ zum Sieg verhelfen, die „Ordnung“ bewahren will, appelliert sie voll Menschlichkeit und Anteilnahme an seine Barmherzigkeit – vergeblich.

Mag sein, dass Couperus nur einen Weg sah, den „in der Seele wuchernden Unterschied“ zwischen Europäern und Einheimischen zu überwinden – den einer intimen Begegnung. in den Kindern aus beiden Kulturen ließe sich so etwas wie Hoffnung festmachen. Aber sie werden verachtet und verleugnet: Auf den sinnlichen Addy (Mingus Dagelet) werden alle Vorurteile projiziert; der illegitime Sohn Oudijcks wird totgeschwiegen. Als der blonde, „reinblütige“ Theo von seinem Halbbruder erfährt, führt seine Rebellion zum finalen Umsturz: Er wirft den Stuhl um, an dem sein Vater sich festgehalten hat, das Instrument der Weltordnung und des Realitätsverlustes. Jip van den Dool spielt in dieser Szene bravourös die mühsam im Zaum gehaltene innere Wut des jungen Mannes, die sich nun endlich Bahn brechen kann.

Die Jugend macht die Heuchelei und die Verdrängungsspiele der Alten nicht mehr mit – auch das ein Krisensymptom. Ein anderes manifestiert sich in der Sekretärin von Oudijck, Eva Eldersma. Maria Kraakman verkörpert eine gebildete Frau, die den Abgrund spürt. Sie fühlt „die Kraft, die gegen die ganze Westlichkeit vorgeht“. Sie registriert, wie hohl die europäische Kultur an der Schwelle des Ersten Weltkriegs tönt: „Das Kunstgetue ist eine Seuche ….“. Dem Fremden, Unwirklichen, das mit Mücken, Termiten und Kakerlaken das westliche Gebäude unterminiert, hat sie nichts entgegenzusetzen.

Eine pessimistische Sicht, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute bitter bewahrheiten sollte. Eva wird das Land verlassen, hin zu europäischen Zielen, die eher in Träumen und Visionen einer dynamischen Kultur eine Rolle spielen – wie Paris. Dass sie zum Abschied den „Feuerzauber“ aus Wagners „Walküre“ spielt, ist bezeichnend: Die „Götterdämmerung“ wird nicht auf sich warten lassen.

So wird Peter van Kraaijs Couperus-Adaption zu einer bitteren Bestandsaufnahme, die aber auch als Appell gelesen werden kann: Ein Appell zur europäischen Selbstbesinnung und für ein Reinforcement europäischen Selbstbewusstseins. Simons ist mit dieser Produktion der Toneelgroep Amsterdam, die noch bis Februar 2016 in Amsterdam und bei einem Gastspiel in Antwerpen zu sehen ist, eine wichtige Entdeckung gelungen. Ein gutes Zeichen für die beiden nächsten Jahre.




„Sein Bayreuth war Europa“: Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin

"Vasco da Gama" von Giacomo Meyerbeer, Regie: Vera Nemirova, Premiere am 4.10.2015, Deutsche Oper Berlin, Foto: Bettina Stöss

Szenenbild aus „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (Foto: Bettina Stöss)

Für Giacomo Meyerbeer hat die Deutsche Oper Berlin einen großen Namen aus der Regieszene aufgeboten: Vera Nemirova, die einen gefeierten Frankfurter „Ring“ verantwortete und in der Region 2013 mit „Tristan und Isolde“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hatte, wagte sich an „Vasco da Gama“ – früher bekannt unter dem verfälschenden Titel „Die Afrikanerin“ („L’Africaine“).

Die letzte große Oper des aus Berlin stammenden Komponisten – ein Jahr nach seinem Tod 1865 uraufgeführt – erlebte einen Tag nach der großen Wiedervereinigungsfeier eine umjubelte, wenn auch nicht unumstrittene Premiere.

Ein sinniges Datum: Während die Staatsoper im Schillertheater den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mit einer Premiere von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und damit mit so etwas wie einer deutschen Nationaloper beging, richtete das Haus an der Bismarckstraße mit Meyerbeer den Blick auf die internationale Musikszene des 19. Jahrhunderts: „Sein Bayreuth war Europa“ titelt ein Kongressbericht über Meyerbeer. Da ist viel Wahres dran.

Der gebildete Intellektuelle aus jüdischer Familie hat seine Karriere in Italien und Paris gemacht. Er steht als „der“ europäische Komponist des 19. Jahrhunderts für einen Musikbegriff, der sich von der nationalen Verengung der Musiktheorie seiner Zeit absetzt: ein internationaler Zug, der deutsche Tradition mit den Stilmitteln des italienischen Belcanto verbindet. Und der die moderne, von Eugéne Scribe und Daniel François Esprit Auber mit seiner „La Muette de Portici“ (1828) konkretisierte Form der großen historischen Oper perfekt auf den Betrieb der Pariser „Opéra“ und den Geschmack ihres Publikum zuschnitt.

Der Erfolg gab Meyerbeer recht; die Polemik – mit Wagner an vorderer Stelle – reagierte wütend: Ein Jude, so die krude These von damals, könne letztlich keine tiefe Musik schreiben, da der Kern wahrer, schöpferischer Musik immer im „Nationalen“ zu finden sei.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Heute sind solche Urteile zum Glück Geschichte – noch nicht historisch ist allerdings, dass Meyerbeer allmählich aus den Spielplänen verdrängt wurde. Inzwischen haben seine bedeutenden Werke wieder ihren Ort gefunden – wenn auch nicht im Zentrum des Repertoires, so doch auf einem geachteten Randplatz.

Berlin, Meyerbeers Heimat und langjähriger Wirkungsort – auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist er auch begraben – startet nun einen ehrgeizigen Versuch, die Rezeption auf höchstem Niveau wieder anzustoßen: In den nächsten drei Jahren ist an der Deutschen Oper ein Zyklus geplant, der mit „Vasco da Gama“ begonnen hat, im nächsten Jahr mit „Les Huguenots“ in der Regie Stefan Herheims fortgesetzt und 2017 mit „Le Prophète“ beendet wird.

Missbrauch des Glaubens

Nicht nur in „Vasco de Gama“ bilden Macht und Missbrauch des Glaubens einen zentralen Aspekt der geistigen Problematik. In der Nürnberger Inszenierung der „Hugenotten“ hatte das Regisseur Tobias Kratzer deutlich gemacht; auch Stefan Otteni fokussierte sich in seiner Braunschweiger Inszenierung des „Propheten“ in der letzten Spielzeit auf den Missbrauch der Religion im Mahlstrom der Macht. Und die bevorstehende Premiere von „Le Prophète“ am Staatstheater Karlsruhe am 18. Oktober wird zeigen, wie Kratzer seine Sicht auf dieses bestürzend aktuelle Werk präzisiert.

In „Vasco da Gama“ geht Meyerbeer mit diesem Thema weniger explizit um. Aber Nemirova will den Blick auf die unterschwellige Frage des Gottesbegriffs richten. Und auf die Rolle von Glauben für die Figuren. Vasco da Gama etwa stürmt in Felduniform auf die Bühne und in die Schar der Offiziere am Hof des portugiesischen Königs in ihren Galauniformen: der dynamische, aktive Eroberer gegen die beharrenden Vertreter eines Status Quo.

Jens Kilian konkretisiert in seinem Bühnenbild, wie unterschiedlich die Welt-Träume der Protagonisten sind: Für Ines, die in Vasco unsterblich verliebt ist, dient das aufrecht stehende Halbrund einer Weltkugel mit einer Zeichnung Afrikas und des Indischen Ozeans als Projektions- und Erinnerungsfläche. In ihrer das Stück einleitenden Arie spielt sie mit Papierschiffchen, malt die gedachte Route Vascos in die „neue Welt“ mit Kreide nach.

Für den königlichen Rat senkt sich das Halbrund und bildet einen Konferenztisch: Hier geht es um das Abstecken von Macht und Terrain, um Kontrolle und Einfluss – und die Vertreter der Kirche, von Marie-Thérèse Jossen in realistische Soutanen gesteckt, mischen kräftig mit. Scribes Libretto zeichnet sie, bestätigt von Meyerbeers Musik, als Prinzipienreiter. Der auf Erfahrung basierenden Argumentation des Seefahrers setzen sie die einfache Feststellung entgegen, er sei eben ein Ketzer: ein Totschlagargument im wahrsten Sinn des Wortes.

„Unsterblichkeit“ durch Ruhm und große Taten

Den statischen, die bestehenden Verhältnisse bestätigenden Gottesbegriff der Kleriker kontrastiert Meyerbeer mit der dynamisch-schwärmerischen Vorstellung Vascos: Er strebt nach „Unsterblichkeit“, aber in einem strikt diesseitigen Sinn. Die Garantie dafür sind Ruhm und unerhörte Taten. Dafür ist er bereit, alles zu opfern. Als er nach der gescheiterten Umrundung eines berüchtigten Kaps, gefangen im Bauch des Schiffs seines Rivalen Don Pedro, in die Hände der „Wilden“ gerät, ist seine größte Sorge nicht, das Leben zu verlieren, sondern den Ruhm. Unter allen Umständen soll die Nachricht, er habe als erster unbekanntes Land betreten und ein fremdes, exotisches Reich entdeckt, die Heimat erreichen.

Doch Meyerbeer hütet sich, seine Figuren schwarz-weiss zu zeichnen. Vasco etwa ist, wie in seiner berühmten Arie „Ô Paradis“ im vierten Akt zu hören, sensibel für die Schönheit und den Wert des Landes, auch wenn er im zweiten Teil in marschartigem Rhythmus das Gelüst des Eroberers ausspricht: Mein soll es sein, das Paradies. Nélusko, der verschlagene und gewalttätige Exponent des bisher unbekannten indischen Volkes, Begleiter seiner gefangenen Königin Sélica, zeigt bestürzenden Fanatismus und Fremdenhass.

Meyerbeers Analyse ist so scharf wie zeitlos und weit davon entfernt, ein idealisiertes Naturvolk auf die Bühne zu bringen. Im Missbrauch des Transzendenten für das Spiel der Macht sind sich Europäer und Inder gegenseitig nichts schuldig. Die Anrufung der Hindu-Götter im vierten Akt ist als große Show zu verstehen und wird auch so inszeniert: Exoten-Folklore in Weiß und Orange.

Die Stärke von Nemirovas Regie zeigt sich – darin entspricht sie ihrem Frankfurter „Ring“ – in der sensiblen Zeichnung intimer Begegnungen: zwischen Sélica und Vasco im vierten, im Duett der unglücklichen Frauen Sélica und Ines im fünften Akt. Schwach geraten Massenszenen und Tableaus: Da setzt Nemirova auf großflächige Bewegungs- und Bildregie, die aber nicht expressiv vertieft wirkt. Der dritte Akt mit seinen episodischen Momenten, mit Matrosenchören und Ines‘ erzwungener Hochzeit misslingt, weil sich die Regie nicht zwischen Stilisierung und Aktualisierung entscheidet. Und weil Jens Kilians Bühne mit drehbaren Elementen, die hier zu Segeln werden, keinen imaginativen Reiz entwickelt.

Problematisches Ende bleibt offen

Die Fernost-Piraten, die das aufs Riff gelaufene Schiff entern, sind Dritt-Welt-Kriminelle von heute, die den Portugiesen mit MG und Uzi den Garaus machen. Wenig erhellend auch Details wie die erzwungene Einkleidung Sélicas als Nonne oder die Vergewaltigung einer als Ordensschwester camouflierten Frau, deren schwarze Tracht aufreizende Dessous verbirgt. Néluscos berühmte Ballade vom Meeresriesen Adamastor degeneriert zu einer komisch-parodistischen Nummer. Zu Recht gab es nach diesem dritten Akt Buhs und Gelächter.

Das problematische Ende der Oper – Meyerbeer konnte es nicht mehr endgültig konzipieren – lässt Nemirova offen: In den letzten Takten von Sélicas langem Abschiedsgesang flutet eine Menschenmenge die Bühne, die indische Königin wird in einem symbolhaften, in Orange- und Rottönen wabernden Viereck versenkt. Aus ihm entspringt Vasco als junger Uniformierter mit Landkarte und Rucksack: der Urtyp des Eroberers, der als Militär oder als Backpacker kommt?

Die gewaltige Aufgabe, Meyerbeers Partitur in Klang umzusetzen, schultern Dirigent Enrique Mazzola und das Orchester der Deutschen Oper sowie der stark geforderte und nicht immer souverän treffsichere Chor und Extrachor unter William Spaulding. Meyerbeers aparte Kunst der Instrumentation und des expressiven Einsatzes von Klangfarben ist bei den Solisten des Berliner Orchesters in guten Händen – vom tintig dräuenden Fagottquartett über den „schmutzigen“ Klang des damals hochmodernen Sax-Hornes bis hin zu den raffinierten Kombinationen klassischer Orchesterinstrumente.

Mazzola geht dem manchmal episodischen Charakter von Meyerbeers Musik eher nach als der Konstruktion großer dynamischer Bögen; auch die Tempi könnten zupackender, die Phrasierung entschiedener ausfallen. Gegen Mazzolas temperamentloses und unentschiedenes Dirigat kann sich die Konkurrenz von Enrico Calesso (Würzburg 2011) und Frank Beermann (Chemnitz 2013) bestens behaupten.

Der Sänger-Star des Abends ließ sich ansagen: Roberto Alagna war im Kampf gegen eine Infektion hörbar indisponiert. Zu hören war aber auch, dass er, sofern gesundet, einen respektablen Vasco da Gama gestalten könnte.

Markus Brück stellt einen imponierenden Nélusco auf die Bühne: subtil und farbig in zurückgenommenen Momenten, dröhnend expansiv in der Gewalt und im Triumph. Clemens Bieber bewältigt die kleinere, aber wichtige Rolle des Don Alvar wie stets stimmschön und mit bewusstem Einsatz gestalterischer Mittel – dieser Tenor ist für die Deutsche Oper eine sichere Stütze des Ensembles. Seth Carico gibt den Don Pedro mit flutendem, manchmal etwas zu weit hinten positioniertem Bass; Andrew Harris als Don Diego, Dong-Hwan Lee als Großinquisitor und Albert Pesendorfer als Oberpriester der Inder ergänzen das Ensemble anstandslos und klangschön, ebenso Irene Roberts in ihren paar Sätzen als Dienerin Anna.

Nicht so überzeugend die Damen: Sophie Koch in der prominenten, herausfordernden Partie der Sélica hat zwar eine wunderschön sitzende Stimme, einen ebenmäßig polierten Ton und ein füllig-feines Timbre, aber zu wenig Farben, um die Facetten von hingebungsvoller Liebe bis hochfahrender Herrscherinnen-Arroganz, von Großmut bis Wehmut zu beglaubigen. Das differenzierte Schlaflied des zweiten Aktes ist lediglich schön gesungen; die Selbstreflexion der verlassenen, sich opfernden Frau unter dem giftigen Manzanillobaum in ihrem Spektrum von Resignation bis Ekstase gelingt Sophie Koch bewegender. Nino Machaidze als Ines demonstriert entschiedenen Willen zur Gestaltung, zeigt schimmernde, wenn auch zu wenig frei schwingende Höhen; im Zentrum jedoch bleibt die Stimme seltsam klangarm und ist von der kräftigen Amplitude eines metallisch klirrenden Vibrato gestört.

Gott und Glaube: Vera Nemirova stellt sich im Programmheft großen Fragen, löst die Erwartungen aber nicht ein. Sie bleibt zu sehr an den Szenen hängen statt sie zugunsten einer übergreifenden Idee konzeptionell zu bändigen.

Dennoch: Die Deutsche Oper setzt mit dieser Meyerbeer-Premiere einen Impuls, der hoffentlich auch andere Häuser anregt, sich mit diesem prägenden Musiktheater des 19. Jahrhunderts und seiner Aktualität zu befassen. Zum Beispiel in der Rhein-Ruhr-Region: Da hat zuletzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen 2008 mit der „Afrikanerin“ einen Versuch unternommen – damals noch auf der Basis alten Materials. Mit der neuen, in Berlin verwendeten kritischen Edition von Jürgen Schläder liegt nun – wie auch für andere wichtige Opern Meyerbeers – eine ausgezeichnete Grundlage vor; die Theater müssen nur noch zugreifen!

Informationen: http://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/vasco-da-gama.12676793