„Terror“ als Stück der Stunde: Gerichtsdrama am Düsseldorfer Schauspielhaus

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ein Gerichtsprozess trägt eine Menge dramatisches Potential in sich, man muss es nur entdecken.

Jemand hat ein Verbrechen begangen und sitzt auf der Anklagebank. Ein Anwalt versucht, ihn rauszuhauen, während dessen Gegenspieler, die Staatsanwaltschaft, den Delinquenten verurteilen will. Die Zeugen schildern die Tat aus ihrer Sicht und offenbaren gerne einmal abgründige Details und haarsträubende Beobachtungen. Zuletzt urteilt über alles der Richter, der das Gesetz vertritt – oder die Gerechtigkeit?

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach, dessen Bücher zu ungewöhnlichen Straftaten schon lange auf der Beststellerliste stehen, hat jetzt aus diesem Stoff sein erstes Stück gemacht. Es kommt in dieser Saison nahezu zeitgleich an 16 Bühnen heraus, in Düsseldorf feierte es am Schauspielhaus Premiere.

„Terror“ entwirft ein hochaktuelles Szenario: Ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen wurde entführt, der Terrorist droht, es in ein vollbesetztes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen zu lassen. Ein Bundeswehrpilot steigt in seinem Kampfjet auf, will die Maschine abdrängen, keine Chance, schließlich schießt er das Flugzeug ab. Die Passagiere sterben, die Stadionbesucher leben, der Pilot kommt vor Gericht. Denn er hat gegen seinen Befehl gehandelt: Zwar erlaubt das Luftsicherheitsgesetz eine solche Maßnahme, doch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, also ordnete niemand den Abschuss an. Der Pilot entschied nur aufgrund seines Gewissens.

Die Bühne (Heinz Hauser) wird komplett von einer nüchternen, grauen Richterbank eingenommen, hier sitzen in der Mitte der vorsitzende Richter (Wolfgang Reinbacher) mit der Protokollführerin (Eva-Maria Voller), links davon Anwalt (Andreas Grothgar) und Angeklagter (Moritz von Treuenfels), auf der rechten Seite die Staatsanwältin (Nicole Heesters) und die Nebenklägerin (Viola Pobitschka).

Publikum befindet über die Schuldfrage

Der Clou: Das gesamte Publikum findet sich in der Rolle des Schöffen wieder und muss am Ende entscheiden. Nach der Pause schreitet jeder nach Art des „Hammelsprungs“ entweder durch das „Schuldig“ oder das „Nicht schuldig“-Tor, die Stimmen werden gezählt. Auf der Website www.duesseldorfer-schauspielhaus.de lässt sich dann nachschauen, wie das Publikum der jeweiligen Vorstellung entscheiden hat. Die Ergebnisse der anderen Theater stellt der Verlag unter http://terror.kiepenheuer-medien.de ins Netz. Die Pause ist ans Ende des Theaterabends verlegt, so dass nur noch die Urteilsverkündung folgt. Tatsächlich hat man selten ein Publikum erlebt, dass derartig mitgeht und so leidenschaftlich eine Schuldfrage diskutiert.

Obwohl Regisseur Kurt Josef Schildknecht die künstlerischen Mittel extrem sparsam einsetzt und sich ganz auf die Kraft des Prozesses verlässt, funktioniert dieser Theaterabend. Er hat nichts Poetisches an sich und seine Sprache entstammt dem Gerichtssaal. Aber Ferdinand von Schirach erreicht etwas anderes: Er zeigt die Brisanz und die Bedeutung auf, die unsere Gesetze und unsere Verfassung für unser Leben haben. Und sie lässt uns die ethischen Dimensionen unseres Wertesystems erfassen: Wird jemand schuldig, der 70.000 Menschen rettet, weil er ein Prinzip verletzt hat? Wer entscheidet über den Wert eines Menschlebens? Wiegen 164 Leben 70.000 auf?

Nicht zuletzt hauchen die großartigen Schauspieler dem Thesenstück Leben ein: Wie Staatsanwältin Nicole Heesters mit Leidenschaft, ja Furor die Prinzipien unsere Grundgesetzes verteidigt, das lässt an das Ethos der Gründungsväter und –mütter der Bundesrepublik denken. Wie Moritz von Treuenfels als Pilot die Seelenlage des Soldaten ausgestaltet, der in Sekunden entscheiden muss und im Ernstfall keine Vorlesung mehr in Rechtsphilosophie besuchen kann. Wie seine Vorgesetzten in Person des Zeugen Christian Lauterbach (Lutz Wessel) ihn mit dieser Entscheidung im Regen stehen lassen und Alternativen wie die Räumung des Stadions gar nicht bedenken. Wie unfassbar Schock und Trauer einer Angehörigen sind, die keineswegs gefragt wurde, ob sie ihren unschuldigen Mann der Staatsraison opfern möchte, zeigt Viola Pobitschka als Franziska Meiser.

In Düsseldorf wurde der Pilot Lars Koch am Premierenabend frei gesprochen. Doch das moralische Dilemma nimmt jeder mit nach Hause.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Konzentrierter Alptraum – „Der Prozess“ nach Franz Kafka im Westfälischen Landestheater

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Bülent Özdil in der Rolle des Franz K. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Keine Requisiten, keine Farben. Die Einrichtung ist pure Konzentration, nichts soll ablenken von der unglaublichen Geschichte, die hier erzählt wird. Das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel zeigt Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ in einer geradezu analytischen Bühnenfassung von Christian Scholze (auch Regie), die durchaus überzeugend geraten ist.

Häufig birgt es Probleme, dicke Romane zu Bühnenstücken von wenigen Stunden Länge einzudampfen. Offenbar eignet sich Kafkas „Prozess“ jedoch gut dafür, folgt er doch einem linearen und deshalb recht schlüssig umsetzbaren Erzählstrang. Wie in einem Alptraum taumelt Josef K. durch absurde Szenen, in denen er Mal um Mal nicht verstehen kann, was alle anderen sicher zu wissen scheinen: Daß ihm ein Prozeß bevorsteht, daß er seine Unschuld beweisen muß.

Szenen des Abstiegs

Den Abstieg, wie hier, in einer Abfolge kleiner, begrenzter Szenen zu zeigen, ist naheliegend. Anders als K., der trotz wachsender Verunsicherung doch lange überzeugt ist, daß alles sich noch klären wird, sind die anderen Figuren recht burlesk gezeichnet: die Gerichtsdiener Franz und Willem (Felix Sommer und Thomas Tiberius Meikl), die Aufseherin (Samira Hempel), die Vermieterin Frau Grubach (Vesna Buljevic) und die Frau des Gerichtsdieners (Pia Seiferth).

Spätere Figuren wie der Advokat (Thomas Zimmer) und der Kunstmaler Titorelli (Guido Thurk) spielen differenzierter auf, was ebenfalls sinnvoll ist, da die Absurdität des Geschehens sich ja nicht auflöst, sondern immer monströser und somit auch immer erklärungsbedürftiger wird. Natürlich ohne daß sich irgend etwas klärte.

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Der Termin beim Anwalt bringt auch nichts; Szene mit (v.l.) Bülent Özdil, Thomas Tiberius Meikl, Thomas Zimmer und Pia Seiferth. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Als Bühnenbild (Ausstattung: Anja Müller) dienen einige hochformatige Leinwände, die technisch in ihrer Größe verändert werden können und als Projektionsflächen dienen. Auf ihnen tauchen zwischen den Szenen einige Male Personen auf und berichten nachrichtlich von Fortgang der Handlung. Und weil das alles in Castrop-Rauxel so nüchtern und ohne inszenatorische Kinkerlitzchen vorgespielt wird, öffnet sich gleichsam ein gedanklicher Freiraum, in dem sich entlang der Handlung trefflich über Herrn K. und sein eigentümliches Schicksal nachdenken läßt. Das hat das Publikum natürlich auch früher schon getan, es hat den Fall Franz K. als eine Art moralische Reflexion gewertet oder auch als die Geschichte einer mißlungenen Emanzipation.

Den „Prozess“ gleichsam naturalistisch als Drama eines Menschen zu verstehen, dem sein gutes Recht vorenthalten wird, greift sicherlich zu kurz. Christian Scholzes Umsetzung legt in ihrer Schnörkellosigkeit eine psychologische Sicht nahe, die Franz K.s Nöte als einen dissoziativen Prozess deutet, in dem Situation und Wahrnehmung nicht mehr zusammenpassen wollen, in des Wortes wörtlicher Bedeutung „ver-rückt“ worden sind. Die Anfang des 20. Jahrhunderts noch aufregend neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds waren Kafka nicht unbekannt, als er dieses Buch schrieb.

Intensiver Darsteller

Bülent Özdil gibt den Franz K., und ihm verdankt diese Inszenierung ihr Gelingen zu einem großen Teil. Wie er zwischen dem forschen Fordern eines Dreißigjährigen und der wachsenden Verzweiflung des schuldlos Beschuldigten zu jedem Zeitpunkt die richtige Balance hält, wie er, ohne zu überspielen, mit anrührender persönlicher Intensität K.s Niedergang gibt, wie er in seinem Spiel den Spannungsbogen bis zum Zusammenbruch nahtlos hält, das ist großartige, fast ein wenig unerwartete Schauspielkunst.

Viel freundlicher Applaus. Allerdings blieben beim Premierenabend im Studio einige Plätze leer.