Halloween – Aaaaargh!

Es reicht!

Ungelogen 17 (!) marodierende Kindergruppen mit cirka 90 bis 100 erschröcklich verkleideten Blagen haben heute zwischen 18 und 20 Uhr bei uns im Namen von „Süßes oder Saures“ angeschellt – einschließlich der wilden Horde unserer Tochter, die in der Nachbarschaft Halloween gefeiert hat.

Der beste Spruch fing so an: „Ich bin eine Mörderpuppe, / ob ihr Angst habt, ist mir schnuppe…“

Aaaargh!

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Ich schwöre: Ich habe wandelnde Skelette, grässliche Hexen, beißwütige Vampire, Mumien, Scharfrichter, Aliens, Zombies und Darth Vader gesehen. Um nur einige Gestalten zu nennen. Es wird gewiss eine Alptraumnacht werden.

Zu dumm, dass vor unserer Tür drei Laternen und ein ausgehöhlter Kürbis in die Dunkelheit geleuchtet haben. Das hat die Gespenster wohl unfehlbar angelockt.

Wie gut, dass wir tonnenweise Süßigkeiten gebunkert hatten. Sonst wäre es uns womöglich schlecht ergangen. Aber wer weiß, was uns noch bevorsteht.

P.S.: Immerhin haben sich manche der bösen Geister ganz artig bedankt. Andere aber wankten nahezu grußlos in die beginnende Nacht.




Jugendjahre eines Genies: Yefim Bronfman spielt das frühe Klavierwerk von Prokofjew

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Es gibt Konzerte, die längst begonnen haben, bevor auch nur der erste Ton erklingt. Der Blick auf das angekündigte Programm lässt stutzen. Wie in aller Welt passen Werke von Sergej Prokofjew und Robert Schumann zueinander?

Was hat das russische „Enfant terrible“ mit dem zentralen Exponenten der deutschen Romantik zu tun? Was mag dabei herauskommen, wenn ein Pianist sich anschickt, Klavierwerke dieser scheinbar grundverschiedenen Komponisten miteinander zu verschränken?

Yefim Bronfman gibt uns die Antwort. Der amerikanisch-israelische Pianist, 1958 in Usbekistans Hauptstadt Taschkent geboren, beglückt uns im Konzerthaus Dortmund mit einem jener Recitals, aus denen man klüger wieder herauskommt, als man hineingegangen ist. Denn wer Prokofjew vor allem als kühnen Avantgardisten sieht, der die romantische Tonwelt von Rachmaninow und Rimski-Korsakow mit anarchischem Schwung vom Tisch fegte, erlebt an diesem Abend sein blaues Wunder.

Schon der Beginn ist beinahe ein Schock. Prokofjews 1. Klaviersonate klingt uns so verblüffend schumanesk entgegen, dass wir uns die Ohren reiben möchten. So leidenschaftlich trumpft das Werk des 16-Jährigen auf, so vollgriffig sind die Akkorde und so leuchtend die Momente der Poesie, als habe der Mann aus Zwickau Prokofjew bei der Niederschrift über die Schulter gesehen.

Wie das junge Genie sich allmählich von diesen Traditionslinien löst, wie er bis zu den mit 26 Jahren komponierten Klaviersonaten Nummer 3 und 4 zu seiner eigenen Tonsprache findet, führt Bronfman im Konzerthaus Dortmund mit einer Spielfreude vor, die ein formidables kleines Prokofjew-Feuerwerk zündet.

Wie nebenbei bestätigt Bronfman, welche Spitzenposition er in der internationalen Pianisten-Elite einnimmt. Sein kraftvoller Klang erreicht imperiales Format, ohne je künstlich aufgedonnert zu wirken.

Fingerfertigkeit ist bei diesem Pianisten reine Nebensache. Ihm geht es um die Aussage, um den Kern der Musik, mag sie nun feurig vorwärts stürmen wie im Kopfsatz der 3. Sonate (Allegro tempestoso) oder von existenzieller Einsamkeit sprechen wie der langsame Satz der 4. Sonate (Andante assai). Da steigen Klänge aus dem Konzertflügel wie fahler Dunst. Darunter liegt Grabestiefe. Düsteres Klopfen, zwielichtes Schillern, dann wieder unerwartet grelle Schlaglichter: Bronfman ist ein Magier, der uns bannt und schaudern lässt, der den chamäleongleichen Wendungen von Prokofjews Tonsprache mit größter Hingabe folgt.

In Robert Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ erkennen wir den stürmischen Gestus wieder, den Prokofjew später zu rhythmischem Drive, ja bohrender Motorik weiterentwickeln wird. Ein Ereignis ist auch Bronfmans Interpretation von Schumanns „Arabeske“ op. 18, die bei ihm nicht harmlos vor sich hin plaudert, sondern wie ein leises, ernstes Selbstgespräch tönt. Es muss ein Dichter sein wie aus den „Kinderszenen“, der da spricht.

Gipfelpunkt und Abschluss des Abends ist Prokofjews 2. Klaviersonate op. 14, in der die brachiale Kraft und die diabolischen Elemente anklingen, wie wir sie vom Komponisten der so genannten „Kriegssonaten“ kennen. Was wie ein harmonisch erweiterter Schumann beginnt, wühlt und bohrt sich voran, bis eine expressionistische Kantigkeit erreicht ist.

Aber bei aller wirbelnden Virtuosität ist es auch hier der langsame Satz, mit dem Yefim Bronfman nach den Sternen greift. Weltabgewandt ist diese Musik, hoffnungslos verloren, und der Künstler nimmt uns mit in diese Landschaft, die nach kahlen Tannen auf dunklem Felsengrund klingt, nach einer stillen, erstorbenen Welt im Schneegestöber. Verführerisch ist das und unvergesslich. Tosender Beifall von einem Publikum, das über weite Strecken bemerkenswert konzentriert gelauscht hat.

(Die Website des Künstlers informiert u.a. über Konzerttermine und Diskographie: http://www.yefimbronfman.com)




Diktator im Dosenmüll: Theresia Walsers böse Hitler-Komödie in Düsseldorf

Wer hat sich nicht schon einmal darüber gewundert, wer alles Hitler spielt? Wie viele Filme und Bücher dem „großen Diktator“ gewidmet sind?

Sicher hängt das auch mit dem Trauma zusammen, dass eine ganze Gesellschaft sich verführen ließ und wieviel Unheil und Barbarei der Naziterror über die Welt gebracht hat.

Doch 70 Jahre nach Kriegsende ist eine humoristische Herangehensweise längst kein Tabu mehr: Gerade kletterte die Filmparodie „Er ist wieder da“ auf Platz 1 der Kinocharts. Im Düsseldorfer Schauspielhaus hatte jetzt eine kleine böse Komödie von Theresia Walser Premiere, in der drei Hitlerdarsteller über ihre Rolle diskutieren.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

In „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ sitzen drei identisch gekleidete „Hitlers“ mit dem typischen Bärtchen auf einer großen Resopalplatte auf Ledersesseln in einer Art Warteraum, vielleicht vor einem Filmcasting. Vor ihnen türmt sich ein Haufen ausgetrunkener Mineralwasserblechdosen auf. Wollen die Hitlers einmal einen Schritt tun, müssen sie sich durch den Dosenberg pflügen, dass es rauscht.

Seine geniale Komik entfaltet dieses Bühnenbild (Pia Maria Mackert) aber erst, als die Plattform beginnt, sich zu bewegen. Das korrespondiert mit dem Stücktext, in dem öfter ein wackeliger Tisch thematisiert wird, und gibt der Inszenierung (Marcus Lobbes) einen Dreh ins Slapstickhafte. Denn wenn der Boden wackelt, gerät auch der Müllberg in Bewegung und die Dosen kullern und scheppern bis in den Zuschauerraum. Die drei Hitlers haben Mühe, sich auf ihrer Spielfläche zu halten und klammern sich am Mobiliar fest, was sie einmal mehr zu Karikaturen der Karikatur von Adolf werden lässt.

In der Vorhölle gefangen

Ihr Gespräch kreist dabei hauptsächlich um Schauspielereitelkeiten und Nöte: Soll und darf man den Hitler naturalistisch anlegen wie H1 (Jonas Gruber)? Oder macht sich moralisch angreifbar, wer ihn als einen Menschen darstellt, wie H2 (Heisam Abbas) findet? Er legt Wert darauf, „seinen Hitler“ aus der Distanz heraus zu spielen. Ganz anders sieht das G (Andreas Helgi Schmidt), der überhaupt noch nie den Hitler gespielt hat, sondern bisher nur Goebbels. Er hat aus Göttingen, wo er in seinem derzeitigem Engagement nackt auf der Bühne kniend Abend für Abend mit den Zähnen die Seiten aus dem Koran reißen muss, ganz moderne, gesellschaftskritische Regie-Ideen mitgebracht: Warum Hitler nicht auf sieben Schauspieler aufteilen, für jede Facette des Bösen einen? Vielleicht mit Video-Einspielungen? Für H1 ist das eine neumodische Horrorvorstellung. Gereizt verlangt er, der in seinem Habitus ein wenig an Bruno Ganz erinnert, nach einem „Hahnenwasser“, hierzulande würde man sagen „Kranenburger“ – doch das wird nie gebracht.

Überhaupt beginnt das Casting oder Vorsprechen oder die Talk Show im ganzen Stück nicht mehr. Die drei Hitlers sind unrettbar in der Vorhölle gefangen, in Erwartung, den Teufel selbst darzustellen. Doch es will gar niemand ihren Teufel sehen. So endet die Farce wie bei Beckett im Wartestand auf etwas, das nicht eintritt: In diesem Falle, weil es ja schon vergangen ist…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Klangfarbenrausch in kühler Perfektion – das Cleveland Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Petra Coddington Fotografenmeisterin

Seid ausgebreitet, ihr Klänge! Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra. Foto: Petra Coddington

Boston, New York, Philadelphia, Chicago und Cleveland – aus diesen Städten kommen, so sagen es jedenfalls ehrfurchtsvoll viele Musikfreunde, die fünf besten Orchester zumindest der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der Welt. Nun sind solcherart Platzierungen, vorgenommen unter ästhetischen Gesichtspunkten, immer mit Vorsicht zu genießen. Doch ohne Zweifel sind diese „Big Five“ in Sachen technischer Präzision, Klangbild oder Musikalität ziemlich weit oben anzusiedeln.

Was nicht heißen soll, dass die Berliner oder Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder das London Philharmonic hintenan stehen. Erstaunlich aber ist, dass sich über viele Jahrzehnte eine deutliche Differenz des Klangbilds im europäisch-amerikanischen Vergleich entwickelt und gefestigt hat. Hier die wärmeren Farben, die bessere Mischung der Valeurs, jenseits des Teiches eine hellere, sehr präsente Tönung, oft auch ein sehr strukturbewusstes Musizieren.

Punktgenaue Einsätze fürs präzise Spiel. Foto: Petra Coddington

Punktgenaue Einsätze vom Pult aus fürs präzise Orchesterspiel. Foto: Petra Coddington

Solche Beobachtungen mögen ein wenig abstrakt anmuten. Umso mehr ist das erste Gastspiel des Cleveland Orchestra im Dortmunder Konzerthaus ein Glücksfall: Denn dessen Interpretation von Olivier Messiaens „Chronochromie“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“, Musik, die sich nicht zuletzt durch einen wahren Taumel an Klangfarben auszeichnet, macht klar, dass Vergleiche dieser Art ihren Sinn haben.

Besonders spannend wiederum wird die Angelegenheit dadurch, dass Franz Welser-Möst am Pult, Chef des Orchesters seit 2002 und bis 2022 vertraglich gebunden, bereits mit gehörigem Erfolg auch die Wiener Philharmoniker dirigiert hat. Europa und Amerika – nah beieinand’.

Der gebürtige Linzer Welser-Möst ist von hohem Wuchs, aristokratischem Habitus und elegantem Charme. Entsprechend stilvoll dirigiert er: ohne körperliche Entäußerung, mit Augenmaß und punktgenau. Das mag ein bisschen trocken wirken, erfüllt aber den Zweck höchster Präzision im Orchester. Und die Leidenschaft, das Aufgehen in Klangmagie, kommt nicht zu kurz.

Der Mann am Pult also, er gebietet Respekt, und ist doch nicht unnahbar. Ein paar Worte ans Publikum gelten Messiaens „Chronochomie“, Anfang der 1960er Jahre entstanden, spröde anmutende Musik, dennoch voller Reichtum, in Form stilisierter Vogelstimmen und Naturgeräuschen. Der Komponist habe das Werk einen sonnendurchfluteten Protest gegen die Zwölftöner genannt, sagt Welser-Möst mit der Empfehlung, sich diesem Licht entspannt hinzugeben.

Dann beginnt das große tönende Leuchten, sehr hell, bisweilen gleißend, weil Messiaen als bekennender Katholik stets die Himmelsmächte beschwor. Ein Leuchten, nur hier und da mit dunklen Farbtupfern grundiert (Gong, Kontrabässe), vom Cleveland Orchestra licht und rein und glasklar dahingezaubert, innerhalb der markant gezeichneten Strukturen wirkmächtig vor uns ausgebreitet. Und so fremd das Werk anmutet, mit all seinen Exotismen, Verschlingungen und Spreizklängen, so stark ist seine Zugkraft.

Foto: Petra Coddington

Höchste Konzentration und stilistische Eleganz zeichnen den Dirigenten aus. Foto: Petra Coddington

Gegen die „Alpensinfonie“ muss es freilich ins Hintertreffen gelangen, weil Strauss’ Musik eben einem klaren Programm folgt und sich dabei derart illustrativ gibt, dass Sonnenaufgang, Jagdszene, das Gleißen des Wasserfalls, Vogelgezwitscher und Gewitter für jeden offen erkennbar ist. Als liefe vor uns ein imaginärer Film ab. Doch wer sich so erwartungsvoll in den Kinosessel fallen lässt, hat die Rechnung ohne die Wirte auf dem Podium gemacht. Und ist am Ende vielleicht sogar ein wenig enttäuscht.

Denn Welser-Möst dirigiert diesen spätromantischen Brocken aus dem Geist der zuvor erklungenen Moderne. Setzt auf Strukturen statt auf alpine Folklore, kitzelt noch die kleinste Nebenstimme im großorchestralen Getümmel heraus. Sodass sich etwa im Donnerwüten eine auf- und absteigende Klarinettenfigur hervortut, als würde der Wind ein Blatt zuerst nach oben, dann abrupt zu Boden schleudern. Der Dirigent lässt zudem zügig musizieren, was einigen Spannungsbögen die Kraft kostet. Dafür wird erkennbar, dass dieses Werk im Umfeld der so neu tönenden „Elektra“ entstanden ist.

Das Cleveland Orchestra musiziert dabei so, wie man es von einem der „Big Five“ eben erwartet. Technisch höchst präzise – die Trompeten etwa geben sich selbst in höchsten Höhen keine Blöße –, im Klangbild äußerst transparent, dabei ziemlich aufgehellt. Und wenn der Österreicher Welser-Möst den Amerikanern schwungvoll satten Streicherfluss abverlangt, fehlt eben jene Wärme, die er von den Wiener Philharmonikern sofort bekommen würde. Die Differenz zwischen europäischen und US-Orchestern ist in mancher Hinsicht evident, unbelastet von Klischees.

Im Konzerthaus zählt indes am Ende nur, dass das Publikum heftigst applaudiert für ein aufregendes Konzert. Überraschung hier, Enttäuschung dort nicht ausgeschlossen. Und mancher hat vielleicht sogar Unvermutetes für sich entdeckt – Messiaen und Strauss noch im Gehör.

 




Diese Weite, diese Stille – „Sehnsucht Finnland“ im Hammer Gustav-Lübcke-Museum

Was wissen wir eigentlich über finnische Kunst? Die aufrichtige Antwort dürfte wohl lauten: nichts.

Jetzt kann man solchen Mangel ein wenig beheben, denn das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm gibt mit beachtlichen Leihgaben einen Einblick ins Werden der finnischen Moderne zwischen 1880 und 1920.

Der Titel „Sehnsucht Finnland“ hat gleich mehrfache Bedeutung. Zum einen wecken besonders die Landschaftsbilder aus dem hohen Norden Sehnsucht nach unberührter Natur und sind vielleicht geeignet, manche Reisepläne für den nächsten Sommer zu beeinflussen.

Akseli Gallen-Kallela: "Landschaft in Kuhmo" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Landschaft in Kuhmo“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Vor allem aber haben die meisten damaligen Maler ihre Kunst nicht zuletzt als sehnsüchtige Suche nach einer finnischen Identität verstanden, denn ihr Land hatte vom Mittelalter bis 1809 schwedische und dann noch fast 100 Jahre russische Fremdherrschaft ertragen. Erst 1917 wurde Finnland eine unabhängige Nation. Zuvor hatten Künstler Finnland sozusagen erfunden.

Es war eine Zeit, in der kulturelle Schöpfungen – zumindest mittelbar – politisch einiges bewirkt haben: Tatsächlich zählten die Künstler zur Spitze der finnischen Bewegung (so genannte „Fennomanen“), die auf Selbständigkeit aus war. Und wahrhaftig vermochten sie es, in ihren Bildern glaubhaft einigen Grundlinien dessen nachzuspüren, was just die finnische Besonderheit ausmacht. Dabei entstand eine angenehm unaufgeregte Kunst, die so gar nicht imponieren will und niemals auftrumpft.

Akseli Gallen-Kallela: "Gewitterwolken" (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Gewitterwolken“ (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Einsamkeit und schier endlose Weite der nordischen Natur mit ihren Wäldern und Seen war das bevorzugte Feld derartiger Erkundungen, zumal auch in den langen harten Wintern. Sagt man manchen Sprachen nach, sie hätten etliche, fein differenzierende Begriffe für Schnee und Eis, so findet man derlei Vielfalt ebenso in den Bildern finnischer Maler.

Hie und da dringen die Maler mit ihren Schneebildern gar schon unversehens in die Gefilde der Abstraktion vor. Die große Leere der größtenteils noch wirklich unberührten Landschaften kann ebenso Beglückung wie Melancholie hervorrufen. Welche Stille solche Bilder atmen – und wie verhalten die Farben sind! Doch den finnischen Frühlingsbildern merkt man an, wie sehnsüchtig man dort droben auf die Blüte gewartet hat. Auch nicht nur nebenher: Ein Seitenblick zeigt, dass auch das Genre der Sauna-Bilder zur finnischen Identitätsfindung beitrug.

Akseli Gallen-Kallela: "Frühling" (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Frühling“ (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Rund 70 Tafelbilder hat man in Hamm beisammen, die so bislang nur in Stockholm und Paris zu sehen waren. Eigentlicher Hort dieser Fülle ist die finnische Gösta Serlachius Stiftung, deren Kunstschätze seinerzeit von der Industriellenfamilie Serlachius (Forstwirtschaft und Papierfabriken) erworben wurden. Heute gilt das Konvolut als finnisches Nationalerbe und wird sonst allenfalls vereinzelt ausgeliehen.

Die Familie Serlachius unterstützte auch einen befreundeten Künstler, der seinen ursprünglich schwedisch lautenden Namen zu Akseli Gallen-Kallela finnisierte. Seine Bilder ragen, wie sich beim Rundgang mehrmals zeigt, mit ihrer vielfältig delikaten Malweise aus der ohnehin sehenswerten Schau (mit nur wenigen Schwachpunkten) noch einmal deutlich heraus.

Wäre Gallen-Kallelas Name bei uns bekannter, hätte man seine Werke durchaus in einer Einzelausstellung zeigen können, so aber ist die allgemeiner gehaltene „Sehnsucht Finnland“ natürlich zugkräftiger. Sein geheimnisvoll symbolistisch aufgeladenes Bild „Symposion“ (1894) zeigt beim Künstlertreffen in der Kneipe auch den berühmten finnischen Komponisten Jean Sibelius, es vereint mehrere Stilrichtungen und erinnert in einer Partie gar schon an die zur Kenntlichkeit verzerrenden Darstellungen eines George Grosz.

Und weiter: Vor Gallen-Kallelas grandioser karelischer „Landschaft in Kuhmo“ kann man lange schweigend und schwelgend verweilen, sein Bild „Gewitterwolken“ (1897) erweist sich gleichfalls als famose Naturdarstellung. Das in der Fabrik angesiedelte, realistische Porträt des Industriellen Adolf Serlachius (1887) gemahnt nahezu an Adolph von Menzel. „Matti, der Luchsjäger“ (1905) zeigt einen kernigen Mann, der für den idealtypischen Finnen schlechthin gestanden haben mag. Ein Mädchenbildnis von 1895/96 ist hingegen ein Inbild der Traurigkeit und wohl das bewegendste Stück der ganzen Ausstellung. Kurzum: Dieser Künstler kann auch im europäischen Vergleich mit seinen Zeitgenossen bestehen.

Hugo Simberg: "Tanz auf dem Anleger" (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Hugo Simberg: „Tanz auf dem Anleger“ (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Um wenigstens ein paar weitere Namen zu nennen: Albert Edelfelt, der auch noch für bildnerische Huldigungen an die russische Zarin einsteht, besticht mit einem hintergründigen Hafenstück und dem Bildnis eines strickenden Mädchens, irritiert heutige Gemüter freilich mit einer „Gitane“ („Zigeunerin“). Doch Vorsicht! 1881 war ein solches Motiv noch längst nicht als Massenware diskreditiert. Dann wieder die unentrinnbaren Blickfänge: Hugo Simbergs eigentümlich verhalten leuchtendes Tanzbild auf einer Seebrücke, Victor Westerholms Robbenjäger…

Dass die Bilder auch schon in Paris zu sehen waren, ergibt übrigens auch speziellen Sinn, manche sind damit gleichsam an den Ort ihrer Inspiration zurückgekehrt. Denn zahlreiche finnische Künstler gingen ab 1880, wie ihre Kollegen aus ganz Europa, in die Weltkunstmetropole Paris, um dort Strömungen wie Realismus oder Impressionismus und das Phänomen der Freilichtmalerei kennen zu lernen. In der Hammer Schau lassen sich zudem die finnischen Anfänge einer flächigen Malweise und kubistischer Formfindung studieren.

Albert Edelfelt: "Am Ankerplatz in Kopenhagen" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Albert Edelfelt: „Am Ankerplatz in Kopenhagen“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Ausstellung zeugt überdies von einer weiteren Besonderheit in der finnischen Kunst. Wie damals nirgendwo sonst, haben Frauen die Entwicklung mitbestimmt. Zwar waren sie anfangs auf den häuslichen Kreis und somit überwiegend auf Kinderbilder eingeschränkt, doch schon relativ früh haben sie dann mehr als die Hälfte aller Kunstpreise erhalten und zwischenzeitlich auch die Mehrheit in den (vergleichsweise spät gegründeten) finnischen Kunstakademien gestellt. Beispielhafte Bilder, etwa von Maria Wiik und – noch eindrücklicher – Helene Schjerfbeck, lassen ahnen, welche Begabungen da am Werk gewesen sind.

Jammerschade nur, dass diese Ausstellung, die auch weitere Anreisen lohnt, nicht durch einen Katalog bewahrt wird.

„Sehnsucht Finnland“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis zum 20. März 2016. Geöffnet Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 7 Euro). Kein Katalog. Weitere Infos: www.museum-hamm.de




Als Nashörner und Elefanten hier lebten – Ausstellung „Wildes Westfalen“ in Herne

Die ältesten Exponate sind rund 465 Millionen Jahre alt. Man kann sie allerdings schwerlich erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge.

Es sind drei so genannte Trilobiten, Gliederfüßler, die mit Krebsen und Insekten verwandt sind. Gefunden wurden die winzigen, in Gestein eingeschlossenen Urzeit-Zeugnisse in Herscheid (Märkischer Kreis). Also zählen auch diese unscheinbaren Wesen zur Ausstellung mit dem forciert populären Titel „Wildes Westfalen“ (gemeint: wild lebende Tiere in Westfalen), die im LWL-Museum für Archäologie in Herne einige Zeugnisse aus der zoologischen Vergangenheit dieser Region in Vitrinen präsentiert.

"Wildes Westfalen" - Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

„Wildes Westfalen“ – Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

In Jahrmillionen haben auch auf dem Gebiet, das heute Westfalen heißt, die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen geherrscht, Eis- und Warmzeiten wechselten einander ab, Vegetation und Landschaftsgestalt wandelten sich desgleichen. So darf es im Prinzip eigentlich gar nicht so sehr verwundern, dass hier zeitweise Flusspferde, Krokodile und Elefanten gelebt haben. Saurier selbstverständlich auch.

Es finden sich ein paar staunenswerte Belegstücke in dieser Ausstellung. Etwa 1,8 bis 2,2 Millionen Jahre alt (auf zwei bis drei Tage kommt es da ja nicht an) ist jener Block mit drei Zähnen eines „Südelefanten“, der damals aus Afrika in die hiesigen Breiten einwanderte und als Vorfahre späterer Mammut-Arten gilt. Man vermutet, dass die Tiere, deren Überreste man am Haarstrang in der Nähe von Soest gefunden hat, bei einer Flutwelle im schmalen Flussbett ertrunken sind.

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (Foto: Bernd Berke)

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (LWL-Museum für Naturkunde, Münster – Foto: Bernd Berke)

Kaum minder imposant ist der Schädel eines raren Waldnashorns, der in der Dechenhöhle bei Iserlohn zum Vorschein kam. Mit über 200.000 Jahren ist er jedoch vergleichsweise „jung“.

Das zeitliche Spektrum der recht übersichtlichen Ausstellung (90 archäologische Objekte in 17 Vitrinen) reicht bis in die Frühneuzeit. Man bekommt nicht nur Überreste von Tieren zu sehen, sondern auch einzelne menschliche Schöpfungen mit kultischem Charakter oder alltäglichem Gebrauchswert, beispielsweise einen hirschförmigen Kerzenleuchter oder Spielzeug in Pferdegestalt.

Manche Gegenstände zeugen zudem vom sich ändernden Verhältnis der Menschen zu Tieren. So wurden Rinder zunächst vor allem gejagt und hernach allmählich domestiziert. Das prägte natürlich auch Wahrnehmung und Darstellung.

So ganz haben die Museumsleute der alleinigen Aussagekraft der Fundstücke offenbar nicht getraut, auch galt es wohl, den optischen Umfang etwas zu erweitern. Und so hat sich eine halbwegs charmante Notlösung ergeben: Der Zufall wollte es, dass langjährig tätige und also gewiefte Amateurfotografen des örtlichen Naturschutzbundes (NABU) ohnehin Kontakt zu den Fachleuten gesucht hatten. Ihre Aufnahmen, 70 an der Zahl, ergänzen und spiegeln nun die vorzeitliche Tierwelt, machen sie ein bisschen fassbarer und holen sie ans Heute heran; wenn auch in Einzelfällen um den Preis verzeihlicher „Schummelei“.

So tritt im Foto die Kellerassel als Verwandte der eingangs erwähnten Trilobiten auf. Und für die blühenden Phantasien, die sich Menschen früher aus Tieren gemacht haben, mussten eben Bildbearbeitungsprogramme herhalten, mit deren Hilfe täuschend „echt“ wirkende Bilder von Einhorn, Pegasus und Drachen entstanden sind.

Ausstellung und Begleitbuch sind zu gewissen Teilen noch das Werk des 2014 verstorbenen Altertumsforschers Prof. Torsten Capelle. Einige seiner Freunde und Schüler haben die Anregungen des Doyens verwirklicht. So knüpft man Traditionsstränge in der Wissenschaft.

Dennoch, ganz ehrlich: Ein Besuch lohnt eher bei speziellem Interesse, wenn man ohnehin in der Gegend um Herne zu tun hat oder wenn man weitere Abteilungen des Hauses besichtigt. Auch ist es eine Option, sich das Begleitbuch zu besorgen, denn richtig gesetzte Worte erschließen die Objekte womöglich getreulicher, als Fotografien heutiger Tiere.

„Wildes Westfalen“. Tierische Fotos und Funde. 1. November 2015 bis 29. Mai 2016. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94 628-0. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Freier Eintritt (freiwilliger Obolus kann am Ausgang in ein Sparschwein gesteckt werden). Weitere Infos: www.lwl-landesmuseum-herne.de




„Eine Familie“ und „Besessen“ – zwei alptraumhafte Stücke in Dortmund

Wenn die Familie im Mittelpunkt des Stückes steht, wenn das Stück gar „Eine Familie“ heißt, dann weiß der erfahrene Theaterbesucher: Es wird dramatisch. Und es geht bestimmt nicht gut aus.

Da grüßen amerikanische Handlungsreisende und russische Dorfschullehrer in (könnte man fast sagen) reicher Zahl. Nun hatte Tracy Letts Stück im Großen Haus des Dortmunder Schauspiels Premiere. Und das auf Katastrophe eingestellte Publikum kann sich bestätigt sehen.

Frank Genser Bettina Lieder Janine Kre§ Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Leichenschmaus mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Janine Kreß, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Drei Schwestern

Wenngleich: So viel Schreckliches passiert eigentlich gar nicht, sieht man vom Suizid des Patriarchen Beverly Weston ab, der dessen Nachkommenschaft im elterlichen Haus – und in der brütenden Augusthitze des amerikanischen Mittelwestens – zusammenbringt. Er, früher mal erfolgreicher Autor, ist zum Trinker geworden, seine Frau Violet schluckt Psychopharmaka und hat Mundhöhlenkrebs, und zusammen, aber auch miteinander, waren sie unausstehlich.

Drei Schwestern (!) also treffen sich, Barbara, Karen und Ivy, zwei von ihnen mit Familie, und daß sie wie auch ihre desolaten Eltern problembeladen sind, versteht sich von selbst. Barbaras Mann Bill, Hochschullehrer, betrügt seine Gattin mit Studentinnen, die gemeinsame vierzehnjährige Tochter Jean wird von Steve, dem Verlobten Karens, zu Rauschgift und Sex verführt, Ivy schließlich liebt Little Charles, den desolaten Sohn von Violets Schwester Mattie Fae, der aber, wie sich späterhin herausstellt, nicht ihr Cousin, sondern ihr Halbbruder ist.

Unglück allerorten, und man spürt zu jeder Zeit, daß es weitergehen wird, von einer Generation an die nächste weitergereicht wird, zwangsläufig. Auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels spielen sie es in erwartetem Furor und mit streckenweise eindrucksvollem Körpereinsatz.

Frank Genser Andreas Beck (Projektion)

Große Leuchtbuchstaben; Szene mit Frank Genser als Sheriff und Andreas Beck als Bev in der Videoprojektion. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld))

Kränkungen

Aber muß das alles so schrecklich so sein, kann man denn da gar nichts machen? In einer zentralen Szene, in der die Töchter mit ihrer Mutter für kurze Zeit eine fast zärtliche Nähe entwickeln, erzählt diese die Geschichte von den Stiefeln, die sie als Dreizehnjährige so wahnsinnig gerne gehabt hätte, um einem jungen Musiker zu gefallen. Ihre Mutter hat sie damals verhöhnt, ihr statt der Stiefel ein Paar dreckige Arbeitsschuhe unter den Weihnachtsbaum gestellt. Wie kann man sein Kind so hassen?

Wahrscheinlich ist Violet viel öfter so tief gekränkt worden, als sie erinnert, und ihre gekränkte Seele weiß sich nicht anders zu helfen als damit, andere zu kränken, vor allem ihre Töchter – ein Perpetuum Mobile des Unglücks, in dem es Moral, Respekt, Vertrauen oder behütende Liebe nicht gibt.

Natürlich hätte ihr zur richtigen Zeit eine Therapie helfen können, doch dafür ist es längst zu spät, und in ihren lichten Momenten weiß Violet das auch. Friederike Tiefenbacher gibt dieses menschliche Wrack, das zwischen psychedelischem Wahn, aggressiven Attacken, irrer Destruktionslust und glasklarer Erkenntnis irrlichtert, erschreckend überzeugend. Ihre Violet ist so konsequent durchgeformt und charakterisiert, daß man Angst vor bekommt und vor ihr flieht, wie es die Töchter Barbara und Karen auch getan haben. Oder wie Ivy es plant.

Bettina Lieder Merle Wasmuth

Zwei Schwestern auf der Suche nach Nähe: Bettina Lieder (links), Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Leuchtbuchstaben

Zum Sympathieträger wird diese Violet es nicht bringen, aber das Stück ist eh nicht sonderlich reich an sympathischen Figuren. Am ehesten noch fühlt man mit der Schwesternriege (Merle Wasmuth, Julia Schubert, Bettina Lieder), die mitten im Leben steht und damit nichts anfangen kann.

Die Bühne von Wolf Gutjahr macht einen recht unaufgeräumten Eindruck. Der Bücherstapel vorne links verweist auf die intellektuelle Vergangenheit des Hausherrn, ab und an wird ein roter Vorhang hervorgezerrt, die Drehbühne dreht sich zu den Szenenwechseln. Dominiert wird die Optik durch eine Wand aus brutal dastehenden, raumhohen Leuchtbuchstaben auf der Drehbühne, die den ganzen Abend lang wechselnde englische Fünfbuchstabenwörter zeigen, EMPTY, DREAM, SHAPE, DEATH, GROPE und so fort, also: LEER, TRAUM, FORMEN, TOD, BETASTEN… Das suggeriert Prozeßhaftes, ohne daß man den zwingenden Eindruck hätte, es im eigentlich doch recht konservativ aufgebauten Stück wiederzufinden.

Das Stück macht eher den Eindruck einer Momentaufnahme, oder besser vielleicht einer Langzeitbelichtung, die aber doch nur ein einziges Bild ergibt. Gleichwohl funktioniert Sascha Hawemanns Inszenierung in diesem Bühnenbild, denn auch er bevorzugt offenbar den kraftvollen Zugriff auf den Stoff. Eine verhaltene Anlage der frühen Szenen, in denen sich entwickelt, was dann beim Leichenschmaus kulminiert und die man sich für dieses Stück durchaus auch hätte vorstellen können – das ist Hawemanns Sache nicht.

Julia Schubert Bettina Lieder Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Mutter hat geduscht. Von links: Julia Schubert, Bettina Lieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Cowboyhut

Das Dortmunder Ensemble ist klein, und möglicherweise auch deshalb gibt es in dieser „Familie“ einige Doppelbesetzungen: Andreas Beck ist sowohl der bald schon abtretende Selbstmörder Beverly (praktisch nur ein Monolog) und später dessen stotternder Schwiegersohn Charlie; Frank Genser gibt Karens Verlobten Steve und außerdem, mit schwarzem Cowboyhut, den Sheriff. Alexander Xell Dafov, der das Geschehen oft mit E-Gitarre und Akkordeon musikalisch sehr schön untermalt, ist zudem die serbische (!) Haushaltshilfe Johanna, die Beverly kurz vor seinem Abgang noch in einem merkwürdigen Anflug von Fürsorglichkeit eingestellt hat.

Bleiben vier Einzelbesetzungen: Carlos Lobo gibt Barbaras Mann Bill, Julia Schubert spielt Tochter Ivy, die angesichts der maroden Mutter die eigene Weiblichkeit verleugnet, Janine Kreß ist Violets Schwester Mattie Fae, Marlena Keil schließlich spielt den pummeligen Teenager Jean. Und wieder einmal ist festzustellen, daß das Gelingen dieses Abends zu einem erheblichen Teil dem homogen aufspielenden Ensemble zu danken ist.

„Der Exorzist“

Sarah Sandeh Ekkehard Freye

Rosemarie, Baby, Gerd: Szene mit Sarah Sandeh und Ekkehard Freye (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Am Abend zuvor hatte es in Dortmund eine Studio-Premiere gegeben, „Besessen“ von Jörg Buttgereit. Buttgereit gilt als „Horrorspezialist“ des Hauses, und in dieser Funktion lieferte er mit „Besessen“ jetzt schon seine fünfte Regiearbeit ab. Aber sehr fürchterlich war der Abend eigentlich nicht, eher unterhaltsam und am Schluß geradezu niedlich.

Übrigens war hier der neue Dortmunder Bühnenmusikus T.D. Finck von Finckenstein (auch bekannt als Tommy Finke), der die Nachfolge Paul Wallfischs angetreten hat, mit einer ersten recht passablen Sound-Arbeit zu hören.

VHS-Kassette

Zurück zum Stück, wo das Übel seinen Lauf nimmt, als die beiden Kumpels Gerd und Marian (Ekkehard Freye und Björn Gabriel) sich zu einem gemütlichen Hororfilm-Videoabend mit Pizza und Bier treffen. Die Geschichte spielt in den 80er Jahren, und deshalb ist es geradezu sensationell, daß Gerd den ganzen Film „Der Exorzist“ auf VHS-Kassette hat. So etwas gab es bis vor kurzem nämlich nicht, da war schon glücklich, wer 18 Minuten „Best of“ auf Super 8 sein eigen nannte.

Die beiden Männer reden sich heiß, malen sich (eher harmlos) weitere Exorzismen aus – und plötzlich, Blitz Donner, liegt Linda (Sarah Sandeh) im Bett, das Mädchen aus dem Film. Und ganz fraglos ist sie von Dämonen besessen. Sarah Sandeh führt die Stadien der Besessenheit sehr schön vor, brüllt Obszönitäten, kotzt grün, Körpereinsatz und Kondition sind bewunderungswürdig.

Einige Male schaut Das Böse in Gestalt des diabolisch geschniegelten Uwe Rohbeck vorbei, und die beiden Männer, die schon bald das Grausen packt, versuchen einen lächerlichen Exorzismus mit wandhängendem Kruzifix, um aus dem Alptraum herauszukommen.

Bjšrn Gabriel Ekkehard Freye

Zwei Horrorfreunde und ein Super-8-Streifen: Bjöšrn Gabriel (links), Ekkehard Freye. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Horror endet nicht

Aus dem Film „Der Exorzist“ kommen sie tatsächlich raus, jedoch nur, um in Polanskis „Rosmaries Baby“ zu landen. Weiter geht es mit Larry Cohens „Die Wiege des Bösen“, schließlich kommt das Stück, wenn man so sagen will, bei David Cronenbergs Scifi-Thriller „Videodrome“ an, was diesem Horrortrip dann auch (aber wie, wird nicht verraten) zu einem Ende verhilft. Ganz lustig, zumal dann, wenn man die zitierten Filme kennt (und schätzt).

Wenig Video

Bemerkenswert ist, daß an diesem Dortmunder Theaterwochenende kaum Videoprojektionen zu sehen waren, die Handkamera in der Schublade blieb und auch nicht mit Mikrophonverstärkung („Mikroports“) gespielt wurde. Zufall? Höchstwahrscheinlich schon. Aber doch auch recht angenehm. Man hatte zu keiner Zeit das Gefühl, daß dem Theater die Ausdrucksmöglichkeiten fehlten.

  • „Eine Familie – August: Osage County“. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 19.30 Uhr (9,- bis 23,- ).
  • “Besessen”. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 20 Uhr (19,- €, 12,50 € erm.)
  • www.theaterdo.de



Verstörender Mystery-Thriller: Prokofjews „Der feurige Engel“ an der Rheinoper Düsseldorf

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Die Begegnung mit Renata wird sich als fatal erweisen. Aber davon ahnt Ruprecht nichts, als er die rätselhafte Frau zufällig kennen lernt. Fasziniert von ihrer Mischung aus mädchenhafter Schwärmerei und leidenschaftlichem Verlangen, hilft er ihr auf der Suche nach dem feurigen Engel: Einer von Licht umstrahlten Erscheinung, die ihr vom achten bis zum 16. Lebensjahr schützender Begleiter und zärtlicher Seelenpartner war, so Renata.

Später glaubte sie eine Inkarnation des Engels in der Person des Grafen Heinrich wieder zu erkennen. Doch auch dieser ließ sie nach einem gemeinsam verbrachten Jahr allein.

Interessiert lauscht Ruprecht dieser Geschichte. Bald schon wird der eigentlich bodenständige Mann vollkommen den Halt verlieren. Wir, die Besucher der Rheinoper Düsseldorf, erleben in Sergej Prokofjews Fünfakter „Der feurige Engel“ den erschreckenden Identitätsverlust eines Mannes, der sich zum devoten Gefährten einer Besessenen macht. Im Gefolge von Renata, die seinen Wunsch nach Liebe zurück weist, verstrickt sich Ruprecht in einem Netz aus Wahn, schwarzer Magie, Aberglauben und Okkultismus.

Regisseur Immo Karaman macht aus diesem expressionistischen Psychodrama einen Mystery-Thriller, der in einer von Äbtissinnen geleiteten Nervenheilanstalt beginnt. Von dort schreiten Renata und Rupprecht in die Welt hinaus. In Köln kommt es zu Begegnungen mit Doktor Agrippa, dem Grafen Heinrich, schließlich sogar mit Faust und Mephisto. Aber sind diese Episoden Wirklichkeit? Oder haben Ruprecht und Renata das Irrenhaus nie verlassen?

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Der geniale Kniff von Karaman besteht darin, uns immer stärker an unserem Unterscheidungsvermögen zweifeln zu lassen. Was ist Realität? Was Vision? Immer wieder zieht die Regie Trennwände in den Bühnenraum ein, als wolle sie die Sphäre der Irren und der geistig Gesunden voneinander scheiden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Karaman zieht uns den Boden unter den Füßen weg, schickt uns mit Ruprecht in den finsteren Strudel. Alle Grenzen verwischen, unsere Sinne verwirren sich.

Wo eben noch ein Ballsaal war, elegant gekleidete Paare sich im Tanz drehten, verwandelt sich die Szene innerhalb einer Sekunde zurück in den tristen Saal der Heilanstalt. So rasch und gleitend geschieht diese Verwandlung, dass wir uns die Augen reiben, ja am liebsten Einspruch erheben möchten. Irgendwann hämmert Ruprecht verzweifelt gegen eine vergitterte Tür in der Wand. Das Bild wird plötzlich erschreckend doppeldeutig. Begehrt der Verzweifelte Einlass zu Renata? Oder ist er womöglich selbst Insasse und will hinaus?

Menschliche Schreie dringen durch die Wand. Wir können nicht sehen, was vor sich geht, aber gerade deshalb spielt unsere Phantasie verrückt. Wenn Renata von den Ärzten Elektroschocks bekommt, wenn eine unsichtbare Macht Möbel verrückt und an Wände klopft, wenn der Arzt wie eine Ausgeburt aus einem Frankenstein-Film wirkt, jagt das manchen Schauder über das Rückgrat. So gekonnt auf der Klaviatur des Horrors spielend, gelingt Immo Karaman mit dieser dichten und detailgenauen Inszenierung ein atemberaubender Wurf.

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Prokofjews geniale Musik lädt die thematischen Spannungsfelder mächtig auf. Glaube und Aberglaube, Religion und Wissenschaft, keusche Unschuld und sexuelle Triebkraft tönen aus dieser aufwühlend expressionistischen Partitur.

Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Wen-Pin Chien geizen die Düsseldorfer Symphoniker nicht mit magischen Klängen. Immer wieder schaffen die Musiker eine doppeldeutige, mystische, zwielichte Atmosphäre. Aber sie entwickeln auch brachiale Wucht: zum Beispiel in der Agrippa-Szene, die so stark gleißt und wummert, dass sich der Klang förmlich in die Brust bohrt. Dämonisch sausen die Glissandi in der Klopfgeist-Szene, und Renata steigert sich in wahnsinnige Erregung, weil sie denkt, die Rückkehr des feurigen Engels stehe kurz bevor.

Svetlana Sozdateleva singt die Partie der Renata mit viel Wärme. Wahnhafte Ausbrüche, in denen Prokofjew die Anforderungen an die Sängerin auf die Spitze treibt, gestaltet sie mit einer Leidenschaft, die zuweilen in Wildheit und Trotz umschlägt. Die Sängerin verleiht Renata den irrlichternden Charme eines längst zur Frau gereiften Mädchens, das mit dem Aufbrechen seiner Sexualität nie fertig wurde. Boris Statsenko legt Ruprecht zunächst auch stimmlich als Gentleman an, gibt ihm die Statur eines ritterlichen Beschützers. Dabei wirkt er zuweilen ein wenig steif, aber es bleibt doch mehr als deutlich, wie Ruprechts Persönlichkeit immer mehr zusammenbricht.

In Verbindung mit dem gut aufgelegten Sängerensemble und einer starken Leistung des Rheinopern-Chors wird der Abend zu einem jener beglückenden Opernerlebnisse, die an Intensität ohne Vergleich dastehen. Da müsste man schon Hitchcock, Edgar Allen Poe und Stephen King zusammen bemühen.

(Folgetermine nur noch bis 15. November 2015. Informationen: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/der-feurige-engel.1045093)




„Terror“ als Stück der Stunde: Gerichtsdrama am Düsseldorfer Schauspielhaus

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ein Gerichtsprozess trägt eine Menge dramatisches Potential in sich, man muss es nur entdecken.

Jemand hat ein Verbrechen begangen und sitzt auf der Anklagebank. Ein Anwalt versucht, ihn rauszuhauen, während dessen Gegenspieler, die Staatsanwaltschaft, den Delinquenten verurteilen will. Die Zeugen schildern die Tat aus ihrer Sicht und offenbaren gerne einmal abgründige Details und haarsträubende Beobachtungen. Zuletzt urteilt über alles der Richter, der das Gesetz vertritt – oder die Gerechtigkeit?

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach, dessen Bücher zu ungewöhnlichen Straftaten schon lange auf der Beststellerliste stehen, hat jetzt aus diesem Stoff sein erstes Stück gemacht. Es kommt in dieser Saison nahezu zeitgleich an 16 Bühnen heraus, in Düsseldorf feierte es am Schauspielhaus Premiere.

„Terror“ entwirft ein hochaktuelles Szenario: Ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen wurde entführt, der Terrorist droht, es in ein vollbesetztes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen zu lassen. Ein Bundeswehrpilot steigt in seinem Kampfjet auf, will die Maschine abdrängen, keine Chance, schließlich schießt er das Flugzeug ab. Die Passagiere sterben, die Stadionbesucher leben, der Pilot kommt vor Gericht. Denn er hat gegen seinen Befehl gehandelt: Zwar erlaubt das Luftsicherheitsgesetz eine solche Maßnahme, doch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, also ordnete niemand den Abschuss an. Der Pilot entschied nur aufgrund seines Gewissens.

Die Bühne (Heinz Hauser) wird komplett von einer nüchternen, grauen Richterbank eingenommen, hier sitzen in der Mitte der vorsitzende Richter (Wolfgang Reinbacher) mit der Protokollführerin (Eva-Maria Voller), links davon Anwalt (Andreas Grothgar) und Angeklagter (Moritz von Treuenfels), auf der rechten Seite die Staatsanwältin (Nicole Heesters) und die Nebenklägerin (Viola Pobitschka).

Publikum befindet über die Schuldfrage

Der Clou: Das gesamte Publikum findet sich in der Rolle des Schöffen wieder und muss am Ende entscheiden. Nach der Pause schreitet jeder nach Art des „Hammelsprungs“ entweder durch das „Schuldig“ oder das „Nicht schuldig“-Tor, die Stimmen werden gezählt. Auf der Website www.duesseldorfer-schauspielhaus.de lässt sich dann nachschauen, wie das Publikum der jeweiligen Vorstellung entscheiden hat. Die Ergebnisse der anderen Theater stellt der Verlag unter http://terror.kiepenheuer-medien.de ins Netz. Die Pause ist ans Ende des Theaterabends verlegt, so dass nur noch die Urteilsverkündung folgt. Tatsächlich hat man selten ein Publikum erlebt, dass derartig mitgeht und so leidenschaftlich eine Schuldfrage diskutiert.

Obwohl Regisseur Kurt Josef Schildknecht die künstlerischen Mittel extrem sparsam einsetzt und sich ganz auf die Kraft des Prozesses verlässt, funktioniert dieser Theaterabend. Er hat nichts Poetisches an sich und seine Sprache entstammt dem Gerichtssaal. Aber Ferdinand von Schirach erreicht etwas anderes: Er zeigt die Brisanz und die Bedeutung auf, die unsere Gesetze und unsere Verfassung für unser Leben haben. Und sie lässt uns die ethischen Dimensionen unseres Wertesystems erfassen: Wird jemand schuldig, der 70.000 Menschen rettet, weil er ein Prinzip verletzt hat? Wer entscheidet über den Wert eines Menschlebens? Wiegen 164 Leben 70.000 auf?

Nicht zuletzt hauchen die großartigen Schauspieler dem Thesenstück Leben ein: Wie Staatsanwältin Nicole Heesters mit Leidenschaft, ja Furor die Prinzipien unsere Grundgesetzes verteidigt, das lässt an das Ethos der Gründungsväter und –mütter der Bundesrepublik denken. Wie Moritz von Treuenfels als Pilot die Seelenlage des Soldaten ausgestaltet, der in Sekunden entscheiden muss und im Ernstfall keine Vorlesung mehr in Rechtsphilosophie besuchen kann. Wie seine Vorgesetzten in Person des Zeugen Christian Lauterbach (Lutz Wessel) ihn mit dieser Entscheidung im Regen stehen lassen und Alternativen wie die Räumung des Stadions gar nicht bedenken. Wie unfassbar Schock und Trauer einer Angehörigen sind, die keineswegs gefragt wurde, ob sie ihren unschuldigen Mann der Staatsraison opfern möchte, zeigt Viola Pobitschka als Franziska Meiser.

In Düsseldorf wurde der Pilot Lars Koch am Premierenabend frei gesprochen. Doch das moralische Dilemma nimmt jeder mit nach Hause.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Konzentrierter Alptraum – „Der Prozess“ nach Franz Kafka im Westfälischen Landestheater

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Bülent Özdil in der Rolle des Franz K. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Keine Requisiten, keine Farben. Die Einrichtung ist pure Konzentration, nichts soll ablenken von der unglaublichen Geschichte, die hier erzählt wird. Das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel zeigt Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ in einer geradezu analytischen Bühnenfassung von Christian Scholze (auch Regie), die durchaus überzeugend geraten ist.

Häufig birgt es Probleme, dicke Romane zu Bühnenstücken von wenigen Stunden Länge einzudampfen. Offenbar eignet sich Kafkas „Prozess“ jedoch gut dafür, folgt er doch einem linearen und deshalb recht schlüssig umsetzbaren Erzählstrang. Wie in einem Alptraum taumelt Josef K. durch absurde Szenen, in denen er Mal um Mal nicht verstehen kann, was alle anderen sicher zu wissen scheinen: Daß ihm ein Prozeß bevorsteht, daß er seine Unschuld beweisen muß.

Szenen des Abstiegs

Den Abstieg, wie hier, in einer Abfolge kleiner, begrenzter Szenen zu zeigen, ist naheliegend. Anders als K., der trotz wachsender Verunsicherung doch lange überzeugt ist, daß alles sich noch klären wird, sind die anderen Figuren recht burlesk gezeichnet: die Gerichtsdiener Franz und Willem (Felix Sommer und Thomas Tiberius Meikl), die Aufseherin (Samira Hempel), die Vermieterin Frau Grubach (Vesna Buljevic) und die Frau des Gerichtsdieners (Pia Seiferth).

Spätere Figuren wie der Advokat (Thomas Zimmer) und der Kunstmaler Titorelli (Guido Thurk) spielen differenzierter auf, was ebenfalls sinnvoll ist, da die Absurdität des Geschehens sich ja nicht auflöst, sondern immer monströser und somit auch immer erklärungsbedürftiger wird. Natürlich ohne daß sich irgend etwas klärte.

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Der Termin beim Anwalt bringt auch nichts; Szene mit (v.l.) Bülent Özdil, Thomas Tiberius Meikl, Thomas Zimmer und Pia Seiferth. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Als Bühnenbild (Ausstattung: Anja Müller) dienen einige hochformatige Leinwände, die technisch in ihrer Größe verändert werden können und als Projektionsflächen dienen. Auf ihnen tauchen zwischen den Szenen einige Male Personen auf und berichten nachrichtlich von Fortgang der Handlung. Und weil das alles in Castrop-Rauxel so nüchtern und ohne inszenatorische Kinkerlitzchen vorgespielt wird, öffnet sich gleichsam ein gedanklicher Freiraum, in dem sich entlang der Handlung trefflich über Herrn K. und sein eigentümliches Schicksal nachdenken läßt. Das hat das Publikum natürlich auch früher schon getan, es hat den Fall Franz K. als eine Art moralische Reflexion gewertet oder auch als die Geschichte einer mißlungenen Emanzipation.

Den „Prozess“ gleichsam naturalistisch als Drama eines Menschen zu verstehen, dem sein gutes Recht vorenthalten wird, greift sicherlich zu kurz. Christian Scholzes Umsetzung legt in ihrer Schnörkellosigkeit eine psychologische Sicht nahe, die Franz K.s Nöte als einen dissoziativen Prozess deutet, in dem Situation und Wahrnehmung nicht mehr zusammenpassen wollen, in des Wortes wörtlicher Bedeutung „ver-rückt“ worden sind. Die Anfang des 20. Jahrhunderts noch aufregend neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds waren Kafka nicht unbekannt, als er dieses Buch schrieb.

Intensiver Darsteller

Bülent Özdil gibt den Franz K., und ihm verdankt diese Inszenierung ihr Gelingen zu einem großen Teil. Wie er zwischen dem forschen Fordern eines Dreißigjährigen und der wachsenden Verzweiflung des schuldlos Beschuldigten zu jedem Zeitpunkt die richtige Balance hält, wie er, ohne zu überspielen, mit anrührender persönlicher Intensität K.s Niedergang gibt, wie er in seinem Spiel den Spannungsbogen bis zum Zusammenbruch nahtlos hält, das ist großartige, fast ein wenig unerwartete Schauspielkunst.

Viel freundlicher Applaus. Allerdings blieben beim Premierenabend im Studio einige Plätze leer.

 




Megatheater im Megastore – Schauspiel Dortmund präsentiert Teil II des Spielplans

megastore innen

Gut, da denkt man nicht sofort an prickelnde Theateratmosphäre – doch wenn es im Dezember hier im Megastore losgeht, sieht es  bestimmt schon ganz anders aus. (Foto: Theater Dortmund)

Natürlich haben sie jetzt doch noch was gefunden, und die Angst vor einer spielstättenfreien zweiten Halbzeit in der diesjährigen Dortmunder Theatersaison hat sich als unbegründet erwiesen. Der neue Ort heißt „Megastore“, und der Name ist so stark, daß sie ihn gelassen haben. Was man gut verstehen kann: „Megatheater im Megastore“ klingt doch um Klassen besser als „Vorstellungen in der Ausweichspielstätte“, oder?

Der Megastore befindet sich in Dortmund Hörde im Gewerbegebiet nahe Wilo-Pumpen, an der Felicitasstraße, also quasi eine Straße vor oder hinter dem Recycling-Hof der Stadt, je nach dem, aus welcher Richtung man kommt. Bis vor einiger Zeit wurden hier Fanartikel von Borussia Dortmund verkauft, und einen Schönheitspreis wird der zweckmäßige Baukörper vermutlich nie bekommen. Das Theater spielt ab Dezember – wenn das Große Haus renoviert wird – also quasi am A… der Welt, jedoch mit Bus und Bahn halbwegs passabel erreichbar.

Und was wird hier gespielt?

Nun, man gibt zum Auftakt, was in Dortmund nicht alle Tage passiert, das Stück einer renommierten Dramatikerin. „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek soll erstmalig am 11. Dezember über die Bühne gehen. Es dreht sich um Beate Zschäpe, die seit Mai 2013 in München vor Gericht steht – und schweigt. Sie ist, wie bekannt, die einzige Überlebende des Mördertrios, das sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte und aus rassistischen Motiven zehn Menschen umbrachte. Regie führt Michael Simon, und es wird wohl ein sehr ernster Abend werden.

Ensemble

Szene aus „Eine Familie (August: Osage County)“. Das Stück von Tracy Letts ist die letzte Premiere im Schauspielhaus, bevor dort die Arbeiten beginnen (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zwei Ehepaare streiten

Richtig spaßig ist auch das nächste Stück nicht, wenngleich das Setting zunächst ein bißchen an Yasmina Rezas Aufstellungen erinnert. In „Geächtet (Disgraced)“ treffen zwei Ehepaare aufeinander. Hier der erfolgreiche Anwalt Amir, Muslim mit pakistanischen Wurzeln und verheiratet mit Emily, weiß und protestantisch; dort der amerikanische Jude Isaac und seine afroamerikanische Gefährtin Jory, die als Anwältin eine Kollegin von Amir ist. Sie machen den Fehler, über Politik zu reden, und spätestens beim Thema „9-11“, dem Terrorangriff auf die New Yorker Twin Towers im Jahr 2001, ist die gute Stimmung dahin. Doch der Streit geht dann erst richtig los, und laut Ankündigung ist nachher nichts mehr so wie vorher.

Angesichts auch der doch recht exemplarischen Biographien ahnt man die anstehenden Konflikte; und wünscht sich, daß es nicht allzu pädagogisch wird, oder moralisch, oder beides. Regie in diesem Stück von Ayad Akhtar führt Hausherr Kay Voges selbst (ab 6. Februar 2016).

„Die Liebe in Zeiten der Glasfaser“ blickt aus verschiedenen Winkeln auf das Skypen. Ed Hauswirth hat das Stück als „ein Stück Skype“ geschrieben und bringt es im Megastore, auch Regie führend, am 12. Februar 2016 zur Uraufführung. Falls jemand das Wort nicht kennt: Statt Skypen hätte man früher vielleicht „Bildtelefon“ gesagt, aber natürlich geht das heutzutage über Computer und Internet. Nun denn, man wird sehen.

Merle Wasmuth Frank Genser

Merle Wasmuth und Frank Genser in „Besessen“ von Jörg Buttgereit. Das Stück hat am 23. Oktober im Studio Premiere. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Alles gleichzeitig

Statt um eigene originelle Formulierungen zu ringen, folgt jetzt ein längeres Zitat aus dem Pressetext: „Ein Kind wird geboren. Ein Schiff mit Geflüchteten versinkt im Mittelmeer, und du bist zum Abendessen eingeladen. Über Twitter wird vermeldet: Enthauptung in Syrien, in Ungarn ist der Stacheldraht fertig, die Grenzpolizei setzt Wasserwerfer ein gegen den Ansturm der Verzweifelten. Die Steuererklärung ist fertig. Peter will heiraten, Urs zum IS, und aus dem Radio dröhnt das Versprechen von Sonne und Abenteuer: Kreuzfahrt in der Adria. Ein Thalys-Zug wird evakuiert. Terrorgefahr. Radiotalk zur Angst vor Flüchtlingen. Der erlösende Führungstreffer in der Nachspielzeit, ein Sonntagsschuß. Frau Dingsbums von nebenan hat Krebs, in der Ukraine wird geplündert, in Florida schneit es. Meine Freundin hat sich von ihrem Mann getrennt. Facebook präsentiert seine neue Selfie-App für unterwegs. Die Kanzlerin besucht ein Flüchtlingsheim…“

Erkennbar geht es also um die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse, der ungeheuerlichen wie der banalen, und das Ensemble wird sich diesem Ansturm der Ereignisse stellen. Methodisch soll „Die Borderline Prozession“ irgendwie den Projekten „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ (2014) und „Die Show – Ein Millionenspiel um Leben und Tod“ aus diesem Jahr nahestehen, aber was Voges da nun genau vorhat, ist noch nicht so recht erkennbar. Das heißt aber auch, daß man auf die Uraufführung am 8. April 2016 gespannt sein muß. Ko-Autoren des Dortmunder Schauspielchefs sind hier Dirk Baumann und Alexander Kerlin.

Übrigens hat der Schriftsteller Walter Kempowski vor etlichen Jahren in seinem Bücherzyklus „Das Echolot“ mit seiner Methode einer gleichzeitigen Notation sehr eindrucksvoll die Zeit des deutschen Nationalsozialismus beschrieben. Aber dies nur am Rande.

Wenn die Spielzeit fast schon zu Ende ist, kommt noch einmal der Dortmunder Sprechchor zum Einsatz. Mit ihm erarbeiten Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin ihre Version von Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, Premiere ist am 18. Juni 2016. Und spätestens dann werden die Freunde des Dortmunder Theaters Bilanz ziehen, wie sie denn war, die erste Spiel(halb)zeit im „Megastore“.

Nicht ohne Buttgereit und Storch

Im (regulären) Großen Haus steht mit dem Drama „Eine Familie“ von Tracy Letts am 24. Oktober noch eine Premiere an, im Kleinen Haus gibt es als Nächstes Neues von, wie man vielleicht sagen könnte, zwei sehr eigenwillige Dortmunder „Hausautoren“ zu sehen. Horror-Experte Jörg Buttgereit stellt, inspiriert vom Film „Der Exorzist“ und unterstützt von Anna-Kathrin Schulz, das Stück Besessen“ auf die Bretter (Uraufführung am 23. Oktober 2015), Wenzel Storch steuert „Das Maschinengewehr Gottes“ bei. Bei diesem am 10. Dezember zur Aufführung gelangenden Bühnenwerk soll es sich um „Eine Kriminal-Burleske aus dem Meßdiener-Milieu“ handeln; ältere Leser werden sich bei dem Titel sicher an den amerikanischen Prediger Billy Graham erinnern, der auch in Deutschland mit Donnerhall missionierte.

König Alkohol

Und schließlich: „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew in einer Bühnenfassung von Kathrin Lindner (ab 16. Januar). Es ist die Geschichte eines Bahnreisenden, dessen Hauptaugenmerk dem alkoholischen Nachschub gilt, es ist die Beschreibung einer russischen Gesellschaft, in der der Alkohol die Hauptrolle spielt, und es ist sicher auch eine Verbeugung vor einem herzlichen russisches Volk, das den Zumutungen des Lebens immer wieder mit Menschlichkeit zu begegnen weiß. Mit russischer Seele meinetwegen. Ich bin sehr gespannt, was das Dortmunder Theater aus dieser Vorlage macht.

Übrigens gibt es „Moskau – Petuski“ von Venedikt Erofeev (so schreiben sie es hier) auch als grandioses Hörbuch bei „Kein & Aber Records“. Abwechselnd lesen hier Bochums Homeboy Frank Goosen, Harry Rowohlt und Heinz Marecek, und Letzterer, Marecek, hinterläßt mit seinem wienerisch-balkanesischen, kehlig krähenden Zungenschlag den stärksten und irgendwie auch kongenialsten Eindruck. Aber dies nur am Rande.

Daß das Megatheater für den Megastore einen Megaspielplan hat, versteht sich also von selbst. Hoffen wir also, daß Megaintendant Kay Voges und die Seinen uns eine Megazweitspielzeit an der Nortkirchenstraße bieten werden. Hals- und Beinbruch!

Mehr Information: www.theaterdo.de




Dortmunds Weihestätte des deutschen Fußballs – Eröffnung zum etwas ungünstigen Zeitpunkt

Mist! Verpasst. Vergeigt. Versemmelt. Den Dortmunder Kulturtermin des Jahres, ach was, des Jahrzehnts: versäumt. Oder doch nicht? Ist alles nur halb so wild?

So sah das Akkreditierungsformular aus. (© DFM)

So sah das erwähnte Akkreditierungsformular aus. (© DFM)

Frisch aus einem Kurzurlaub zurück, habe ich jedenfalls das Akkreditierungsformular (siehe Bildwiedergabe) zur Pressekonferenz leider erst heute aufgerufen. Doch just zu jener Morgenstunde lief die Chose schon, nämlich die offizielle Vorstellung des Deutschen Fußballmuseums zu Dortmund. Volle sechs Tage, bevor das allgemeine Publikum Zutritt erhält, durfte die versammelte Weltpresse Kenntnis nehmen.

So bleibt mir einstweilen nur die Zaungastrolle à la Waldorf und Statler, die bekanntlich jede „Muppet Show“ vom Balkon aus mit ätzenden Bemerkungen begleitet haben. Meinetwegen bin ich namenshalber auch „Bernd das Brot“. Hauptsache schlechte Laune.

Dortmund, von nicht wenigen als deutsche Fußballhauptstadt apostrophiert, hat also nun endlich „sein“ Fußballmuseum. Das heißt, es ist sozusagen das Fußballmuseum der Nation oder, noch richtiger, eine Weihestätte des Deutschen Fußballbundes (DFB). Da klingelt doch was.

Genau. Man hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für die Eröffnung erwischen können. Durch diverse „Spiegel“-Berichte sind hochmögende Repräsentanten des DFB bekanntlich in den Ruch geraten, das deutsche WM-„Sommermärchen“ von 2006 zuvor pekuniär befördert zu haben. Wobei zu sagen wäre, dass wohl kaum eine Weltmeisterschaft jüngerer Zeitrechnung ganz ohne freundliche „Nachhilfe“… Aber lassen wir das.

Und so musste denn auch heute DFB-Präsident Wolfgang Niersbach mehr – oder zumindest dringlicher – zu solch unangenehmen Vorwürfen sich äußern, als zu musealen Fragen. Die Steigerung folgt auf dem Fuße. Zur Eröffnungsgala am Freitag wird u. a. auch noch die (etwas ins Flackern geratene) „Lichtgestalt“ Franz Beckenbauer erwartet…

Hier noch virtuell, jetzt real: das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund. (@ DFM/Triad)

Hier noch virtuell, jetzt real: das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund. (@ DFM/Triad)

Zurück zum eigentlichen Anlass: Das Museum ist sozusagen kein Dortmunder Gebiet, sondern exterritorial. Hier hat der DFB das Sagen. Und so darf man auch keine durchdringend kritische Darstellung der Fußballgeschichte erwarten, sondern eher so eine Art „Domschatzkammer“ der Fußballreligion – mit Reliquien sonder Zahl; Mario Götzes Schuh inbegriffen, mit dem er beim WM-Finale 2014 den goldenen Treffer erzielte.

Kurzum: Rund 1600 Exponate auf 3700 Quadratmetern legen erschöpfend Zeugnis ab von großen deutschen Fußballmomenten, besonders von den Triumphen bei den Weltmeisterschaften 1954, 1974, 1990 und 2014, aber auch von Höhepunkten der (am 28. Juli 1962 in Dortmund gegründeten) Bundesliga.

Ob sich alle Erwartungen im Hinblick auf die Besucherströme erfüllen, steht dahin. Man rechnet mit Hunderttausenden pro Jahr. Schon jetzt dürfte aber feststehen, dass das Deutsche Fußballmuseum das mit Abstand meistbesuchte in der Stadt sein wird, denn mit den Künsten hat man es hier immer noch nicht gar so sehr. „Stand jetzt“ (schrecklicher Fußballjargon) muss übrigens die Stadt Dortmund etwaige Verluste des Museums ausgleichen. Man will allerdings noch nachverhandeln. Viel Vergnügen dabei.

So wird denn – übrigens zu recht noblen Eintrittspreisen – manche(r) durch den musealen Spielertunnel schreiten, sich in Sepp Herbergers Notizen versenken, allerlei Trophäen bestaunen und schließlich im hochheiligen Bus der Weltmeister Platz nehmen. Vielleicht denkt man ja auch mal über die etwas uninspirierte Architektur des Baus gegenüber dem Hauptbahnhof nach. An diesem exponierten Ort hätte man noch ganz andere Zeichen setzen können.

Unterdessen hat schon der Wettbewerb um das tollste Wortspiel zum neuen Museum begonnen. Die Ruhrnachrichten haben heute online den „Ballfahrtsort“ vorgelegt. Wir halten hochkulturell dagegen: „Ballhalla“!

Infos: https://www.fussballmuseum.de/




Der Bewahrer und seine Hoffnung: Katharina Hackers berührender Roman „Skip“

skipSkip Landau mag Dinge, die er anfassen kann und zieht sie vielem anderen vor. So ist er Architekt geworden, in Israel hat er sich im ausgehenden letzten Jahrhundert einen Namen damit gemacht, gemeinsam mit palästinensischen Handwerkern alte Häuser mit viel Liebe zum Detail zu renovieren.

Aufgewachsen ist er in Paris, als Erwachsener ging er nach Israel und gründete in Tel Aviv eine Familie. Mittlerweile lebt er in Berlin und kümmert sich dort für seinen Chef um den Erwerb und die Renovierung alter Bausubstanz. Sein Name ist ihm so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

„To skip“ bedeutet im Englischen springen, etwas überspringen und so fühlt er sich auch. Eine richtige Zugehörigkeit zu definieren fällt ihm schwer, allenfalls bezeichnet er sich selbst als modernen Migranten. Er fühlt sich nicht als „richtiger“ Jude, weil seine Mutter keine Jüdin war, er fühlt sich nicht als „richtiger“ Vater, weil seine Söhne aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit von einem anderen Mann gezeugt wurden. Seine Frau Shira ist einen quälenden Krebstod gestorben, der ihn merkwürdig kalt ließ. In Berlin nun erinnert er sich an sein bisheriges Leben und ringt um das Geschenk eines Neuanfangs.

Nicht nur erinnert er sich an reale Geschehnisse seines Lebens, das immer auch von der wechselvollen Geschichte Israels geprägt war. Er erinnert sich auch an Erfahrungen, die er in der Mitte seines Lebens machte und die er bisher niemanden erzählen konnte.

Plötzlich sah er sich mit Dingen konfrontiert, die nur er wahrnahm. Er hörte eine innere, eine unwiderstehliche Stimme, die ihn an Orte rief, an denen wenig später eine Katastrophe passierte. An jedem dieser Orte ist eines der Opfer für ihn plötzlich nicht mehr namenlos und er fühlt sich diesem besonders verbunden. Gegen diese Verbundenheit kann er sich nicht wehren, er muss an diesem Ort ausharren, dieser Seele Gesellschaft leisten, bis sie von selber bereit ist, ihn los zu lassen. Diese Aufgabe belastet ihn, dass er nicht darüber sprechen kann, noch mehr. In Folge leiden seine Ehe und sein Familienleben.

Mit „Skip“ legt die Autorin Katharina Hacker, 2006 Trägerin des Deutschen Buchpreises, ihren lang erwarteten neuen Roman vor. Anders als erwartet ist es keine Fortsetzung ihrer „Dorfgeschichten“ um Anton und Alix, welche als dreiteiliges Romanprojekt angelegt waren. Mit „Skip“ betritt sie einen deutlich globaleren Rahmen, gleich mehrere Länder und Weltanschauungen spielen eine wichtige Rolle. Mit der Geschichte des innerlich zerrissenen Architekten bleibt sie aber dennoch bei ihren zentralen Fragen. „Was macht das Leben mit und aus uns?“ und „Wie wollen wir leben trotz all des Leids?“

Wir sehen Skip beim Mühen, beim Scheitern, seltener beim Gelingen zu. Er ist ein guter Mensch, er macht auch gar keine schwerwiegenden Fehler, trotzdem empfindet er sein Leben lange Zeit als unrund. Das Leben an sich, sein Leben im Besonderen ist für Skip ein großes Rätsel. Ein größeres Rätsel als der Tod. Wohl auch, weil alle Menschen, die ihn von Beginn an begleitet haben, gestorben sind. Seine These ist, dass man nur in der Erinnerung derjenigen lebt, die einen von Anfang an gekannt haben.

Durch den mystischen Überbau löst die Autorin dieses Rätsel für Skip und die Leser auf. Sie erzählt die Begebenheiten rund um Skips innere Stimmen und sein Wirken als „Todesengel“ mit einer nonchalanten Selbstverständlichkeit. Es wirkt weder abwegig noch lächerlich, sondern ganz selbstverständlich. Skip versteht dadurch, dass er „ein Bote ist oder Mittler, einer von denen, denen nichts zustösst“. Er ist kein Macher im eigentlichen Sinn, er ist ein Bewahrer wie er auch in seinem Beruf eher bewahrt denn neu aufbaut. Dies macht ihn zum idealen Begleiter und zwar nicht nur der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden. Als er das verstanden hat, traut er sich endlich, seinen Weg weiterzugehen. Und so ist „Skip“ schlißelich ein Buch, das von viel Tragik erzählt, aber ein hoffnungsvolles und zugleich nachvollziehbares Ende hat.

„Skip“ ist noch aus einem anderen Grunde ein wichtiges Buch. Hackers Thema mag universell sein, die Zeit und der Ort, den sie sich dafür ausgesucht hat, sind es aber nicht. In seinen Erinnerungen erzählt Skip hauptsächlich von der Zeit in Tel Aviv vom Ende der 80er Jahre bis zum 11. September 2001. Katharina Hacker studierte unter anderem Judaistik und lebte sechs Jahre in Jerusalem. Israel und seine Menschen sind ihr wichtig. Ihre große Verbundenheit damit spürt man in jedem Satz, Diese Liebe zum Land und seinen Menschen, aber auch die Sorgen darum vermittelt der Roman auf besondere Weise.

Dazu kommt: In einer Zeit, in der durch erneute Gewalteskalationen in Israel und Palästina bereits von einer dritten Intifada gesprochen wird und gleichzeitig andere Krisen die Berichterstattung darüber zurückdrängen, sind die Gedankenanstöße, die „Skip“ gibt, sicher wichtiger denn je.

Katharina Hacker: „Skip“. Roman. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 384 Seiten, € 21,99.




Rätsel des Alltags (5): Das Ungeheuer von Topf Ness

Länger nichts mehr für die lose Reihe „Rätsel des Alltags“ geschrieben. Jetzt aber drängt sich ein (Un)wesen geradezu auf. Oder was würdet ihr tun, wenn sich „Nessie“ quasi in eurer Küche zeigt? Das erschütternde Erlebnis schreibend zu verarbeiten suchen. Eben.

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Es begab sich also bei Verfertigung einer an sich harmlosen Tomatensuppe, dass urplötzlich ein Ungeheuer sein schauriges Haupt erhob. Das unwiderlegliche, selbstverständlich weltexklusive Beweisfoto (Kaufpreis auf Anfrage) stelle ich hinzu, es sagt – wie man hilflos zu formulieren pflegt – „mehr als tausend Worte“… Eigentlich könnte ich also den Text schon beenden.

Doch halt! Aus meinem kaum erschöpflichen Nippes-Fundus taucht noch ein Souvenir auf, das ich einst in Schottland erworben habe, und zwar direkt am berühmten Loch Ness. Das vierteilige Keramik-Set stellt das legendenumwobene Monster in aparter dunkelgrünlicher Tönung dar. Hübsch, nicht wahr?

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Man vergleiche nun aber mit dem Ungeheuer von Topf Ness. Das eine ist eher ein sinniger Scherzartikel, im anderen Falle wird es hingegen ziemlich ernst. Allein der blutorangenfarbene Urschlamm deutet doch wohl unmissverständlich darauf hin. Und bevor noch läppische Gruselspielchen zu Halloween uns ereilen, erschaudern wir hierbei im Innersten.




DVD-Doku zeigt, wie die Amerikaner im April 1945 nach Westfalen kamen…

Im Frühjahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg, weil sowjetische und amerikanische Truppen mit ihren Verbündeten von mehreren Seiten das „Reich“ in die Zange nahmen. Auch in Westfalen durchkämmten US-Soldaten Dorf für Dorf, Stadt für Stadt, um Deutschland von der Naziherrschaft zu befreien. Dabei nahmen sie auch Kamerateams mit, die den Einsatz aus amerikanischer Sicht filmten. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat aus diesen Aufnahmen eine eindrucksvolle DVD über Westfalen zusammengestellt.

Als zum Beispiel der Kulturverein der Stadt Sprockhövel vor einigen Tagen diese neue DVD öffentlich aufführte, war der Saal proppevoll. Die überwiegend älteren Besucher waren bei Kriegsende Kinder oder Jugendliche gewesen und erinnerten sich nur in Details an die Ereignisse rund um Ostern des Jahres 1945. Die Dokumentation auf der Leinwand zeigte ihnen natürlich nur das einseitige Bild der amerikanischen Kameraleute, die ihre Aufnahmen auch für die Kino-Wochenschauen in der Heimat drehten.

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In den Schwarz-Weiß-Filmausschnitten, die der LWL aus acht Stunden Material des National-Archivs Washington zusammengestellt hat, kommen neben Kampfhandlungen und Kriegszerstöungen durch die Bomben auch die Folgen der Grausamenkeiten in den Lagern für Fremdarbeiter und Kriegsgefangene und die Internierung von NS-Funktionären vor. Die Sieger zeigen sich bei Paraden und Trauerfeiern für ihre gefallenen Kameraden, und von den deutschen Menschen sieht man einen erstaunlich schnellen Übergang in die Normalität des Alltagslebens in Friedenszeiten.

Aus Westfalen sind unter anderem Szenen aus folgenden Gemeinden und Städten zu sehen: Altenhundem und Würdinghausen im Kreis Olpe, Bad Salzuflen, Beckum, Bochum, Gelsenkirchen, Haltern, Hamm, Menden, Hemer, Münster, Olpe, Herne, Lügde, Minden, Paderborn, Stuckenbrock, Elspe, Recklinghausen, Dortmund, Schmallenberg, Soest und Siegen, Wehrden, Suttrop bei Warstein und Witten. Die Idee zu dieser Zusammenstellung bisher überwiegend unveröffentlichter Aufnahmen hatte Professor Markus Köster, der Leiter des LWL-Medienzentrums. Dort kann man die DVD auch privat erwerben.

Als die Amerikaner kamen. US-Filmaufnahmen vom Kriegsende 1945 in Westfalen. DVD mit Begleitheft, 14,90Euro. Bezug im LWL-Medienzentrum für Westfalen, Fürstenbergstr. 14, 48147 Münster. E-Mail: medienzentrum@lwl.org.




Siegfried Wagners Märchen-Oper „An allem ist Hütchen schuld“ kommt ins Audimax Bochum

Der zehnjährige Siegfried mit seinem Vater Richard Wagner. Die Aufnahme entstand 1880 in Neapel.

Der zehnjährige Siegfried mit seinem Vater Richard Wagner. Die Aufnahme entstand 1880 in Neapel.

Wer kennt sie nicht, die Charaktere aus den Märchen der Gebrüder Grimm? Den Frieder und das Katherlieschen, das singende springende Löweneckerchen, das Tischlein-deck-dich. Und dazu Königssohn und Müller, Tod und Teufel, Hexe und Menschenfresser.

Sie alle – und noch viele mehr – spielen mit in Siegfried Wagners Märchenoper „An allem ist Hütchen schuld“. Das burleske Werk, das komische und tragische Züge mit einer Fülle symbolischer und psychologischer Bezüge zu den Grimm’schen Märchen verbindet, ist am Sonntag, 18. Oktober, 18 Uhr, im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität in Bochum in einer szenischen Aufführung zu sehen.

Siegfried Wagner (1869-1930), der Sohn Richard Wagners, gehört zu den vergessenen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Schüler Engelbert Humperdincks hatte es schwer, sich gegen den übermächtigen Schatten des Bayreuther „Meisters“ durchzusetzen. Dennoch waren unter seinen siebzehn Opern eine Reihe von Erfolgen, allen voran der 1899 in München uraufgeführte Erstling, „Der Bärenhäuter“. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten weder die Familie Wagner noch die Opernhäuser Interesse am Werk Siegfrieds.

Erst Mitte der siebziger Jahre begann eine zaghafte Wiederentdeckung, die vor allem von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft und dem Musikwissenschaftler und Regisseur Peter P. Pachl – Autor einer Biografie des Wagner-Sohnes – getragen wird. Ergebnisse waren unter anderem die sehr erfolgreiche szenische Aufführung von „An allem ist Hütchen schuld“ 1997 am Theater Hagen und konzertante Präsentationen von „Die Heilige Linde“ in Köln 2002 und „Der Heidenkönig“ in Solingen 2004.

Die geringe Beachtung soll sich jetzt ändern: Die Bochumer Aufführung ist Teil eines Projekts, das in internationaler Zusammenarbeit die Opern Siegfried Wagner szenisch realisieren soll. In Sommer 2017 soll in Bayreuth das erste, das Festspielprogramm der Richard Wagner-Festspiele ergänzende Festival mit Opern von Siegfried Wagner stattfinden. Hierfür sollen bis dahin sechs Opern Siegfried Wagners – in internationaler Kooperation – erarbeitet werden.

Auf „An allem ist Hütchen schuld“ folgt als nächste Inszenierung in Shanghai/China „Schwarzschwanenreich“. Diese Produktion soll dann auch in Deutschland an verschiedenen Häusern gastieren. Schirmherrin des Projekts ist Theophana Prinzessin von Sachsen.

Der Regisseur der Bochumer Neuproduktion: Peter P. Pachl. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur der Bochumer Neuproduktion: Peter P. Pachl. Foto: Werner Häußner

Das im Titel des 1917 in Stuttgart uraufgeführten Werks genannte „Hütchen“ ist ein Kobold, der als Drahtzieher im Hintergrund fungiert. Die „Helden“ des Stücks sind das Liebespaar Frieder und Katherlieschen, die eine Reihe von Prüfungen und Versuchungen zu überstehen haben, bevor sie sich am Ende des Märchenspiels glücklich in die Arme schließen dürfen.

Siegfried Wagner, der sein eigener Librettist war, verarbeitet Motive aus mehr als drei Dutzend Grimm-Märchen in die Geschichte, in der die Menschenfreundlichkeit und moralische Integrität der jungen Liebenden siegt. Das opulente Stück hat alleine sechzehn Solopartien, die zum Teil von Absolventen der Kölner Hochschule für Musik gesungen werden. In den Hauptrollen zu erleben sind der Tenor Hans Georg Priese (Frieder), der in Berlin, Köln, Meiningen und Saarbrücken unter anderem Max, Florestan und Tannhäuser gesungen hat, sowie Rebecca Broberg (Katherlieschen), die bereits zahlreiche Siegfried-Wagner-Partien erarbeitet hat.

Die Bochumer Symphoniker unter Leitung von Lionel Friend produzieren die Oper in Kooperation mit dem pianopianissimo-musiktheater München in einer Inszenierung von Peter P. Pachl im Bühnenbild von Robert Pflanz. Mit dabei ist auch der Sonderchor der Ruhr-Universität.

Das Gemeinschaftsprojekt geht auf die Initiative des Bochumer Universitätsmusikdirektors Hans Jaskulsky zurück, es wird unterstützt von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e. V., Bayreuth. Deutschlandradio Kultur beabsichtigt die spätere Ausstrahlung der Aufzeichnung in Bochum.

Karten für die Aufführung am 18. Oktober, 18 Uhr, im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität Bochum an der Kasse des Schauspielhauses Bochum, Tel.: (0234) 3333 5555, Mail: tickets@schauspielhausbochum.de 

Information, Inhaltsangabe und Hintergründe: http://www.siegfried-wagner.org/html/termine2015.html#

 




Ikone der Filmgeschichte: Vor 75 Jahren wurde Chaplins „Der große Diktator“ uraufgeführt

In diesem Film gibt es Szenen, die in die Weltgeschichte der bewegten Bilder eingegangen sind. Szenen, die man einmal gesehen hat und nie wieder vergisst. Szenen, die das Lachen herauskitzeln und die einem das Lachen im Hals steckenbleiben lassen. Die „New York Times“ bezeichnete ihn – unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen – als vielleicht bedeutsamsten Film, der je produziert wurde. Gemeint ist Charlie Chaplins „Der große Diktator“.

Die bittere und zugleich erzkomische Satire auf Adolf Hitler und das Dritte Reich hatte vor 75 Jahren, am 15. Oktober 1940, ihre Premiere – und zwar in New York, nicht wie üblich in Los Angeles, weil Chaplin eine bereits angelaufene Protestwelle fürchtete. Das Hays-Office, die amerikanische Zensurbehörde, äußerte bereits im Vorfeld Bedenken gegen den Film; Chaplin erhielt aus pro-faschistischen Kreisen Drohbriefe.

Chaplin, wie Hitler im April 1889 geboren, ist vielleicht der einzige Künstler, dem es je gelungen ist, die Figur des größenwahnsinnigen Diktators künstlerisch adäquat umzusetzen. Leicht ist es dem britischen Komiker nicht gefallen: Bis 1935 reichen die Vorbereitungen für den Film zurück. Chaplin musste sein Konzept am Set auch gegen einzelne Mitarbeiter durchsetzen. Und die Kritik war keineswegs einhellig positiv. 1940 ging es in der öffentlichen Diskussion in den USA um einen möglichen Kriegseintritt; Chaplins „Großer Diktator“ wurde da als Beitrag zur Kriegshetze missverstanden.

Darf man über Verbrecher lachen?

Später hat man ihm sogar vorgeworfen, den Nationalsozialismus verharmlost zu haben. Die Frage, ob man über die furchtbaren Verbrecher des Dritten Reiches lachen dürfe, wurde auch in der Nachkriegszeit lange diskutiert. Chaplin selbst bekannte später, hätte er die wahren Gräuel in den Konzentrationslagern gekannt, hätte er den Film nicht produzieren können. Die Amerikaner gaben den Film nach Testaufführungen im Nachkriegs-Berlin nicht frei; er kam erst 1958 in die deutschen Kinos. 2004 erlebte er sein Comeback in einer aufwändig restaurierten Version.

Charlie Chaplin indes wusste, was er tat und was er wollte: Er hatte die Tiraden und Ausfälle Hitlers lange genug studiert, um ihren unmenschlichen Kern freizulegen. Er hatte erkannt, dass die Hassreden gegen die Juden und „Untermenschen“, ihre Diskriminierung und letztlich tödliche Verfolgung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit unerhörten Ausmaßes waren. Er wollte die Wahrheit mit seinen Mitteln darstellen und die Menschen aufrütteln – mit den Mitteln des Komödianten, mit der Kunst der Parodie, der Überzeichnung, der Satire und Persiflage.

Und so ließ er „Adenoid Hynkel“, den Herrscher über „Tomania“, mit einem Luftballon in der Form eines Globus tanzen, bis der Luftbehälter platzt und nur ein paar Fetzen in den Händen des Diktators zurückbleiben. So persiflierte er die „Achse“ zwischen Hitler und Mussolini mit dem Treffen des kriegswütigen Hynkel mit dem kaum weniger gewaltversessenen Herrscher von Bacteria, Benzino Napoloni. Die Szene mit dem verfehlten roten Teppich vor dem Zug gehört zu den Ikonen gelungenen Slapsticks.

Plädoyer für Freiheit und Humanität

Für das Finale des Films – den Einmarsch Tomaniens ins Nachbarland „Osterlich“ – lässt Chaplin einen kleinen, aus dem KZ geflohenen Juden in die Rolle des Diktators geraten: Die tragikomische Gestalt des verfolgten Friseurs, der dem Gewaltherrscher zum Verwechseln ähnlich sieht – Zwei-Finger-Bart unter der Nase eingeschlossen –, muss die Rede nach dem erzwungenen „Anschluss“ des besetzen Landes halten. In diesem Moment wächst er über sich hinaus: Er plädiert für Völkerverständigung, gegen Sklaverei und Unterdrückung, für Freiheit, Toleranz und Humanität. Eine fast sechsminütige Rede, die in der Kritik auf Ablehnung stieß. Formal, weil sie die Ebene der Handlung verlässt und die „vierte Wand“ zum Zuschauer durchbricht; inhaltlich, weil Chaplin seine politische Position unverstellt und leidenschaftlich formuliert.

Die Worte dieser Rede stehen in denkbar scharfem Gegensatz zu dem Kauderwelsch, mit dem sich der echte Diktator in einer vorangegangenen Szene vor dem Mikrofon produziert hatte. Chaplin hatte für diese Ansprache Hitlers Gestik und Mimik genau studiert, um sie lächerlich zu überzeichnen. Und seine Sprache ist ein künstliches Gebrabbel, in dem man nur hin und wieder einzelne Worte erkennt: „Sauerkraut“, „Schnitzel“ oder „Blitzkrieg“. Eines der Kunstworte Chaplins, „Schtonk“, hat über den Film hinaus Karriere gemacht.

„Der große Diktator“ ist nicht nur eine genialische und tief bewegende Satire. Er ist, wie die „New York Times“ schrieb, ein von Grund auf tragisches – oder im klassischen Sinne tragikomisches Werk. Er ist bis heute ein Aufruf, hellsichtig zu bleiben und die Unmenschlichkeit, die sich nicht ausrotten lässt, zu erkennen und zu benennen. Und er ist ein berührendes Zeugnis für den großen Humanisten Charles Spencer Chaplin, der sich in der Rede des jüdischen Friseurs im Film unverstellt wiederfinden lässt:

„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht.
Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern,
sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann.
Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen.
Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt.
Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen.
Hass und Verachtung bringen uns niemals näher.
Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein.
Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.“




Indonesien auf der Buchmesse: Ein kleiner Verlag präsentiert einen Roman über Bali

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt "Indonesien" der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman "Insel der Dämonen" entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman „Insel der Dämonen“ entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Die edelsten Perlen finden sich tief unten im Meer. Die indonesischen Perlentaucher wissen das. Der deutsche Buchmarkt, dessen große Verlage derzeit auf der Frankfurter Buchmesse ihre Neuerscheinungen präsentieren, taucht nicht immer so tief. Dort grast man gerne die Oberfläche ab, wo wächst, was sich geschmeidig der Strömung anpasst. Und so kommt es, dass eine schüchterne Perle in einer winzigen Nische zu finden ist. Ein Glück, dass es solche wagemutigen Verleger noch gibt.

Das Buch ist ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der diesjährigen Buchmesse. Es widmet sich Asiens Ferieninsel Nummer eins: Bali. Vier Millionen Besucher jährlich beschäftigen ein Fünftel der Bevölkerung und tragen einen wesentlichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt bei.

Die reiche Kultur Balis zog in den siebziger Jahren esoterisch angehauchte Backpacker an. Die sich offen gebenden Menschen, die farbenprächtigen Feste und Riten begeisterten sie. Der geheimnisvolle Zauber der Gamelanmusik, der Dämonenfratzen und der Bilder naiver Maler lassen die Besucher nicht unberührt. Auch wer Sprache und Kultur nicht versteht, wird bezaubert und erlebt Bali als faszinierend „exotisch“.

Auch Autor Lothar Reichel konnte sich der geheimnisvollen Anziehung der Insel mit ihren Vulkanen und Stränden nicht entziehen: Aus einer Reise als junger Mann wurden viele; aus ersten Eindrücken und Bildern wurde ein vertieftes Eindringen in balinesische Religion, Literatur, Mentalität. Dabei traf Reichel auf den in Russland geborenen deutschen Maler und Musiker Walter Spies, eine farbige Persönlichkeit mit intimen Kenntnissen balinesischer Kultur. 1942 kam er als Internierter ums Leben, als die Japaner das Schiff versenkten, das ihn mit 400 anderen Deutschen nach Ceylon bringen sollte. Außerhalb Balis vergessen, hat Spies der modernen Malerei der Insel, aber auch dem balinesischen Drama wichtige Impulse gegeben.

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Spies ist eine der Personen, um die es in Reichels Roman „Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali“ geht. Aber schon der Titel ist eine Anspielung: Die deutsche Autorin Vicki Baum hatte 1937 ihren Roman „Liebe und Tod auf Bali“ veröffentlicht. Bis heute gehört er zur Pflichtlektüre für Bildungstouristen – und er ist seither das einzige bekannte auf Deutsch geschriebene literarische Werk über Bali geblieben.

Auch Vicki Baum spielt in Reichels neuem Roman eine entscheidende Rolle: In einem fiktiven Bericht klärt sie auf, wie es damals wirklich gewesen ist, als sie auf der unerschlossenen Insel mit Spies zusammenkam und ihren Roman skizzierte.

Doch das ist die zweite Ebene des Buches. Die erste beginnt, wie Tausende schnell lesbarer Unterhaltungsschinken einsteigen könnten: Studiendirektorengattin Amanda, beflissen auf der Suche nach kulturellen Kicks, Impressionen der Fremde und ein bisschen nach sich selbst, hat ihre Tochter Lena zum Urlaub auf Bali überredet. Die ist eine Kunsthistorikerin in der zweiten Blüte der Jugend, auf der Suche nach einem Job und auch ein bisschen nach sich selbst. Bei ihrem ersten Besuch am Strand taucht wie ein Ungeheuer aus dem Meer ein dicker Mann aus den Fluten: ein zwielichtiger Kunsthändler. Auch er auf der Suche – nach einem verschollenen Bild von Walter Spies, seinem letzten und wichtigsten. Lena soll ihm bei der Recherche helfen. Und so kommt eine Handlung in Gang, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs war oder zu sein schien.

Der Rest des Unerklärbaren

Reichel verknüpft die beiden Erzählebenen kunstvoll miteinander: Die eine erklärt Gedanken oder Geschehnisse auf der anderen, Ereignisse hier treiben die Handlung dort voran. Man erkennt den passionierten Krimi-Autor – Reichel hat bereits fünf Regional-Krimis über die fränkische Industriestadt Schweinfurt publiziert – im spannenden Aufbau des Plots. Wobei Reichel nicht auf das Wer-ist-der-Täter-Schema verfällt, sondern manches verrät, um den Leser dann in die umso packendere Welt der Motive, Gründe und Ursachen zu entführen.

Dass es dabei aus aufgeklärt-rationalistischer europäischer Sicht nicht immer mit rechten Dingen zugeht, liegt auf der Hand: Bali, geheimnisvoll und mystisch, gilt als ein Ort, wo übersinnliche Kräfte walten, bis hin zur schwarzen Magie. Eine Insel der Götter und Dämonen eben. So bleibt auch in Reichels Buch manches ungeklärt. Daraus resultiert – zum Glück – keine mystifizierende Esoterik.

Den Rest des Unerklärbaren auf Bali, das übrigens selbst höchst seriöse Wissenschaftler bestätigen, lässt Reichel gekonnt in der Schwebe: Wie steht es um die hinduistische Vorstellung der Wiedergeburt? Gibt es den Einfluss okkulter böser Mächte? Gibt es Schadenszauber oder durchdringt eine verborgene zweite Welt die sinnlichen Eindrücke der ersten? Darüber wird so geschrieben, dass dem Leser stets der Weg der Interpretation offen steht: Der europäische Verstand wird nicht beleidigt.

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Dennoch öffnet das Buch auf lebendig geschilderte Weise Einblicke in die balinesische Kultur. Reichel meidet es, die Distanz des Europäers durch vordergründige Räucherstäbchen-Esoterik zu vernebeln; er lässt durchblicken, dass er stets mit den Augen des Fremden auf eine Kultur schaut, die sich wohl nie restlos erschließen lässt. Aber er öffnet Zugänge. Etwa, wenn er als einen entscheidenden Ausgangspunkt der Handlung die Feier einer Leichenverbrennung schildert – halb Volksfest, halb touristisches Spektakel, bei dem die Balinesen trotz der Menge von Gaffern auf diskrete Weise unter sich bleiben.

Mit Ironie betrachtet Reichel aber auch den europäischen Hang, sich auf Fremdes einzulassen und es erfassen zu wollen: seit alters her ein Impuls europäischer kultureller Entwicklung. Der trägt bei der höchst interessierten Amanda feine komische, im Falle Lenas irritierend ambivalente Züge.

Man erfährt viel über Bali, ohne dass Reichel seiner Erzählung den Drive nehmen würde. Seine Sprache hält dem Leser stets den Faden vors innere Auge, an dem er sich weiterhangeln kann: Da bewährt sich der erfahrene Journalist – Reichel ist als Radioredakteur in Würzburg tätig. Dass der Schreiber in bisweilen üppiger Sprache seine Belesenheit demonstriert, stört nicht: Reichel versteht es, von Goethe bis Hofmannsthal, vom „Faust“ bis zum „Rosenkavalier“ Zitat-Gemeinplätze geschickt zu platzieren und ironisch zu konterkarieren. Keine Bildungsschwere!

„Insel der Dämonen“ ist auch ein wunderschönes Buch geworden, weil der Buchverlag Peter Hellmund keinen Aufwand gescheut hat: Den Umschlag ziert ein Bild von Walter Spies, der Satzspiegel wirkt edel, das feine Papier und ein Lesebändchen sind liebevolle Details, mit denen ein Buch zum sinnlichen Greifen einlädt. Und Bali-Besucher dürften nun zu Vicki Baums Roman künftig ein zweites Buch in ihr Gepäck zu schnüren haben.

Lothar Reichel: Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali. Buchverlag Peter Hellmund, Würzburg. 480 Seiten, 24,00 Euro. ISBN 978-3-939103-60-8.




„Literaturhaus Herne Ruhr“ zwischen Salonkultur und Stadtmarketing

Die Einladung zum Pressegespräch über den am 7. Oktober 2015 gegründeten Verein „Literaturhaus Herne Ruhr“ erfolgte durch die Stadtmarketing Herne GmbH. Die so ganz und gar nicht graue Eminenz dieses auf den Eintrag im Vereinsregister wartenden Vereins ist allerdings die Unternehmerin Elisabeth Röttsches.

Mit der „Alte(n) Druckerei“ und der Buchhandlung Köthers & Röttsches bereichert sie seit Jahren die Kulturszene der Stadt Herne. Jetzt aber planen sie und ihre Mitstreiter mehr: In Herne nämlich, „mitten im Herzen des Ruhrgebietes“, soll bald ein neues „Literaturhaus“ etabliert werden, „einzigartig in der ganzen Region“. Ein hoher Anspruch, der inspirieren, aber auch leicht dazu führen könnte, dass man sich verhebt – nicht nur sprachlich.

Gründergeist & Mut: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Zunächst jedoch bleibt festzuhalten: Angesichts klammer Kassen in den Kommunen scheint längs der Ruhr jede private Initiative gut, die der Förderung der Literatur und des Lesens guttut.

Elisabeth Röttsches hat mit ihrer von Grund auf sanierten und liebevoll gestalteten Alten Druckerei als Raum für Kunst und Kultur Maßstäbe gesetzt. Die Alte Druckerei wurde in der kleinen Großstadt (ca. 150.000 Einwohner) zum Treffpunkt für Literatur- und Musikliebhaber, Ausstellungen waren ebenso zu sehen wie Kleinkunst zu hören war oder Kulinarisches zu schmecken.

Dies alles aber geschah zunehmend „unter großem finanziellen Druck“ und wurde zu „einem sehr teuren Hobby“, so jedenfalls formulierte es Röttsches‘ Steuerberater, den sie während des Pressegesprächs zitierte.

Also kam man auf die Idee, mit der bisherigen „unternehmerischen Initiative in den öffentlichen Raum zu gehen“, erklärte Eberhard Schmitt, als Privatmann ist er Vorstandsmitglied des neuen Vereins und im Hauptberuf Direktor des Zentralbereichs Kommunikation im Vorstandsbüro der RAG. Sein Diktum im Klartext: Die finanziellen Lasten und die Arbeit für das Programm der Alten Druckerei sollen über einen (möglichst gemeinnützigen) Verein auf mehr Verantwortliche verteilt werden.

Eloge und Unkenntnis

Schmitt war es auch, der eine durchaus berechtigte Eloge auf das Engagement Röttsches‘ hielt, sich dabei aber zuletzt gründlich verhedderte, als er meinte: „Ich kenne keine Orte im Ruhrgebiet, wo die Begegnung mit den Autoren stattfindet“. Und fügte freundlich hinzu: „Aber das kann auch an mir liegen.“

Ja, tatsächlich, daran liegt‘s. Die Begegnung mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern findet im Ruhrgebiet seit Jahrzehnten überall und oft statt. Man müsste sich nur – zum Beispiel – einmal aufmachen zu den Veranstaltungen des Vereins für Literatur und Kunst in Duisburgs Stadtbibliothek, zu den literarischen Abenden im Theater an der Ruhr, in Essens schönster Feinkopfhandlung „Proust – Wörter & Töne“, zu den Veranstaltungen der Literaturbüros Ruhr und Westfalen oder gar zu denen des nun etwa ein gutes Jahr bestehenden Literaturhauses Dortmund im Kreuzviertel, das in Herne erstaunlicherweise unerwähnt blieb, obwohl es seit dem Juni 2014 als erstes sogenanntes „Literaturhaus“ an der Ruhr die Arbeit aufgenommen hat. Von der Buchmesse Ruhr, Macondo-Lesungen in Bochum, den Ruhrpoeten oder oder … ganz zu schweigen.

Alleinvertretungsanspruch & Dummdeutsch

Holger Wennrich, 1. Vorsitzender des Vereins und Geschäftsführer der Stadtmarketing Herne GmbH, verlor dann vollends den Bezug zur vielfältig-arbeitsteiligen Literaturszene, zum Literaturnetz an der Ruhr, aber auch zur Literatur selbst, ihrer Widerständigkeit, ihrem utopischen Gehalt und ihrer virtuosen Sprache. Dampfplaudernd ließ er keine sattsam bekannte Imponiervokabel aus: Das Literaturhaus stehe (mit der Alten Druckerei) ja eigentlich schon, alles laufe rund, die Vereinsgründung habe vor allem auch wirtschaftliche Gründe, schließlich läge ein „Riesenmarkt vor der Haustür“ der Stadt, da wolle man sich nicht „auf den lokalen Markt beschränken“, da gebe es mehr „echte Marktteilnehmer“, Leute, die bereit seien, „für gute Produkte auch Geld auszugeben“. Das müsse man jetzt „pragmatisch angehen“, dann könne „alles organisch wachsen“: „Wir werden nicht betteln, sondern vorlegen. Die Leistung wird dann überzeugen.“

Rums, uff, geschafft!

Und in der Pressemitteilung vom 13. Oktober legt er holprig nach: „Davon profitiert die Region, davon profitiert aber auch Herne. Wir müssen solche hervorragende (sic! GH) Angebote als Stadtmarketing-Gesellschaft auch zum Wohle der Stadt nutzen.“

Ansonsten – so Literaturhaus-Repräsentanten weiter – werde man die bisherige Arbeit fortsetzen, aber auch „neue Formate entwickeln“, die „Formate zusammenführen“, über „regional wirkende Projekte und Produkte“ das „Literaturhaus weiter profilieren“, man werde zudem versuchen, an „Fördermittel ranzukommen“, was „nicht einfach“ sei.

„Noch Fragen?“

Immerhin, eine Journalistin insistierte tapfer trotz Bullshit und Marketingsprech. Sie sei mit ganz anderen Vorstellungen eines der Sprache und Literatur gewidmeten Hauses zum Pressetermin erschienen und frage sich nun, was denn neu sei am Literaturhaus Herne Ruhr im Vergleich zum bisherigen Betrieb der Alten Druckerei, ob es denn auch ein inhaltliches Konzept gebe.

Eine Antwort auf diese Frage erhielt sie allerdings nicht, Wennrich verstieg sich gar zur der Aussage, dass das „Nicht-Dasein eines programmatischen Ansatzes“ geradezu für die Offenheit, für den Pragmatismus des neuen Literaturhauses spreche. Niemand aber hob an zu einer wirklichen Rede über Literatur und Sprache, über ihre Abgründe oder Hoffnungen, über Literatur als erzähltes Leben und gelebtes Erzählen, das subversiv jede Ideologie unterlaufen kann, nicht zuletzt die neoliberale.

Das Literaturhaus Herne Ruhr wird sich dennoch in Zukunft an avancierten Programmen und Konzepten anderer Literaturhäuser wie etwa in Hamburg und Berlin messen lassen müssen. Ausdrücklich wurde gestern in Herne betont, dass man genau in dieser Liga mitspielen wolle. Elisabeth Röttsches: „Es trägt sicher zum Renommee für unsere Stadt bei, einfach zu sagen, wir haben hier jetzt auch ein Literaturhaus Herne – mit Zusatz ‚Ruhr‘!“

So viel ist sicher: Dieses Literaturhaus Herne Ruhr wird es nicht leicht haben – allein schon wegen des fehlenden urbanen Umfelds. In Berlin oder Hamburg liegen die Häuser nahe dem Ku‘damm und an der Außenalster, verfügen über prächtige Cafés, da und dort über Autorenwohnungen, Geschäftsstellen literarischer Vereinigungen und eine Buchhandlung sowieso. Neben dem literarischen Publikum sind oft ortsansässige Autoren, Verleger, Kritiker und deren auswärtige Kolleginnen zu Gast. Da wird das Literaturhaus Herne Ruhr ohne die Infrastruktur einer Verlags- und Medienstadt kaum mithalten können. Wer dort nach einer Veranstaltung gegen 22 Uhr noch ein Restaurant sucht, dessen Küche geöffnet ist, stolpert verloren durchs nächtlich-triste Herne.

Quo vadis?

Immerhin, zumindest Elisabeth Röttsches nimmt man gerne ab, was sie sagt: „Wir sind hier, wir geben alles!“ Das hat sie bisher getan und man möchte und muss ihr einfach sehr viel Glück wünschen für das Vorhaben eines Literaturhauses in Herne; eines Hauses, das sich zum gutem Schluss vielleicht doch noch mehr an einer Ästhetik des Widerstands orientiert als an der des Biedermanns. Alles Gute also einem offenen Haus für alle Spielarten der Literatur, das sich hoffentlich nicht vereinnahmen lässt und zur Literatur-Edelboutique fürs Stadt- und Regionalmarketing wird.

Wie sagte es Ingo Schulze in seiner Dankrede zur Verleihung des Thüringer Literaturpreises 2007 unter dem Titel „Was wollen wir“? „Will man sich über das Engagement von Unternehmen in der Kultur informieren, liest man auf deren Internetseiten, dass Kultur als ‚Beitrag zur Standortattraktivität‘ verstanden wird, als ‚Werbefaktor‘ und ‚unverzichtbarer (…) weicher Standortfaktor‘.

Sicher kann Kunst, Literatur, Theater, Musik auch dafür eingesetzt werden. Vor allem aber ist sie doch um ihrer selbst willen da, wie auch ein Mensch um seiner selbst willen da ist und sich nicht in erster Linie über seine Arbeits- oder Kaufkraft definiert. Die Anbindung des Kulturbegriffs an ökonomische Kriterien ist fatal …“




Privatdetektive auf „Prinzenjagd“ – der neue Krimi von Lucie Flebbe

Flebbe/ Prinzenjagd „Bedenke, einen schönen Mann hast Du nie für Dich alleine“. Diesen auch nur bedingt hilfreichen Ratschlag zur Partnerwahl haben wohl so einige von ihrer Oma mit auf den Weg bekommen.

Aber ist hier vielleicht auch schon das Motiv verborgen für die rätselhaften Morde, die sich innerhalb kurzer Zeit im Bochumer Allee-Hotel ereignen? Denn anscheinend gilt: „Je schöner der Mann, desto brutaler der Mord.

Zuerst erwischt es den Promi-Fernsehkoch Carlo Pfiffhoven, kurz danach den Sänger Marian Mohr, frisch gekürter Castingshow-Gewinner. Nicht nur die Polizei befürchtet den Beginn einer Mordserie, die sich gegen vermeintliche Traumprinzen richtet, auch Hoteldirektor Hans Flegenfeld ist besorgt. vor allem um die bisher untadelige Reputation seines Hauses. Ihm gehen die Ermittlungen nicht schnell genug voran, was auch nicht Wunder nimmt, da vor allem Kommissar Staschek mit jeder Menge anderer Sorgen belastet ist. Der Hoteldirektor engagiert kurzerhand den Privatdetektiv Ben Decker.

Gemeinsam mit der jungen Lila Ziegler, privat und beruflich seine Partnerin, bezieht Decker eine der Nobelsuiten im Hotel. Für Luxusgenuss bleibt leider nur wenig Zeit, denn die Beiden ermitteln sofort mit Hochdruck und fördern auch schnell einige Ungereimtheiten im Betrieb des Hotels zutage.

Nach außen hin gibt das Alleehotel sich gerne einen sozialen Anstrich, indem es auch Behinderten eine Chance auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt gibt. Aber ist dieses Engagement wirklich so uneigennützig und klappt das alles wirklich so prima, wie es nach außen hin scheint?

Der Detektiv-Azubine Lila kommt der Auftrag noch aus einem anderen Grunde ganz recht: Ihre Freundin Lena hat sie gebeten, herauszufinden, ob ihr Vater schon wieder fremdgeht und dieser ist niemand anders als der zur Zeit so glücklos agierende Kommissar Staschek. Von diesem „Nebenauftrag“ sollte allerdings Partner Ben besser nichts wissen…. und auch Lila findet so einiges heraus, dass sie lieber hätte eigentlich nicht wissen wollen.

Prinzenjagd“ ist bereits der siebte Fall für Ben und Lila. Für den ersten Band der Reihe wurde die Autorin Lucie Flebbe bereits mit dem Friedrich-Glauser Preis für das beste Krimi-Debut ausgezeichnet. Neben den jeweiligen Fällen ist es in dieser Reihe vor allem auch die Entwicklung der beiden Protagonisten und ihrer Beziehung, welche den Erfolg der Reihe ausmacht. Mit der jungen Nachwuchs-Detektivin Lila Ziegler spricht Lucie Flebbe (nicht nur) aber auch gezielt ein jüngeres Publikum an, die es gerne auch mal ein bißchen actionreicher mögen.

Im siebten Band nun hat Lila komplett mit der vordergründig heilen Welt ihrer Familie gebrochen und lebt mit dem wesentlich älteren Ben über einer Bochumer Traditionskneipe, deren Wirt Molle vor allem für Lila so etwas wie ein Ersatzpapa ist. Die auch seelische Unterstützung der beiden starken Männer an ihrer Seite kann sie gerade in diesem Fall gut gebrauchen.

Darüberhinaus greift „Prinzenjagd“ eine ganze Reihe aktueller Themen auf. Vordergründig nimmt Flebbe erst den Hype um Fernsehköche und Castingshows auf’s Korn, dann geht es schnell auch um Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz, um dann über Umwege zur sozialen Botschaft des Romans zu kommen: der Integration Behinderter in den ersten Arbeitsmarkt,

Bei diesem Füllhorn an Themen kommt Langeweile bei der Lektüre nicht auf, Spannung allerdings auch eher nur so mittel. Der Krimiplot an sich ist mit relativ dünnen Nadeln gestrickt. Der Leser hat sehr schnell einen Verdacht, der sich dann auch als begründet erweist und die Hinführung zur Auflösung ist so manches Mal eher hilflos. Allzu oft fällt den beiden Detektiven allzu Offensichtliches wie zum Beispiel eine Namensgleichheit erst etliche Kapitel später auf als dem Leser. Dafür macht die geschickte Zeichnung der Figuren Spaß. Das augenzwinkernde Ende nach erfolgreicher Lösung des Falls versöhnt auf jeden Fall mit der ein oder anderen Schwäche der „Prinzenjagd“.

Lucie Flebbe: „Prinzenjagd“. Grafit Verlag, Dortmund, 250 Seiten, 10,99 Euro.




Triennale-Nachlese: „Die stille Kraft“ des Niederländers Louis Couperus in Essen

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus' "Die stille Kraft". Foto: Werner Häußner

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“. Foto: Werner Häußner

Das Wasser, dieses unheimliche Wasser, diese kraftvolle, unausweichliche Urgewalt: Zu Beginn der Aufführung ist die Grenze zwischen Trocken und Nass exakt über die Bühne gezogen; genau an der Trennlinie spielt jemand Klavier. Doch wenn das geregelte Leben zerbricht, stürmt das Wasser die Bühne, tobt sich in einem Gewitter aus, lässt die Planken aus Tropenholz dampfen, dünstet aus den Ritzen und hüllt die Welt in Nebel.

Ein Bild, das nicht die Atmosphäre des Monsunregens in Indonesien – dem Schauplatz von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – illustrieren will, sondern das als große Metapher die Bühnen-Einrichtung von Jan Versweyveld im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen dominiert. Das Wasser, ein naturhafter Akteur, der für das Unbewusste ebenso stehen kann wie für die unheimlichen, unaufhaltsamen Dynamiken, die in dem Schauspiel nach dem Roman des niederländischen Autors Krisis und Katastrophe hervorrufen.

„Die stille Kraft“ gehört zu den letzten Produktionen der ersten Triennale von Johan Simons. Ein vergessener Stoff, geschrieben im Jahr 1900 von einem damaligen Erfolgsautor, der wie Thomas Mann in Deutschland in großen Romanen den Zerfall der bürgerlichen Kultur und Familie in Augenschein nimmt.

„De stille Kracht“ spielt zwar in Indonesien, thematisiert aber ebenso die Brüchigkeit europäischer Lebenskonzepte wie eine Kolonialgeschichte oder den „Clash“ unvereinbarer Kulturen. Das Unbehagen an der ach so dauerhaft scheinenden, sich selbst so sicheren Gesellschaft Europas wird greifbar im Kontrast zu der geheimnisvollen, sich nicht rational aussprechenden asiatischen Welt.

Der Ruhrtriennale ist zu danken, auf diesen Autor aufmerksam gemacht zu haben, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. „Die stille Kraft“ ist 1993 einmal in deutscher Sprache erschienen, beim Aufbau-Verlag, aber längst nicht mehr erhältlich. Simons plant, auch 2016 und 2017 Bühnenadaptionen von Romanen Couperus‘ zu spielen und leistet damit, was eine vornehmes Ziel der Triennale ist: den Blick zu weiten für andere kulturelle Welten.

Es würde zu kurz greifen, die Geschichte auf einen vermeintlich unvermeidbaren Konflikt westlicher und östlicher Kulturen zu reduzieren, so reizvoll das unter aktuellen Vorzeichen auch wirken mag. Und Regisseur Ivo van Hove meidet folglich allzu explizite Anspielungen, deutet nur in Kostümen (An D’Huys) oder durch asiatisch geprägte Schauspieler den „exotischen“ Aspekt an. Denn tatsächlich geht es um das Scheitern eines europäischen Rationalismus, der heute zum ökonomisch-pragmatischen Utilitarismus degeneriert ist.

Der Unterschied wuchert in der Seele

Der Protagonist Otto von Oudijck, Kolonialverwalter der (erfundenen) Region Labuwangi auf Java, verbindet positivistisches Denken mit einer protestantischen Ethik, die das Wohl der Menschen will, es aber auf „vernünftige“ Aspekte reduziert: Als die Eingeborenen einen Brunnen mit einem Opferfest einweihen wollen, verweigert er die Zustimmung, weil er ein Ritual einige Wochen nach Inbetriebnahme für sinnlos erachtet.

Gijs Scholten van Aschat gibt diesem Mann, der sich im zufriedenen Mittelmaß eingerichtet hat, keine unsympathischen Züge, im Gegenteil: Er will das Beste für Land und Leute, aber er sieht und hört nicht, was sich außerhalb seines rational abgesteckten Horizonts zusammenbraut. Wir sehen ihn, wie er vor seinem Schreibstuhl kniet, wie er seine Akten aus dem Wasser zieht, wie er versucht, sich mit den Kladden gegen den Regen zu schützen. Noch am Ende, als er von der „stillen Kraft“ überwältigt, in einem einheimischen Dorf lebt, versucht er, das Wasser zu bändigen, zu ordnen: Er gießt es in Gefäße, die er in einer exakt geraden Linie voreinander setzt. Ein wunderbares Bild des Scheiterns – und des inneren Vorbehalts.

Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – und das ist, zumindest in dieser klugen Einrichtung Peter van Kraaijs für die Bühne, ein Vorzug – verteilt keine Moralwerte, urteilt nicht, lässt seine Menschen in einer Ambivalenz, die auch tragische Züge ihres Unvermögens nicht verdeckt. Leonie van Oudijck etwa, die Frau des wackeren Kolonialbeamten, glüht in der wunderbaren Darstellung durch Halina Reijn vor sexueller Gier, lebt sie ungeniert und schrankenlos aus mit ihrem Stiefsohn Theo und dem dunkel-geheimnisvollen Halbindonesier Addy de Luce. Aber in dem Moment, in dem ihr Mann die javanische Prinzessin (formvollendet: Marieke Heebink) demütigt, weil er „dem Recht“ zum Sieg verhelfen, die „Ordnung“ bewahren will, appelliert sie voll Menschlichkeit und Anteilnahme an seine Barmherzigkeit – vergeblich.

Mag sein, dass Couperus nur einen Weg sah, den „in der Seele wuchernden Unterschied“ zwischen Europäern und Einheimischen zu überwinden – den einer intimen Begegnung. in den Kindern aus beiden Kulturen ließe sich so etwas wie Hoffnung festmachen. Aber sie werden verachtet und verleugnet: Auf den sinnlichen Addy (Mingus Dagelet) werden alle Vorurteile projiziert; der illegitime Sohn Oudijcks wird totgeschwiegen. Als der blonde, „reinblütige“ Theo von seinem Halbbruder erfährt, führt seine Rebellion zum finalen Umsturz: Er wirft den Stuhl um, an dem sein Vater sich festgehalten hat, das Instrument der Weltordnung und des Realitätsverlustes. Jip van den Dool spielt in dieser Szene bravourös die mühsam im Zaum gehaltene innere Wut des jungen Mannes, die sich nun endlich Bahn brechen kann.

Die Jugend macht die Heuchelei und die Verdrängungsspiele der Alten nicht mehr mit – auch das ein Krisensymptom. Ein anderes manifestiert sich in der Sekretärin von Oudijck, Eva Eldersma. Maria Kraakman verkörpert eine gebildete Frau, die den Abgrund spürt. Sie fühlt „die Kraft, die gegen die ganze Westlichkeit vorgeht“. Sie registriert, wie hohl die europäische Kultur an der Schwelle des Ersten Weltkriegs tönt: „Das Kunstgetue ist eine Seuche ….“. Dem Fremden, Unwirklichen, das mit Mücken, Termiten und Kakerlaken das westliche Gebäude unterminiert, hat sie nichts entgegenzusetzen.

Eine pessimistische Sicht, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute bitter bewahrheiten sollte. Eva wird das Land verlassen, hin zu europäischen Zielen, die eher in Träumen und Visionen einer dynamischen Kultur eine Rolle spielen – wie Paris. Dass sie zum Abschied den „Feuerzauber“ aus Wagners „Walküre“ spielt, ist bezeichnend: Die „Götterdämmerung“ wird nicht auf sich warten lassen.

So wird Peter van Kraaijs Couperus-Adaption zu einer bitteren Bestandsaufnahme, die aber auch als Appell gelesen werden kann: Ein Appell zur europäischen Selbstbesinnung und für ein Reinforcement europäischen Selbstbewusstseins. Simons ist mit dieser Produktion der Toneelgroep Amsterdam, die noch bis Februar 2016 in Amsterdam und bei einem Gastspiel in Antwerpen zu sehen ist, eine wichtige Entdeckung gelungen. Ein gutes Zeichen für die beiden nächsten Jahre.




„Sein Bayreuth war Europa“: Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin

"Vasco da Gama" von Giacomo Meyerbeer, Regie: Vera Nemirova, Premiere am 4.10.2015, Deutsche Oper Berlin, Foto: Bettina Stöss

Szenenbild aus „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (Foto: Bettina Stöss)

Für Giacomo Meyerbeer hat die Deutsche Oper Berlin einen großen Namen aus der Regieszene aufgeboten: Vera Nemirova, die einen gefeierten Frankfurter „Ring“ verantwortete und in der Region 2013 mit „Tristan und Isolde“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hatte, wagte sich an „Vasco da Gama“ – früher bekannt unter dem verfälschenden Titel „Die Afrikanerin“ („L’Africaine“).

Die letzte große Oper des aus Berlin stammenden Komponisten – ein Jahr nach seinem Tod 1865 uraufgeführt – erlebte einen Tag nach der großen Wiedervereinigungsfeier eine umjubelte, wenn auch nicht unumstrittene Premiere.

Ein sinniges Datum: Während die Staatsoper im Schillertheater den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mit einer Premiere von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und damit mit so etwas wie einer deutschen Nationaloper beging, richtete das Haus an der Bismarckstraße mit Meyerbeer den Blick auf die internationale Musikszene des 19. Jahrhunderts: „Sein Bayreuth war Europa“ titelt ein Kongressbericht über Meyerbeer. Da ist viel Wahres dran.

Der gebildete Intellektuelle aus jüdischer Familie hat seine Karriere in Italien und Paris gemacht. Er steht als „der“ europäische Komponist des 19. Jahrhunderts für einen Musikbegriff, der sich von der nationalen Verengung der Musiktheorie seiner Zeit absetzt: ein internationaler Zug, der deutsche Tradition mit den Stilmitteln des italienischen Belcanto verbindet. Und der die moderne, von Eugéne Scribe und Daniel François Esprit Auber mit seiner „La Muette de Portici“ (1828) konkretisierte Form der großen historischen Oper perfekt auf den Betrieb der Pariser „Opéra“ und den Geschmack ihres Publikum zuschnitt.

Der Erfolg gab Meyerbeer recht; die Polemik – mit Wagner an vorderer Stelle – reagierte wütend: Ein Jude, so die krude These von damals, könne letztlich keine tiefe Musik schreiben, da der Kern wahrer, schöpferischer Musik immer im „Nationalen“ zu finden sei.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Heute sind solche Urteile zum Glück Geschichte – noch nicht historisch ist allerdings, dass Meyerbeer allmählich aus den Spielplänen verdrängt wurde. Inzwischen haben seine bedeutenden Werke wieder ihren Ort gefunden – wenn auch nicht im Zentrum des Repertoires, so doch auf einem geachteten Randplatz.

Berlin, Meyerbeers Heimat und langjähriger Wirkungsort – auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist er auch begraben – startet nun einen ehrgeizigen Versuch, die Rezeption auf höchstem Niveau wieder anzustoßen: In den nächsten drei Jahren ist an der Deutschen Oper ein Zyklus geplant, der mit „Vasco da Gama“ begonnen hat, im nächsten Jahr mit „Les Huguenots“ in der Regie Stefan Herheims fortgesetzt und 2017 mit „Le Prophète“ beendet wird.

Missbrauch des Glaubens

Nicht nur in „Vasco de Gama“ bilden Macht und Missbrauch des Glaubens einen zentralen Aspekt der geistigen Problematik. In der Nürnberger Inszenierung der „Hugenotten“ hatte das Regisseur Tobias Kratzer deutlich gemacht; auch Stefan Otteni fokussierte sich in seiner Braunschweiger Inszenierung des „Propheten“ in der letzten Spielzeit auf den Missbrauch der Religion im Mahlstrom der Macht. Und die bevorstehende Premiere von „Le Prophète“ am Staatstheater Karlsruhe am 18. Oktober wird zeigen, wie Kratzer seine Sicht auf dieses bestürzend aktuelle Werk präzisiert.

In „Vasco da Gama“ geht Meyerbeer mit diesem Thema weniger explizit um. Aber Nemirova will den Blick auf die unterschwellige Frage des Gottesbegriffs richten. Und auf die Rolle von Glauben für die Figuren. Vasco da Gama etwa stürmt in Felduniform auf die Bühne und in die Schar der Offiziere am Hof des portugiesischen Königs in ihren Galauniformen: der dynamische, aktive Eroberer gegen die beharrenden Vertreter eines Status Quo.

Jens Kilian konkretisiert in seinem Bühnenbild, wie unterschiedlich die Welt-Träume der Protagonisten sind: Für Ines, die in Vasco unsterblich verliebt ist, dient das aufrecht stehende Halbrund einer Weltkugel mit einer Zeichnung Afrikas und des Indischen Ozeans als Projektions- und Erinnerungsfläche. In ihrer das Stück einleitenden Arie spielt sie mit Papierschiffchen, malt die gedachte Route Vascos in die „neue Welt“ mit Kreide nach.

Für den königlichen Rat senkt sich das Halbrund und bildet einen Konferenztisch: Hier geht es um das Abstecken von Macht und Terrain, um Kontrolle und Einfluss – und die Vertreter der Kirche, von Marie-Thérèse Jossen in realistische Soutanen gesteckt, mischen kräftig mit. Scribes Libretto zeichnet sie, bestätigt von Meyerbeers Musik, als Prinzipienreiter. Der auf Erfahrung basierenden Argumentation des Seefahrers setzen sie die einfache Feststellung entgegen, er sei eben ein Ketzer: ein Totschlagargument im wahrsten Sinn des Wortes.

„Unsterblichkeit“ durch Ruhm und große Taten

Den statischen, die bestehenden Verhältnisse bestätigenden Gottesbegriff der Kleriker kontrastiert Meyerbeer mit der dynamisch-schwärmerischen Vorstellung Vascos: Er strebt nach „Unsterblichkeit“, aber in einem strikt diesseitigen Sinn. Die Garantie dafür sind Ruhm und unerhörte Taten. Dafür ist er bereit, alles zu opfern. Als er nach der gescheiterten Umrundung eines berüchtigten Kaps, gefangen im Bauch des Schiffs seines Rivalen Don Pedro, in die Hände der „Wilden“ gerät, ist seine größte Sorge nicht, das Leben zu verlieren, sondern den Ruhm. Unter allen Umständen soll die Nachricht, er habe als erster unbekanntes Land betreten und ein fremdes, exotisches Reich entdeckt, die Heimat erreichen.

Doch Meyerbeer hütet sich, seine Figuren schwarz-weiss zu zeichnen. Vasco etwa ist, wie in seiner berühmten Arie „Ô Paradis“ im vierten Akt zu hören, sensibel für die Schönheit und den Wert des Landes, auch wenn er im zweiten Teil in marschartigem Rhythmus das Gelüst des Eroberers ausspricht: Mein soll es sein, das Paradies. Nélusko, der verschlagene und gewalttätige Exponent des bisher unbekannten indischen Volkes, Begleiter seiner gefangenen Königin Sélica, zeigt bestürzenden Fanatismus und Fremdenhass.

Meyerbeers Analyse ist so scharf wie zeitlos und weit davon entfernt, ein idealisiertes Naturvolk auf die Bühne zu bringen. Im Missbrauch des Transzendenten für das Spiel der Macht sind sich Europäer und Inder gegenseitig nichts schuldig. Die Anrufung der Hindu-Götter im vierten Akt ist als große Show zu verstehen und wird auch so inszeniert: Exoten-Folklore in Weiß und Orange.

Die Stärke von Nemirovas Regie zeigt sich – darin entspricht sie ihrem Frankfurter „Ring“ – in der sensiblen Zeichnung intimer Begegnungen: zwischen Sélica und Vasco im vierten, im Duett der unglücklichen Frauen Sélica und Ines im fünften Akt. Schwach geraten Massenszenen und Tableaus: Da setzt Nemirova auf großflächige Bewegungs- und Bildregie, die aber nicht expressiv vertieft wirkt. Der dritte Akt mit seinen episodischen Momenten, mit Matrosenchören und Ines‘ erzwungener Hochzeit misslingt, weil sich die Regie nicht zwischen Stilisierung und Aktualisierung entscheidet. Und weil Jens Kilians Bühne mit drehbaren Elementen, die hier zu Segeln werden, keinen imaginativen Reiz entwickelt.

Problematisches Ende bleibt offen

Die Fernost-Piraten, die das aufs Riff gelaufene Schiff entern, sind Dritt-Welt-Kriminelle von heute, die den Portugiesen mit MG und Uzi den Garaus machen. Wenig erhellend auch Details wie die erzwungene Einkleidung Sélicas als Nonne oder die Vergewaltigung einer als Ordensschwester camouflierten Frau, deren schwarze Tracht aufreizende Dessous verbirgt. Néluscos berühmte Ballade vom Meeresriesen Adamastor degeneriert zu einer komisch-parodistischen Nummer. Zu Recht gab es nach diesem dritten Akt Buhs und Gelächter.

Das problematische Ende der Oper – Meyerbeer konnte es nicht mehr endgültig konzipieren – lässt Nemirova offen: In den letzten Takten von Sélicas langem Abschiedsgesang flutet eine Menschenmenge die Bühne, die indische Königin wird in einem symbolhaften, in Orange- und Rottönen wabernden Viereck versenkt. Aus ihm entspringt Vasco als junger Uniformierter mit Landkarte und Rucksack: der Urtyp des Eroberers, der als Militär oder als Backpacker kommt?

Die gewaltige Aufgabe, Meyerbeers Partitur in Klang umzusetzen, schultern Dirigent Enrique Mazzola und das Orchester der Deutschen Oper sowie der stark geforderte und nicht immer souverän treffsichere Chor und Extrachor unter William Spaulding. Meyerbeers aparte Kunst der Instrumentation und des expressiven Einsatzes von Klangfarben ist bei den Solisten des Berliner Orchesters in guten Händen – vom tintig dräuenden Fagottquartett über den „schmutzigen“ Klang des damals hochmodernen Sax-Hornes bis hin zu den raffinierten Kombinationen klassischer Orchesterinstrumente.

Mazzola geht dem manchmal episodischen Charakter von Meyerbeers Musik eher nach als der Konstruktion großer dynamischer Bögen; auch die Tempi könnten zupackender, die Phrasierung entschiedener ausfallen. Gegen Mazzolas temperamentloses und unentschiedenes Dirigat kann sich die Konkurrenz von Enrico Calesso (Würzburg 2011) und Frank Beermann (Chemnitz 2013) bestens behaupten.

Der Sänger-Star des Abends ließ sich ansagen: Roberto Alagna war im Kampf gegen eine Infektion hörbar indisponiert. Zu hören war aber auch, dass er, sofern gesundet, einen respektablen Vasco da Gama gestalten könnte.

Markus Brück stellt einen imponierenden Nélusco auf die Bühne: subtil und farbig in zurückgenommenen Momenten, dröhnend expansiv in der Gewalt und im Triumph. Clemens Bieber bewältigt die kleinere, aber wichtige Rolle des Don Alvar wie stets stimmschön und mit bewusstem Einsatz gestalterischer Mittel – dieser Tenor ist für die Deutsche Oper eine sichere Stütze des Ensembles. Seth Carico gibt den Don Pedro mit flutendem, manchmal etwas zu weit hinten positioniertem Bass; Andrew Harris als Don Diego, Dong-Hwan Lee als Großinquisitor und Albert Pesendorfer als Oberpriester der Inder ergänzen das Ensemble anstandslos und klangschön, ebenso Irene Roberts in ihren paar Sätzen als Dienerin Anna.

Nicht so überzeugend die Damen: Sophie Koch in der prominenten, herausfordernden Partie der Sélica hat zwar eine wunderschön sitzende Stimme, einen ebenmäßig polierten Ton und ein füllig-feines Timbre, aber zu wenig Farben, um die Facetten von hingebungsvoller Liebe bis hochfahrender Herrscherinnen-Arroganz, von Großmut bis Wehmut zu beglaubigen. Das differenzierte Schlaflied des zweiten Aktes ist lediglich schön gesungen; die Selbstreflexion der verlassenen, sich opfernden Frau unter dem giftigen Manzanillobaum in ihrem Spektrum von Resignation bis Ekstase gelingt Sophie Koch bewegender. Nino Machaidze als Ines demonstriert entschiedenen Willen zur Gestaltung, zeigt schimmernde, wenn auch zu wenig frei schwingende Höhen; im Zentrum jedoch bleibt die Stimme seltsam klangarm und ist von der kräftigen Amplitude eines metallisch klirrenden Vibrato gestört.

Gott und Glaube: Vera Nemirova stellt sich im Programmheft großen Fragen, löst die Erwartungen aber nicht ein. Sie bleibt zu sehr an den Szenen hängen statt sie zugunsten einer übergreifenden Idee konzeptionell zu bändigen.

Dennoch: Die Deutsche Oper setzt mit dieser Meyerbeer-Premiere einen Impuls, der hoffentlich auch andere Häuser anregt, sich mit diesem prägenden Musiktheater des 19. Jahrhunderts und seiner Aktualität zu befassen. Zum Beispiel in der Rhein-Ruhr-Region: Da hat zuletzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen 2008 mit der „Afrikanerin“ einen Versuch unternommen – damals noch auf der Basis alten Materials. Mit der neuen, in Berlin verwendeten kritischen Edition von Jürgen Schläder liegt nun – wie auch für andere wichtige Opern Meyerbeers – eine ausgezeichnete Grundlage vor; die Theater müssen nur noch zugreifen!

Informationen: http://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/vasco-da-gama.12676793




Für die Benachteiligten schreiben: Die Werkstatt Dortmund im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ – eine Erinnerung

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ war in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiges Projekt der Gegenwartsliteratur. Unser Gastautor Heinrich Peuckmann, damals selbst langjähriges Mitglied des Kreises, erinnert an die rege Dortmunder Werkstatt:

Es war Horst Hensel aus Kamen, der die Dortmunder Werkstatt im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Ende Oktober 1970 gegründet hat. Im Jahr zuvor, noch als Student in München, hatte er von dem Schreibaufruf „Dein Arbeitsplatz – wie er ist und wie er sein sollte“ gehört und sein Betriebstagebuch von Hoesch eingeschickt, das er während seiner Zeit als Werkstudent geschrieben hatte.

Initiiert hatten den Wettbewerb oppositionelle Autoren in der „Dortmunder Gruppe 61“, denen Kurs und Programm zu wenig politisch waren und die kurz darauf, weil ihre Kritik abgelehnt wurde, den Werkkreis gründeten. Hensels Text gefiel ihnen, der Autor erhielt eine Einladung zur jährlichen Sitzung der „Gruppe 61“ und lernte Erasmus Schöfer, Peter Schütt und andere kennen, die ihn anregten, eine Werkstatt Dortmund im Werkkreis zu gründen.

Gründung 1970 im Fritz-Henßler-Haus

Ende Oktober 1970 fand die Gründungsversammlung im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus statt, einem Ort, dem die Werkstatt über die folgenden 17 Jahre bis zu ihrem Ende treu blieb. Schon zur ersten Sitzung kam Paul Polte, den Hensel nicht kannte und der ihm in seinem schicken Anzug, mit seiner karierten Schlägermütze und dem Dackel an der Leine wie ein englischer Lord vorkam. Jedenfalls wirkte Polte nicht wie jemand, der an Arbeiterliteratur interessiert sein könnte, geschweige denn wie jemand, der solche schreiben konnte. Ein Fehlurteil, dem auch ich unterlag, als ich ab der dritten oder vierten Sitzung teilnahm und Polte zum ersten Mal sah.

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a.  mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a. mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Mich hatte mein Freund Ferdinand Hanke, der wie Horst Hensel aus Kamen-Methler stammte und Germanistikstudent war wie ich, angesprochen. „Du schreibst doch auch“, sagte er, „komm doch mal vorbei.“

Ich ging zur Probe im Frühjahr 1971 zum ersten Mal hin und blieb für fast zehn Jahre in der Gruppe.

Schmerzliche Verrisse

Von Anfang an war die Dortmunder Werkstatt eine sehr literarische Gruppe. Zu jeder Sitzung, die alle vierzehn Tage im Henßler-Haus stattfand, kamen die Mitglieder mit neuen Texten, lasen vor und stellten sich der Kritik. Keinem von uns ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was uns hart gemacht hat, auch für später, wenn unsere Bücher in den Rezensionen der Presse kritisiert wurden.

Wurde es doch mal zu haarig, griff Polte ein. Er wusste, dass Kritik dosiert bleiben musste, um Talente nicht zu verunsichern oder gar zu zerstören. Er ergriff das Wort, wiederholte in milden Worten, welche Kritikpunkte ihm richtig erschienen und fand am Ende immer auch etwas Lobendes, selbst wenn der Text noch so schwach gewesen war. „Man kann doch keinen jungen Hund versäufen“, erklärte er manchmal, „wer weiß, was noch draus wird.“

Paul Poltes Autorität

Polte hatte die Autorität dazu, eine Diskussion auf diese Weise zu beenden. Er war schon in der Weimarer Republik Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gewesen, hatte mit seinem Kabarett „Henkelmann“ die Nazis angegriffen und einige Wochen in der berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Bahnhofs verbracht, wo er und seine Gesinnungsgenossen gequält und gefoltert worden waren. Einige seiner berührendsten Gedichte hat Polte über diese Erfahrungen geschrieben, eines davon hängt noch in einer der Zellen, die heute Teil einer Gedenkstätte sind. Später wurde er dann Mitglied der „Gruppe 61“. Polte hatte also alle Bewegungen der deutschen Arbeiterliteratur durchlaufen, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat.

Die anderen Mitglieder der Gruppe waren der Arbeiter Rudi Winkler aus Hagen, der vor allem Gedichte schrieb, der Bergarbeiter Rudolf Trinks, der neben Gedichten auch Erzählungen schrieb, die alle das Bergarbeitermilieu beschrieben, das sein Leben geprägt hatte. Rainer W. Campmann aus Bochum versuchte sich schon damals als freier Schriftsteller, die ersten Herausgaben in der berühmt gewordenen „Fischer-Taschenbuch-Reihe“ hat er mitgemacht, später erschienen noch zwei, drei Gedichtbände. Horst Hensel (Lehramtsstudent wie Ferdinand Hanke, Udo Bruns und ich) war wichtig für die Gruppe. Er kannte sich aus in allen Genres der Literatur, schrieb Lyrik, Reportagen, Essays, Erzählungen und Romane. Oskar Schammidatus aus Bochum, der Sozialarbeiter wurde, schrieb Gedichte.

Abende in der „Alten Liebe“

Der starke Anteil an Studenten, die man in einer Gruppe der Arbeiterliteratur nicht unbedingt erwarten würde, störte nicht. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, jeder hat von den Erfahrungen des anderen profitiert. Und wenn es doch mal Komplikationen gab, war immer noch Polte da, der Konflikte glättete und vor allem einen Brauch einführte, den wir alle lieben lernten. Nach der Sitzung gingen wir schräg gegenüber vom Henßler-Haus in die Kneipe, in die „Alte Liebe“, wo wir ein Bier tranken, neue Projekte ausheckten und unsere Freundschaft vertieften. Vor allem Polte lief dann zu Hochform auf, erzählte von seiner Begegnung mit Brecht, seiner Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock, der Brecht ins Exil gefolgt war, von seinen Erfahrungen mit den Nazis in der Steinwache. Es waren herrliche Abende, die wir dort verbracht haben und deren Erinnerungen mein Leben begleiten werden.

Irgendwann kamen Hugo Ernst Käufer, der Lyriker und Aphoristiker, Lilo Rauner, die Lyrikerin, beide aus Bochum und der Agitpropschriftsteller Richard Limpert aus Gelsenkirchen hinzu, die zwar nicht immer, aber eine Zeitlang regelmäßig an den Treffen teilnahmen.

Beachtliche Qualität

Ich weiß noch genau, dass ich mir bei einer Gruppensitzung still vornahm, mir das Bild mit den Teilnehmern genau einzuprägen. Es war mir schon damals klar, dass sich an diesem Tage eine beachtenswerte literarische Potenz in der Dortmunder Werkstatt versammelt hatte, die weit über das normale Werkkreisniveau hinausragte. Tatsächlich sind später vier von den damaligen Teilnehmern in den ehrenwerten „PEN“ gewählt worden: Hugo Ernst Käufer, Lilo Rauner, Horst Hensel und ich. Käufer und Rauner haben zudem den Ruhrgebietsliteraturpreis erhalten.

Die Werkstatt Dortmund konnte sich literarisch also sehen lassen, in fast allen Büchern des Werkkreises war sie mit Texten vertreten, in den meisten mit mehreren. Einige Bücher haben wir auch selbst herausgegeben, u.a. „Sportgeschichten“ und „Im Morgengrauen“, ein Buch über das Altwerden in der kapitalistischen Gesellschaft.

Kneipenlesungen als Markenzeichen

An Lilo Rauner, die im Jahre 2005 verstarb, denke ich mit bewegten Gefühlen zurück. Sie war eine streitbare Frau, immer auf der Seite der kleinen Leute und sie hat, neben all der anderen Lyrik, ein paar wunderbare Sonette geschrieben. Viel zu wenig ist Lilo Rauner heute noch bekannt, auch wenn in Wattenscheid inzwischen eine Schule nach ihr benannt wurde. Die große, auf Petrarca zurückgehende Form des Sonetts hat sie beherrscht und durch Alltagsthemen nachhaltig mit Leben gefüllt. Aber das, denke ich, ist es gerade. Ihre Parteinahme für die Menschen, die am Rand stehen, wird ihr vom Literaturbetrieb verübelt. Hätte sich Rauner auf modische Befindlichkeiten beschränkt, sie wäre viel bekannter geworden. So sind wir es, die von Zeit zu Zeit an sie erinnern. Viel zu wenig, Lilo hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Werkstatt war aber nicht nur literarisch stark, sie hat auch eine Unmenge an Initiativen zur Verbreitung von Literatur entwickelt. Ich staune selbst, wo wir gelesen haben, vor welchem Publikum. Immer ging es uns darum, mit unserer Literatur jene zu erreichen, die gemeinhin nicht zu literarischen Veranstaltungen kommen. In allen Formen von Schulen sind wir angetreten, in Fußgängerzonen mit Flüstertüte (wobei Richard Limpert mit seiner durchdringenden Stimme eigentlich keine gebraucht hätte), vor Fabriktoren, in Gewerkschaftshäusern, Gefängnissen und Kneipen.

Die Kneipenlesungen waren eine Zeitlang sogar unser Markenzeichen. Dieter Treeck, Kulturdezernent in Bergkamen und später selbst Mitglied im Werkkreis, hat sie mit uns zusammen entwickelt. Freitags, wenn die Arbeiter ihr Bierchen in der Stammkneipe tranken, fanden sie statt, drei oder vier Autoren lasen im Wechsel meist kurze Texte und eine Musikband spielte zwischendurch. Manchmal war es Jazz, manchmal wurden Arbeiterlieder gesungen.

Als die Bergleute zuhörten

Ich weiß noch, dass unser erster Versuch in einer Bergkamener Kneipe beinahe missglückt wäre. Die Arbeiter, Bergleute zumeist, wollten gar keine Literatur hören. Sie waren gekommen, um über Fußball zu reden, über ihre Tauben und was sonst so alles auf der Zeche passiert war. Den Einführungsworten von Dieter Treeck wollten sie partout nicht lauschen, der Lärmpegel blieb hoch, da trat Rudolf Trinks, selbst Bergmann, ans Mikrophon und sagte: „Seid mal stille.“ Und tatsächlich, auf Trinks, der ja einer von ihnen war, hörten sie. Die Lesung wurde ein großer Erfolg.
Manchmal erreichten wir, dass durch die witzig-ironischen Texte die Zuhörer selbst zu witzigen Reaktionen animiert wurden. „Ich lese jetzt ein Gedicht vor aus einem Buch, das ich selbst verlegt habe“, sagte mal ein Gastautor, der die Gepflogenheiten noch nicht kannte. „Hoffentlich hast du es auch wieder gefunden“, tönte es aus der Zuhörerschar zurück.

Schon sehr früh gliederten sich zwei weitere Gruppen an die Werkstatt an, die die künstlerische Arbeit sehr gut ergänzten. Da war einmal das Lehrlingstheater, von Kurt Eichler geleitet, der heute kommissarischer Chef des Dortmunder „U“ ist. Die Gruppe schrieb im Kollektiv Theaterstücke zur Situation der Lehrlinge, die an allen möglichen Orten aufgeführt wurden, manchmal in Kombination mit einer Lesung von uns. Zusätzlich gab es bald eine Graphikgruppe, die unsere Texte illustrierte, die Zeichnungen für Bücher und Lesungsplakate herstellte und daneben eigene künstlerische Ziele im Sinne des Werkkreises verfolgte.

Organisation nahm überhand

Das alles musste koordiniert werden, mit der Zeit wurde die Organisationsarbeit deshalb so umfangreich, dass die künstlerische Arbeit darunter litt. Es fanden Sitzungen statt, in denen nur noch Organisatorisches besprochen und keine Texte mehr gelesen wurden. Wir gründeten ein Leitungskollektiv, das sich zwischen den Sitzungen in Poltes Wohnung an der Bornstraße traf. Noch heute kann ich nicht an dem Haus vorbeifahren, ohne zu den Wohnungsfenstern hinüber zu schauen, denn ich gehörte diesem Kollektiv lange an. Viel Kleinkram wurde schon dort erledigt, die Werkstatt nur noch kurz darüber informiert. Bei schwierigen Problemen wurde vorsortiert und ein Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Werkstatt konnte sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, das Schreiben von Literatur.

Polte war für die Finanzen zuständig und noch heute staune ich, wie er das in einem nur für ihn überschaubaren System an Kassen gemacht hat. Geld bekamen wir für unsere Sitzungen im Henßler-Haus von der Dortmunder VHS, die uns in ihr Programm aufgenommen hatte. Deshalb fanden, was auch in unserem Interesse lag, die Werkstatt-Sitzungen stets öffentlich statt. Immer kamen Gäste vorbei. Schüler, die über uns Referate halten sollten, Studenten, die Seminar- oder Examensarbeiten über den Werkkreis schreiben wollten, Hobbyautoren, die Texte lasen, die danach Mitglied wurden oder nie wieder kamen. Geld von Lesungen kam hinzu (für jede von der Werkstatt vermittelte Lesung zahlte der Autor einen Prozentsatz in die Kasse). So hatten wir immer Geld für Plakate, Broschüren oder Buchprojekte.

Werkkreis vor dem finanziellen Ruin

1977 wurde Horst Hensel erster Sprecher des Werkkreises und ein Kassensturz ergab, dass der vorige Vorstand den Werkkreis an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Alle wurden zu Spenden aufgerufen. Wir, beunruhigt von Hensels Bericht, wollten sofort all unser Erspartes spenden, aber da sprach Polte dagegen. Einen Teil wollte er abgeben, wie hoch, müssten wir entscheiden, sagte er. Aber die Werkstatt selbst sollte auf jeden Fall finanziell schlagkräftig bleiben. „Und wenn der Werkkreis untergeht?“, fragten wir. „Dann gibt es wenigstens noch die Werkstatt Dortmund“, knurrte Polte.

Am Ende haben wir ein paar tausend DM gespendet, so viel wie alle anderen Werkstätten zusammen, der Werkkreis wurde gerettet und die Dortmunder Werkstatt blieb, dank Polte, liquide.

Der Untergang kam schleichend. Es gehörte zu unserem Programm, dass immer neue Autoren zu uns stoßen sollten. Die waren zumeist blutige Anfänger, wie wir es zur Zeit der Werkstattgründung auch gewesen waren. Aber wir Älteren hatten uns inzwischen entwickelt, die Neuen hielten uns auf, wir mussten immer wieder dieselben Anfängerprobleme lösen und verloren Zeit. Irgendwann wurde die Kluft so groß, dass wir das eigene Schreiben vernachlässigten.

Arbeiter wanderten zu RTL ab

Es war Zeit, dass wir uns trennten. 1980 feierten wir alle zusammen noch mal in Haus Ebberg bei Schwerte, hockten eine lange Nacht bei Bier und Schnaps zusammen, dann wechselten Hensel und ich in die neu gegründete Werkstatt Bergkamen. Wir mussten nun nicht mehr nach Dortmund fahren, die Arbeit blieb überschaubar und es war Zeit zum Schreiben gewonnen. Die anderen blieben noch zusammen, auch noch nach Poltes Tod 1985. Aber nicht mehr lange, dann war die Zeit des Werkkreises vorbei. Es gab kein Interesse mehr in der Arbeiterschaft an aufklärerischer Literatur, viele saßen längst vor RTL oder Prosieben. Schade, denke ich immer noch.

Aus den Gruppenmitgliedern wurden normale Autoren, die nun für sich allein schreiben, jede Menge Bücher entstehen. Bei den meisten erkenne ich immer noch Reste unseres damaligen Anspruchs. Ihre Literatur ist politisch geblieben, was ihr die Anerkennung in der Literaturszene erschwert, wo sich für viele Jahre eine Art literarisches Biedermeier mit Befindlichkeitsliteratur breit gemacht hat.

Wiederkehr des Politischen

Aber die Zeiten beginnen sich zu ändern. PEN-Präsident Haslinger fragte mich mal während einer Präsidiumssitzung, ob es den Werkkreis noch gebe und als ich verneinte, bedauerte es das. Schade, so etwas wie der Werkkreis würde heute noch eher gebraucht als früher, meinte er. Die Situation der arbeitenden Bevölkerung ist doch nicht besser geworden, im Gegenteil, vieles habe sich verschlimmert. An vielen anderen Bemerkungen und verstärkt auch an neuen Projekten merke ich, dass das Thema wieder in der Literatur virulent wird. Der PEN selbst wird das Thema Literatur und Arbeit zum zentralen Motto bei einer der nächsten Jahrestagungen machen, das freilich auch neue Formen erfordert. Ich selbst bin an einem Projekt mit Lyrikclips beteiligt, Filme, die Gedichte mit sozialer Thematik aufgreifen, entstehen. Ein Projekt, das bei jungen, nicht unbedingt literarisch vorgebildeten Menschen auf Interesse stoßen kann. Der DGB-Chef hat sein Interesse daran bekundet.

In anderen Ländern steht das Thema längst auf der Agenda. Bei einer Zusammenarbeit mit französischen Autoren, an der ich teilnahm und aus der mehrere Bücher entstanden, ging es einzig um die Darstellung der Arbeit in der Literatur. Die Franzosen, merkte ich, gingen dabei viel unbefangener an das Thema heran als wir, die wir bei jedem Schritt in diese Richtung die Kritiker gegen uns haben. In Frankreich haben sie das nicht.

Man merkt, ein guter Ansatz kann letztlich nicht endgültig verschwinden. Er kann nur zweitweise zugedeckt werden, aber irgendwann bricht sich das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den immer drängenderen sozialen Problemen Bahn. Wir erleben gerade den Startschuss dazu.




Viel Stoff fürs Phantastische: Benjamin Brittens „Midsummer Night’s Dream“ in Gelsenkirchen

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Monika Forster/MiR)

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

484 Quadratmeter. Zweiundzwanzig mal zweiundzwanzig Meter. So groß ist das weiße Laken, das sich, einem überdimensionierten Betttuch gleich, aus dem Schnürboden des Gelsenkirchener Musiktheaters hinabsenkt auf die Bühne. Von den Elfen und Menschen aus Benjamin Brittens Oper „A Midsummer Night’s Dream“ wird es dort bereits erwartet. Sie recken die Hände nach dem Stoff, aus dem die Träume sind, und spielen anmutig mit ihm, ohne ihn je ganz in den Griff zu bekommen.

Denn in den folgenden drei Stunden entwickelt das Riesentuch ein erstaunliches Eigenleben. An neun Seilen aufgehängt, türmt es sich zu Bergen, bildet Wellen und Hügel oder auch eine gewaltige Wolke: je nachdem, wie die in 23 Metern Höhe unsichtbar agierenden Techniker des Hauses von oben an ihm ziehen. Es macht die spukhaften Verwandlungen mit, von denen der „Sommernachtstraum“ erzählt, und bildet zugleich die Folie für das ebenso phantastische wie verwirrende Spiel um Lust und Liebe.

Die Irrungen und Wirkungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Monika Forster/MiR)

Die Irrungen und Wirrungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Gelsenkirchens Opernintendant Michael Schulz, der Brittens „Sommernachtstraum“ vor zehn Jahren am Essener Aalto-Theater inszenierte, unterwirft sich diesmal beinahe einem Primat der Ausstattung. Mit der Bühne von Kathrin-Susann Brose und den phantasievollen Kostümen der Schwedin Renée Listerdal, die liebevoll bunt sind, ohne grell zu werden, sind wesentliche Züge dieser Neuproduktion bereits beschrieben.

Die Regie lässt uns (absichtsvoll?) im Unklaren darüber, ob sie an eine Trennung von Tag- und Nachtsphäre, von Realität und Traum glaubt oder nicht. Lysander und Hermia sind mit iPad und Selfie Stick fürs Handy zwar zeitgemäß ausgestattet, aber wenn Demetrius und Helena plötzlich so martialisch daherkommen wie Figuren aus einem Computer-Actionspiel, zerfließen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Der letzte Akt, in dem die Paare eigentlich erwachen sollen, zeigt uns das Quartett im Pyjama. Verwirrt und offenbar auch ein wenig bedrückt schleichen sie davon, wobei sich jeweils wechselnde Partner an der Hand fassen. Ein gelungener „Così fan tutte“-Moment ist dies: Haben wirklich die richtigen Partner zueinander gefunden? Oder könnte die Konstellation auch eine ganz andere sein?

Ist das Quartett wirklich erwacht? Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Damen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Monika Forster/MiR)

Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Dahmen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova, v.l.) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Ein Coup ist dem Musiktheater mit der Verpflichtung der englischen Dirigentin Julia Jones gelungen, die bereits in Dresden mit Michael Schulz zusammen gearbeitet hat. Das viel beschworene Feingefühl ihres Dirigats bestätigt sich an diesem Premierenabend aufs Schönste. Jones agiert mit größter Achtsamkeit, breitet Brittens vielfarbige Partitur vor uns aus wie ein feines Netz voll geistvoller Querverbindungen.

Bei den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen trifft sie offenbar den innersten Nerv, denn trotz jüngster Monumentalprojekte wie zum Beispiel der „Frau ohne Schatten“ entzückt das Orchester durch die schillernden Zauberklänge von Harfen, Celesta, Vibraphon und Glockenspiel sowie durch eine nahezu gläserne Transparenz. Mit vernehmbarer Lust setzen sie die naturhaft raunenden Laute der Elfenwelt und die Rüpelsphäre der Handwerker voneinander ab. Die Opernzitate im letzten Akt, absichtsvoll ins Groteske verzerrt, sind ein herrlicher Hörspaß.

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Monika Forster/MiR)

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Sänger, Chöre und Statisterie werfen sich ebenfalls mit Engagement in das Traumspiel, angeführt vom Elfenkönig Oberon, dessen Part der Countertenor Matthias Rexroth mit zunehmender Strahlkraft singt. Als Elfenkönigin Tytania gibt die Sopranistin Bele Kumberger ihren Einstand am Hause: größtenteils sicher, aber nicht immer ohne Anstrengung durch die Höhen der Partie steuernd.

Spielfreudig und mit ausgewogenen Gesangsleistungen umrahmt das MiR-Ensemble das phantastische Herrscherpaar. Der Schauspieler Klaus Brantzen streut den Menschen als abgelebter, schäbig gekleideter Puck den Blütenstaub einer Zauberblume in die Augen. Die Kombination aus schlampiger Nachlässigkeit und mephistophelischem Hintersinn, die Brantzen dabei zur Schau trägt, macht diesen Geist zu einem ebenso unrasierten wie undurchsichtigen Schöpfer des Chaos.

Derweil mäandert der Strom von Brittens Musik gemächlich dahin. Wer Brittens Tonsprache liebt, kann sich von seinen Zauberklängen ins Land der unentdeckten Gefühle und freigesetzten Triebe hinabziehen lassen.

Folgetermine noch bis Mai 2016. Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Sommernachtstraum/#events




Farewell, Barney: Zum Tod des Dortmunder Journalisten Werner Strasdat

Es ist wieder einmal an der Zeit, Bertolt Brechts Gedichtzeilen aus „An die Nachgeborenen“ zu zitieren: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen…“ Eine erschütternde Neuigkeit lautet jetzt so unerbittlich: Der Kollege, Kumpel und Freund Werner Strasdat ist tot.

Die meisten kannten ihn unter seinem Spitznamen „Barney“. Und er kannte zeitweise enorm viele Leute. Zumal als junger Mensch – ich bin ihm zuerst in unseren frühen 20ern begegnet – hat er so richtig „Betrieb“ gemacht, war ständig ruhelos unterwegs in allen (linken) Szenen und Gassen. Wenn Stillstand drohte, fragte er flackernd: „Ey, was liegt an?“ Dazu könnten einem Neil Youngs Zeilen einfallen: „It’s better to burn out than to fade away…“

Wohin führt der Weg? Irland 1976: "Barney" befragt eine Straßenkarte.

Wohin führt der Weg? Irland 1976: „Barney“ befragt eine Straßenkarte und entzieht sich zugleich dem Fotografen.

Etwas ausgesprochen Fahriges und Unstetes hat „Barney“ bis in seine mittleren Jahre behalten. Doch was früher vor allem Ausdruck einer herrlichen Spontanität gewesen ist, erschien wohl zusehends als betrübliches Orientierungsproblem, als Sinnkrise. Einen wie ihn konnte man sich eh nicht als 75- oder gar 80jährigen vorstellen.

Zwischenzeitlich haben wir uns mehrmals länger aus den Augen verloren, so auch in den letzten Jahren. Da hatten wir nur sehr sporadisch miteinander zu tun. Vor wenigen Wochen erschien seine Nummer auf meiner Liste verpasster Anrufe. Ich habe nicht zurückgerufen. Später, später, demnächst…

Muss ich mir nun Vorwürfe machen? Habe ich Signale ignoriert? Andere waren zuletzt sicherlich „näher dran“, aber was kann man schon tun? Ach, es ist ja fast alles Gerede.

Es war 1976. Mein bester Schulfreund Klaus hatte – über gemeinsame Freundinnen – „Barney“ kennen gelernt. Zu dritt sind wir damals für sechs Wochen nach Irland gefahren. Eine wunderbare, nun erst recht unvergessliche, auch ein wenig chaotische Rundfahrt. Schon auf der Rückreisen-Fähre stiegen mir wehmütige Tränen auf. Wie weh wäre mir erst geworden, hätte ich den weiteren Lauf der Dinge geahnt.

Denn andererseits war es eine gottvermaledeite Reise, als hätte ein heimlicher Fluch darauf gelegen. 1987 hat sich Klaus das Leben genommen – und jetzt… bin ich aus dem damaligen Trio übrig; abermals ratlos trauernd.

Etliche Jahre nach dem Irland-Trip, Anfang der 1990er, war Werner Strasdat dann Volontär bei der Westfälischen Rundschau, zeitweise auch in unserer Kulturredaktion. Wahrhaftig einer von den Besseren oder gar Besten. Schnell und originell denkend, reflektiert und mit Witz gesegnet. Freilich mit keinerlei Hang zur Dauerhaftigkeit.

Er hat danach seine Freiheit vorgezogen und sich über die tägliche Knechtschaft der Festangestellten belustigt. Wenn wir uns – selten genug – trafen oder miteinander telefonierten, fragte er süffisant: „Na, was macht die Kleinfamilie?“ Mag sein, dass er just etwas mehr Verlässlichkeit gebraucht hätte. Doch berufliche und familiäre Festlegungen entsprachen nun mal nicht seinen Vorstellungen, seinen Utopien. Auch konnte und wollte er nicht buchhalterisch mit dem Geld haushalten, das seinerzeit noch vorhanden war. Er war so gar nicht kleinlich und auch niemals kleinkariert. Er war verdammt in Ordnung.

Aus seiner anfänglich genossenen Freiheit scheint auf dem journalistischen Markt mit den Jahren Vogelfreiheit geworden zu sein. Wo er einst Aufträge verschmäht hatte, die ihm nicht vollends zusagten, kämpfte er nun um die wenigen verbliebenen Zugänge und Möglichkeiten. Welch ein negatives Lehrstück.

Sein aufrechter Sinn und sein gegen Widerstände aufrecht erhaltener Anspruch haben ihm auf Dauer geschadet. Einst hatte er sich geweigert, für die ziemlich geringen Honorare einer großen Zeitungsgruppe im Revier weiterhin als freier Mitarbeiter tätig zu sein. Auch lehnte er, aus ebenso nachvollziehbaren Gründen, die allermeisten TV-Formate rundweg ab und sprach von „Blümchenfernsehen“. In der Tat hätten dem profunden Irland-Kenner viele, viele Fernsehleute, die sich derweil lukrativ betätigten, kaum das Guinness reichen können.

Es ist eine tragische Geschichte. Und eine sehr, sehr traurige.




Yusuf Islam holte Steiger Award in Dortmund nicht ab – Eine Blamage aber war die Auszeichnung sowieso

FotoWäre ich noch in jenem Alter, in dem Fremdschämen näher läge, weil man das Obszöne, das Peinliche an anderen geradezu körperlich fühlt, so versänke ich angesichts einer jüngst aufgeführten Ruhrgebietsposse stracks in den Erdboden, führe also ein in eine der aufgelassenen Gruben des Ruhrgebietes, die seit Jahren kein wachsames Aufsichtspersonal, keinerlei Unter- oder Obersteiger mehr gesehen haben dürften.

Jahrmarkt der Eitelkeiten

Denn, wie derwesten.de am 26.9.15 zunächst kommentarlos falsch meldete, seien am selben Abend in Dortmund „die Unternehmerin Friede Springer, der Schauspieler Hardy Krüger, und der Sänger Cat Stevens, der heute Yusuf Islam heißt“, mit dem von der Hellen Medien Projekte GmbH vergebenen Steiger Award ausgezeichnet worden. In einer anderen Meldung hieß es: „Im Minutentakt begrüßte Hellen die in Edelkarossen vorfahrenden Preisträger, Laudatoren und Gäste.“

Wieder einmal konnte man jenes großspurige Ruhrgebiet in Aktion sehen, das zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn keine eigene Balance und Haltung zu finden scheint. Eines, das stattdessen lieber vorzeigt, was es sich leisten kann. So titelte die BILD denn auch: „Viel Glamour beim Ruhrgebiets-Oscar“. Und derwesten.de benötigte fast einen Tag, um sich selbst zu korrigieren: „Cat Stevens sagte ab“.

Glückloser Promi-Vermittler

Sascha Hellen („Ich bin, was ich tue…“), Medienberater, Eventmanager, ist hierzulande einem größeren Publikum spätestens seit der Rechtstreitigkeiten um Atrium-Talk, Steiger Award und ein geplatztes Konzert Paul McCartneys kein Unbekannter mehr. Insbesondere die sog. Stadtwerke-Affäre und die Debatte um ein Referenten-Honorar für Peer Steinbrück in Bochum rückten ihn und sein Geschäftsgebaren schließlich in grelleres Rampenlicht, als es einem besser im Hintergrund wirkenden Medienberater für eitle Eliten und Moneymaker lieb sein dürfte.

The show must go on

Hellen und seinen Steiger Award focht und ficht dies alles nicht an. Über den Steiger Award lässt er unverdrossen auf seiner Homepage verlauten:

„Die Auszeichnung (…) wird alljährlich an Persönlichkeiten verliehen, die sich besonders in den Bereichen Musik, Sport, Medien, Umwelt, Film, sowie in Fragen des europäischen Zusammenwachsens und des humanitären Engagements verdient gemacht haben.
Der Preis lehnt sich an die Tradition des Reviers: Der Steiger ist ein Zeichen für den Bergbau und steht als Synonym für die Geradlinigkeit und Offenheit der Bergleute. Zudem ist er ein Symbol für Verlässlichkeit, Treue und das Miteinander in guten und schlechten Tagen.“

Wie schön.

Schade eigentlich nur, dass sich dieses Jahr der 1977 zum Islam konvertierte Cat Stevens entschuldigen ließ, wohl tief berührt von der Massenpanik in Mekka, die kurz zuvor weit über 700 Opfer gefordert hatte. „‘Ein Weltstar, einer der ganz großen‘, schwärmte Hellen“, laut der westen.de, und hätte Yusuf (so der Künstlername) wirklich gerne ausgezeichnet in Dortmund: wegen seines sozialen Engagements, auch unter dem Dach der UNO.

„Ich würde Ayatollah Chomeini anrufen“

Viel mehr und anderes hätte man vor der PR des Steiger Awards allerdings leicht recherchieren können. Etwa: Islam soll größere Summen an die Hamas gespendet haben. Israel hat ihm im Jahr 2000 die Einreise verweigert, die USA dann 2004.

Schon 1996 sagte Yusuf Islam „der Berliner Zeitung auf die Frage, warum er den Mordaufruf gegen Salman Rushdie unterstütze: ‚Schon bei Jesus stand auf Gotteslästerung Steinigung‘ – Blasphemie müsse bestraft werden.“

Nirgends im Vorfeld des Absteiger-Awards ein Wort darüber, dass Islam einst eine Briefaktion gegen Salman Rushdie und seinen Roman „Die Satanischen Verse“ mitgetragen hatte. Den Mordaufruf (die sog. Fatwa) gegen Salman Rushdie will Yusuf Islam aber später nie unterstützt haben, so Wikipedia. Eine Schutzbehauptung, der man nicht mehr glauben kann und sollte, wenn man eine BBC-Dokumentation über „Die Satanischen Verse“ und ihre Folgen gesehen hat. Nach einer Stunde und 15 Sekunden kann man hier auch Yusuf Islam in einer Fernsehrunde erleben, die über das Pro und Contra des Romans und der sog. Fatwa diskutiert. Ab 1:01:15 kann man (fragmentarisch) ihn persönlich und den deutschen Sprecher sagen hören:

„Ein weiterer Teilnehmer der Runde war Yusuf Islam, der zum Islam konvertierte Sänger Cat Stevens. Auch er befürwortete das Todesurteil. Er wurde gefragt, ob er Rushdie Zuflucht gewähren würde. ‚Ich würde Ayatollah Chomeini anrufen und ihm genau sagen, wo er sich aufhält.‘“

Der Moderator fragt: „Würden Sie zu einer Demonstration gehen, bei der etwas symbolisch verbrannt wird?“ Yusuf Islam antwortet: „Ich würde hoffen, dass man die echte Sache verbrennt. Wenn es sich nur um ein Symbol handelt, würde ich nicht hingehen.“ Die ebenfalls anwesende Schriftstellerin Fay Weldon meldete sich daraufhin zu Wort: „Ich wünschte der Polizist dort drüben käme her und nähme diesen Mann fest. Er ruft im Fernsehen zur Gewalt auf. Das ist doch unerhört.“

Herzlichen Glückwunsch also an Sascha Hellen und Yusuf Islam zu einem nicht verliehenen Steiger Award, einem Preis, der vorgibt jene zu preisen, die europäisches Zusammenwachsen fördern und humanitäres Engagement leben.

Da wäre beinahe zusammengewachsen, was zusammen gehört.




Auf irgendeine Art naiv – „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum

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„Mädchen im Spiegel“ (1940) von Morris Hirshfield, 102×57 cm groß (Foto: VG Bild-Kunst/Museum Folkwang)

Als er sich 2012 vom Kölner Museum Ludwig verabschiedete, durchwehte ein Hauch von Schwermut die Räume. „Ein Wunsch bleibt immer übrig. Kasper König zieht Bilanz“, war die Ausstellung betitelt, mit der sich der prominente Kurator und bekennende Westfale nach 12 Jahren Leitungstätigkeit verabschiedete. Und das geneigte Publikum fragte sich, wie der Ausstellungstitel denn wohl zu verstehen sei: Bleibt der letzte Wunsch nun ein für alle Mal unerfüllt, oder wird er in den folgenden Jahren noch verwirklicht?

Wie es aussieht, trifft Letzteres zu. Kasper König hat (unter anderem in St. Petersburg) munter weiter kuratiert, hat bei Anke Engelke in der Talkshow gesessen und jetzt im Essener Folkwang-Museum eine Kunstschau realisiert, die doch Fragen aufwirft: „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Eine Ausstellung, von der man auch sagen könnte, daß sie typisch für König ist.

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Dieses „Untitled (Blue Man on Red Object)“ des ehemaligen Sklaven Bill Traylor entstand ca. zwischen 1939 und 1942. (Foto: Mike Jensen/Museum Folkwang)

Wo gehören sie hin?

Natürlich soll nicht verschwiegen sein, daß ein zweiter Kurator mit im Boot sitzt, eine gute Generation jünger als König und aus Dortmund gebürtig: Falk Wolf, der unter anderem auf eine mehrjährige Tätigkeit im Hagener Osthaus-Museum zurückblickt. Die beiden sind für das verantwortlich, was im großen, überaus flexibel gestaltbaren Saal des Folkwang-Museums nun zu sehen ist:

Acht Dschungelbilder des berühmten Zöllners Henri Rousseau, drum herum gruppiert Arbeiten von 12 Künstlerinnen und Künstlern, denen gemein ist, daß sie anders als Rousseau im etablierten Kunstbetrieb so recht keinen Platz zugewiesen bekommen haben: Camille Bombois, Adalbert Trillhaase, William Edmondson, Morris Hirshfield, Martín Ramírez, Séraphine Louis, Alfred Wallis, um einige zu nennen. Den einen oder anderen Namen hat man wohl schon einmal gehört, sicherlich den von André Bauchant, dessen eigentümliche Historienbilder einen der Präsentationsräume füllen.

Erich Bödekers Betonfiguren

Auch ein guter Bekannter aus dem Revier ist in die Auswahl geraten: Erich Bödeker, Bergmann aus Recklinghausen, der Figuren aus Beton schuf und sie anmalte. In Essen stehen Tiere aus einem Zoo, bekannt ist aber vor allem auch seine (in Essen nicht gezeigte) englische Königsfamilie, und Beton wählte Bödeker als Material, weil es ihm am haltbarsten zu sein schien. Da lag er leider falsch, und seine schlicht-feierlichen Gestalten mit ihrer geradlinigen Aura dauerhaft zu erhalten, ist ein großes kuratorisches Problem. Aber dies nur am Rande. Mehr oder weniger sind sie alle Autodidakten, kann das Etikett „naiv“ für ihre Arbeiten verwendet werden, und schließlich ist etlichen eigen, daß sie zeitlebens still vor sich hinbosselten, ohne aktiv den Austausch mit Gleichgesinnten zu suchen, sich gar als Avantgarde zu begreifen.

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Ein Esel des Recklinghäuser Bergmanns und Künstlers Erich Bödeker (Foto: Lothar Schnepf/Kolumba/Museum Folkwang)

Der malende Sklave

Der Tscheche Miroslav Tichý, der leicht bekleidete Frauen in Schwarzweiß fotografierte und dies wohl meistens unbemerkt tat, hat es in die Ausstellung geschafft, gleichermaßen Bill Traylor, 1853 in Benton, Alabama geboren und Sklave auf einer Baumwollplantage. Dort blieb er auch noch lange nach dem offiziellen Ende der Sklaverei. Seine chiffrenhaften, kargen Zeichnungen lassen an Höhlenmalerei denken, lassen dunkle Ahnungen von Gewalt und Unterdrückung aufsteigen und gehören in ihrer diffusen Bedrohlichkeit zu den stärksten Bildern der Ausstellung.

Der 1864 geborene Amerikaner Louis Michel Eilshemius hingegen liebte es, nackte pralle Frauen in freier Natur zu malen, und wenn ihm in einigen dieser Bilder die richtige Perspektive auf groteske Art entgleitet, wenn Köpfe wirken wie schief aufgeklebt, dann könnte man glatt eine Absicht dahinter vermuten. Aber sind „naive“ Maler absichtsvoll naiv? In jedem Fall machen schon die Arbeiten dieser drei Künstler deutlich, daß hier von den Kuratoren gerade nicht das Einende gesucht wurde, sondern die bunte Vielfalt.

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Den hungrigen Löwen, der sich auf eine Antilope wirft, malte Henri Rousseau zwischen 1898 und 1905. Foto: Fondation Beyeler/Robert Bayer/Museum Folkwang)

Räume im Raum

Einen inhaltlichen, formalen Bezug zu Rousseaus schlicht-schöner Weltsicht zu konstruieren, fällt trotzdem bei keinem der zwölf Ausgestellten (plus einigen Referenz-Gemälden von Delaunay, Modersohn-Becker, Picasso uns so fort) schwer. Dies ist zu einem großen Teil dem dritten Mann zu danken, der am Zustandekommen dieser Schau beteiligt war und den zu preisen Kasper König im Termin nicht müde wurde: Hermann Czech, Ausstellungsarchitekt, der auf der riesigen Fläche drei schräg stehende Raumgebilde verteilt hat, die Containern ähneln, das Werk jeweils eines Künstlers, einer Künstlerin präsentieren und die gesamte Schau räumlich sinnhaft strukturieren. Zudem gibt es durch Stellwände abgetrennte Bereiche, und alle so entstandenen Zonen haben einen Blickachsenbezug zu den berühmten Bilder des Meisters Rousseau. Ist wirklich nicht schlecht gemacht.

Kaspar König und Falk Wolf Museum Folkwang 2015 "Im schatten der Avantgarde"

Kaspar König (links) und Falk Wolf kuratierten die Ausstellung „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum. (Foto: Jens Nober/Museum Folkwang)

„Kuratorische Ratlosigkeit“

Man muß wohl ein alter Hase im Ausstellungsgeschäft sein, wenn man, wie Kasper König, freimütig von „kuratorischer Ratlosigkeit“ als Konzept spricht. Oder vielleicht eben auch als Nicht-Konzept, was aber auch wieder ein Konzept wäre.

Gefragt hatte man ihn, warum nicht auch Jean Dubuffet mit seiner „Art brut“ in der Ausstellung vertreten sei, oder Kunst von psychisch Kranken, oder „Tribal Art“ aus Asien, Afrika, Ozeanien. Hätte man alles machen können, hat man eben nicht (zumal Dubuffet Rousseau dann möglicherweise die Schau gestohlen hätte).

Sicherlich ist der Titel etwas schönfärberisch; der Begriff Avantgarde geht bei den meisten Gezeigten schlichtweg in Leere, und Meister kann man sie auch nicht alle nennen. In jedem Fall jedoch schafft diese Ausstellung eine Vielzahl von sinnvollen schöpferischen Bezügen, die in Ruhe noch bedacht sein wollen. Und zu Recht wirft sie die Frage auf, warum sich der etablierte Kunst- und Museumsbetrieb bei einigen der gezeigten Künstler mit deren systematischer Einordnung so schwer tut.

Kasper König 2017 in Münster 

Übrigens werden wir Kasper König spätestens im Sommer 2017 in Münster wiederbegegnen. Er arbeitet, wie er sagt, schon intensiv an der alle 10 Jahre stattfindenden Ausstellung „Skulptur.Projekte“ , die er jetzt zum dritten Mal plant.

  • „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße.
  • Bis 10. Januar 2016
  • 96 Gemälde, 65 Grafiken, 21 Fotografien, 2 Installationen, 20 Skulpturen = 204 Kunstwerke auf 1400 Quadratmetern.
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do+Fr 10-20 Uhr.
  • Eintritt 8,00 €
  • Katalog 25,00 €
  • www.museum-folkwang.de



„Tödliche Camargue“: In Südfrankreich wird weiter stilecht gemordet

Der Dumont-Verlag hat in dem GEO-Redakteur Cay Rademacher einen Krimiautor gefunden, der Spannung mit sicherem Stil und sprachlicher Eleganz verbindet. Davon kann man sich auch in seinem zweiten Provence-Krimi überzeugen, in dem wieder Capitaine Blanc ermittelt.

Ging es im ersten Band noch um Korruption im Bauwesen, so spannt er nun im Buch „Tödliche Camargue“ den Bogen weiter und lässt die blutige Tat in einem Zusammenhang zur jüngeren Zeitgeschichte stehen.

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Roger Blanc war seinerzeit von einem Tag zum anderen aus Paris in die Provence versetzt worden, weil er in der Hauptstadt mit seinen Korruptionsermittlungen einigen Politikern zu heftig auf den Fuß getreten war. Zufällig hat er vor Jahren in der Nähe von Salon eine halb verfallene Ölmühle geerbt, die er nun wieder herrichten lässt, während er gleichzeitig in schwierigen Mordfällen ermitteln muss.

In der Camargue spießt ein wilder Bulle einen Radfahrer auf und tötet ihn. So beginnt das Buch. Das Opfer ist ein in Frankreich bekannter Journalist, und Blanc vermutet sofort und zu Recht, dass jemand absichtlich das Gatter geöffnet hat, um die Bluttat herbeizuführen. Geschickt baut der Autor mehrere Verdachtslinien auf, doch der Krimi endet überraschend.

Zusätzlichen Reiz erhält die Geschichte durch das sehr erotische Verhältnis zwischen Blanc und der selbstbewussten Untersuchungsrichterin, die zudem die Gattin genau jenes Staatssekretärs ist, der hinter Blancs Versetzung in die Provence steckte. Allerdings bleibt nach dem Lesen der wohlige Eindruck, dass die Abschiebung des Capitaine nach Südfrankreich eher ein Glücksfall für ihn war. Hoffentlich sind seine Ermittlungen nicht so bald beendet.

Cay Rademacher: „Tödliche Camargue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc“. Dumont, 304 Seiten, 14,99 €




Kleiner Raum für ein großes Thema: „Herz der Finsternis“ im Theater Rottstr. 5 Bochum

Regie: Alexander Ritter Foto: Theater Rottstraße

Szenenbild aus „Herz der Finsternis“ (Foto: Theater Rottstraße)

“Nach ein paar Minuten war der Film wieder in meinem Kopf“, sagt ein Zuschauer nach der Premiere der Buchadaption von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, inszeniert von Alexander Ritter. Er meint den Film „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola, der die Handlung nach Vietnam verlegte. Ursprünglich geht es um eine Novelle, die die europäische Kolonialpraxis am Ausgang des 19. Jahrhunderts thematisiert.

Das Theater Rottstraße 5 Bochum hat also wieder einmal ein Buch auf die kleine Bühne gebracht, eindringlich dargestellt und beklemmend in den Raum gestellt. Matthias Hecht lässt den Zuschauer seine Erfahrungen, sein Trauma miterleben. Sein Bühnenpartner ist Mark Tumba, dessen Figur keine klare Zuordnung zulässt, was dem Ganzen gut tut. Matthias Hecht verzweifelt an seiner eigenen Erinnerung, lässt uns teilhaben am grauslig Menschlichen in der Katastrophe der Seinsbewältigung, der Unzulänglichkeiten und Rätsel der menschlichen Existenz.

Die ausverkaufte Vorstellung zeigte, dass selbst kleine Räume für große Themen geeignet sind. Das Interesse daran, wie der Mensch „tickt“, scheint ungebrochen und wird sicher nicht nachlassen, denn er ist kompliziert und die Weltlage zeigt, dass die Komplexität eher zunimmt. Wir sehen uns das an, was wir auf keinen Fall wollen: Mord, Krieg, Zerstörung, Wahnsinn.

Zitat:

„Der Mensch ist ein bösartiges Tier. Seine Bösartigkeit muß organisiert werden. Das Verbrechen ist eine notwendige Bedingung der organisierten Existenz. Die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach kriminell, sonst würde sie nicht existieren. Der Egoismus rettet alles – absolut alles –, was wir hassen, was wir lieben. Und alles bleibt so, wie es ist. (…) Es ist wie ein Wald, in dem niemand den Weg kennt. Man ist verloren, während man noch ruft: ‚Ich bin gerettet!‘“ (Joseph Conrad: Brief an Robert Cunningham Graham, 2. Februar 1899)

Infos zur Inszenierung: http://www.rottstr5-theater.de/index.php/herz-der-finsternis