Dem weißen Kaninchen folgen: Gelsenkirchens Ballett zeigt „Alice in Wonderland“

Zu dritt und doch jeder für sich: Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Irgendwann einmal müssen sie sich geliebt haben. Jetzt aber sitzen sie am Esstisch und streiten. Zwischen den Eheleuten tobt ein stummer Machtkampf, der sich in drohenden Gebärden und verletzenden Gesten äußert. Aus Partnern sind Kontrahenten geworden, die vor lauter Anspannung vergessen, dass da noch ein Kind mit ihnen am Tisch sitzt, ein junges Mädchen namens Alice.

Mit dieser Szene schickt sich der brasilianische Choreograph Luiz Fernando Bongiovanni an, Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker „Alice in Wonderland“ in ein Ballett umzusetzen. Er zeigt uns Alice als unsicheren Teenager, hilflos angesichts des häuslichen Unfriedens, von den Erwachsenen beiseite geschoben und sich selbst überlassen. Wer weiß, ob nicht ein kleines buntes Ecstasy-Pillchen im Spiel ist, als Alice in der Disco dem weißen Kaninchen begegnet. Hinter dem Langohr taucht eine Wand voller Türen und Schubladen auf, hinter denen sich die erstaunlichsten Welten verbergen (Bühne: Britta Tönne).

Weite Teile dieses Ballettabends gleichen einer temporeichen Tanzrevue. Was Bongiovanni zu Musik von Eduardo Contrera, Alfred Schnittke und anderen choreographiert, ist unterhaltsam, driftet zuweilen aber auch in die Gefahrenzone des allzu Hübschen, ja Gefälligen. Die Phantasiegeschöpfe des menschenscheuen Mathematik-Dozenten Lewis Carroll wirbeln aus den Kulissen herein und heraus, dass einem schier schwindelig wird. Das wirkt zumeist eher vergnüglich als surreal oder gar bedrohlich.

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Wir sehen ein Kaleidoskop von Tanzstilen und Kostümen. Ein wenig mit den Figuren des Buchs vertraut zu sein, ist übrigens hilfreich für das Wiedererkennen. Die blaue Raupe gleicht in Gelsenkirchen einem Reggae-Star in blauen Samthosen, und die Grinsekatze gibt sich mehr durch ihr Bewegungsvokabular zu erkennen als durch ihr Kostüm.

Wie Alice in dieser verwirrenden Traumwelt allmählich eine eigene Identität entwickelt, zeigt die aus Turin stammende Tänzerin Francesca Berruto in der Titelpartie. Obgleich sie als Alice zunächst oft nicht mehr sein darf als eine erstaunte Beobachterin, gelingt es ihr durch Tanzkunst und durch eine ausgesprochen lebhafte Mimik, den Reifeprozess glaubhaft zu machen, der Alice schließlich innere Stärke geben wird.

Valentin Juteau ist ihr als weißes Kaninchen ein verlässlicher Begleiter und starker Tanzpartner. Bridget Breiners Compagnie zeigt sich vielseitig und wandelbar, und wenn bei der verrückten Tea-Party die Tassen und Teller nur so durch die Luft fliegen, wird der fast anarchische Spaß spürbar, mit dem diese Tänzer sich auf der Bühne verausgaben.

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als blutbefleckte Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als grausame Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Als blutbefleckte Zombie-Herzkönigin hat Gelsenkirchens Ballettchefin bei der Premiere am Halloween-Abend ihren großen Auftritt. Umgeben von einem Quartett „böser Blumen“ tanzt sie ein Menuett, das harmlos-höfisch beginnt, aber durch Deformationen und Disharmonien allmählich monströse Züge entwickelt (Musik: Alfred Schnittke, „(K)ein Sommernachtstraum“). Der Spitzentanz gebiert einen Albtraum, aus dem man nach Möglichkeit rasch wieder erwachen möchte. Es ist vor allem dieser Abschnitt, der den Abend dann doch über einen reinen Unterhaltungswert hinaus hebt.

(Termine und weitere Informationen unter http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/AliceInWonderland/)




Rohstoff des Lebens – das intime „Kronos“-Tagebuch des Witold Gombrowicz

Vom polnischen Weltautor Witold Gombrowicz („Ferdydurke“, „Trans-Atlantik“, „Pornographie“) gibt es zwei Tagebücher. Eines war für die Öffentlichkeit bestimmt, ein anderes eigentlich nur für den eigenen Gebrauch. In der Ausgabe des Hanser Verlags tragen diese Aufzeichnungen den Titel „Kronos. Intimes Tagebuch“. Doch wer da nach Enthüllungen lechzen sollte, wird unweigerlich enttäuscht werden.

Gombrowicz (1904-1969) hat von 1939 bis 1963 im argentinischen Exil gelebt. Vor allem um diesen Zeitraum und um die Jahre seit der Rückkehr nach Europa (vorwiegend Frankreich) geht es im vorliegenden Tagebuch. Das gewichtige Wort „Kronos“ deutet aufs Vergehen der Zeit hin. Und auf dem Titelumschlag steht „Gombrowicz“ ohne Vornamen; ganz so, als wäre das ein Markenzeichen sondergleichen. Was ja auch stimmt.

Wuchernde Fußnoten

Es handelt sich hierbei größtenteils um wahrhaft rudimentäre Notizen, mit denen der Schriftsteller sozusagen den Rohstoff des Lebens festzuhalten suchte, für die früheren Jahre aus gehörigem zeitlichen Abstand. Vielfach sind die Aufzeichnungen so knapp und kryptisch, dass die Erschließung in Fußnoten den Primärtext bei weitem überwiegt und überwuchert. Man muss schon ein sehr spezielles Interesse an Gombrowicz’ Leben aufbringen, um hier jede einzelne Wendung nachzuschmecken.

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Immerhin lässt selbst diese lückenhafte Materialsammlung erahnen, wie entbehrungsreich das Leben im Exil über viele Jahre hinweg gewesen sein muss. Immer wieder werden Geldnöte skizziert, auch spielen gesundheitliche Sorgen eine zunehmende Rolle.

Weitere, häufig wieder aufgegriffene Bemerkungen betreffen etwa Gombrowicz’ Leidenschaft fürs Schachspiel und besonders das Ringen um Publikationsmöglichkeiten in der anfangs so ungewohnten Fremde. Zuweilen reiht er lediglich lauter Namen aneinander – überwiegend Begegnungen und Kontakte, die dem Schriftsteller vielleicht einmal nützlich werden konnten. Doch häufig verzeichnet er auch das Gegenteil, nämlich mit wem er gerade wieder auf immerdar gebrochen hat.

Lektüren (u.a. Thomas Mann) und politische Verhältnisse kommen hier hingegen eher stichwortartig vor – und das in jenen wahrlich bewegten Zeiten. Doch darüber konnte man sich ja öffentlich äußern.

Sexuelle Bilanzierung

Gar nicht so geheimes Gravitationszentrum ist allerdings der offenbar überaus rege Sexualtrieb, den der Autor höchst wechselhaft ausgelebt hat – mit Angehörigen beider Geschlechter. Auch in seinen jeweiligen Jahresbilanzen bewertet er stets summarisch die erotischen Erlebnisse („Ero – nicht schlecht“), hin und wieder allerdings im Modus der Unzufriedenheit.

Zwischendurch finden sich zahllose Erwähnungen und Kürzel, die das Geschehen eher bemänteln als darlegen. Es waren Zeiten, in denen homo- oder bisexuelle Neigungen durchaus die Polizei auf den Plan rufen konnten. Auch das ist Gombrowicz nicht selten passiert.

Gombrowicz scheint jedenfalls sexuelle Erfüllung häufig auch bei Huren (und Strichern) in der brodelnden Metropole Buenos Aires gesucht zu haben. Zitat von eher untypischer Deutlichkeit, ja lakonisch-abgründiger Drastik: „Die Nutte. Tripper. Das Mädchen, das ich nicht vergewaltigen konnte.“ Oder so, ganz nüchtern nachhaltend: „Ich schlafe mit einer Tänzerin sowie mit einem Dienstmädchen.“ Editorisches Problem(chen) nebenher: Ob mit dem Buchstaben M im Einzelfalle muchacho (männlich) oder muchacha (weiblich) gemeint war, lässt sich nicht immer hinreichend klären. Sei’s drum.

Aufwertung durch zahlreiche Fotos

Und wie sind diese Tagebücher zur Publikation gelangt? Nun, Gombrowicz’ Gefährtin und Witwe Rita Labrosse, selbst Literaturwissenschaftlerin (Promotion über Colette), hat das Konvolut zur Verfügung gestellt und mit herausgegeben. Ob sie Blätter, auf denen von ihr selbst die Rede war, zurückgehalten oder modifiziert hat? Das zu mutmaßen, wäre pure, fast schon unanständige Spekulation. Nicht nur angesichts der oft kruden Passagen in diesem Tagebuch darf man wohl von einer redlichen Übergabe ausgehen.

Eine enorme Aufwertung erfährt dieses Buch durch zahlreiche Schwarzweißfotos aus Gombrowicz’ Biographie, darunter auch Faksimiles seiner Schrift.

Das Titelbild zeigt Witold Gombrowicz im Mai 1966 mit der erwähnten Rita, die er 1964 kennen gelernt hatte, bei einer Fahrpause auf dem Pass von Vence (Südfrankreich). Die ausgesprochen attraktive Frau scheint sich darum zu kümmern, was unter der Motorhaube der Citroën-„Ente“ vorgeht, während Gombrowicz anscheinend die Haltung eines ungeduldig Wartenden eingenommen hat. Aber daraus ziehen wir jetzt natürlich keinerlei Schlüsse.

Fragen wir uns lieber, was die (literarische) Welt von all dem hat. Bei einem Autor vom überragenden Format des Witold Gombrowicz mag wohl jede noch so unscheinbare Äußerung von Interesse sein; möglichst nichts darf verloren gehen, kein Wort soll vergessen werden.

Freilich zeigt sich hier nicht der Schriftsteller, sondern quasi der (allerdings fiebrige) Buchhalter eigener Lebenstatsachen. Anhand solcher Aufzeichnungen kann man vielleicht ermessen, wie sehr sich dann die große Literatur über das tagtäglich Gelebte erhebt – und es dennoch zuinnerst betrifft.

Gombrowicz: „Kronos.“ Intimes Tagebuch. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Carl Hanser Verlag. 359 Seiten. 27,90 €.