Die Not der anderen: Das Aalto-Theater Essen zeigt Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“

Priester Fotis (Baurzhan Anderzhanov) versucht einer Frau zu helfen, die am Ende ihrer Kräfte ist (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Priester Fotis (Baurzhan Anderzhanov) versucht einer Frau zu helfen, die am Ende ihrer Kräfte ist (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Kaum hat der Priester des griechischen Dorfs Lycovrissi die Rollen für das geplante Passionsspiel verteilt, geht in den ausgewählten Darstellern eine seltsame Verwandlung vor. Der Hirte Manolios beginnt, wie Christus zu reden und zu handeln. Die Dorfhure Katerina identifiziert sich mit Maria Magdalena. Und obwohl Panait sich zunächst dagegen wehrt, färbt die Rolle des Judas immer stärker auf ihn ab.

Es ist ein Spiel mit doppeltem Boden, das Bohuslav Martinů in seiner letzten Oper „Die griechische Passion“ treibt. Das Aalto-Theater zeigt die Zürcher Fassung des 1961 ebendort uraufgeführten Vierakters jetzt in einer Produktion des tschechischen Regisseurs Jiří Heřman, der mit dieser Arbeit seinen Einstand in Essen gibt. Es ist keine leichte Aufgabe, der Heřman sich stellt: Martinůs Oper trägt oratorienhafte Züge und ist über weite Strecken kontemplativ-statisch. Abseits der Hauptrolle des Manolios gewinnen nur wenige Figuren Gesicht und Gewicht.

Gleichwohl gelingt der Regie ein starkes Plädoyer für das Werk, das nach Nikos Kazantzakis’ Roman „Der erneut gekreuzigte Christus“ entstand. Heřman konzentriert sich auf die Frage, wie weit es mit den christlichen Werten her ist, wenn Notleidende auf Wohlhabende treffen: in diesem Fall die gewaltsam Vertriebenen eines griechischen Dorfs auf die Einwohner von Lycovrissi. Der Regisseur widersteht der Versuchung, zu stark auf den Zug aktueller Flüchtlingsberichterstattung aufzuspringen. Vielmehr rückt er Angst und Selbstsucht in den Fokus, den Unwillen, mit anderen zu teilen.

Manolios (Jeffrey Dowd) fürchtet sich vor der Versuchung durch Katerina (Jessica Muirhead. Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Manolios (Jeffrey Dowd) fürchtet sich vor der Versuchung durch Katerina (Jessica Muirhead. Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Im Verbund mit Dragan Stojčevski hat Jiří Heřman dafür ein Bühnenbild entworfen, das von christlichen Symbolen dominiert wird. An der Rampe brennen Kerzen, eine übermannshohe Kirchenglocke hängt an einem Haken, eine antik wirkende Mauer steht für Ausgrenzung und Öffnung. Wasser und Erde, die zentralen Elemente für menschliche Siedlungstätigkeit, werden in flachen Becken seitwärts auf den Bühnenboden geschoben. Die Lichtreflexionen des Wassers auf dem Mauerwerk verleihen der Szene viel Atmosphäre.

Heřman verschont uns nicht mit dem, was existenzielle Not bedeutet. Wir sehen sterbende Frauen und Kinder. Erschöpfte Männer, die sich kaum mehr auf den Beinen halten können. Manolios, der Mitgefühl predigt und zur Hilfe aufruft, zieht dadurch den Zorn der Dorfelite auf sich. Er, der Christusdarsteller, wird schließlich vom Popen exkommuniziert und von einer Gruppe von Dorfbewohnern zu Tode geprügelt. Aber wir sehen auch jene, die Manolios folgen und Gutes tun wollen, soweit es in ihren Kräften steht.

Katerina Jessica Muirhead) trägt einen toten Jungen auf den Armen (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Katerina (Jessica Muirhead) trägt einen toten Jungen auf den Armen (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Von ihnen gewinnt vor allem Katerina (Maria Magdalena) Format. Das liegt wesentlich an der Leistung der britisch-kanadischen Sopranistin Jessica Muirhead, die stimmlich zunehmend Wärme entwickelt, bis sie zu leuchtenden Tönen der Empathie und beseelter Festigkeit in Handeln und Glauben findet.

Jeffrey Dowd gibt den Manolios als Zweifler, der sich als Christusdarsteller zunächst unwürdig findet, dann aber immer stärker dem folgt, was ihm christlicher Auftrag scheint.

Der Chor des Aalto-Theaters, der in diesem Passionsspiel die zweite Hauptrolle übernimmt, verhindert durch sein engagiertes Spiel, dass die „Griechische Passion“ zu einem Gottesdienst auf der Opernbühne wird. Musikalisch steuert er biblisch-archaische Wucht, folkloristische Farben und expressionistische Ausbrüche bei, wobei die Sopranstimmen zuweilen etwas übersteuert klingen.

Am Pult der Essener Philharmoniker zeigt Tomáš Netopil einmal mehr sein Feingefühl für die Partituren seines Heimatlandes. Bei ihm darf der Zuhörer im Wohlklang byzantinischer Kirchenmusik schwelgen, ja beinahe im Puccini-Melos baden, ohne dass feine Strukturen oder harmonische Verschärfungen verschwiegen würden. Die Essener Philharmoniker bringen psalmodierende Passagen in prachtvollstem Dur, aber auch gleißende Zuspitzungen und Ausbrüche.

Mag man in Martinůs Oper nun unbedingt „das Stück der Stunde“ sehen, so greift es doch zu kurz, sie als „Flüchtlingsoper“ zu beschreiben. Griechen treffen in diesem Stück auf Griechen; die rivalisierenden Gruppen haben Nation, Religion und Kultur gemeinsam. Der Kampf zwischen Altruismus und Egoismus hingegen, er ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst.

Termine und Informationen unter http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/the-greek-passion.htm




Darf man über Untaten schweigen? Javier Marías‘ Roman „So fängt das Schlimme an“

Warum sprechen wir ständig über Dinge, die wir eigentlich gar nicht wissen können? Warum wühlen wir in Gerüchten und Lügen und präsentieren sie als vermeintliche Wahrheiten? Könnte es nicht manchmal sinnvoll sein, über mögliche Verbrechen zu schweigen und Untaten mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken, mithin das Schlimme zu vermeiden, damit das hinter der Szenerie lauernde noch noch Schlimmere gebannt bleibt?

Mit solchen Fragen zur Psychologie des politischen und philosophischen Erkenntnisinteresses beschäftigt sich Javier Marías in seinem neuen Roman „So fängt das Schlimme an“. Schon der Titel des Buches spielt auf Shakespeare an, der einmal sagte: „Thus bad begins ans worse remains behind“.

Marias

Das Spiel mit Shakespeare ist beim spanischen Autor, der sich mit Romanen wie „Mein Herz so weiß“ oder „Morgen in der Schlacht denk an mich“ in die Weltliteratur schrieb und eine zeitlang in Oxford lebte und lehrte, nichts Neues. Immer wieder kommt er in seinen vielschichtigen Erzähl-Variationen über die Schwierigkeit, die Wahrheit von der Lüge, die Fiktion von der Realität und das Wunschdenken von den Fakten zu unterscheiden, auf den englischen Literatur-Giganten zurück.

Diesmal gibt Marias seinem Ich-Erzähler sogar einen anspielungsreichen Namen: Denn Juan, der von heute aus auf eine Zeit zurückschaut, als er noch ein 23jähriger Film-Freak war und sich naiv in ein Gespinst aus Lug und Trug, Liebe und Hass, Leidenschaft und Tod verwickeln ließ, trägt den Nachnamen de Vere – ist also ein literarischer Nachfahre von Edward de Vere, Earl of Oxford, Abenteurer, Duellant und Dichter, den manche für den wahren Shakespeare halten. Dessen Vorname – Edward – aber trägt im Roman die Person, die für den Erzähler Juan zum Vater-Ersatz wird: Eduardo Muriel, Film-Regisseur und Ikone des spanischen Kinos, bei dem Juan als Assistent anheuert.

Wir schreiben das Jahr 1980, vor wenigen Jahren ist General Franco gestorben und die klerikal-faschistische Diktatur sang- und klanglos verschwunden. Um ohne Blutvergießen den Aufbruch in die Demokratie zu ermöglichen, wird allen Tätern und Mitläufern eine Amnestie gewährt.

In diesem Milieu des Schweigens und Verdrängens gedeihen Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen kann. Hat Doktor Jorge van Vechten seine Karriere und seinen Reichtum wirklich nur der Tatsache zu verdanken, dass er williger Helfer der Faschisten war? Benutzt er sein Wissen über die Geheimnisse der Menschen tatsächlich, um sie zu erpressen und Frauen sexuell zu nötigen?

Juan soll das im Auftrag seines Chefs herausbekommen. Denn van Vechten ist ein Freund des Film-Regisseurs und vielleicht sogar ein Liebhaber von Muriels Gattin Beatriz. Juan wird zum Spion wider Willen: Ihm ist das Geschnüffel widerlich, und peinlich ist ihm auch, dass er sich auf eine kurze Affäre mit Hausherrin Beatriz einlässt.

Doch als Juan endlich der ganzen Wahrheit über den dubiosen Arzt und über die Ehehölle der Muriels nahekommt, gebietet ihm der Regisseur zu schweigen. Er will das Schlimme doch lieber nicht wissen, um das noch Schlimmere zu bannen.

Dass die verwickelte, von literarischen Anspielungen, filmhistorischen Hinweisen, politischen Abgründen und erotischen Vergnügungen durchwirkte Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist klar. Doch wie Javier Marías auf ein furioses Finale zusteuert und das gefährliche Intrigen-Spiel zu einem (halbwegs) versöhnlichen Ende bringt, ist ganz großes Erzähl-Kino.

Javier Marías: „So fängt das Schlimme an“. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 638 Seiten, 24,99 Euro.