Familienfreuden XX: Die Spielzeug-Sekte

Das "richtige" Spielzeug. (Bild: Albach)

Das „richtige“ Spielzeug. (Bild: Albach)

Kinder sind Ideologie pur. Und seitdem Fiona da ist, weiß ich: Die Kampflinie verläuft zwischen Plastik und Holz!

Es war auf den Straßen von San Francisco, Fiona schlummerte selig in ihrem Kinderwagen, als uns eine Frau freundlich ansprach: „Sorry, are you from Germany?“ Normen und ich schauten uns erstaunt an: Wir waren es schon gewohnt, dass wir, kaum dass wir den Mund aufmachten, als Deutsche identifiziert wurden, aber just in diesem Moment hatten wir golden geschwiegen. Woran sie denn das erkannt habe, fragten wir neugierig. Zielsicher und mit breitem Grinsen zeigte sie auf die Spielzeugkette, die an Fionas Kinderwagen baumelte. Sie war – aus Holz. „In the US, this would be plastic!“

Niemals hätte ich gedacht, dass meine Nationalität einmal am Spielzeug unserer Tochter ablesbar sein würde. Bunte Bilder von aufblasbaren Eiffeltürmen, Spaghetti aus Stoff oder Holz-Frikandeln futschen durch meinen Kopf – willkommen in Klischeetanien!

Demarkationslinie zwischen Holz und Plastik

Dabei muss ich der spielzeugweltgewandten Dame doch entschieden widersprechen – schließlich gibt es sie auch in Deutschland selbst, die ideologische Demarkationslinie zwischen Plastik- und Holzspielzeug. Und noch vor einigen Jahren wäre ich selbst fahnenschwingend und „Ostheimer“-rufend für Holz als einzig echten, wirklich wahren Spielzeug-Werkstoff auf die Barrikaden gegangen.

Inzwischen bin ich da vorsichtiger geworden. Denn inzwischen bin ich ihr begegnet: der Spielzeug-Sekte.

Ein Graus!

Es war zu Fionas erstem Geburtstag. Meine Schwiegermutter wollte Fiona unbedingt eine Puppe schenken. Sie hatte eine diese ganz klassischen Babypuppen ausgesucht – für mich ehrlich gesagt ein Graus! Ich gestand ihr meine Aversion mit Bauchschmerzen. Sie reagierte ganz entspannt: „Dann such‘ Du doch einfach eine aus!“

Erleichtert ging ich in die Stadt. Dort hat man die Auswahl zwischen zwei Spielzeugläden – und zwei Weltanschauungen: Der eine hat sich auf das qualitativ hochwertig, pädagogisch wertvolle Spielzeug spezialisiert. Der andere verkauft einfach alles, was der Markt hergibt. Meine Schwiegermutter hatte sich für die gute Seite der Macht entschieden. Dachte ich.

Mission Umtausch

Ich betrat den Laden, ohne zu ahnen, dass es ein Kriegsschauplatz würde. Meine Mission: Baby- gegen Stoffpuppe umtauschen. Naiv wurde ich bei einer Verkäuferin vorstellig. Kaum hatte ich mein Sätzchen aufgesagt, fiel die gute Dame fast in Ohnmacht. „WAS wollen sie?“, rief sie empört, die Augen vor Entsetzen geweitet. „Diese wunderschöne Puppe umtauschen?“

Schon etwas vorsichtiger geworden, nickte ich nur. Sie holte zum Rundumschlag aus. Noch NIE in ihrer 40-jährigen Verkäuferinnenkarriere habe sie etwas Derartiges erlebt. „Also nein! Das ist doch eine Puppe für die Ewigkeit! Darüber freut eine Frau sich auch noch im hohen Alter, wenn die im Schrank steht und sie anlächelt.“ Attacke, versenkt. Ich stand nur noch wackelig auf den Beinen und murmelte, dass das doch vielleicht Geschmackssache sei. Sie entlud einen weiteren Hagel Fassungslosigkeit.

Tief fliegendes Kaufladen-Obst

Als sie erkannte, dass ich trotz allem standhaft blieb, sah sie mich an, als erwöge sie, gleich die UN-Puppenrechtskonventionen zu zitieren oder mich mindestens noch mit Kaufladen-Obst (aus Holz natürlich) zu bewerfen. Doch sie zuckte nur mit den Schultern ob so einer Ignoranz und sagte: „Tja, wenn sie sich sicher sind (kurze Pause), DANN müssen sie eben zur Kasse gehen.“

Mit gesenktem Kopf tat ich wie geheißen. An der Kasse wiederholte ich mein Anliegen – in der Hoffnung, das Schlimmste nun überstanden zu haben. Stattdessen erwischte mich die neue Zermürbungstaktik kalt. Die ältere Dame an der Kasse sah mich strafend und schweigend an. Dann nahm sie mir die Puppe ab, legte sie wie ein echtes Baby in ihre Arme, schaute sie mitleidig an und sagte: „Hast Du kein Zuhause gefunden? Och, Du Arme! Dann kommst Du wieder zu uns! Bei uns bist Du willkommen!“

Wie eine Menschenhändlerin

Ich brach fast zusammen. Das Geld nahm ich mit dem Gefühl, eine Menschenhändlerin zu sein.

Draußen auf der Straße plagten mich Gewissensbisse. Warum hatte ich diese Puppe nicht lieben können? Ich rief meine beste Freundin an. Jemand musste mir jetzt versichern, dass ich nicht der schlechteste Mensch auf diesem Planeten bin.

Als ich wieder hergestellt war, ging ich zu dem Spielzeugladen, der alles verkauft. Vorsichtig sah ich mich um. Keine Verkäuferin, die mir eine Moralpredigt halten wollte. Keine Schilder, die mir anzeigten, welches Spielzeug „gut“ oder „schlecht“ war. Ich nahm eine Stoffpuppe. Schaute mich um. Ging schnell zur Kasse. Bezahlte. Keiner kommentierte meine Auswahl. Ich hatte selbst entscheiden dürfen! So, wie es Fiona jetzt tun soll – auch wenn es dann eben Plastik oder eine Babypuppe ist. Denn das war der Tag, an der ich der Spielzeug-Ideologie abschwor.




Dem Pigment verfallen – Bilder und Skulpturen von Thomas Kesseler im alten Ostwall-Museum

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Lichthof des „richtigen“ Dortmunder Museums am Ostwall, geschüttete Fläche aus tiefblauem Pigment im Hintergrund, Künstler Thomas Kesseler davor. (Foto: Simone Melenk/BDA-Dortmund)

Das größte Bild in der Ausstellung ist gar keins, jedenfalls kein richtiges. Es ist eine rechteckige Schüttung aus ultramarinblauen Farbpigmenten, um die 100 Quadratmeter groß; Ein Gemälde zum Materialpreis von rund 600 Euro, das nach dem Ende der Ausstellung einfach zusammengefegt werden kann. Geschaffen hat es der Künstler Thomas Kesseler, als Auftakt gleichsam seiner Werkschau aus rund 30 Schaffensjahren.

Thomas Kesseler ist Architekt, Maler und Bildhauer. Bekannt wurde er einem breiteren Publikum durch seine künstlerischen Um- und Neugestaltungen sakraler Innenräume: St. Katharina in Unna, die Kapelle der evangelischen Akademie in Schwerte-Villigst, Kirchen in den Dortmunder Stadtteilen Eving und Rahm sowie in Bochum, Bottrop und Essen. Der Künstler arbeitet mit Farbgebungen und in Sonderheit kräftigen Farbverläufen, mit Glasmalerei, Licht, Möblierung, Grundrissänderungen, man könnte seinen innenarchitektonischen Ansatz radikal nennen. Und der traditionelle Begriff Innenarchitektur greift bei Licht betrachtet sicherlich zu kurz.

Das große Vorbild Giacometti

Im alten Dortmund Museum am Ostwall indes präsentiert sich Kesseler als Künstler, dessen Arbeiten für sich stehen und nicht an bestimmte Räume gebunden sind. Seine Leidenschaft gilt dem Pigment; flächenbetonte leuchtkräftige Bilder herrschen vor, die oft nur eine einzige Farbe zeigen; lange, dürre Skulpturen auf massiven Sockeln gesellen sich ihnen zu, Menschenandeutungen in Bronze mit Patina, den entmaterialisierten Schreitenden eines Alberto Giacometti keineswegs unähnlich. Ja, sagt Kesseler, Giacometti sei für ihn ein ganz Großer, der ihn stark beeinflusst habe. Wie auch Lehmbruck, und es gebe keinen Grund, das Vorbilder zu verleugnen.

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Gemacht, um auf der Erde zu stehen: Künstler vor dunklen Arbeiten mit schwerer Wachsfirnis. (Foto: Simone Melenk/BDA-Dortmund)

Seit er sich Mitte der 80er Jahre recht flott von gegenständlichen Themen verabschiedete – auch aus dieser frühen Schaffensperiode hängen einige Großformate in der Ausstellung – besteht Thomas Kesselers malerische Welt vorwiegend aus Flächigkeit. Doch sind die Flächen mal Farbverläufe, mal annähernd monochrom, mal auch in unerwarteter Weise dreidimensional wirkend, mal, angehoben gleichsam durch die Andeutung eines Bilderrahmenelements, „schwebend“. Und dass die Bilder gut in eine anspruchsvolle Innenarchitektur passen würden, dass sie schöne, oft dramatische Hintergründe für die Präsentation der Skulpturen abgeben, erschließt sich augenblicklich.

Der Wal auf der Galerie

Kleine Figuren, große Bilder: Für eine graue „Schieferwand“ (240 x 360 cm) verwendete Kesseler sechs Leinwände, für einen „Wal“, der oben viele Quadratmeter groß im Galerieflur hängt, gar sieben. Diesem Riesenbild ist eigen, dass es in Gänze nicht betrachtet werden kann. Steht man im Galerieflur direkt davor, ist es zu groß, schaut man von der anderen Seite des Lichthofs auf die Galerie, verdecken Säulen ein Gutteil des Bildes. Es ist ein bisschen so wie in manchen alten Kirchen, wo Teile der großen Kunst hinzuerahnt werden müssen.

Ein ganz besonderer „Farbkeil“ befindet sich in zwei Vitrinen. Hier hat der Künstler Dinge des täglichen Lebens, vom Kinderspielzeug bis zur Waschmittelpackung, farblich sortiert so angeordnet, dass auf geschätzten drei Metern ein prismatisch korrekter Verlauf von Rot nach Blau entstand. Auch das kleine Citroën-Modell aus dem Setzkasten musste hier seinen Beitrag leisten – Kesseler ist bekennender Fan der Marke.

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Der „Wal“ ist auf sieben Leinwände gemalt und hängt in der Galerie des Lichthofs. (Foto: Simone Melenk/BDA-Dortmund)

Menschgemäße Maßstäblichkeit

Die schlanken Skulpturen auf ihren wuchtigen Sockeln zeugen von einer nie nachlassenden Auseinandersetzung mit Gewichtung und Proportion, mit menschgemäßer Maßstäblichkeit, sozusagen dem täglichen Brot des Architekten.

Zudem hat Thomas Kesseler Figuren in Beziehung zueinander gesetzt, laufende, schreitende, stehende. Installationen mit kaum mehr als fingernagelgroßen Gestalten auf einem Brett und, zwei Räume weiter, mit Gipsfiguren von der Größe mittlerer Hunde stehen für Überlegungen, einen öffentlichen Platz mit künstlichen Gestalten auszustatten, um ihm zusätzliche kommunikative Valeurs zu geben. Das Projekt „Figurenplatz Wien“ indes harrt noch der Verwirklichung. Ein „laufendes Kind“ aus Kesselers Werkstatt aber läuft tatsächlich durch den öffentlichen Raum, seit 1996, in Velbert.

Professor in Detmold

Es gibt bei Thomas Kesseler, der übrigens an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Detmold als Professor für „Farbe und Raum – Künstlerische Grundlehre Innenarchitektur“ wirkt, etliche Felder forschenden Schaffens mehr, etwa seine Annäherung an die Skulptur der Antike, wie die meisterliche Federzeichnung „Studie nach dem Pergamonfries“ aus dem Jahr 2006 belegt. Doch würde es den Platz sprengen, alles berücksichtigen zu wollen.

Mit der Präsentation dieses Künstlers und Kollegen hat die Gruppe Dortmund-Hamm-Unna des Bundes Deutscher Architekten (BDA) eine gute und sinnvolle Entscheidung getroffen, die zudem einmal mehr die Ausstellungs-Qualitäten des ehemaligen Museumsgebäudes hervorhebt. Wie berichtet, soll hier nach umfangreichem Umbau ab 2018 das NRW-Baukunstarchiv seine Heimat finden.

  • „Thomas Kesseler: Skulptur – Farbe – Raum. Dreißig Jahre 1985 – 2015“
  • Ehemaliges Museum Ostwall, Ostwall 7, Dortmund.
  • Noch bis zum 14. Februar. Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr.
  • Eintritt frei
  • Kontakt: Tel. 0231 1356050
  • beisemann@beisemann-schenk.de
  • www.bda-dortmund.de
  • www.bau-kunst-kesseler.de
  • Am Freitag, 12. Februar (17 Uhr) führt der Künstler selbst durch seine Ausstellung.



„Geschichte im Westen“ – zur 30. Ausgabe der verdienstvollen Zeitschriften-Reihe

„Tief im Westen“ krächzte Grönemeyer einst ins Mikrofon, und im Revier wusste jeder sofort Bescheid: Der Westen, das ist hauptsächlich das Ruhrgebiet, aber auch ganz Nordrhein-Westfalen zählt sich zum Westen der Republik.

Es gibt sogar seit einiger Zeit die Diskussion, ob in einem Europa der Regionen das wirtschaftlich starke NRW nicht besser in einem Staatenbund mit den Benelux-Ländern aufgehoben wäre als in der so bayernlastigen Bundesrepublik. Wer weiß, wie lange die Nationalstaaten alter Prägung noch existieren – und weil Historiker in langen Zeiträumen rechnen, gibt es in der Reihe „Geschichte im Westen“ auch dieses Thema.

Pfeil Klartext 1

Mit Druckkosten-Hilfe der beiden Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) gibt es im Essener Klartext-Verlag seit nun drei Jahrzehnten die Zeitschriften-Reihe „Geschichte im Westen“. Natürlich ist das Wort Hefte untertrieben, denn es handelt sich jeweils um veritable Bücher. Die jetzt erschienene Nummer 30 hat als Schwerpunkt das Thema „Europa und Region – Nordrhein-Westfalen, Belgien und die Niederlande“. Die Autoren – überwiegend Historiker an Hochschulen – beschäftigen sich unter anderem mit den Wirtschaftsbeziehungen der Länder, mit polizeilicher Zusammenarbeit, mit politischen Grenzen als Sprachgrenzen und mit der Entstehung des Mehrebenen-Systems in Nordrhein-Westfalen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Außerhalb dieses Schwerpunktes findet sich ein Aufsatz von Professor Dr. Ulrich Pfeil von der Universität in Metz (Lothringen), der sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des ersten Bürgermeisters der 1949 gegründeten Stadt Ennepetal befasst. Jener FDP-Politiker Dr. Fritz Textor war gegen den Widerstand der Sozialdemokraten und der KPD per Losentscheid ins Amt gekommen, und als der Stadtrat jetzt eine neu gebaute Straße nach Textor benannte, gab es erneut heftige Proteste, die jedoch ohne Erfolg blieben. Mit knapper Mehrheit lehnte der Stadtrat trotz des eindeutigen Gutachtens von Professor Pfeil eine Umbenennung ab. So kommt es, dass Ennepetal nicht nur vier Straßen nach honorigen NS-Widerstandskämpfern benannte, sondern auch eine Straße dem seinerzeit aktiven SA-Mann und NSDAP-Mitglied Textor widmete und im Wissen um seine Vergangenheit diese Widmung per Beschluss ausdrücklich bestätigte.

In den Schwerpunkt des Buches passt dieser Dr. Textor trotz anderer Ankündigung doch etwas hinein: Als Kulturrat nämlich war er während der deutschen Besatzung in Brüssel für die Bemühungen um die Germansierung der Wallonen mitverantwortlich. Deshalb heißt der Artikel von Pfeil über ihn auch „Von einem ,Westforscher‘ der zweiten Generation“. Textor war nach dem Krieg übrigens nicht nur Bürgermeister, sondern auch Direktor des Gymnasiums und Schulbuchautor.

„Geschichte im Westen“. Zeitschrift für Landes- und Zeitgeschichte. Jahrgang 30 (erschienen im Dezember 2015): „Europa und Region – Nordrhein-Westfalen, Belgien und die Niederlande“. Klartext-Verlag Essen, 226 Seiten, 25 Euro.




Schrecklich nette Familie: „Umbettung“ von Jens Albinus in Köln uraufgeführt

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Die Familie sitzt um das hölzerne Podest wie um einen überdimensionalen Küchentisch. Darüber hängen dänische Designerlampen. Doch die geschmackvolle Idylle (Bühne und Kostüme: Rikke Juellund) trügt: In dieser Patchwork-Familie ist nichts harmonisch.

Anlässlich der Umbettung der verstorbenen ältesten Tochter treffen Lili und Jorgen und ihre Töchter Katie und Liv nach langer Zeit wieder zusammen. Sofort gibt es Streit. Doch die wahren Familiengeheimnisse werden lieber verschwiegen…

Das neue Stück des dänischen Schauspielers und Dramatikers Jens Albinus wurde jetzt, von ihm selbst inszeniert, am Schauspiel Köln uraufgeführt. „Umbettung“ ist seine zweite Arbeit für das Haus und beleuchtet die Befindlichkeitsstörungen einer europäischen Mittelschichtfamilie. Doch vielleicht ist das zu zaghaft ausgedrückt, denn unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert latent die Gewalt. Erst boxt Vater Jorgen den Freund seiner Jüngsten spielerisch in die Seite – plötzlich wird er rabiat, obwohl er eigentlich ein kranker Mann ist.

Ronald Kukulies spielt diese Gratwanderung zwischen selbstmitleidig und brutal grandios. Man kann sich durchaus vorstellen, dass er vor Jahren der ältesten, bei einem Unfall verunglückten Tochter Alma zu nahe gekommen ist. Doch dieser Verdacht wird nie wirklich ausgesprochen, die Geschichte nie aufgearbeitet in dem knapp zweistündigen Theaterabend. Und doch steht das Ungesagte unmittelbar und mächtig im Raum, denkt man sich als Zuschauer diesen Missbrauch und die rabiate Reaktion von Mutter Lili unweigerlich hinzu. Das ist eine magische Qualität dieses Textes, der vordergründig so normal und alltäglich daherkommt.

Denn Lili, berühmte Fotografin, hat es, während ihre drei Töchter (von drei verschiedenen Männern) klein waren, nie lange zu Hause ausgehalten. Ihr war das zu eng, zu familiär und vielleicht wollte sie eben auch nicht hinsehen, dass ihr Mann die Älteste ein wenig zu sehr mochte? Ihre Schuldgefühle münzt sie aber sofort in Aggressionen um, brüllt Jorgen an, der ihr nach vielen Jahren Trennung in nur wenigen Minuten sofort so schrecklich auf die Nerven fällt, dass sie sich erst einmal von Toby einen Joint schnorren muss. Birgit Walter spielt diese immer noch arrogante und egozentrische Frau so realistisch wie im Fernsehkrimi. Ihre Eloquenz aber auch ihre Unsicherheit, die sich offenbart, wenn sie es nicht einmal schafft, ihre Töchter einfach in den Arm zu nehmen.

Katie (Melanie Kretschmann), die Mittlere, hat es eigentlich am Schlimmsten erwischt: Jede Zurückweisung der Mutter führt zur prompten Selbstverletzung: Mit dem Feuerzeug versengt sie sich den Unterarm, mit dem Autoschlüssel ritzt sie sich die Handgelenke. Nur Liv (Henriette Nagel), die Jüngste, will auf heile Welt machen: Trauerrituale durchführen, alte Filme schauen, zusammen essen. Doch auch sie kann dem Familienwahnsinn schlecht entkommen. Statt mit Freund Toby (Sean McDonagh) eine eigene Zukunft zu planen, lässt sie sich vom Vater einwickeln und bleibt bei ihm. Da hilft auch ihr verzweifelter Versuch nicht, das Haus anzuzünden, um Geld von der Versicherung zu bekommen und damit in die Unabhängigkeit zu starten. Denn ihr Vater verschenkt dieses gleich an die Flüchtlingsinitiative nebenan, der er zuvor noch misstrauisch gegenüberstand. Er fürchtete immer, Kabelbrände von dort würden auf sein Haus überspringen. Dabei hat seine eigene Familie den Brand selbst gelegt.

Fast hat man den Eindruck, Albinus‘ abgründiges Kammerspiel sei zu perfekt gebaut. Das Netz, in das diese Familie verstrickt ist, wirkt so eng geknüpft, dass es beinahe unrealistisch anmutet. Nur eines nutzt der Autor und Regisseur nicht: Videofilme. Wir hören nur das Geräusch des ratternden Projektors, wie er die Super-8-Streifen von damals abspielt, die Bilder werden uns vorenthalten. Doch das verstärkt nur die Horrorvorstellungen in unseren Köpfen…

Infos und Termine: www.schauspielkoeln.de

 




Einsam auf der Höhe der Kunst: Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein - und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein – und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Nein, eine optimistische Oper ist Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ nicht. Auch wenn der Komponist selbst in seinem Bandgeiger aus Amerika eine Figur des Urwüchsigen, Ursprünglichen und Freien gesehen hat. Roman Hovenbitzer inszeniert am Theater Hagen – im Vorgriff auf den 25. Todestag des Komponisten – die fast neunzig Jahre alte Erfolgsoper äußerlich als Künstlerdrama, im Kern aber als ein Stück über gespaltene Welten und Selbsttäuschungen.

Max, der Komponist, ersteigt einen Gletscher, bewegt sich auf der Bühne von Jan Bammes in einem weiß erstarrten, zerklüfteten Gebirge aus gestapelten Partituren vor einer abweisend geschlossenen, riesigen Eiswand. Er steht auf der Höhe seiner Kunst, aber erstarrt und einsam. Die Begegnung mit der Sängerin Anita imaginiert er vorher: Er stellt sie in einem Bühnenmodell nach. Ein Theater – Raum der Träume, der tieferen Wahrheiten?

Das Hotel, in das die beiden, mit einer aufkeimenden Liebe im Herzen zurückkehren, ist weniger ein Ort als ein Raum: ein Flügel, das schwer bewegliche Instrument mit den genau gestimmten Tönen, im Hintergrund klassische Statuen, das uralte geistige Erbe Europas. Ganz anders das Pariser Hotel, der Lebensraum Jonnys: Der Musiker aus der neuen Welt schwebt ein auf einer flirrenden Kugel, das Saxofon in den Händen – das leichte, transportable Instrument mit den „schmutzigen“ Tönen und der aufreizenden Form. So markiert Bammes – unterstützt durch seine eigenen Kostüm-Kreationen – Schauplätze als sinnliche Verdichtungen geistiger Zustände und schafft Räume, wie sie nicht häufig glücken.

Natürlich ist der Auftritt Jonnys eine Anspielung auf das Plakat der Ausstellung „Entartete Musik“ der Nazis, auf dem das Zerrbild eines schwarzen Menschen ein Saxofon bläst. Aber der Jonny in Hagen ist nicht schwarz – nicht wegen einer fragwürdigen political correctness, sondern weil er es heute als symbolische Figur nicht sein muss, um verstanden zu werden.

Dieser Jonny ist kein Sympathieträger, sondern ein kleiner Gauner. Er nimmt sich, was er braucht; er beansprucht alles, was „gut ist“, für sich. Jonny lebt die Entwurzelung, „Heimat“ ist für ihn eine flüchtige Erinnerung. Sein Umfeld ist das Hotel, das Symbol der unsteten Existenz moderner Menschen. Seine Liebe ist die flüchtige sexuelle Begegnung; seine Musik der Katalysator der neuen Zeit.

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Dem Team des Theaters Hagen gelingt es, Kreneks Werk aus dem Ruch der „Zeitoper“ zu befreien: Was 1927 Ahnung, Hoffnung, Faszination war, ist heute nicht nur Rückschau, sondern lässt an die Bruchstellen der Gegenwart und die Unsicherheiten der Zukunft denken: Es gibt sie immer noch, die Leute wie den Stargeiger Daniello, die selbstgefällig das kulturelle Erbe für sich ausschlachten, oder die Manager, die bei der Kunst vor allem das tolle Geschäft im Auge haben.

Aber dieser Jonny bleibt nicht in einem selbstreferenziellen „Künstlerdrama“ stecken. Im Blick auf einen ambivalenten Freiheitsbegriff, aber auch in der Kritik an einem dualistischen Begriff vom Leben steckt Relevanz für die Gegenwart. Wenn der Chor am Ende den Anbruch einer neuen Zeit, die Überfahrt ins unbekannte Land der Freiheit besingt, setzt Bammes den Menschen die patinagrünen Strahlenkronen der Freiheitsstatue auf. Da trifft sich die Hagener Inszenierung mit derjenigen, die Frank Hilbrich und Volker Thiele 2014 für das Nationaltheater Weimar erarbeitet hatten. Der Gletscher reißt auf und verschwindet am Ende im Dunkel einer Sternennacht, deren blinkende Lichter nur billige Goldfolie sind. Und Max springt in letzter Sekunde auf den Zug auf, mit dem Anita Richtung Amerika abreist. Ob es der Zug ist, „der ins Leben führt“, bleibt offen.

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von "Jonny spielt auf" am Theater Hagen. Foto; Klaus Lefebvre

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Musikalisch können Florian Ludwig und das Philharmonische Orchester Hagen ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen. Die vielen filigranen Details sind sorgfältig ausgearbeitet, herbe Akkorde werden nicht geglättet, spannungsreiche Synkopen und elektrisierende Rhythmen haben Biss und Kontur. Aber auch Momente Korngold’schen Melos kommen nicht zu kurz. Die Musiker haben das Gespür für die Elemente, die Krenek aus Foxtrott und Swing seiner Zeit in seine musikalische Sprache überträgt. Eine „Jazz-Oper“ ist „Jonny spielt auf“, gegen alle immer noch auftauchenden Klischees, deswegen nicht.

Hagen kann mit einer luxuriösen Besetzung aufwarten: Edith Haller kommt zwischen Paris, Wien und den Bayreuther Festspielen (Elsa in „Lohengrin“) in Hagen vorbei und singt mit leuchtender, voluminöser, nur in der Höhe ein wenig angerauter Stimme die Sängerin Anita, schwankend zwischen besorgter Liebe und lockender Karriere.

Den „grübelnden Intellektuellen Mitteleuropas“ (Krenek) verkörpert Hans-Georg Priese mit kraftvollem, festem Tenor. Kenneth Mattice setzt für den Jonny viel körperliche Agilität und einen angemessen spröde timbrierten Bariton ein. Maria Klier gewinnt die Herzen als kecke Yvonne. Andrew Finden (Daniello), Rainer Zaun (Manager) und Keija Xiong (Hoteldirektor) komplettieren das Ensemble auf einem durchgehend qualitätvollen Niveau.

Es hat etwas vom Bild des geigenden Todes, wenn Jonny auf seiner gestohlenen Amati der alten Welt das Farewell spielt, während auf der Bühne ein Traum zerbricht und die szenische Klammer zum Beginn hergestellt wird – ein überraschendes Bild, das für Deutungen offen ist …

Wieder ist dem Theater Hagen in seiner seit mehreren Jahren gepflegten Serie von Opern des 20. Jahrhunderts ein großer Abend gelungen. Und erneut der Nachweis, wie wichtig solche kleineren Bühnen für das kulturelle Leben eines Landes sind. Bei den politisch derzeit aktiven Kulturvernichtern wird das – wie andere Hagener Erfolge, von Previns „Endstation Sehnsucht“ (2008/09) über Carlisle Floyds „Susannah“ (2011/12) bis Samuel Barbers „Vanessa“ (2014/15) – wohl wenig Eindruck hinterlassen. Zu Optimismus besteht kein Anlass.

Weitere Aufführungen: 30. Januar, 4., 14., 19., 24. Februar, 9. März, 2. April, 29. Mai. Tickets: (0 23 31) 207-3218. www.theaterhagen.de




Von vier Liebhabern umworben: Händels seltene Oper „Partenope“ begeistert in Essen

„Partenope“ gehört zu jenen lang vergessenen Opern Georg Friedrich Händels, die erst in den letzten Jahren Bühne und Tonträger erobert haben. Fünf Mal ist sie inzwischen eingespielt worden. In der Essener Philharmonie war nun die lyrisch-heitere Oper mit der Besetzung der jüngsten CD, erschienen im November 2015, zu hören – mit zwei Ausnahmen: Philippe Jaroussky und der Dirigent Riccardo Minasi mussten absagen. Traurigerweise haben beide ihre Väter durch den Tod verloren.

Ein nobler Zug: Der französische Counter hat sich in einer persönlichen Botschaft beim Essener Publikum, verlesen vor dem Konzert von Intendant Hein Mulders, eigens entschuldigt. Mit seinen guten Erinnerungen an vergangene Auftritte in Essen verbindet er die Hoffnung, bald wiederzukommen. Lawrence Zazzo war für Jaroussky eingesprungen; das Orchester „Il Pomo d’Oro“ leitete der neue Chefdirigent, der 1988 geborene Maxim Emelyanychev.

Händels „Partenope“ ist ein ungewöhnliches Werk; keine der Seria-Opern mit problembeladenen Helden, tragisch Liebenden, verblendet Scheiternden. Sondern fast eine barocke Operette, heiter, mit lebensweisem Humor und lyrischen Empfindungen. Dabei aber nicht ohne Tiefe der Gefühle. Ein Werk, das eher mit feinem Stift gezeichnet als mit schwerem Pinsel gemalt erscheint.

Lawrence Zazzo hatte die Rolle des Arsace übernommen. Der amerikanische Sänger war zuletzt im Amsterdamer Concertgebouw in Händels "Semele" und "Giulio Cesare" zu hören. Bei den Schwetzinger Festspielen singt er im April in Francesco Cavallis Oper "Veremonda". Foto: Justin Hyer

Lawrence Zazzo hatte die Rolle des Arsace übernommen. Der amerikanische Sänger war zuletzt im Amsterdamer Concertgebouw in Händels „Semele“ und „Giulio Cesare“ zu hören. Bei den Schwetzinger Festspielen singt er im April in Francesco Cavallis Oper „Veremonda“. Foto: Justin Hyer

Partenope ist in einer beneidenswerten Lage: Von vier Männern wird die legendäre Gründerin von Neapel umworben. Da ist der schüchterne Armindo, der seine Liebe kaum zu gestehen wagt. Der selbstgefällige Arsace, der sich schon am Ziel aller Wünsche wähnt. Der Fürst des Nachbarvolks, Emilio, der mit seiner ganzen Armee anrückt, um Eindruck zu schinden. Und Eurimene, der als Schiffbrüchiger kommt, in Wirklichkeit aber die verlassene Ex von Arsace ist. Auf der Suche nach ihrem ungetreuen Liebhaber lässt sie sich auf das gewagte Travestie-Spiel ein.

Wen wird Partenope nehmen? Ihr Herz gehört Arsace, bis die entsetzte Königin vernehmen muss, es habe da ein Vorleben gegeben: Eine zyprische Prinzessin klagt ihn der Untreue an. Sie weiß allerdings nicht, dass der Überbringer der Duell-Forderung, Eurimene, niemand anders ist als die verlassene Rosmira. Das wird erst am Ende durch eine pikante Szene offenbar, die zeitgenössische Beobachter als Geschmacksverirrung getadelt haben.

Heute hat Händel die Lacher auf seiner Seite – mehr noch, die Musikliebhaber auch. Denn er nutzt diese ein wenig romantische, ein wenig komische Handlung für feinsinnige Musik. Zieht alle Register seiner Erfindungsgabe und seiner Formbeherrschung. Ermöglicht mit Traversflöte, Oboen, Hörnern und einer Trompete vielfältige musikalische Farben. Und schreibt schwermütige Melodien und virtuos überdrehte Koloratur-Ketten. Die wären 1730 in London gut angekommen, hätte Händel seinen Kastraten-Star Senesino einsetzen können. Der Ersatz Antonio Maria Bernacchi war in Tonumfang und Beweglichkeit der Partie offenbar nicht gewachsen. Erst nach der Rückkehr Senesinos stellte sich ein gewisser Erfolg ein.

Kate Aldrich begeisterte in der Travestierolle der Rosmira. Foto: Olivier Allard

Kate Aldrich begeisterte in der Travestierolle der Rosmira. Foto: Olivier Allard

Die benötigten erstklassigen Sänger waren in der Essener Aufführung – Teil einer Tournee mit Aufführungen in Paris, Amsterdam und Pamplona – präsent: Der Altus Lawrence Zazzo, für Philippe Jaroussky eingesprungen, bietet als Arsace männlich markantes Auftreten und zärtliche Zwischentöne. Zazzos Stimme ist steigerungsfähig, klanglich ausgewogen und fähig zu differenzierter Expression. Das zeigt sich im klug durchgestalteten Duett mit Rosmira und der Arie „Sento amor“ im ersten Akt – und bei den souveränen Verzierungen der mit Recht bejubelten Finalarie des zweiten Aktes, „Furibondo spira il vento“.

Karina Gauvin, anfangs noch ein wenig beengt, krönt als Partenope den Glanz ihrer Erscheinung in Blond und Rosa mit flüssiggoldenem Timbre. Sie gehört zum Glück nicht zu jenen weißlich-flachen Stimmchen, die so gerne für historisch korrekt gehalten werden. Die Kanadierin projiziert einen substanzvollen Ton in den Raum, ist in lyrischen Gefilden ebenso zu Hause wie in den anspruchsvollen Verzierungen und der höhensicheren Dramatik von „Io ti levo l’impero dell’armi“.

Der Tenor John Mark Ainsley lässt sich als Emilio von den Kaskaden von Tönen, die ihm Händel zumutet, nicht beeindrucken. Auch nicht von der freundlich abweisenden Partenope: Er wisse zu kämpfen, gibt er ihr kund – und beglaubigt seine Haltung in einer glanzvollen Arie wie „Anch’io pugnar saprò“. Im zweiten Akt, als das barbarische Schicksal seine Hoffnungen durch eine Niederlage im Kampf verraten hat, lagert Ainsley die erregten Koloraturketten auf einem schier endlosen Atem.

Maxim Emelyanychev, der neue Chefdirigent, leitete sein Orchester "Il Pomo d'Oro". Foto: Emil Matveev

Maxim Emelyanychev, der neue Chefdirigent, leitete sein Orchester „Il Pomo d’Oro“. Foto: Emil Matveev

Die junge ungarische Sopranistin Emöke Barath ist als Armindo ein Wunder an Empfindsamkeit und Schönheit des Tons. Ihre erste Arie „Voglio dire al mio tesoro“ hat einen Hauch mozartischer, leuchtender Schwermut. Dieser stille Schmerzenston prägt auch die Arie der (verkleideten) Rosmira „Arsace, o Dio“ im dritten Akt. Darin entzückt Kate Aldrich mit der Wärme und Geläufigkeit ihrer Stimme, wie sie im ersten Akt in der mit Hörnern und Oboen reich instrumentierten Arie „Io seguo sol fiero“ mit entschiedenem Ton, tragender Tiefe und entspannter Phrasierung ein Paradebeispiel entwickelter Gesangskunst gibt. Victor Sicard schließlich macht aus der zweitrangigen Partie des Ormonte mit seinem streng fokussierten Bariton ein erstrangiges Gesangserlebnis.

Das Orchester Il Pomo d’Oro überzeugt weniger durch seinen manchmal dünn-flachen Streicherklang, eher durch flexibles Agieren und feine Balance. Maxim Emelyanychev, universal begabte Dirigierhoffnung aus Russland, befeuert das Ensemble mit entschiedener Geste. Am Ende baden Händels Figuren in Liebe und Freundschaft, das Publikum in Wohlgefallen, die Musiker im Beifall.

Wer sich für „Partenope“ interessiert: Das Goethe-Theater in Bad Lauchstädt zeigt zwei Aufführungen einer eigenen Produktion am 20. und 21. Mai 2016. Tickets: (0 34 635) 7 82 16.




„Das Lachen der Täter“: Klaus Theweleits Gedanken zur monströsen Mordlust

Wir erinnern uns schemenhaft: Damals, ab 1977, haben praktisch alle links bewegten Leute Klaus Theweleits „Männerphantasien“ gelesen oder wenigstens darin geblättert und sich die Köpfe heiß geredet.

Da ging es um soldatisch zugerichtete Männerkörper und ihre Panzerungen, um ihre psychophysische Angst vor Fragmentierung und Auflösung, die sie dann als entgrenzte Gewalt nach außen kehrten – nicht nur in beiden Weltkriegen. So ungefähr. In zwei Bänden mit 1174 Druckseiten war das natürlich alles ungleich differenzierter und vielfältiger ausgeführt.

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit (73) ist sich offenkundig treu geblieben. Noch immer wandelt er konsequent auf den Spuren seines einstigen Kultbuches, dessen Grundlinien er mit neuen Akzenten bis in unsere Gegenwart fortführt. Jetzt war er zu Gast in der „Blackbox“, einer an- bis aufregenden Lese- und Gesprächsreihe im Dortmunder Schauspielstudio, wo er seinen im März 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ vorstellte, der bis zum Attentat auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ (Januar 2015) reicht. Theweleit wirkte dabei nicht so sehr wie ein funkelnder, sondern eher wie ein bedächtiger, bedachtsamer Intellektueller.

Universelle Gültigkeit

Ein Ausgangspunkt des Buches ist das Gelächter des Anders Breivik, der 2011 in Oslo und vor allem auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss und dabei immer wieder lauthals lachte. Ein wahnwitziger Einzelfall? Gewiss nicht. Denn Theweleit zeigt, dass das Phänomen des lachenden (Massen)-Mörders geradezu universell gilt. In allen Weltgegenden und vielen historischen Zusammenhängen lassen sich solche monströsen Ausbrüche verfolgen.

Klaus Theweleit hat denn auch zahllose abgründige Vorfälle gesammelt, bei denen einem der Atem stockt. Wem ist schon gegenwärtig, dass in den 60er Jahren in Indonesien Hunderttausende, ja Millionen bestialisch als „Kommunisten“ ermordet wurden – mit staatlicher Lizenz und Billigung, vielfach ausgeführt von „ganz normalen“ Zivilisten. Später haben sie solche straffreien Massaker lachend gefeiert.

Wähnten sich SS-Schergen unter ihresgleichen, so haben auch sie einander lachend mit ihren Untaten geprahlt. Ganz ähnlich im mörderischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, wo der massenhafte Mord an der Tutsi-Minderheit zuweilen regelrecht als Unterhaltungsprogramm der totalen Enthemmung inszeniert wurde. Und so weiter, kreuz und quer über den Globus, vor- und rückwärts durch die Zeiten.

„Volksfeste des Tötens“

Theweleit schildert natürlich nicht nur die bloßen Phänomene, sondern sucht eine Theorie zu entwickeln, die in Dortmund freilich nur in Stichworten anklingen konnte: „Volksfeste des Tötens“, völlige Absorbierung durch die eigene Tat, Berufung auf ein „höheres Recht“, Entstehung eines schier unverletzlichen kollektiven „Überkörpers“, Durchbruch zu einer „neuen Körperlichkeit“, Grenzüberschreitung und gesteigertes Leben durch den Tötungsakt…

Wer es genauer wissen will, lese am besten im Buch nach. Wobei Theweleit, zumal in der von Alexander Kerlin (Dortmunder Schauspiel-Dramaturg) moderierten Fragerunde mit Publikum, auch schon mal punktuelles Nichtwissen eingesteht. Nicht alle Zusammenhänge sind wirklich zweifelsfrei geklärt; sofern das überhaupt menschenmöglich ist.

Erektion im Blutrausch

Jedenfalls stellt Theweleit auch äußerst schmerzliche Fragen, wie beispielsweise die, warum Täter bei Vergewaltigungen, die mit grausamsten Verstümmelungen einhergehen, überhaupt eine Erektion haben. Nicht Sexualität, sondern der Blutrausch unumschränkter Machtausübung scheint in solchen Extremfällen den tödlichen Trieb zu steigern. Eine wahrlich finstere Erkenntnis.

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Nach all den schrecklichen Beispielen hätte man meinen können, Theweleit sehe keinerlei Ausweg aus der ubiquitären Gewalt. Doch gegen Schluss warf er doch noch einen Hoffnungsanker aus. Er hält dafür, dass wir Heutigen und Hiesigen im Großen und Ganzen doch etwas beherrschter und zivilisierter seien als frühere Generationen – nicht zuletzt, weil Kleinkinder viel seltener durch Prügelstrafen fürs Leben verängstigt werden.

Auch beklagt Theweleit zwar das lachlustige „Happy Slapping“ (genüsslich mit Handy gefilmte Schüler-Gewalt), glaubt aber, dass etwa Schulhofschlägereien in den 50er und 60er Jahren viel härter und häufiger gewesen seien als jetzt. Da hört man schon die Skeptiker raunen: Alles nur Firnis, im Zweifelsfalle nicht haltbar…

Wie bitte? Ob Theweleit auch die unvermeidliche Frage nach Silvester in Köln gestellt worden sei? Aber ja. Doch da wich er wohlweislich aus und ließ lediglich vernehmen, dort habe sich ein ungutes Machtvakuum aufgetan.

Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter. Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust“. Residenz Verlag. 248 Seiten, 22,90 Euro.




Schöner Skandal: Dortmunds Schauspielchef Voges mischt mit „Freischütz“ Hannover auf

Ein "Freischütz" sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Ein „Freischütz“ sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Das ist doch schön! In stumpf gewordenen Zeiten, in denen all die vaginal-anal-erektionale Blut-Sperma-Fäkalmetaphorik des postzeitgenössischen Theaters nur noch Augenrollen oder Schulterzucken hervorruft, schafft die Oper einen Skandal. Richtig befreiend, dass sich sogar die Politik wieder einmal mahnend zu Wort meldet. Wunderbar, dass die CDU-Ratsfraktion in Hannover die Schätze, die uns Dichter und Komponisten hinterlassen haben, „ins Niveaulose und Beliebige“ gezerrt sieht. Inzwischen gibt es sogar eine Anfrage der Landtags-CDU ans niedersächsische Kultusministerium. Und in der Kulturszene Hannovers hält die Debatte an.

Besser hätte es nicht laufen können: Wenn, wie maliziös orakelt, mit einem kleinen Skandal kalkuliert wurde, ist die Rechnung aufgegangen: Mit Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ in der Form, wie sie der Regisseur übriggelassen hat, hat’s die Niedersächsische Staatsoper Hannover wieder einmal übers Feuilleton hinaus auf den Presse-Boulevard geschafft.

Der Mann hinter der Aktion heißt Kay Voges und sorgt als Intendant des Schauspiels in Dortmund seit 2010 für erhöhte Aufmerksamkeitswerte. Nach fünf Jahren hat er es geschafft, seine Bühne in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ auf Platz zwei hinter dem Burgtheater Wien zu platzieren und mit Bühnen wie der Berliner Schaubühne gleichzuziehen. Seine erste Opernregie, Wagners „Tannhäuser“ 2013 am Dortmunder Opernhaus, schwankte zwischen Bildkaskaden und Hintersinn.

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld – Da die Staatsoper Hannover keine honorarfreien Fotos zum „Freischütz“ zur Verfügung stellt, verzichten wir aus finanziellen Gründen auf eine aktuelle Bebilderung der Rezension.

Die deutsche Romantik scheint den aufstrebenden Theatermann nicht loszulassen. Scharfsichtig hat er im „Freischütz“ das Potenzial erkannt, auf das sich virtuos die Stilmittel postdramatischen Theaters übertragen lassen: die offene Heterogenität des Librettos, der aus der französischen Opéra comique herkommende Wechsel zwischen gesprochenem Text und Gesang, der freie, kühne Einsatz der Formen. Und dazu die Reizwörter, die sich seit jeher mit Webers Oper verbinden: national, deutsch, Wald, Volk, Jagd. „Der Freischütz. Die deutsche Nationaloper“ prangt auch auf dem Vorhang, bevor jemand zaghaft um Hilfe ruft.

Das dünne Stimmchen gehört zu einem wunderlichen Gnom: „Okidoki“ sagt der Kleine, halb Gollum, halb Knetmännchen, mit Kartoffelnase, riesigen Segelohren und dicken Wurstfingern. Die Zentralgestalt des Werkganzen steht vor uns. Eine Comic-Figur, allein vor dem Vorhang. Während der Ouvertüre wird sie auf einem Video durch dunkle Gewölbe deutschen Wesens streifen, vorbei an schemenhaft beleuchteten Bildern: Bismarck, die Gebrüder Grimm, Wagner, Adenauer. Später entpuppt sie sich als das schöpferische Prinzip: „Samiel versucht sich an einer deutschen Nationaloper“ heißt es über der Inhaltsangabe im Programmheft.

Peinvolle Kreation einer „Nationalopaa“

Böse ist dieses Wesen nicht, wenn es aus unartikulierten Lauten stockend „national“ und „Nationalopaa“ formt, wenn es in einer der überbordend vielen Projektionen Leinwände bemalt und über Europakarten braune Brühe verschmiert, schwärmerisch Musik mitdirigiert, sich vor Pein am Boden windet, verzückt oder gequält die Augen verdreht oder die Zähnchen fletscht – alles in Großaufnahme und teils von der Live-Cam mitverfolgt. Lustig kann es sein, wenn es die Handlung anhält, mit den Darstellern schimpft und hadert – oder Kaspar aufklärt, er sei „der Selbstbezug des denkenden Subjekts als Möglichkeit einer Rückkehr vom Äußeren zum Eigenen“. Max schreit an dieser Stelle: „Mir reicht’s!“ In der Premiere, Berichten zufolge, tönte aus dem Publikum: „Uns auch.“

Der Schöpfer-Gnom, mit dem die Dortmunder Schauspielerin Eva Verena Müller eine Glanzleistung liefert, ist eine Figur, in der die Aspekte von Komponist, Librettist und Regisseur verschmelzen. Genau wie in der Form von Theater, die Voges im Kopf hat. In der Wolfsschlucht-Szene, deren Beginn mit dem Vollmond ein romantisches Symbol zitiert, trinkt das Wesen blutige Milch und mutiert mit kahlem Schädel und Pimmelchen unterm Hemd zum Samiel, der das Zaubergebräu mischt und am Ende eine braune Partitur gebiert: den „Freischütz“. Am Ende markiert es mit schwarz-rot-goldener Bommelmütze exakt die Bruchstellen, an denen das Finale ganz anders hätte weitergehen können, und führt den Eremiten in weißem Wallegewand mit silbernen Haaren und Bart auf die Bühne. Kein Problemlöser, sondern der Gott der Kitschbilder frommer Andacht. „Fest auf die Lenkung des Ewigen“ gebaut wird hier nicht. Die Vision sieht anders aus: Ein Dunkelhäutiger schwenkt die Deutschlandfahne.

Dazwischen überzieht Voges den „Freischütz“ mit einer Bilderflut, gegen die Christoph Schlingensiefs „Parsifal“ minimalistisches Zeichentheater war. Voxi Bärenklau, 2004 in Bayreuth dabei, liefert Wogen bewegter Bilder, darunter in irrwitzigem Staccato geschnittene Fetzen aus der aktuellen Berichterstattung von den Pariser Anschlägen bis zu Politikerreden, Nazi-Transen oder Capri-Sonne zullenden Zwergen. Was das Repertoire an „deutschen“ Zerrbildern hergibt, flimmert über einen Gazevorhang oder die Projektionsflächen des Bühnenbaus von Daniel Roskamp, der unverkennbar an Aleksandar Denićs Tankstelle aus dem Bayreuther Castorf-Ring erinnert. Live-Kameras (Jan Voges, Vlad Margulis) kehren das Innere des traurigen „Okidoki“-Vergnügungsetablissements nach außen: Die Gleichzeitigkeit der Szenen als Metapher medial überfluteter Wahrnehmung.

Kastrationsangst und Potenzprobleme

Damit’s auch richtig sitzt, verzichtet Voges nicht auf erläuternde Schriftprojektion. Deutsche Freiheit, ist zu lesen, wird am Hindukusch verteidigt. Der Sternschuss zu Beginn ist ein Brandanschlag: Im Hintergrund laufen die entsprechenden Daten über einen Bildschirm, während Max, ein dicklicher Stubenhocker, von Neonazigestalten mit Baseballschlägern bedrängt wird. Kilian, in Fußballtrikot, reißt ihm die Hose runter – am Schirm ist „Kastrationsängste und Potenzprobleme“ zu lesen.

Und dann folgt das Video, das die Staatsoper veranlasst hat, das Besucher-Mindestalter auf 16 festzulegen: Max liegt auf einem Seziertisch und nachdem drei Nazis zu „Wir lassen die Hörner erschallen“ lustvoll steife Glieder bearbeitet hatten, wird der Penis des unglücklichen Jägers Opfer einer Schere. Wie in einer schlecht gemachten Retusche eines Fünfziger-Jahre-Films strömt das Blut – am Ende der Szene wankt dem Sänger sein Double mit blutiger Boxershorts entgegen.

Ohne Zweifel: Kay Voges inszeniert in Hannover seinen „Freischütz“ auf der Höhe des aktuellen Theaters. Er ist freilich nicht der erste. Zu erinnern ist an die Berliner Arbeit Calixto Bieitos, vor allem aber an den „Freischütz“ Sebastian Baumgartens 2013 in Bremen. Der hat bei der Ausleuchtung düsterer Abgründe der deutschen Seele Faschismus und Kolonialismus aufzudecken versucht. Das führte zu fesselnden, beklemmende Bildern, zeigte aber auch, dass Webers Werk nur begrenzt und ziemlich zurechtgebogen dazu taugt, mit der deutschen Geschichte ins Gericht zu gehen.

Vordergründige Eindruckswerte

Ähnliches muss gegen Voges‘ Gegenwartsbefragung auf Hannovers Bühne eingewandt werden. Sicher, wenn die Jäger von ihrem Vergnügen singen, das die Glieder erstarket, wenn sie männlich‘ Verlangen und volle Pokale besingen, dann gibt dieser Hit der Opernmusik, unterlegt mit einem Video von einer Pegida-Demo mit lauter mürrischen Gesichtern – Linksautonome dürften allerdings auch nicht fröhlicher dreinblicken, wenn sie gegen „Faschisten“ marschieren –, ein wirkungsvolles Bild gefährlicher politischer Dumpfheit. Doch über die Ebene eines scheinbar unmittelbaren Einleuchtens kommen solche Regiemittel nicht hinaus.

Das ist das Problem: Voges‘ bilderreiches politisches Statement gegen das „Nationale“ kommt nicht über vordergründige Eindruckswerte hinaus und trägt außer hochemotionalisierter Clips nichts zur Analyse des Phänomens bei. Es kann auch Webers oder Kinds Begriff des „Nationalen“ nicht adäquat einholen oder in die Gegenwart übersetzen. Denn damals ging es – mit der französischen Kriegswalze im Hintergrund – um eine freie deutsche Nation, gegen die Willkürherrschaft der Fürsten in Kleinstaaten, gegen Zensur und Unfreiheit, für die Mitbestimmung des Volkes. Alles andere als eine „allzu simple Heilsbotschaft“, wie sie Voges in einem Interview im Programmheft dem Eremiten unterstellt. Das Werk wird auch derzeit von niemandem als „Zeugnis eines dumpf-aggressiven Nationalgefühls“ missbraucht, wie Voges argwöhnt. Der Schuss geht daneben – und der Eindruck bleibt, hier werde Webers Werk als Vehikel für ein arg durchsichtiges politisches Statement benutzt.

Das „Nationale“ ist einer der Diskurspunkte in einer Regiearbeit, die sich ansonsten der Hermeneutik verweigert. Bewusst – und darin wieder auf der Höhe der Zeit, wie etwa in der bildenden Kunst schon lange – bleibt der Weg offen, den sich der Zuschauer durch den Dschungel der Impressionen bahnt. Wo die Grenze zu Beliebigkeit liegt, ist schwer auszumachen, denn Voges ist, so anfechtbar sein Ansatz auch sein mag, in der Setzung seiner Bildwelten präzis. Ein anderes Thema, das sich unschwer festmachen lässt, ist der Sex: Dazu fällt Voges noch weniger Substanzielles ein. Dass „Leid oder Wonne“ in Maxens „Rohr“ ruhen, darüber feixten die Achtklässler schon lange, die jetzt aus dem Hannoveraner „Freischütz“ ausgeschlossen sind. Und die „Kastrationsangst“ mit den unsichtbar grollenden Mächten zu assoziieren, die Max im ersten Akt fürchtet, hat mit Sigmund Freud oder Jacques Lacan wohl wenig zu tun.

Musik gibt’s dann auch noch

Ach so – Musik gibt’s ja auch noch! Karen Kamensek müht sich mit dem Niedersächsischen Staatsorchester redlich, die Marginalisierung zu vermeiden; von einer gleichwertigen Rolle der Musik zu sprechen, wäre in Anbetracht der Bildfluten vermessen. Sie wird vom Träger des Ausdrucks zur effektsteigernden Untermalung gewandelt. Mehr als eine ordentliche Wiedergabe mit kühlen, spröden Farben war nicht drin. Die Sänger sind zu bewundern: Die Komplettbespielung der Bühne nimmt wenig Rücksicht auf die Stimmen. Häufige Close-ups fordern die Präzision des Minenspiels heraus, lassen – etwa im Falle Eva Verena Müllers – detaillierte dentalmedizinische Studien zu. Eric Laporte bewältigt als Max den Wandel von der Strickweste zur Uniformjacke bewundernswert, kämpft in den Soloszenen mit der leichten Formung der Töne und einem breit schwingenden Vibrato.

Dorothea Maria Marx muss als Agathe profilarm bleiben und singt kühl brillant, Ania Vegry steht als Ännchen am Ende für einen Dreier mit Max bereitwillig zur Verfügung und zeigt lichte, herzige Töne. Tobias Schabel, mit roter Zwergen-, Jakobiner- oder Zipfelmütze, haust in einem Kabuff mit einem Bild Beate Zschäpes an der Wand, singt mit ausgezeichnet positioniertem, lockerem Bassbariton einen Kaspar, der szenisch beinah alle Konturen verloren hat. Byung Kweon Yun übt sich als Kilian in vulgärem Auftreten; Stefan Adam ist als Ottokar ein schmieriger General wie aus einem Südamerika-Krimi, Michael Dries ein glatter Kuno, Shavleg Armasi der harmlose Eremit mit schöner Stimme. Der Chor (Leitung: Dan Ratiu) schmettert mit martialischem Ton das Jägergegröle, dass es nur so schallt: Trefflich bedient!

Weitere Vorstellungen: 31. Januar, 13. Februar, 11., 16. und 19. März 2016. Info: http://www.staatstheater-hannover.de/oper/index.php?m=244&f=03_werkdetail&ID_Vorstellungsart=7&ID_Stueck=395




Von leichter Kost bis zur Flüchtlingsnot – das Pogramm der Ruhrfestspiele 2016

Das letzte maritime Motto der Ruhrfestspiele lautete 2014 „Inselreiche: Land in Sicht – Entdeckungen“ und bot, wenn ich mich recht erinnere, vor allem gute Gelegenheiten, das eine oder andere Shakespeare-Stück auf die Festspielhausbühne zu stellen. Nun, nach dem französischen „Tête-à-tête“-Intermezzo 2015, ist wieder ein Meer das Thema, das Mittelmeer, das „Mare Nostrum“.

(Auch) wir im kalten Deutschland dürfen es „unser Meer“ nennen, weil (unsere) abendländische Kultur ebenso wie die monotheistische Religionen dort, im Mittelmeerraum, entstanden. Das soll nicht vergessen werden, auch nicht in Zeiten, in denen dieses Meer zum Symbol für massenhafte Flucht und für massenhaftes Sterben auf dieser Flucht geworden ist.

Burgtheater macht den Anfang

Wie bei den Ruhrfestspielen der Vergangenheit ist die Betitelung recht unverbindlich, und sicherlich hätte auch ein anderes Banner gehißt werden können, schaut man auf die Auswahl der Stücke. Die ersten Produktionen im Großen Haus verbindet mit dem Mittelmeer kaum mehr als der Ort des Entstehens beziehungsweise der Ort des Handelns.

Den Anfang macht die 1747 erschienene und überaus süffige Komödie „Der Diener zweier Herren“ von Carlo Goldoni, eine Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater mit Peter Simonischek in der Titelrolle, Spielort ist Venedig.

Es folgt, als Regiearbeit des Hausherrn Frank Hoffmann, „Das Leben ein Traum. Caldéron“. Die Inszenierung des Luxemburger Nationaltheaters und des Schauspiels Hannover steht sozusagen auf zwei Füßen, verwendet die Originalvorlage Pedro Calderón de la Barcas ebenso wie Pier Paolo Pasolinis Filmadaption, die Calderóns bedrohlichen Königssohn durch eine Protagonistin ersetzt, in deren Schicksal der vermeintlichen Befreiung sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen spiegelt. Das verspricht im beste Sinne interessant zu werden und ist zudem mit Dominique Horwitz, Jacqueline Macaulay, Hannelore Elsner, Wolfram Koch und anderen hervorragend besetzt.

Der experimentierfreudige Romeo Castellucci

Nach so viel Theaterwucht ist für Mitte des Monats, den 16. und 17. Mai, im großen Haus ein wenig tänzerische Leichtigkeit sicherlich hoch willkommen. Romeo und Julia, deren berühmter Balkon bekanntlich in Verona hängt, kommen aus Biarritz nach Recklinghausen und tanzen zur Musik von Hector Berlioz eine Choreographie von Thierry Malandain, denn man hier aus dem letzten Jahr noch in guter Erinnerung hat.

Doch dann naht Romeo Castellucci mit einer „Orestie“ – in der Bearbeitung von Romeo Castellucci und in der Regie von Romeo Castellucci. „Castelluccis Inszenierung arbeitet mit Bildern, die wie ein Schock wirken“, verkündet das Programmheft.

Bei der vorletzten Ruhrtriennale, noch unter der Ägide von Heiner Goebbels, der eine oder andere wird sich erinnern, gab es schon einmal eine Begegnung mit Romeo Castellucci. Da brachte er Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ ohne menschliche Mitwirkung mit einer Maschinerie zur Aufführung, die rhythmisch Knochenmehl von der Decke herabrieseln ließ. Das Knochenmehl stammte aus industrieller Produktion und von geschlachteten Tieren, sollte in dieser szenischen Installation aber auch Zusammenhänge insinuieren zwischen Tieropfer und Fleischverzehr und Schuld und was nicht sonst noch allem. Wenigstens war das Publikum durch eine Folie vor dem Bühnenstaub geschützt. Diesmal gibt es, wird verheißen, lebende Tiere auf der Bühne. Was ist davon zu halten, wenn im Programmheft „Empfohlen ab 16 Jahren“ steht?

Asylsuchende aus der Antike

Sodann betritt Elfriede Jelinek die Bühne – sinngemäß jedenfalls, persönlich gilt sie ja eher als scheu. „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“ von Aischylos stehen auf dem Programm, aus dem Griechischen übersetzt von Dietrich Ebener/Elfriede Jelinek. Die Töchter des Danaos sind, um Versklavung und Zwangsheirat zu entkommen, über das Mittelmeer geflohen; Argos gewährt Asyl, Ägypten droht. Der Plot wirkt aktuell, mal sehen, was das Schauspiel Leipzig daraus gemacht hat. Immerhin reisen sie mit „46 Leipzigerinnen und Leipzigern im Chor“ an. Regie führt Enrico Lübbe.

Houellebecq mit Edgar Selge

Von Namedropping halte ich generell nicht viel, aber hier reizt es einen schon: Michel Houellebecq, Karin Beier, Edgar Selge, Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Bedeutet: Karin Beier hat Michel Houellebecqs immer noch aktuelles Buch „Unterwerfung“ in Hamburg zu einem Einpersonenstück mit Edgar Selge in der Hauptrolle verarbeitet. Der Plot, man erinnere sich, war der, daß bürgerliche und sozialistische Politiker nach erschütternden Wahlerfolgen des populistischen „Front national“, um diesen zu verhindern, Islamisten den Weg in die Regierung ebneten und Frankreich zu einem Land der Scharia machten. Durch den islamistischen Mordanschlag auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ kurz nach Erscheinen von Houellebecqs Buch erhielt dieses eine gespenstische Aktualität. Nun also, wie auch immer, Edgar Selge. Ich bin sehr gespannt!

Es gibt einen „Nathan“ vom Deutschen Theater Berlin, bei dem Andreas Kriegenburg Regie führt und der, wie Intendant Frank Hoffmann versichert, durchaus auch humorvoll sein soll. „Rocco und seine Brüder“ ist eine Bühnenadaption des Visconti-Films durch das Schauspiel Hannover und paßt thematisch fraglos gut zum Thema Mittelmeer-Migration. Übrigens spielt Cosma Shiva Hagen mit.

Symposium zum 70. Geburtstag

„Don Giovanni. Letzte Party“, eine Produktion des Hamburger Thalia-Theaters, wird angekündigt als „ziemlich stückgetreue, ziemlich durchgeknallte Okkupation der Oper aller Opern“. Schauspieler spielen und singen, als Autoren werden Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte genannt, Antú Romero Nunes gar sei ein wahrer „Regiewunderknabe“. Alles klar? Jedenfalls verheißt die Ankündigung Kurzweil.

Mitte Juni, so ist es Brauch, neigt sich das Festival dem Ende zu. Das ist seit 70 Jahren so und somit Grund genug, ein Symposium darüber abzuhalten. Am 14. und 15. Juni also feiert man den Siebzigsten, und Klaus Peymann, der Unermüdliche, hält einen großen Vortrag.

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Cosma Shiva Hagen spielt in „Rocco und seine Brüder“ mit. (Foto: Ruhrfestspiele)

Aus Berlin kommt die Volksbühne

Was haben wir noch? Zweimal Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, immerhin, einmal sogar mit einem Stück, bei dem deren Chef Frank Castorf Regie führt. Castorf, Ältere werden sich erinnern, war für ein Jahr selbst einmal Intendant der Ruhrfestspiele, Nachfolger von Hansgünther Heyme, und in diesem Jahr bescherte er dem Festival mit seinen – nennen wir sie: unorthodoxen – Ideen einen Einbruch beim Kartenverkauf um rund ein Viertel. Klar war, daß Castorf und Ruhrfestspiele nicht zueinander paßten, nach etwas Krisenmanagement übernahm Frank Hoffmann 2004 das Zepter, und er schwingt es erfolgreich bis heute.

Wenn Frank Castorf jetzt trotzdem mit „Die Kabale der Scheinheiligkeiten. Das Leben des Herrn Molière“ auf Recklinghausens grünem Hügel gastiert, so hat das Stil und wir verneigen uns. Das Stück – laut Programmheft nicht „von“, sondern „nach“ Michail Bulgakow, umfiebert eine Episode, die es angeblich wirklich gegeben hat: Nachdem Bulgakow Stalin, dem schrecklichen, allmächtigen, doch auch geliebten Stalin einen Brand- und Klagebrief geschrieben hatte mit der Bitte, ihn von Angst und Terror zu erlösen und aus der noch jungen Sowjetunion ausreisen zu lassen, rief dieser ihn persönlich an. Und danach nie wieder.

Der Künstler und sein Überleben

Doch wenigstens überlebte Bulgakow, Verfasser des weltberühmten Romans „Der Meister und Margarita“, schrieb, und die Beinahebegegnung mit Stalin verpflanzte er dramatisch an den Hof den Sonnenkönigs Ludwig XIV, wo ein Hofdichter Molière ganz ähnlich zu empfinden scheint wie weiland Bulgakow unter Stalin. Es geht, man sieht’s, um Künstler, Staat und Zensur und um das nackte Überleben. Und da Frank Castorf mit seinem 64 Jahren mittlerweile zu den „Altmeistern“ gezählt werden kann und da er sich viele Jahre lang sehr intensiv an Dostojewkij-Stoffen abgearbeitet hat und als Russenversteher gilt, möchte man nun wissen, was er ganz altmeisterlich aus der Geschichte macht. Premiere war übrigens letztes Jahr schon in Berlin.

Das zweite Berliner Volksbühnenstück ist eine „Apokalypse“ nach dem Johannesevangelium in der Regie von Herbert Fritsch. Grell und slapstickhaft, so Intendant Frank Hoffmann, soll es hier (auch) zugehen, es spielen Wolfram Koch und Ingo Günther, und am Ende ist klar, daß die Apokalypse ein treuer Begleiter und ein zeitloses Phänomen ist.

Zwei aktuelle Stücke zum Thema Migration

So, damit wäre das Programm im Großen Haus durchgearbeitet. Die weiteren Spielstätten Kleines Theater, Halle König Ludwig 1/2, Theater Marl und Theaterzelt in gleicher Intensität durchzuarbeiten, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, er ist ja jetzt schon viel zu lang. Deshalb nur einige mehr oder weniger subjektive Hinweise. Zwei Produktion beschäftigen sich ganz aktuell mit dem Thema Migration, „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“ von der Compagnie El Warsha Kairo und „Am Rand“ von Sedef Ecer, das Hansgünther Heyme, der alte Kämpe, im Hamburg als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen inszeniert hat, beide im Kleinen Theater.

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Anklagebank? Symbolhaftes Bühnenbilddetail aus „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“. (Foto: Tamer Eissa/Ruhrfestspiele)

In „Zawaya“ läßt Regisseur Hassan El Geretly fünf Personen sich an den „arabischen Frühling“ erinnern, an die ägyptische Revolution: einen Kleinkriminellen und Spitzel, einen Offizier, die Mutter eines toten Rebellen, einen arbeitslosen Fußballfan und eine Krankenschwester. Was ist die Wahrheit, was ist die Zukunft? Arbeitsprinzip der Compagnie El Warsha ist es laut Programmheft, zu den einfachen Menschen auf der Straße zu gehen, sie reden zu lassen und sie zu authentischen Chronisten des Geschehenen zu machen. Das Stück läuft in arabischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

„Am Rand“, die Geschichte der türkischen Autorin Sedef Ecer, dreht sich um Menschen aus Afrika, die anderswo das Paradies suchen und im Vorstadtslum landen, eben am Rand. Paris ist nicht das Paradies (ein wohlfeiles Wortspiel), sondern die Banlieue. Und statt Paris könnte es Istanbul, Kairo oder Tripolis sein. Auch wenn man nur gedämpfte Erwartungen an den Inszenierungsstil Heymes hegt, scheint diese Produktion doch gut geeignet zu sein, das Publikum jenseits der üblichen Tagesthemen-Stanzen etwas klüger zu machen über das, was junge Menschen aus Afrika in die Migration treibt.

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Der Chor ist in Aufruhr. Szene aus „Die Schutzflehenden/die Schutzbefohlenen“ von Aischylos, Dietrich Ebener und Elfriede Jelinek. (Foto: Bettina Stöß/Ruhrfestspiele)

Der Intendant versteckt sich

In der Halle König Ludwig 1/2 versteckt, so muß man fast sagen, Frank Hoffmann eine weitere eigene Regiearbeit. In Luxemburg brachte er Sergio Blancos Zweipersonendrama „Theben-Park“ heraus, die Reinszenierung eines Vatermords auf der Theaterbühne, ein Stück im Stück mithin. Wie erzählt man eine solche Geschichte, wie verändert sie sich, wenn man sie erzählt? Ödipus, Dostojewski und Siegmund Freud grüßen von der Empore, wir dürfen auf eine spannende psychologische Studie hoffen. Maik Solbach und Nicolai Despot spielen, und da Luxemburg nicht Deutschland ist, ist dies jetzt sogar eine deutsche Erstaufführung.

Winkelmanns neuer Film

Am 12. Mai läuft Adolf Winkelmanns neuer Film „Junges Licht“ in der Essener Lichtburg. Vorlage war Ralf Rothmanns Nachkriegskindheitsroman gleichen Titels, es spielen unter anderem Charly Hübner, Lina Beckmann, Peter Lohmeyer und Stephan Kampwirt. Und sicherlich wird er Film auch andernorts zu sehen sein.

Erstmalig gibt es Kooperationen mit dem Gelsenkirchener Ballett im Revier („Prosperos Insel“ nach Motiven von William Shakespeare) und dem Dortmunder Theater („Die Simulanten“ von Philippe Heule) und auch Rimini Protokoll fehlen nicht. In ihrer Aktion „Truck Tracks Ruhr # 2 Album Recklinghausen“ bitten sie das geneigte Publikum auf die Ladefläche eines Lastkraftwagens, wo es – sichtgeschützt – zu markanten und fest versprochen so noch nie wahrgenommenen Besichtigungspunkten des Reviers gefahren wird, die man dann klangvoll präsentiert. Klingt gut, schaun mer mal.

Bemerkenswert ist, was diesmal fehlt: Es fehlt der glamouröse Gast (jeglichen Geschlechts) aus dem Filmgeschäft, in einer glamourösen Produktion. Keine Ute Lemper, keine Heike Makatsch und erst recht kein Philip Seymour Hoffman seligen Angedenkens. Werden wir die internationalen Stars vermissen? Einst standen sie für die Weltläufigkeit der Ruhrfestspiele, doch seit Jahren schon wirkten sie etwas verloren in einem Programm, das doch ganz unübersehbar seinen Schwerpunkt beim deutschsprachigen Theater setzt. Schlimm wäre es, wen aktuelle Themen und Diskussionen nicht mehr Eingang in das Programm fänden. Doch diesen Vorwurf kann man den Ruhrfestspielen 2016 nicht machen.

Glück auf!

Weitere Informationen: www.ruhrfestspiele.de




Ohne Gedünst: Philippe Herreweghe versachlicht in Essen Bruckners Fünfte

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Die Bruckner-Kritik bedient sich seit etwa einer Generation gerne bestimmter Begriffe, um einen neuen Zugang zu den schwer erklimmbaren Gipfeln des Spätromantikers zu markieren: Bruckner müsse man, so heißt es, vom „Weihrauch“ befreien, seine Klangmassen entschlacken, Pomp und Prunk seiner monumentalen Setzungen aufbrechen, ihn gar entmythisieren oder entkatholisieren.

Da ist was dran; Michael Gielen etwa hat es in seinen Aufnahmen exemplarisch und manchmal verstörend nüchtern gezeigt. Aber der Verdacht, mit solchem bilderstürmerischen Elan von einer in die andere Ideologie zu driften, lässt sich nicht ausräumen. Beispiel „Pomp“: Was soll man davon halten, wenn Bruckner im Finale seiner Fünften Symphonie für den Blechbläserchoral fortissimo bis zum Ende vorschreibt? Damit will er wohl nicht nur die Bedeutung des triumphierenden Hauptthemas aus dem Kopfsatz flankieren – dazu, rein strukturell gedacht, bräuchte er die Bläser nicht feierlich monumental bis an ihre physischen Grenzen fordern. An solchen Stellen darf wohl jenseits aller kompositorischen Notwendigkeit auch an einen Moment des Bekenntnisses gedacht werden – wie auch immer dieses wiederum zu deuten wäre: doch sicher kein leerer, auf bloße Überwältigung hin konzipierter „Pomp“.

Die Fünfte kommt den Vorstellungen, wie Bruckner zu klingen habe, überhaupt nicht entgegen. Er selbst hat sie sein „kontrapunktisches Meisterstück“ genannt und Simon Sechters Kontrapunkt-Abhandlungen lassen aus jedem Satz grüßen. Als wolle er trotzig seine Kritiker zum Schweigen bringen, demonstriert Bruckner wie nie mehr sonst, wie souverän er Sätze konzipiert und miteinander vernetzt.

Die große Klammer des Kopfsatzthemas ist ja nur die auffälligste dieser motivischen Verwandtschaften, die sich bis ins Detail hinein nachweisen lassen. Ganz zu schweigen von den Kombinationen von Formprinzipien wie Sonate und Fuge oder von der strukturellen Bedeutung des Rhythmus für die Wandlung von Themen.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Mit den Essener Philharmonikern macht Philippe Herreweghe durchaus deutlich, wie strukturbetont Bruckner in seiner Fünften denkt. Transparenz ist das Gebot der achtzig Minuten in der nahezu ausverkauften Essener Philharmonie. Die Orchestergruppen sind scharf herausseziert; kein Klanggedünst verschleiert wichtige Nebenstimmen. Selten dürfte sich die Doppelfuge des Schlusssatzes so deutlich konturiert verfolgen lassen. Herreweghe scheint in den Proben jedes Detail herauspräpariert, jeden Verlauf durchmodelliert zu haben. So kann er im Konzert gelassen und ohne Stab mit sparsamen Bewegungen führen. Hier gibt es keine pathetische Parade eines Dirigenten.

Auch die stetigen Tempi kommen dieser Lesart entgegen. Herreweghe meidet Schwankungen, die vermeintlich Höhepunkte markieren; er hetzt nicht und gibt der Polyphonie gebührend Raum. Daran liegt es, dass bei dem derzeitigen Artist-in-residence der Essener Philharmonie das Erhabene nicht in – falsche – Emphase driftet. Die Dynamik kostet Herreweghe aus: Der Gegensatz der sehr leise, aber deutlich markierten Pizzicati des Beginns mit der auffahrenden Fanfare und dem ersten Tutti-Hohepunkt ist ausgeschöpft, aber nicht übertrieben gespreizt. Kontraste sollten auch in den folgenden Sätzen heftig betont werden.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Was die Noten betrifft, ist also alles bestens für eine exzeptionelle Aufführung disponiert – selbst wenn das Blech manchmal nicht ganz intonationsrein scheint. Die Probleme beginnen jenseits der Noten – und sie führen dazu, dass Herreweghes Bruckner-Zugang, wie schon in seiner Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Èlysées, nicht befriedigt. Vor allem in den Mittelsätzen baut der Dirigent keine Spannung auf, gestaltet er keine Ereignisse, sondern reiht Zustände und Entwicklungen aneinander.

Es ist kein Widerspruch zu einer strukturell bewussten Sichtweise, etwa die basslosen Streicher einmal leuchten zu lassen; es schadet dem Blick durch das symphonische Geflecht nicht, einer Bläserstimme gestalterischen Atem zu gewähren. So schleppt sich das Adagio ohne Spannung dahin, bleiben die Ländler des Scherzos ohne Charme und tänzerischen Schwung.

So sympathisch bescheiden die Dirigierweise Herreweghes wirkt: Die Essener Philharmoniker machen den Eindruck, als bräuchten sie hin und wieder eine animierende, befeuernde Geste, als wünschten sie sich einen Ausbruch aus der Leisetreterei, hin zu einem Blühen des Klangs und zu einer expressiven Bewegung, die mit Passion das „vivace“ des Satzes erfüllt. Kein Weihrauch, wahrlich nicht, aber mit ihm hat Herreweghe der Fünften auch das Aroma weggelüftet.




Aus dem Leben eines Trinkers – „Die Reise nach Petuschki“ im Dortmunder Schauspiel

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man weiß sofort, was mit Wenja los ist. Er ist ein Trinker, immer auf der Suche nach dem nächsten Schluck; einer, der in Hausfluren schläft und klaffende Gedächtnislücken hat. Wenja macht keinen Hehl aus alledem, sondern erzählt (wie man hier vielleicht nicht mehr sagen sollte) frei von der Leber weg.

Wenja hat auch Stil. Und Kultur. Die Abfolge der Getränke, des Wodkas, des Bieres, des Rosés, will bemessen und durchdacht sein. Auch wenn längst schon klar ist, daß nicht Wenja über den Alkohol, sondern der Alkohol über ihn gebietet. Besonders dann, wenn er nach Moskau reist; dann richtet sich sein Pfad nach den Kneipen und Restaurants, die geöffnet haben, weshalb er den Kursker Bahnhof schon oft, den Kreml aber noch nie gesehen hat.

1973 schrieb Wenedikt Jerofejew seinen Roman „Die Reise nach Petuschki“, dessen Hauptperson und Ich-Erzähler Wenja ist (in dem man sicherlich auch einen Wiedergänger des Romanautors erkennen kann). Lange blieb das Buch verboten, und im Westen scheint der Stoff erst in den letzten Jahren so richtig angekommen zu sein, wurde er zu Hörbüchern und einem Hörspiel verarbeitet und fand seinen Weg nun auch ins Dortmunder Theater.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Sehnsuchtsort Petuschki

Wenja denn also, den Uwe Rohbeck herausragend gibt, will vom Kursker Bahnhof aus nach Petuschki reisen, wo Frau und Kind auf ihn warten und der Himmel blau ist und es auch im Winter nach Lavendel riecht. Geschenke hat er dabei, die indes eher Alkoholika zu sein scheinen, und irgendwie landet er am Ende wieder in Moskau. Was da unterwegs passiert ist, kriegt er nicht mehr zusammen, es verliert sich im Nebel der Trunksucht.

Das so in groben Zügen Skizzierte gibt es nun also auf der Studiobühne zu sehen – in einer rigoros zusammengestrichenen, gut einstündigen Textfassung von Stephen Mulrine (deutsch von Hein Marecek) und in der Regie von Katrin Lindner. Eine sehenswerte Personenstudie ist es geworden, ein in sich schlüssiges Theaterprodukt, ein schöner, amüsanter Theaterabend.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck): (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Verhältnisse in der Sowjetunion

Wer allerdings das Glück hat, Jerofejews Vorlage zu kennen, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht. Denn die Geschichte lebt ja nicht nur vom Wenja-Plot, sondern von den vielen, mehr oder weniger alkoholdurchtränkten Gesprächen, von den beiläufigen Beschreibungen gesellschaftlicher Abgründigkeiten und der allgegenwärtigen Absurdität des erstarrten Breschnew-Sozialismus.

Manches wird in der Dortmunder Kompaktversion erwähnt, wie die Geschichte rund um den stets betrunkenen Eisenbahnkontrolleur, der sich von ertappten Schwarzfahrern mit Wodka bezahlen läßt; doch bleibt das sich in diesem Macht- und Korruptionsverhältnis spiegelnde Gesellschaftsbild anders als im Buch ungemalt. Auch die zahlreichen liebevollen Beschreibungen der einfachen russischen Menschen, die sich ihre Wirklichkeit gern zusammenphantasieren (der Alkohol hilft dabei), sind weggefallen. Nun denn.

Trinker mit Schlips und Kragen

Uwe Rohbecks grandioses Spiel vermag für diesen Mangel reich zu entschädigen. Seine Figurenzeichnung ist brillant. Nie sieht man ihn mit Glas oder Flasche in der Hand. In Anzug, Schlips und Kragen steht er auf der kargen Bühne (Bühne und Kostüme: Tobias Schunck), ein Mann offenbar, der auf sein Äußeres hält. Und doch sind kleine Zeichen der Verwahrlosung in der Kleidung unübersehbar. Zudem weiß Rohbeck, zierlich, hager und gelenkig, gekonnt die kleinen Bewegungsunsicherheiten des Trinkers zu geben, und auch die Sprache läßt den Alkoholpegel ahnen, doch ist sie weit vom Lallen der Betrunkenen entfernt. Dieser Alkoholiker wahrt Haltung und hat Benehmen – was ihn nicht vor dem Delir bewahren wird.

Begeisterter Applaus. Und Dank dem Haus für ein feines Stückchen Schauspielertheater.

  • Nächste Termine: 22.1., 18.2. (15,- Euro/ 10,- Euro ermäßigt)
  • Karten und Informationen Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

 




Deutschland im Herzen: Über den Heimat-Begriff

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer.

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer. (Foto: Thomas Kampmann/Dortmund Agentur)

Ihr Kopf ragt gerade über das wuchtige Rednerpult, hinter dem sie steht – eine elegante, ausgesprochen zierliche Frau mit markanter runder Brille und langen, perfekt frisierten Haaren. Und doch: Kaum dass sie den Mund aufmacht, hat sie ihr Publikum voll im Griff. Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss, 72, strahlt ungeheure Präsenz aus – ihre Aura macht die Körpergröße mehr als wett.

Dass sie dort steht, in der Rotunde des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte, über ihren Begriff von „Heimat“ spricht und die Einladung nach Dortmund gar als „Ehre“ bezeichnet – das ist alles andere als selbstverständlich.

Eltern und Großeltern mussten 1938 aus Dortmund fliehen

Denn Kahn Strauss lebt in New York, wo sie 1944 geboren wurde, nachdem ihre Eltern und Großeltern 1938 aus Dortmund fliehen mussten – eine angesehene jüdische Familie aus dem gehobenen Bürgertum, der Vater Rechtsanwalt, der Onkel Kinderarzt, der Opa Geschäftsmann.

Carol Kahn Strauss selbst war 20 Jahre lang International Director des Leo Baeck Institute in New York City, ein wissenschaftliches Archiv, das die Geschichte und Kultur deutschsprachiger Juden dokumentiert. Es zählt zu den führenden Forschungsinstituten zur Geschichte der deutschsprachigen Juden.

Ungewöhnlich ist schon diese Karriere einer Frau, die doch die Sprache, die Heimat ihrer Eltern mit gutem Recht ebenso hätte ignorieren, verdrängen, ja: verdammen können. Stattdessen hält sie nun, im Jahr 2016, einen Zeitungsartikel aus den New York Times in die Luft, geschrieben im September 2015. Die Korrespondentin hatte damals fast ganzseitig über die Willkommenskultur in Dortmund berichtet, als hunderte Menschen die Flüchtlinge am Bahnhof mit Applaus und Hilfe-Angeboten begrüßten. Sie sei stolz gewesen, als sie das gelesen habe, sagt Carol Kahn Strauss: „Irgendwas ist da wohl in meiner DNA.“

Hölderlin, Kant und Heine im heimischen Regal

Doch die Verbundenheit mit Dortmund hat sich natürlich nicht genetisch vererbt – sondern durch bewusste Erziehung und Sozialisation. „Es war ,Hoppe hoppe Reiter’, es war Heinrich Heine, es war ,Die Blechtrommel’ und nicht ,The tin drum’, erzählt sie von ihrer Kindheit in den USA und spricht von den meterhohen und –langen Bücherregalen, die die Eltern ihr hinterlassen haben – Hölderlin, Kant, Heine, größtenteils noch in Sütterlin gedruckt. Man sprach deutsch, man pflegte die Erinnerung an die Heimat – ein Wort, für das es im Amerikanischen gar keine Entsprechung gibt.

„Meine Eltern konnten die Geschichte … breiter sehen“, sagt Carol Kahn Strauss zur Erklärung, nach Worten ringend, „sie sahen nicht nur den kleinen Ausschnitt der Nazi-Zeit.“ Als sie zehn Jahre alt war, fuhren ihre Eltern mit ihr das erste Mal nach Dortmund. Carol Kahn Strauss weiß sehr gut, wie ungewöhnlich diese Entscheidung ihrer Eltern war. „Ich habe auf der ganzen Welt viele deutsche Juden kennengelernt, die nach ihrer Flucht nie wieder deutsch sprachen, nie wieder in Deutschland waren.“

Auch die junge Carol wusste oder ahnte, dass Deutschland in der Welt der 1950er Jahre nicht besonders wohlgelitten war. Als der Direktor der Grundschule sie damals bat, für ein neu angekommenes Mädchen aus Deutschland zu übersetzen, behauptete sie gar, sie spreche kein deutsch. Als Jugendliche und junge Erwachsene riss die Verbindung zur Heimat ihrer Eltern fast gänzlich ab – „alle anderen Länder interessierten mich damals mehr“.

Die Geisteswelt als zweites Zuhause

Doch die Eltern hatten den Nährboden gelegt, hatten dem Kind die deutsche Sprache, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft nahegebracht und einen Stolz auf dieses Erbe vermittelt. Daran konnte Carol Kahn Strauss anknüpfen, als sie später Präsidentin einer jüdischen Gemeinde in New York wurde und wieder verstärkt deutsch sprechen musste. „Kinderdeutsch“ nennt sie heute ihre Sprache – reines Understatement. Sie spricht grammatikalisch nahezu perfekt, ab und zu hört man westfälische Einschläge heraus.

Deutschland war nie ihr Zuhause, und es war nach 1938 auch nicht mehr das Zuhause ihrer Eltern. Doch eine Heimat ist es gleichwohl geblieben. Denn auch Bildung, auch die Geisteswelt kann eine Heimat sein – diese Botschaft nahm das Publikum am Ende mit. Ein Heimatbegriff, der womöglich mehr bedeutet, schwerer wiegt, fester bindet als die bloße Zugehörigkeit zu einem Land, in dem man zufällig geboren wurde und das man dank glücklicher Umstände nie verlassen musste.

Die Veranstaltung „Stadtgespräche im Museum“ ist eine Kooperation zwischen MKK Dortmund und TU Dortmund. In der Reihe geht es derzeit um das Thema „heimaten – Konstruktionen der Sehnsucht“: Aus verschiedenen Blickwinkeln befassen sich die Referentinnen und Referenten mit dem Begriff Heimat, passend zur großen Sonderausstellung „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK).




Klüngel um Kunst: Wenn die Pressesprecherin den Artikel gleich selbst schreibt…

Seit einiger Zeit steht fest, dass das einstige Dortmunder Museum am Ostwall, dem schon der Abriss drohte, zum Baukunstarchiv umgewidmet wird. Ein durchaus erfreulicher Vorgang. Hier aber geht’s um einen weniger erfreulichen Randaspekt.

Blick aufs frühere Museum am Ostwall, das künftig zum Baukunstarchiv wird. (Foto vom Oktober 2013: Bernd Berke)

Blick aufs frühere Museum am Ostwall, das künftig zum Baukunstarchiv wird. (Foto vom Oktober 2013: Bernd Berke)

Gelegentlich gibt es am Ostwall jetzt schon kurze Ausstellungen, ausgerichtet vom Bund Deutscher Architekten (BDA Dortmund Hamm Unna). Und damit sind wir beim Thema: Jüngst erreichte uns die Einladung zur Pressevorbesichtigung der Schau „Thomas Kesseler, Skulptur – Farbe – Raum“ (16. Jan. bis 14. Feb.). Kein Wort zur Qualität der Ausstellung, ich habe sie bislang nicht gesehen. Wohl aber ein paar Worte zu einem Vorgang, der mit medialen Gepflogenheiten bricht.

Besagte Einladung ist unterzeichnet von einer Kollegin, die ich aus früheren Zusammenhängen kenne. Den Namen wollen wir hier gnädig verschweigen, es geht – jawohl – ums Prinzip. Diese Kollegin also lud im Namen der BDA-Geschäftsstelle zum besagten Pressetermin ein. So weit, so gut. Sie agiert also, wie man so sagt, „auf der anderen Seite des Schreibtischs“, nicht bei den Berichtenden. Dachte man zumindest.

Nun aber schlage man heute (15. Januar) den WAZ-Kulturteil auf. Der großflächig überdimensionierte Aufmacher (!) im Mantelteil handelt just von der Kesseler-Ausstellung. Und jetzt kommt’s: Als Autorin firmiert eben jene Kollegin, die für den Veranstalter zur Pressekonferenz eingeladen hat. Mag ja sein, dass die WAZ-Kulturredaktion den Zusammenhang nicht glasklar vor Augen hatte und halt aufs Text-Angebot eingegangen ist.

Das Verfahren scheint jedenfalls nicht redlich – und schon gar nicht transparent. Klingt eher nach Klüngel. Wo kämen wir hin, wenn Pressesprecher(innen) oder sonstige Beauftragte der Veranstalter über die von ihnen vertretenen Belange in der Presse selbst berichteten? Dann gäbe es nur noch unkritischen Jubel. Sollen etwa Partei- oder Unternehmenssprecher Artikel über die weisen Entscheidungen ihrer großartigen Bosse verfassen? Natürlich nicht. Bei einer Ausstellung mag die Verquickung der Interessen noch vergleichsweise harmlos anmuten. Doch auch hierbei werden die Leser getäuscht.




Feueralarm in der „Tosca“-Pause – Gelsenkirchener Musiktheater geräumt

Am Abend vor der "Tosca": das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Am Abend vor der „Tosca“: das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Giacomo Puccinis „Tosca“ im Musiktheater im Revier hätte am gestrigen 14. Januar eigentlich aus künstlerischen Gründen im Gedächtnis bleiben sollen: Thomas Berau, Gast aus Mannheim, sang seinen ersten Scarpia; Erster Kapellmeister Valtteri Rauhalammi dirigierte seine erste „Tosca“.

Doch es sollte anders kommen: Das Pils stand schon bereit, die Currywurst auf dem Tisch, da tönte mitten in der ersten Pause der Evakuierungsruf durch die Foyers: Aufgrund einer „technischen Betriebsstörung“ sollten alle zügig das Haus verlassen.

Gut fünf Minuten später – es waren längst nicht alle Besucher draußen, die Räumung verlief ohne große Aufregung – kam die Entwarnung: Fehlalarm. Einen solchen Alarm während einer Vorstellung habe er in 28 Jahren noch nicht erlebt, sagte Joachim G. Maaß, Darsteller des Mesners, nachher auf der Bühne. Maaß ist seit 1988 in Gelsenkirchen engagiert.

„Wir sind Ihnen dankbar, dass alles so wunderbar geklappt hat und Sie das Haus so schnell verlassen haben“, bedankte sich die Dame des Direktionsdienstes nach der – verlängerten – Pause. Nach ersten Informationen soll ein gestörter Rauchmelder oder ein Defekt an der Steueruhr der Meldeanlage die Ursache für den Alarm gewesen sein.

Tosca blieb am Leben in Tobias Heyders eher hilflos nach neuen Sichtweisen gierenden Inszenierung. Das ist vielleicht auch ein Aspekt, der über das seltene Erlebnis eines Theateralarms hinaus in Erinnerung bleiben wird.




„Wie sich die Welt von uns entfernt“ – die Kunst des Sterbens in Alban Nikolai Herbsts Roman „Traumschiff“

Zu den Heterotopien – den Orten, an denen abweichende Regeln gelten – zählte der Philosoph Michel Foucault neben Psychiatrien, Gefängnissen, Bibliotheken, Museen, Friedhöfen und anderen dem Alltag enthobenen Einrichtungen ganz besonders das Schiff. Das von Alban Nikolai Herbst beschriebene „Traumschiff“ kann man sich neben all dem Remmidemmi, der unentwegt für die vergnügungsfreudigen Luxuspassagiere veranstaltet wird, in etwa wie ein schwimmendes Altenheim vorstellen, inklusive Pflegestation und einiger Kühlkammern für die Leichen der unterwegs Verstorbenen.

Traumschiff Cover von der Verlagsseite

Nicht alle der mehr als 500 Passagiere und 278 Besatzungsmitglieder sind einem baldigen Tod geweiht, sondern lediglich jene 144, die „das Bewusstsein“ haben. 144 ist auch die Anzahl der Spielsteine im Mah-Jongg, dem chinesischen Sperlingsspiel, von dem der Ich-Erzähler ein schönes Exemplar in seiner Kabine aufbewahrt. Gregor Lanmeister hat „das Bewusstsein“ seit Barcelona. Doch die Handlung setzt nicht in Europa, sondern im Südatlantik, westlich von Südafrika ein, genau gesagt auf hoher See bei 33° 14‘ S / 13° 20‘ O. Von dort aus geht es nordwärts über Sankt Helena, die Kapverden, die Kanaren, Lissabon und den Golf von Biskaya in den Ärmelkanal.

Heterotopien im Sinne Foucaults repräsentieren gesellschaftliche Verhältnisse in besonderer Weise, reflektieren sie, negieren sie oder kehren sie um. Das Schiff stellt ein Modell der Gesellschaft dar, zwar mit überwiegend zahlungskräftigen Teilnehmern, dennoch mit allen Verhaltensmustern der Welt. Ein Heer schlecht bezahlter Servicekräfte hält die Sache am Laufen.

Rituale am nicht alltäglichen Ort

Was das Schiff zu einem nicht alltäglichen Ort macht, sind seine Ein- und Ausgangsrituale, das Esskontinuum, die fortwährende Musikberieselung, die Kapitänsdinner, die Spielbank, der Klabautermann, die Äquatortaufe und so weiter. Die Passagiere können und möchten sich nicht alle gegenseitig kennenlernen. „Sondern sie finden sich, dem Charakter von Spatzen völlig gemäß, in Gruppen zusammen. Die sind es, die sich erkennen. Das war zum Beispiel die Erklärung für den Rauchertisch oder die Raucherecke ein Deck höher. Es erkennen sich nicht alle untereinander, sondern immer nur einige. Die eben zueinander passen.“

Folglich werden nur wenige Mitreisende dem Leser näher beschrieben, ein Club von Auserwählten, eine „Gemeinschaft von Sterbenden“. Sie alle wissen auf eine nicht näher beschriebene Weise voneinander, wer „das Bewusstsein“ hat und wer nicht. Auf dem Weg in die große Auslöschung begegnen dem Erzähler einige Mentoren, die nicht möchten, dass er „falsch sterbe“. Eine Ars moriendi scheint auf, die teilweise durch den Schiffsarzt, Dr. Samir, oder auch mit der Stimme der Senhora Gailint spricht: „Merken Sie nicht, wie Wahrheit und Lüge uns manchmal verschmelzen? Nein, Wahrheit und Märchen hat sie gesagt. Es ist unser größtes Vermögen, sagte sie, jede Lüge in Wahrheit zu verwandeln.“ Oder: „Denn welch eine Rolle spielt es noch, wo einer überhaupt ist.“

Damit ist zugleich ein poetologisches Konzept benannt, das der Autor sowohl theoretisch ausgeführt als auch in seiner 2.000 Seiten umfassenden „Anderswelt“-Trilogie angewandt hat. Eine Synthese aus Fiktivem und Erlebtem, Alban Nikolai Herbst spricht von einem „kybernetischen Realismus“.

Indem er mit seinem Ich-Erzähler Gregor Lanmeister einen Sterbenden erzählen lässt und die Altersdemenz gleichsam von innen beleuchtet, entfaltet der Autor eine Heterotopie – in des Autors eigener Sprache: eine Anderswelt – im doppelten Sinne. Das Schiff, der in den Weiten des Meeres sich verlierende schwimmende Raum, ein Ort ohne festen Ort, in sich geschlossen, autark und den Naturgewalten ausgeliefert, ist bereits eine Anderswelt par excellence.

Kathedrale des Schweigens

Aber auch die schiffseigenen Regeln werden konsequent durchbrochen durch die körperliche und geistige Hinfälligkeit des räumlich und zeitlich desorientierten Protagonisten, der in einer Kathedrale des Schweigens das für ihn Festhaltenswerte mit den jeweiligen geographischen Koordinaten in 17 Kladden einträgt, die allesamt verschwinden – bis auf die letzte, oder war es immer nur die eine? Die Einträge sind eine lange Ansprache an seine imaginäre Geliebte, die er nach den im Südatlantik beobachteten Feenseeschwalben zärtlich Lastotschka nennt und die ihr lebendes Vorbild in der ukrainischen Bord-Pianistin hat.

Seine Einträge, aus denen sich der Roman zusammensetzt, sind eine ständige Selbstvergewisserung und Infragestellung des (scheinbar?) Erlebten. „Zeitgitterstörungen“ wäre wohl der medizinische Befund, doch den Literaten interessiert mehr das phantastische Potential. „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“, schrieb Foucault. Gregor Lanmeister – verlieh sein Schöpfer ihm diesen Vornamen nach dem Papst, der den inzwischen weltweit gültigen Kalender zu verantworten hat? – wähnt sich womöglich seit Ewigkeiten auf dem Traumschiff. Seefahrergeschichten aus früheren Jahrhunderten erscheinen ihm wie selbst erlebt. „Gibt es nicht, Lastotschka, Legenden von Menschen, die verdammt dazu sind, ihre Leben über ihr Leben hinaus und über das aller anderen Menschen immer weiterzuleben?“

Der vermeintliche Dämmerzustand ist voller luzider Momente, und auch in den für den Leser offensichtlichen Selbsttäuschungen liegen tiefe Erkenntnisse. Gregor Lanmeister kommt zur Auffassung einer statischen Zeit, die zugleich der Tod ist. „Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur wir sind unterwegs. Er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen. Das ist es, was wir das Sterben nennen. Wenn wir an Bord gekommen sind.“

Wortfindungsschwierigkeiten

Alban Nikolai Herbst schafft mit „Traumschiff“ eine Allegorie des Lebens und des Sterbens, eine Allegorie des Übergangs. „Das Bewusstsein“ – so viel wird klar – hat auch damit zu tun, sein Ziel zu kennen. „Aber vielleicht sind es verschiedene Ziele, für jeden Menschen ein anderes, oder sogar mehrere. Manche, habe ich den Eindruck, kennen es bereits vor dem Bewusstsein, haben es im Blut. Ich stelle mir das vor wie bei den Tieren den Instinkt.“ Sein Ziel in sich haben. So streift der Autor elegant den schönen aristotelischen Gedanken der Entelechie – heute würde man von Selbstverwirklichung sprechen.

Die Dinge werden für ihn transparent, wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge, der aus der Perspektive eines bereits Gestorbenen erzählt ist. „Darum schauen wir durch die Dinge hindurch, durch den Topf und den Holzlöffel und die Binde vor den Augen. Wir durchschauen die Dinge und Euch. Aber wir lassen es Euch nicht merken, damit nicht Ihr wie kleine Kinder dasteht. Sondern wir leiten es um auf uns.“

Der im Gehen bereits eingeschränkte Herr Lanmeister mutet sich zu viel zu und stürzt. Er hört den Schiffsarzt etwas von einem „zweiten Schlaganfall“ murmeln; sonst aber hält sich der Autor mit der Benennung von Diagnosen zurück. In der Darstellung des Funktionierens beziehungsweise Nicht-Funktionierens menschlichen Denkens dürfte der Autor auf der Höhe der gegenwärtigen Gehirn- und Gedächtnisforschung sein. In seinen Wortfindungsschwierigkeiten fallen Lanmeister immer wieder Wörter ein, die seine Großmutter benutzt hätte, die Frau, bei der er aufwuchs, weil seine Mutter, ihn, das „Russenkind“, nicht wollte – „liederlich“, „bedröppelt“, „betüdeln“ – der Autor bewahrt sie vor ihrem allzu schnellen Verschwinden.

Fließender Übergang vom Erlebten zum Ausgedachten

Durch die fortlaufende Mitschrift seines Lebens, dem Blog Die Dschungel. Anderswelt ließ Alban Nikolai Herbst seine Leser von April bis Juni 2014 das Logbuch seiner Reise, das auch zahlreiche Fotos enthält, in Echtzeit miterleben. Der WDR sendete außerdem eine vom Autor vorgenommene Zusammenstellung von O-Tönen und vorgelesenen Texten als Hörstück unter dem Titel „Eine akustische Kreuzfahrt“, die weiterhin im Internet verfügbar ist. Auf der Website der Reederei ist unter anderem der Deckplan der MS Astor als detaillierte Risszeichnung einsehbar.

Die Kapitel des Romans sind nach exakten geographischen Koordinaten benannt. Von der Lage seiner Kabine über die Wege des Autors bis zu den lebenden Vorlagen seiner Geschichte lassen sich alle möglichen Einzelheiten des Romans im „wirklichen“ Leben nachverfolgen. Und doch handelt es sich bei „Traumschiff“ großenteils um einen phantastischen Roman – eine Seltenheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bei nachträglicher Lektüre des minutiös Dokumentierten wird deutlich: der Anteil an Erfindung ist immens. Doch im Unterschied zur Anderswelt-Trilogie, deren Teile 1998, 2001 und 2013 erschienen sind, und zum Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, in dem auch hartgesottene A.N.H.-Fans den Überblick verlieren können, macht es der Autor mit dem übersichtlichen Roman „Traumschiff“ (320 Seiten) seinen Lesern leicht. Und schön.

Mit der Wahl eines in der Zuverlässigkeit seiner Äußerungen fragwürdigen Protagonisten hat der Autor alle Möglichkeiten, auch das Unwahrscheinlichste überzeugend vorzuführen. Ob es sich bei den unvermittelt in seiner Kabine auftauchenden Spatzen um die verwandelten Ziegel des chinesischen Sperlingsspiels handelt; ob sich mitten auf dem Meer tatsächlich Zikaden auf dem oberen Deck niedergelassen haben; ob die Mantarochen fliegen können – wenn nicht real, so empfindet der Erzähler diese Phänomene als von einer die Wirklichkeit übersteigenden Schönheit. „Wir sind sowieso, Lastotschka, längst dreiviertel drüben. Nur ist dieses Drüben ein Teil dieser Welt. Jede ihrer Fasern wurzelt im Drüben. Aus dem saugt sie Nahrung herauf.“

Eine Art Lebensbeichte

Wohl sämtliche mythologischen und kulturgeschichtlich überlieferten Konzepte vom Sterben und vom Tod werden im Vorbeifahren aufgegriffen, und der Autor lanciert dabei auch manche Spitze gegen allzu esoterische Vorstellungen. Sie alle haben den Makel, dass sie lediglich aus diesseitiger Perspektive entwickelt wurden.

Zwischendurch tauchen Erinnerungen auf, die den Sterbenden peu à peu zu einer Art Lebensbeichte veranlassen. Lanmeister hat bei weitem nicht alles richtig gemacht, als Geschäftsmann im zwielichtigen Handel mit Halbleitern, im Umgang mit Frauen, und vor allem reut es ihn, sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert zu haben, der nach einer unschönen Scheidung den Kontakt zum Vater abbrach. Auch sentimentales Abschiednehmen auf seiner letzten Fahrt wird – zum Beispiel vor Ascension – deutlich, der kleinen tropischen Insel im Südatlantik, 1297 km nordwestlich von St. Helena: „Nie käme ich hier wieder hin. Weil ich das wusste, stieg Wehmut in mir hoch.“ Ihn tröstet, dass alles Gewesene eine Spur hinterlässt. Über den körperlichen Schmerz will Lanmeister nichts zu Papier bringen. Eher über seine Dankbarkeit. „Mit jedem Tag nimmt unsere Dankbarkeit zu. Wie sich die Welt von uns entfernt. Dann wird alles zur Meeresglut. Was aber ein Glühen der, wie ich Dir schon geschrieben habe, Zeit ist. Indem sich an ihr der Abend entzündet.“

Ein mystisches Verschmelzen mit allem und jedem? Das einmalige Erreichen von Allwissenheit? Ein kurzer posthumer Nachsatz stellt klar, dass es so nicht ist. Dennoch: Die dem Protagonisten vergönnte Art des Sterbens ist – ohne es zynisch zu meinen – vergleichsweise privilegiert.

Die MS Astor, auf der Alban Nikolai Herbst den Südatlantik bereiste, übertrifft die ähnlich gebaute „Astor“ aus der Fernsehserie „Traumschiff“ an Länge lediglich um zwölf Meter; der Roman als Kunstwerk aber unterscheidet sich von der ehemals wöchentlichen Soap fundamental. Alban Nikolai Herbsts „Traumschiff“ ist ein meisterhaft ausgedachter Roman, mutig, voller weiser Worte und pure Poesie obendrein. Das richtige Buch für alle, die irgendwann einmal älter werden und sterben müssen.

Alban Nikolai Herbst: „Traumschiff“. Roman. Mare Verlag, Hamburg. 320 Seiten, 22,00 Euro.




Adieu, Mittelwelle! – Der Deutschlandfunk hat alte Radios arbeitslos gemacht

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Das ist das gute Stück: Philips Sirius, gut 65 Jahre alt und bis Ende letzten Jahres noch Deutschlandfunk-Empfänger (Foto: Pfeiffer)

Dieses Radio ist älter als ich. Tante Else und Onkel Otto haben es um 1950 herum gekauft, so weit ich weiß, ein Philips Sirius, hochmodernes Bakelit-Gehäuse in Schwarz und Nußbaumoptik. Die Ultrakurzwelle gab es zunächst nur als Nachrüstsatz, ein zum Zwecke der Belüftung durchlöchertes Blechkästlein im Gehäuseinneren, in dem zwei Röhren vor sich hinglühten, ohne daß indes je UKW mit dem Radio empfangen worden wäre. Irgendein entscheidendes Drähtchen muß da fehlen; aber um UKW soll es hier ja auch nicht gehen.

Nein, ich möchte an dieser Stelle und aus gegebenem Anlaß der Mittelwelle einige traurige Gedanken hinterherwerfen, genauer gesagt der Frequenz 549 KHz, auf der der Deutschlandfunk seit dem Jahreswechsel nicht mehr sendet. Die Langewelle hatten sie vorher schon abgeschaltet, aber die war eh nur etwas für ganz hartgesottene Dampfradio-Aficionados.

Die Mittelwelle jedoch, satter Sound, nur mäßig verrauscht, ließ sich recht gut hören. Auch mit dem Radio von Tante Else und Onkel Otto, weshalb es hier zu ausdrücklicher Erwähnung gelangt. Der Deutschlandfunk war allerdings (tagsüber, bei Dunkelheit verbessert sich der Empfang) auch der einzige Sender, den man mit dem alten Schätzchen noch kriegte.

Es wäre wohl mal eine Kondensator-Kur erforderlich gewesen, bei der die alten teertriefenden Bauteile ausgelötet und durch neue ersetzt werden. Aber so weit ging meine Liebe nicht, und auch beim Ersatz des Magischen Auges zauderte ich. Es ist tatsächlich noch zu bekommen, aus amerikanischen oder russischen Armeebeständen und mit abweichender Typenbezeichnung (steht im Internet), und man muß am Röhrensockel nur zwei Drähte umlöten, weil die Heizung anders gepolt ist. Eine Zeitlang hatte ich das durchaus erwogen, aber nun, wo es nichts mehr zu empfangen gibt, hat sich das Thema erledigt.

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Auch im Graetz „Flirt“ herrscht seit dem 1. Januar Funkstille. (Foto: Pfeiffer)

Mittelwelle war das Original

Deutschlandfunk auf Mittelwelle, ich will den neuen Mißstand noch ein wenig beklagen, das war das Original. Der sparsame Umgang mit Tönen und Erkennungsmelodien, der (leider abgeschaffte) minimalistische 1000-Hertz-Piepser als Zeitzeichen zur vollen Stunde, die sonoren Männerstimmen, die stets erstaunlich verständlich blieben und im dunklen Klangbild ganz viel Autorität ausstrahlten – das alles gehörte unverzichtbar dazu, bildete gleichsam den Markenkern, ein unverwechselbares hochseriöses Ganzes.

Das UKW-Signal des Senders ist hingegen vielerorten schwach, auch in Dortmund. Es war ein Kampf (jawoll!), bis alle Radios in der Wohnung auf mittelwellenfreien Empfang umgerüstet waren. Es galt, optimale Positionen für Wurfantennen zu finden (eine hängt jetzt an der Wand, es ging nicht anders), im Wohnzimmer dient der Kabelanschluß nun auch zum analogen Radioempfang, und in einem Raum kommt gar ein neues, kleines Digitalradio zum Einsatz. Seine Lautsprecherqualitäten, dies am Rande, sind mäßig, mit guten Ohrhörern jedoch bietet es ein bis dato unbekanntes Stereoerlebnis. Auch beim Deutschlandfunk.

Das Internet hat seine Tücken

Es ging nicht mehr anders, sagen die Verantwortlichen des Senders, Mittelwelle sei nicht mehr zeitgemäß, viel zu teuer im Betrieb und auch vom Energiebedarf her. Sie verweisen auf Digitalverbreitung und Internet-Radio, und wahrscheinlich haben sie recht, wenngleich ich hinsichtlich der Energieeffizienz des Internets mit vielen, vielen Servern und Computern im Standby so meine Zweifel habe.

Und eigentlich ist sowieso der Kalte Krieg schuld, beziehungsweise dessen Ende. Früher nämlich, bevor die Mauer fiel, gehörte es zu den Aufgaben der Radiosender der „freien Welt“ (wie auch zu denen der Gegenseite), ihre Botschaften weit ins Feindesland hineinzutragen – direkt und (wenngleich oft verbotenerweise) ohne die Infrastruktur eines Internets empfangbar. Gleiches galt natürlich im stärkeren Maße noch für die Kurzwelle, auf der sich die Deutsche Welle weltweit und vielsprachig verströmte. Auch vorbei. Wenn nun aber wiederholt zu hören ist, daß autoritäre Staatenlenker ungeliebte Netzadressen sperren lassen, dann drängt sich der Gedanke auf, daß das freie Versenden des Rundfunks durchaus seine Vorteile hatte.

Adieu, Flirt

Abschließend möchte ich noch auf mein „Flirt“ zu sprechen kommen, genauer auf meinen eleganten „Flirt“ Sechs-Transistor. Wenngleich der Herstellername Graetz auf dem Gehäuse steht, vermute ich stark, daß die Innereien nicht aus Bochum, sondern (damals noch) aus Japan kamen. Solche kleinen Radios mit – eben – sechs Halbleitern im Inneren waren in den 60er Jahren sehr beliebt, klein, leicht und einfach zu bedienen. Sie bildeten eine erste Klasse von elektronischen Kompaktgeräten, die man problemlos mit sich führen konnte, um beispielsweise überall Bundesliga zu hören. Jetzt aber, wie gesagt, hört man eigentlich gar nichts mehr, höchstens noch einen ausländischen Sender, bei Nacht.

Hier sollte an sich Schluß sein, aber das Ende klingt mir jetzt zu depressiv. Denn die Verbreitung ist ja nur Form, viel wichtiger sind doch die Inhalte! Lob und Preis denn also für die fleißigen Nachrichtenmagazine morgens und mittags, für die Presseschauen und für die Diskussionen, in denen Teilnehmer tatsächlich noch ausreden dürfen. Und einen besonderen Dank für das historische „Kalenderblatt“, das nach den 9-Uhr-Nachrichten definitiv seinen optimalen Sendeplatz hat.

Aber auf Mittelwelle hat es eben auch sehr schön geklungen.




Ungemein wandelbar, unstillbar neugierig – zum Tod von David Bowie

Als er neun Jahre alt war, hatte er eine Begegnung mit „Gott“, wie er es später beschrieb. Der kleine David Robert Jones aus Londons Stadtteil Brixton hörte Little Richards Version von „Tutti Frutti“ verzückt rauf und runter – und war seinem Vater Haywood endlos dankbar, dass der ihm die Rille geschenkt hatte.

Im Klang von Little Richards Stakkato erwachten der Sinn für die Musik, die Kreativität, das Sinnliche am Machbaren beim Jungen, aus dem später David Bowie werden sollte. Er wurde zur Ikone des Pop und zu einem Künstler, dessen Einfluss auf die Entwicklung des Genres ungeheuer wurde. David Bowie, das Multitalent mit dem androgynen Äußeren, ist jetzt mit 69 Jahren an Krebs gestorben.

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons)

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons) – Link zur Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Bevor aus ihm der gefeierte Star mit 140 Millionen verkauften Tonträgern wurde, war er aber erstmal Dave Jay, der bei einer weniger gefeierten Combo namens „The Kon-Rads“ sang und Saxophon spielte. Aber immerhin. Er war es, der den Titel „I Never Dreamed“ mit komponierte, den die Decca aufnahm. Allerdings blieb der kommerzielle Erfolg zunächst aus.

David machte auf Solo, spielte und sang in anderen Gruppen, machte einen Ausflug in die Pantomime, deren Einfluss bei späteren Bühnenauftritten sichtbar blieb, wurde kurzfristig zu „Davy Jones“, was er aber alsbald aufgab, weil einer der „Monkees“ so hieß. Also wurde David Bowie geboren, und beim Nachnamen stand Amerikas Nationalheld Jim Bowie Pate.

„Ground Control To Major Tom“, das war das erste, was ich von diesem schillernden Künstler wahrnahm. Immer wieder mal kreuzte der Titel meinen Weg im Auto, wenn es aus den schwindsüchtigen Lautsprechern plärrte, was der einsame Astronaut und die Bodenstation miteinander besprachen. Ein Jahrzehnt später bestätigte David Bowie meine spontane Assoziation mit psychedelischen Halluzinationen, outete Major Tom als Junkie.

Seine unstillbare Neugierde, sein Hunger nach neuen Einflüssen, seine chamäleoneske Wandlungsfähigkeit sorgten dafür, dass David Bowie anscheinend unaufhaltsam aufstieg. Als Musiker wurde er vorübergehend „Ziggy Stardust“ (Madonna sah ihre Welt verändert, nachdem sie ein Ziggy Stardust-Konzert besucht hatte), Andy Warhol und dessen Follower weckten seine Leidenschaft, bei Auftritten mit Geschlechterrollen zu spielen.

Dem Aufstieg konnte er nur selbst im Weg stehen. In seiner durchaus kreativen „Berliner Phase“ durchlebte er einen kalten Entzug. In der „Hauptstadt des Heroins“, wie er Berlin taufte, säuberte er Geist und Körper, machte unter anderem einen Abstecher zum deutschen Film. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sah ihn in einem Kurzauftritt, der gesamte Soundtrack stammt von ihm.

Ohnehin ist Davids Filmografie beeindruckend. Mit Cathérine Deneuve und Susan Sarandon wirkte er in „Begierde“ von Tony Scott mit. In „Der Mann, der vom Himmel fiel“ habe er eigentlich nur sich selbst gespielt, gestand der damalige Debütant – er war zu der Zeit schwerst süchtig nach Kokain. Martin Scorsese stellte ihn neben Willem Dafoe und Harvey Keitel in „Die letzte Versuchung Christi“.

Die Bandbreite seiner musikalischen Wegbegleiter reichte (beispielsweise) von Pat Metheny über Queen, Pink Floyd, Mick Jagger und Marianne Faithfull bis hin zu Bing Crosby.

Nun wird er die unterschiedlichen Szenen nicht mehr inspirieren und deren Inspirationen in sich aufsaugen. Kurz vor seinem Tod erschien sein letztes Album, „Blackstar“. Nun kommt bei der Groundcontrol ein letzter Gruß von Major Tom an. David Bowie ist auf seinem letzten Trip.




Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Rossini-Rarität am „Opernhaus des Jahres“: Nationaltheater Mannheim zeigt „Tancredi“

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis "Tancredi". Foto: Hans Jörg Michel

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis „Tancredi“. Foto: Hans Jörg Michel

Das Nationaltheater Mannheim – gemeinsam mit Frankfurt „Opernhaus des Jahres“ 2015 – hat in dieser Saison einen Spielplan, der jedem auf Auslastung und Publikumsbedienung fixierten Theaterchef den Sorgenschweiß auf die Direktorenstirn treiben würde: Noch wehte Franz Schrekers „Der ferne Klang“ durch die mächtige Schachtel des Zuschauerraums, da kündigten sich schon Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ an, gefolgt von Gioacchino Rossinis „Tancredi“.

Und so geht es weiter im Hause von Klaus-Peter Kehr: Am 10. Januar hat Jacques Fromental Halévys „Die Jüdin“ Premiere, sieben Wochen später Sergej Prokofjews „Der Spieler“. Und danach als Uraufführung Bernhard Langs „Der Golem“. Selbst der Mozart-Abschluss im Juli meidet Populäres, widmet sich dem „Idomeneo“. Zum Vergleich: In Essen mokieren sich bestimmte Kreise schon, weil einmal nicht die Braut verkauft, sondern aus dem slawischen Repertoire eine Kostbarkeit wie Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ die spärliche Zahl der Neuinszenierungen eröffnete.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Rossinis erster Welterfolg „Tancredi“ von 1813 ist längst auf die internationale Opernszene zurückgekehrt – nur in Deutschland nicht. Schon in den siebziger Jahren tourte Marilyn Horne mit dieser Partie durch die Welt, und die kritische Edition (1977/1984) ermöglichte verantwortungsvolle Aufführungen. Die gab es in germanischen Gefilden auch, aber nur an speziellen Orten, bei den Schwetzinger Festspielen etwa (1992) oder beim Rossini Festival in Bad Wildbad (2001).

Mit der Mannheimer Inszenierung durch Cordula Däuper wagt es nun ein großes Opernhaus, „Tancredi“ ins Repertoire aufzunehmen. Zeit dazu wird’s, denn inzwischen stehen auch Sänger bereit, die Rossinis anspruchsvolle Partien stilistisch adäquat bewältigen und gestalten können. Und obwohl Librettist Gaetano Rossi das subtile Geflecht der Begründungen für den Verlauf der Tragödie – Vorlage ist Voltaires „Tancrède“ – radikal zerrissen hat, bleibt noch genug inhaltliche Substanz, um sich auch ohne Vorwissen auf die unglücklichen Figuren einlassen zu können.

Der Ritter Tancredi ist, weil Feind der herrschenden Familie, aus dem Syrakus des 11. Jahrhunderts verbannt, kehrt aber voll Sehnsucht nach der Heimat und seiner Geliebten Amenaide heimlich zurück. Er muss erfahren, dass sich die rivalisierenden Familien von Argirio – dem Vater Amenaides – und Orbazzano verständigt haben, weil die Stadt von Sarazenen bedroht wird. Unterpfand der Allianz ist Amenaide: Die heftig widerstrebende jungen Frau soll eine politisch alternativlose Ehe mit Orbazzano eingehen. Ihr Brief an Tancredi wird abgefangen und fälschlich als Schreiben an den Anführer der Sarazenen interpretiert. Amenaide droht nun als Verräterin der Tod – und auch Tancredi vertraut ihr nicht mehr. Er rettet sie zwar im ritterlichen Zweikampf mit Orbazzano vor der Hinrichtung, sucht aber dann aus enttäuschter Liebe den Tod in der Schlacht.

Die Musik wendet sich den Menschen zu

Rossis Libretto verweigert den stringenten dramaturgischen Zusammenhang. Die Aufklärung der Missverständnisse wäre – ähnlich wie in Webers „Euryanthe“ – problemlos möglich. Doch darauf kam es den mit Voltaire vertrauten Zuschauern der Entstehungszeit nicht an. Und die Ängste, Sehnsüchte und Träume, die Wut, Verzweiflung und Depression der handelnden Figuren, auf die Rossini sein Augenmerk richtet, vermitteln sich, von dramentheoretischen Einwänden unverstellt, heute wieder direkt und berührend.

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Der Vater Argirio etwa ist kein standardisierter Bösewicht, kein unbeugsamer Politiker. Seine große Szene im zweiten Akt mit der bedeutsamen Arie „Ah! Segnar invano io tento“ zeigt ihn als zerrissenen Menschen. In seinem Inneren bringt der politische Druck die Stimme der Natur – die um Gnade für die Tochter wirbt – zum Schweigen. Das lässt ihn seelisch zerbrechen. Für diesen Moment wie auch für die Klagen Amenaides verliert Rossinis Musik ihre klassizistische Ausgewogenheit nicht, aber ihr sozusagen aus olympischen Höhen schweifender Blick wendet sich dem Menschen ganz nah und empfindsam zu. Nicht nur die kostbare Miniatur des Sicilianos der Einleitung zu „Di tanti palpiti“, dem „Schlager“ der Oper, weist voraus auf den Rossini der Experimente in Neapel, in denen er das romantische Gefühl in die Musik einsickern lässt, ohne ihre objektivierende Distanz aufzugeben.

Rubén Dubrovsky und das klein besetzte Orchester des Nationaltheaters nähern sich diesen Momenten seelenvoller Schönheit behutsam, mit sanfter Artikulation und drucklosem Klang. Dubrovsky achtet darauf, den Rhythmus federn zu lassen, die Bläser leuchtend und leicht zu halten, den Streicherapparat nicht in die Falle der Simplizität laufen zu lassen. Denn oft verleitet Rossinis kinderleicht anmutende Musik dazu, sie langweilig abzuspielen statt mit lebensvollen Nuancen zu formen. Nicht immer gelingt das: Die Ouvertüre gerät steif und mit zu massiven Tutti; das erwähnte Siciliano läuft im Metrum zu wenig flexibel ab. Da fehlt der Musik der Duft.

Das Heil der Inszenierung in der Reduktion gesucht

Unter den Sängern überzeugt ausgerechnet der als Rossini-Spezialist ausgewiesene Filipo Adami als Argirio am wenigsten: ein enger, nasig in die Höhe getriebener Ton, manchmal ein brüchiges Vibrato, eine kaum flexible Gestaltung der Linien. Eunju Kwon als Amenaide macht vor, wie’s gehen könnte. Sie hat die Leichtigkeit und den süßen Ton, die einwandfrei gebildeten Verzierungen und die verschatteten Farben für die Stellen der Resignation, der Trauer, der Depression. Im Duett mit dem Tancredi von Marie-Belle Sandis harmonieren die Stimmen delikat; im Duett mit Adamis Argirio laufen sie nebeneinander her.

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Sandis singt ihre weltberühmte Auftritts-Cavatina nicht als Virtuosen-Demonstration, sondern verinnerlicht und mit viel Gefühl; als auffahrender Krieger fehlt ihr der Aplomb des Heroen, wie ihn Marilyn Horne unvergleichlich auf die Bühne gebracht hat. Aber Sandis weiß durch klugen Stimmeinsatz diese natürliche Begrenzung ihres Contralto wettzumachen. Reizend macht Ji Yoon mit der Arie des Roggiero auf sich aufmerksam. Sung Ha als Orbazzano gibt auch stimmlich den groben Militär, Julia Faylenbogen hat als Isaura keine Chance, sich zu profilieren,

Cordula Däuper und ihr Bühnenteam Ralph Zeger und Sophie du Vinage suchen ihr Heil in der Reduktion – nicht ohne Überzeugungskraft: ein Spielpodest in schwarzer Bühne, eine Brücke nach hinten zu einer Tür, wenige Requisiten, Kostüme, die Militärisches des 20. Jahrhunderts mit Elementen der napoleonischen Zeit der Entstehung der Oper reflektieren. Däuper interessiert sich für die Konstellationen von Seelenzuständen, versucht nicht, die antirealistische, kunstvolle Stilhöhe des Dramas mit quasi naturalistischer Aktion aufzufüttern.

Chiffren wie das Brautkleid oder ein in die Erde gepflanzter, nach dem Scheitern des Hochzeits-Deals wieder ausgerissenes Bäumchen spielen eine Rolle, ebenso ein Kinderpaar. Die beiden fegen über die Bühne, als Amenaide sich an ihren Geliebten erinnert; später wird ihr Vater das kleine Mädchen in einen Geschenkkarton stecken, so als wolle er sein Idealbild seiner Tochter konservieren. Die Elemente spielen eine Rolle – Erde auf dem Podest, Wasser als Regen, Luft und das finale Feuer, in dem Tancredi sein Ende findet. Man spielt in Mannheim den tragischen Schluss, den Rossini anstelle des „lieto fine“, des glücklichen Endes der venezianischen Uraufführung, wenige Wochen später für Ferrara konzipiert hat.

Rossini-Rarität auch in Frankfurt

Auch das andere „Opernhaus des Jahres“ hat eine Rossini-Rarität im Repertoire: Seit Dezember spielt Frankfurt wieder seine düster-überzeugende Version der „diebischen Elster“, eine kafkaeske Kleine-Leute-Geschichte mit einer rundum überzeugenden Ensemble-Leistung. Das Konzept, auch wenig Bekanntes in qualitätvollen Inszenierungen vorzustellen, durchzieht Bernd Loebes Intendanz bisher und wird sich auch fortsetzen: Im Herbst zeigte die Oper Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in einer musikalisch eindrücklichen, szenisch von Altmeister Harry Kupfer überraschend bieder arrangierten Aufführung. Am 23. Januar folgt die Neuinszenierung einer einst beliebten, aber seit Jahren nicht mehr aufgetauchten italienischen komischen Oper: „Le cantatrici villane“ („Die Dorfsängerinnen“) von Valentino Fioravanti. Und kurze Zeit später, am 31. Januar, erlebt Giuseppe Verdis verkanntes Meisterwerk „Stiffelio“ seine Frankfurter Erstaufführung. Dazu im April mit „Radamisto“ noch eine Händel-Rarität. Und das alles bei glänzenden Besucherzahlen. So geht Oper: lustvoll, originell, neugierig.

Rossinis „Tancredi“ in Mannheim am 16.01., 17. und 24.03. und 15.04.2016. Karten: (0621) 1680 150, www. nationaltheater-mannheim.de

Rossinis „La gazza ladra“ in Frankfurt zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 08.01.2016. Karten: (069) 212 49 49 4, www.oper-frankfurt.de




Wenn’s beim Lesen nicht mehr raschelt – meine Erfahrungen mit dem E-Paper

Glaube niemand, ich hätte das alles einfach so gemacht. Nein, ich habe mich rundum abgesichert. Bevor ich mein Print-Abo einer überregionalen Tageszeitung in ein tägliches E-Paper umgewandelt habe, habe ich mir jederzeitige Rückkehrmöglichkeit zusagen lassen. Wenn ich wollte, könnte ich schon morgen wieder Druckerschwärze an den Fingern haben…

Außerdem liegen nach wie vor zwei andere Blätter morgens papieren auf dem Tisch, so dass der Entzug ohnehin nicht total ist.

Nun habe ich schon eine etwas längere Geschichte mit dem bedruckten Zeitungspapier. In meinen journalistischen Berufsanfängen habe ich noch Mettage und Bleisatz kennen gelernt, habe noch etliche Jahre auf herkömmlichen Schreibmaschinen gehackt, bevor dann nach und nach all die technischen Neuerungen Einzug hielten. Anfangs kamen einem selbst Faxe vor, als stammten sie von Zauberhand. Dann der blitzsaubere Lichtsatz mit allerliebst zurechtgeschnittenen Textfähnchen – und, und, und. Bis man dann schließlich im Internet wühlte, wie es alle anderen Berufsgruppen auch taten.

Die FAZ-Titelseite vom 6. Januar 2016

Die FAZ-Titelseite vom 6. Januar 2016

Als Kunde desgleichen. Eine lange Geschichte. Kein Frühstück war denkbar ohne Kaffeeduft und Blätterrauschen. Vor der Lektüre habe ich oft die Zeitungen genommen und hingebungsvoll am Seitenschnitt gerochen – mhhhhh. Erst dann ging’s genüsslich an die Inhalte. Wer das nicht kennt, hat was verpennt. Und so ganz möchte man’s auch heute noch nicht missen. Gibt es derlei Nostalgie nicht schon als App?

Jetzt aber doch „Neuland“ betreten. Jüngere Leute werden gar nicht wissen, was ich meine. Andere schon.

Ein kardinaler Vorteil: Bereits abends um 20 Uhr kann man die Ausgabe des nächsten Tages lesen, damit schließt man für Stunden beinahe zum Netztempo auf, allerdings nicht mit wuseligen Web-Gehechel, sondern mit einer gediegenen, durchredigierten Ausgabe, erstellt von einem vertrauten Team, mit Schwerpunkten und Gewichtungen, wie man es seit jeher schätzen gelernt hat; selbst dann, wenn einem diese Gewichtungen mitunter gewagt oder gar falsch erscheinen.

Und was soll ich sagen. Zumindest in den ersten Monaten nutze ich die Zeitung intensiver als vorher, lese jeden Tag mehr Beiträge, schaue auch schon mal in Ressorts und Rubriken hinein, die ich vorher mit einem Schwung beiseite gelegt habe. Beim E-Paper aber geht ja ein Zeitungsbuch quasi bruchlos ins andere über. Man empfindet die Zeitung eher als Einheit.

Nanu? So still hier?

Gewiss. Das Rascheln fehlt. Natürlich ist das ein sinnlicher Aspekt des Lesens. Und wahrscheinlich tut es den Augen auf Dauer wohler, wenn sie über leselampensanft illuminiertes Papier gleiten, als wenn sie digital angeleuchtet werden. Ich weiß nicht, ob ich da Langzeitwirkungen zu spüren bekommen werde. Fragen Sie Ihren Arzt… Mir ist übrigens nicht klar, ob ich E-Paper-Inhalte ebenso gut im Gedächtnis behalte wie althergebrachte Lektüre. Aber auch dafür lasse ich mir den Kopf jetzt nicht durchleuchten.

Es gibt mehrere Zugriffsmöglichkeiten. Am komfortabelsten über den PC/Mac, wo man sich – neben der kompletten Seitenansicht – auch jeden einzelnen Artikel in typographischer Original-Anmutung aufrufen kann. Sodann lässt sich die Lektüre herabstufen auf Tablet-Qualität (auch noch ganz gut erträglich) oder auf Smartphone-Quälerei, wovon denn doch abzuraten ist; es sei denn, man wollte nur ganz kurz ein Resultat nachschlagen.

Veranschlagt man nun noch die diversen Such- und Sortier-Optionen, wie sie bei Print eben nicht zur Verfügung stehen, sowie den etwas günstigeren Monatspreis, so spricht doch einiges für ein E-Paper. Überdies kann man sich ein besseres Öko-Gewissen machen, entfallen doch Abholzungen, Transporte sonder Zahl und schließlich die Entsorgung der Papiermüllberge. Stromverbrauch? Hat man bei der Produktion von Print-Produkten auch. Und nicht zu knapp. (Psssst: Bei Bedarf habe ich mir auch schon mal einzelne E-Paper-Texte ausgedruckt).

Inzwischen hat sich die 20-Uhr-Marke (Download der nächsten Ausgabe und danach auch Offline-Lektüre möglich) wie von selbst in die Tagesstruktur eingefügt; fast wie ganz früher mal der Beginn der „Tagesschau“. Doch Vorsicht, Vorsicht! Hier wird anderes Gelände berührt. Denn ehedem waren die Abendstunden den Büchern vorbehalten – und nicht mehr den Zeitungen. Hier muss ein Riegel vorgeschoben oder sogar ein Bann gesprochen werden.

Ach, übrigens: Kindle und dergleichen Gerätschaften kommen mir nicht ins Haus. Literatur bleibt auf Papier. Und falle der Umzug mit Büchern noch so schwer.




Wahn zum neuen Jahr – ein paar Halluzinationen mitten in der Silvesternacht

Am 31.12. 2015 bin ich um 23.30 zu Bett gegangen. Ich hatte mich entschlossen, mich den Feierlichkeiten zu entziehen und ganz normal einzuschlafen, um im Jahr 2016 erst wieder aufzustehen. Mein Wunsch war also, wieder aufzustehen.

Draußen sind die ersten voreiligen Schüsse zu hören. All die, die Angst haben, um Mitternacht überhört zu werden, schreien ihre Böller schon vorab in die Luft. Hört! Hier bin ich und ich knalle. Ich knalle jetzt, weil ich nicht weiß, ob ich das neue Jahr noch erlebe.

Ich schließe die Augen.

Anstatt mich die Wiege des Schlafes zu begeben, reist mein Hirn durch alle Regionen der Welt. Ich sehe Knallerfontänen auf Tonga. Der König von Tonga, Tonga, Tonga, erhebt sein Zepter und zeigt damit in Richtung Borsigplatz.

In Sydney leuchtet das Firmament als gelte es, den Weltuntergang einzuleiten. Zu Füßen der Oper verschluckt sich ein achtzehnjähriger an einem Drops und fällt tot um. Zur gleichen Zeit sitzt Wilhelm in der Dürener Straße an seinem Küchentisch und versucht, seine Flasche Bier an der Tischkante zu öffnen.

In Hongkong küsst der Suppenverkäufer Wang die Lehrerin Ming, während am Himmel ein Herz-Feuerwerk leuchtet. In Dubai brennt ein Hochhaus.

In Malaga werfen sich die Menschen Weintrauben in den Mund und in Castrop-Rauxel heult einsam ein Hund, während Manfred seinen letzten Korn herunterkippt.

Draußen herrscht Krieg. Darauf wird angestoßen und die vielen Kohlesäureopfer haben bereits ihre Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch platziert.

Plötzlich landet ein Knaller mitten in mein Hirn.

Erinnerungen werden abgespult im Blitztempo.

pizzeria Bedenkenswertes, Oberflächliches, Berührendes, Ärgerliches, Fragen und Antworten – eine Sammlung kleiner Erlebnisse und Begegnungen während des Projektes zur Erkundung und Beeinflussung der Nachbarschaft: Der Stahlarbeiter als Messdiener und Tanzstubentänzer, der ehemalige Boxtrainer und jetzige Rentner, der Grieche, der als Kürschner hierher kam und ein Geschäft eröffnete, als andere vor Kohle oder Stahl schwitzten, die Ex-Gefallene mit zwei Kindern, die jetzt als Disco-Fee Hula-Hoop Performerin ist, der Kiosk Betreiber als Imker und Soziologe, die Hundefrau mit ihren vier chinesischen Tempel-Tölen mit Comedy Ambitionen, der Sitarspieler und Heiler mit der Ruhestrahlung eines Friedens-Reaktors, der 12-jährige als Kochmeister, die Studentin und die obskuren Nachbarn, die afrikanische Kommunion, das Fensterkonzert von Queen, winkende Straßenbahnfahrgäste, die Spielerei mit der freien Republik Borsigplatz, der BVB-Fähnchen schwenkende Pizzabäcker, die Unterhose im Baum, die alle dutzende Frisörin, die Hippie-Wohnung des Lebenskünstlers, die Vogel-Kolonie im Geisterhaus, die Rollstuhlfahrer-Connection, die roten Tänzerinnen im Park, Monopoly für Aufmerksame, die Suppen von André, Biertrinker im Regen, die Kunstablehner, die Kunstverwirrten, das Klinkenputzen bei Eis und Wind, der Blinde und der Taube, das Punk-Konzert und die 90-jährige Zuhörerin. Die Wahrheiten.

Stille.

Nur in der Ferne noch ein paar Böllerchen.

In einer Wolke erscheinen Menschen und ihre Wünsche hängen wie Sprechblasen an ihren Lippen. Immer mehr und immer mehr. Wie in einem Drogenrausch höre ich Stimmen. Nichts ist sortiert. Ich versuche, meine Augen geschlossen zu halten und gleichzeitig, ein Lied zu summen……“Atemlos…“

zoo enteIch wünsche mir ein neues Jahr, höre ich jemanden flüstern. Ich wünsche, dass Mama mir einen Kuß gibt, dass Papa wiederkommt. Ich wünsche, dass ich mir was wünschen darf. Ich will im neuen Jahr immer zuverlässig sein. Ich will mich regelmäßig rasieren. Ich werde keinen Tropfen mehr trinken. Ich lasse das fluchen. Es soll im Sommer wieder die Sonne scheinen. Ich wünsche mir schönere Lippen. Im neuen Jahr will ich endlich Nein sagen. Ich wünsche mir ein Kind. Ich wünsche mir eine Oma. Ich werde niemandem mehr in die Fresse hauen. 2016 sollen mich alle am Arsch lecken. Ich werde Rücksicht nehmen. Der BVB soll Meister werden. Ich wünsche meinem Onkel, dass ihm der Arm abfällt. Ich werde an einem Friedensmarch teilnehmen. Ich werde einen Friedensmarsch organisieren. Ich werde einen Friedensengel basteln. Ich werde zu Gott beten. Ich verspreche, immer zuzuhören. Ich verspreche, mehr Sport zu treiben. Ich werde einmal pro Woche Sport treiben. Ich werde es einmal pro Woche treiben. Ich verspreche, mehr Luft zu schnappen. Ich werde einen Gymnastikball heiraten. Ich werde nie mehr vergessen, meinen Reißverschluss zuzumachen.

Ich werde zu meiner Schwester brüderlich sein. Ich will eine Frau werden. Ich will ein Mann sein. Ich will keine Plastiktüten mehr benutzen. Ich werde keine Selfies mehr posten. Ich werde Pornos nur noch sonntagmorgens anschauen. Ich verspreche: Bis dass der Tod uns scheidet.  Ich werde berühmt. Ich werde berühmt geworden sein. Ich will einen eigenen YouTube Channel gründen.

Mein Wunsch für 2016 ist: Mehr Licht! Mehr Geld, mehr Liebe, mehr Urlaub, mehr Hunde, mehr Fische, mehr Meer. Ich will meinen kleinen Bruder nie mehr mit der Faust ins Gesicht schlagen. Ich werde meinen Lehrer töten. Ich werde den Geburtstag meiner Katze nicht mehr vergessen. Ich will wieder laufen können. Gesundheit, Frieden, Gesundheit, Frieden…mehr Leben, mehr Kalorien, mehr Privatsphäre, mehr Katzen, ein gewaltiger Shitstorm soll alles in Schutt und Asche legen.

So langsam werden die Stimmen leiser und ich höre noch einen Böller, wie er langsam sich am Boden windet, platzen und krachen will, aber letztlich elend versagt und still liegenbleibt.

Ich schlafe ein. Das Jahr 2016 hat begonnen.




Flucht vor dem Drogenkartell – in die gar nicht so idyllische Provinz

Das seit Jahren vermisste Mädchen Gesa war für die meisten Bürger in dem beschaulichen Bad Iburg längst in Vergessenheit geraten, als Andreas Atlas plötzlich wieder in dem Städtchen mitten im Teutoburger Wald auftaucht. Er hatte sich einst kurz nach dem Verschwinden der damals 18-jährigen aus dem Staub gemacht. Als er nun in seine alte Heimat zurückkehrt, holt ihn die Vergangenheit wieder ein, aber nicht nur ihn, sondern auch Bekannte und Kollegen aus früheren Zeiten.

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Andreas Atlas ist die Hauptfigur in Martin Calsows neuem Krimi, der von sehr unterschiedlichen Handlungssträngen lebt und recht eigenartige Persönlichkeiten aufzubieten hat. Das fängt schon bei Atlas selbst an. Er ist ein Mann des Bundeskriminalamtes, war als verdeckter Ermittler auf das mexikanische Drogenkartell angesetzt. Ihm gelingt zwar dort der Aufstieg, aber als er auffliegt, muss der Deutsche fliehen.

Dabei möchte er sich eigentlich mit einem unterschlagenen Millionenvermögen in Südamerika ein schönes Leben machen. Doch aus Todesangst vor seinen Verfolgern sucht er lieber den Schutz der ländlichen Idylle. Dort kann indes von Wiedersehensfreude keine Rede sein, die eigene Familie fühlt sich von ihm verprellt, da er es nicht einmal für nötig befand, zur Beerdigung des Vaters zu erscheinen. Das hat auch auf seinen Ruf im Ort abgefärbt, zudem glauben die meisten Leute ohnehin, er habe sich nur rumgetrieben und sei ein Scharlatan.

Doch eine Freundin aus alten Zeiten hält zu ihm. Mit ihr gemeinsam rekonstruiert er die letzten Tage und Stunden vor Gesas Verschwinden. Dass da plötzlich noch intime Fotos auftauchen und Menschen in den Fokus geraten, die sich bis dahin als streng religiöse Gläubige ausgewiesen haben, trägt ganz erheblich zur Steigerung des Spannungsbogens bei. Calsow versteht es nicht nur, dem Krimi eine dramatische Wende zu verleihen, es gelingt ihm auch, die Charaktere mit ihren Widersprüchlichkeiten und prägenden Lebensschicksalen prägnant zu beschreiben.

So aufwühlend die Ereignisse von damals und heute auch immer sein mögen, Atlas verliert nie seine prekäre Lage aus den Augen. Was aus seinen ursprünglichen Zukunftsplänen wird, sei hier noch nicht verraten. Wohl aber soviel: Wie es mit ihm weitergeht, wird ganz wesentlich von einem autistischen Kind bestimmt.

Martin Calsow: „Atlas. Alles auf Anfang“. Grafit Verlag, 253 Seiten, 10,99 Euro.