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Schock beim Download: "Er ist wieder da..." (Screenshot: BB)

Schock beim Download: „Er ist wieder da…“ (Screenshot: BB)

Hat das eigentlich noch niemand bemerkt und gegeißelt?

Wie, was, wo, warum? Ja, was, ich werd‘ euch sagen, was: Immer dann, wenn man eine App herunterlädt und beim Vorgang warten muss, taucht zwischendurch unversehens ein Hitler-Piktogramm auf – mit stilisierter Andeutung des berüchtigten Haarschnitts und des widerlichen Schnauzbarts. Wer’s nicht glaubt, sehe selbst. Man erlebt sein blaues Wunder. Screenshots lügen nicht.

Da hört sich doch alles auf! Gibt es denn wirklich keine unverfängliche Zeichensprache für den Download?

P.S.: Man macht mich darauf aufmerksam, dies sei ein reines Apple-Phänomen und komme so nur bei iPhone und iPad vor. Mag sein. In der Android-Welt bin in nicht daheim. Dann können wir aber auch schon ein Zusatzthema herbeiquälen. Apple hatte sich – aus welchen Motiven auch immer – jüngst geweigert, den US-Behörden beim Hacken eines Handys zu helfen, das einem toten Terroristen gehört hatte. Somit drängt sich die Frage auf: Was ist los in Cupertino?




Heinz Strunks Roman über Fritz Honka – die schreckliche „Normalität“ eines Serienmörders

Schon der Name Fritz Honka erzeugt Grusel, zumindest bei allen, die schon etwas älter sind und die 70er Jahre bewusst miterlebt haben. Über den Mann, der mindestens vier Frauen ermordete und die Leichen zerstückelte, hat der Autor Heinz Strunk ein aussagekräftiges Buch geschrieben.

Der mit etwas über 250 Seiten eher schmale Band nähert sich literarisch einer Person, die aus den untersten Gesellschaftsschichten stammte und im Laufe des Lebens immer mehr verrohte. Doch der Schriftsteller Strunk scheint eigentlich weniger erklären als vielmehr erzählen und die Geschichte eines Mannes nachzeichnen zu wollen, dessen Taten die Boulevardpresse auch in allen Einzelheiten ausbreitete.

HonkaStrunk geht indes weniger chronologisch vor, sondern arbeitet meist mit Versatzstücken, die sich am Ende aber zu einem Bild zusammenfügen lassen. Sexbesessen, pervers, gewalttätig, versoffen sind alles treffende Begriffe, mit denen man diesen 1935 in Leipzig geborenen Serienmörder beschreiben könnte. Doch es gab da auch einen Fritz Honka, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein ganz normales Leben zu führen, mit einer Frau, mit einer Familie, mit Kindern.

Ganz nah dran, den Dingen eine Wendung zu geben, scheint er zu sein, als man ihm das Unternehmen Shell als Nachtwächter einstellt. Er erhält endlich eine Uniform, der Alltag bekommt eine feste Struktur. Der Hamburger Kiez-Kneipe „Der Goldene Handschuh“ versucht er zu entfliehen. Hier ist er Dauergast und dort wird er später seine Opfer abschleppen, samt und sonders (Gelegenheits)-Prostituierte aus dem Trinkermilieu. Doch noch ist es nicht soweit. Vielmehr versucht er ein bürgerliches Dasein zu beginnen, er besucht die touristischen Attraktionen der Hansestadt.

Recherchen in der Kiez-Kneipe

Wenn Strunk die Welt in der Wahrnehmung von Honka beschreibt, scheint dieser schrecklich normal zu sein. Doch seine Alkoholsucht in Kombination mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, die er seit frühester Kindheit erlitten hat, bieten offensichtlich keine Chance, ganz von vorn zu beginnen. Versuche, so schimmert es durch, hat es wohl auch vorher gegeben, allerdings ebenfalls erfolglose.

Den Taten selbst widmet der Verfasser nicht allzu viel Raum, wobei er allerdings den Leser keineswegs schont, sondern durchaus die brutalen und verstörenden Details der Morde darstellt. Ohnehin sollte sich der Leser auf eine Sprache gefasst machen, die schockieren kann. Sie wirkt herb und schroff, nicht anders als die Menschen, denen man hier begegnet. Manchmal scheinen auch Sätze zunächst unverständlich zu sein. Doch man muss dann eben noch einmal ansetzen, es ist halt der Umgangston, der in diesem Milieu herrscht.

Strunk hat für sein Buch den „Goldenen Handschuh“ nach eigenem Bekunden rund 150 Mal besucht, um den Leuten von heute, aber auch speziell diesem Fritz Honka von damals nahe zu kommen. Der Serientäter unterscheidet sich dabei keineswegs von all den anderen Besuchern, die nicht in der Lage sind, dem Suff zu entrinnen. Ab und an erscheint auch der einzige Bruder, der offenbar nicht ganz so tief gesunken ist. Den Fiete (Strunk bezeichnet die Hauptfigur fortwährend mit diesem doch Vertrauen erweckenden Kosenamen) kann aber offensichtlich niemand aus der Gosse herausholen.

Dass die Kneipe nicht nur zum Ziel der gesellschaftlich total Abgestürzten geworden ist, sondern dass hier gern auch Bessergestellte auftauchen, ist ein Erzählfaden, der zweierlei verdeutlicht: Die Trinksüchtigen versinken keineswegs in einer Parallelwelt, sondern sind Teil des Alltags. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass der Besitz von Geld keineswegs auch bedeutet, das Glück gepachtet zu haben.

Mit seinem Buch, für das der Autor umfangreiches Studium der Prozessakten betrieben hat, ruft Heinz Strunk zwar die gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeit in Erinnerung. Gleichzeitig konzentriert sich der Verfasser aber auch auf die juristische Aufarbeitung. Von „Persönlichkeitsabbau“ ist in dem Urteil des Hamburger Landgerichts die Rede, der sich in dem Umstand verdeutlichte, dass der Angeklagte mit den verwesten Leichen in einem Raum zusammengelebt habe.

Heinz Strunk: „Der goldene Handschuh“. Rowohlt Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro.




Lebenspralle Literatur: Anton Kalt und der „Hasenkuckuck“ aus Dortmund-Aplerbeck

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen lesenswerten, heute aber nahezu unbekannten Schriftsteller aus dem 1929 nach Dortmund eingemeindeten Aplerbeck:

Mitte der 1970er gab es in Unna eine denkwürdige Lesung aus dem wohl besten Buch, das der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ in seiner damals stark beachteten Fischer-Taschenbuchreihe jemals herausgegeben hat. „Der rote Großvater erzählt“ hieß dieses Buch und vereinigte Geschichten von Siegen und Niederlagen der Arbeiterbewegung, dargestellt an Einzelschicksalen.

Gleich drei Autoren dieses Bandes lasen ihre Geschichte in Unna vor. Da war zuerst Bruno Gluchowski, wichtiger Autor der „Dortmunder Gruppe 61“ und dem Werkkreis freundschaftlich verbunden, dessen Romane „Blutiger Stahl“ und „Der Honigkotten“ nicht eigens empfohlen werden müssten, wenn im Literaturbetrieb Bücher über die Arbeitswelt nur ein wenig Beachtung fänden.

GroßvatGluchowski las seine Geschichte „Der Fliederbusch bleibt rot“, in der sich 1932 eine Arbeitersiedlung in Dortmund erfolgreich gegen eine Demonstration der Nazis zur Wehr setzte. Möglich war der Erfolg durch die Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Weil sie aber lokal begrenzt blieb und vor allem nicht für die Vorstände beider Parteien in Berlin galt, siegten die Nazis 1933 dann doch. Brutal haben sie sich im Dortmunder Fliederbusch an den Wortführern des Widerstands für ihre Niederlage ein Jahr vorher gerächt.

Der zweite war Paul Polte, der seinen Text über die Zusammenarbeit mit dem Brecht-Freund Hans Tombrock und seinem Widerstand gegen die Nazis vorlas.

Der dritte war Anton Kalt.

Bei diesem Namen wird auch ein Kenner der westfälischen Literatur stutzen. Anton Kalt, wer ist das denn? Er war ein Autor, der zwei Bücher geschrieben hat, von denen leider nur eines veröffentlicht wurde. Zusätzlich hat er Agitprop-Stücke für sein eigenes Kaspertheater und für Arbeiter-Varietés geschrieben, vor allem aber war Anton Kalt ein unglaublich beeindruckender Mensch, den niemand, der ihn je gekannt hat, vergessen wird.

Als Meldereiter bei der Roten Ruhrarmee

Anton Kalt las seinen Text vor, in dem er seine Beteiligung als Meldereiter bei der „Roten Ruhrarmee“ schilderte. 1920 hatten reaktionäre Kräfte gegen die junge Weimarer Republik geputscht. Kapp-Lüttwitz-Putsch heißt er nach seinen beiden treibenden Kräften, dem Bankdirektor Kapp und dem Befehlshaber von Ost- und Mitteldeutschland, General von Lüttwitz. Und weil den Arbeitern sofort klar war, dass das Ziel dieses Putsches die Abschaffung der sozialen Errungenschaften der jungen Republik war, kam es zum Generalstreik, der den Kapp-Lüttwitz-Putsch nach wenigen Tagen zu Fall brachte.

hasenkuIm Ruhrgebiet genügte den Arbeitern der Generalstreik nicht, sie bewaffneten sich und gingen mit Gewalt gegen die Putschtruppen vor. Hans Kalt, Antons Bruder, befehligte eine Abteilung der Roten Ruhrarmee, die bei Schwerte und Wetter gegen die Putschtruppen Lichtschlag kämpften. Durch Aplerbeck wollten die Lichtschlag-Truppen nach Wetter ziehen, um dort andere in Bedrängnis geratene Putschtruppen zu Hilfe zu eilen. Hans Kalts Abteilung schnitt ihnen den Weg ab, die Lichtschlag-Truppe musste zurückweichen, biwakierte in der Nähe der Heilanstalt und wurde dort endgültig besiegt. Über 200 Gefangene machte die Rote Ruhrarmee in Aplerbeck.

Die Kalt-Brüder waren Mitglieder in der KPD, sie waren darin ihrem Vater gefolgt, der 1919, enttäuscht von der Kaisertreue der SPD im 1. Weltkrieg, die Aplerbecker Ortsgruppe der KPD gegründet hatte. Kein Wunder, dass sie sich sofort der „Roten Ruhrarmee“ anschlossen.

Anton sorgte als Meldereiter für die Verbindung zwischen den Truppenteilen. Sein Pferd stammte übrigens aus den beschlagnahmten Beständen der Lichtschlag-Truppen, was in einer Episode noch mal eine Rolle spielen sollte. Als der Putsch gescheitert war, kam es zum Bielefelder Abkommen, nach dem die Arbeiter ihre Waffen abgeben sollten. Die besiegten Putschtruppen selbst aber hielten sich nicht an den Frieden, sondern begannen, ihre jetzt unbewaffneten Gegner gnadenlos zu verfolgen. Den Kalt-Brüdern blieb nichts anderes übrig, als unterzutauchen. Anton konnte relativ schnell zurückkommen, Hans Kalt musste sich zwei Jahre lang in Hessen verstecken.

Danach begann die Zeit, in der die Kalt-Brüder sich in der kommunistischen Kulturbewegung engagierten. Hans gründete eine Kabarett-Gruppe, die in ihren Programmen genau die Parteilinie vertrat, während sein Freund Paul Polte zeitgleich in seiner Gruppe „Henkelmann“ eine offenere Linie verfolgte. Anton spielte bei KPD-Festen Geige oder Gitarre und trat mit eigenen Kasperletheater-Programmen auf. Ernst Thälmann, KPD-Vorsitzender und Freund der beiden, hatte sie darin bestärkt, auf diese Weise die Parteiarbeit zu unterstützen.

Gestapo-Haft in der Steinwache

Nach der Machtwergreifung der Nazis sind sie in die berüchtigte Dortmunder Steinwache der Gestapo gebracht worden, die – am Nordausgang des Bahnhofs gelegen – heute eine Gedenkstätte ist und wo sie (auch dies unausweichlich) auf den einsitzenden Paul Polte trafen.

Aber während Polte nach einer Amnestie früh frei kam, wurden die Kalt-Brüder ins KZ Esterwege verschleppt. Sie überlebten es, kamen am Ende des Krieges nach Hause und jetzt war es Anton Kalt, der sein Heimatstädtchen Aplerbeck vor der Zerstörung rettete. Er kletterte auf das Kirchdach und hängte dort oben eine weiße Fahne auf, dann radelte er zur amerikanischen Kommandantur nach Sölde und brachte es fertig, dass nicht mehr auf Aplerbeck geschossen wurde. Sechs Wochen lang war er danach Bürgermeister von Aplerbeck, dann kamen die Engländer und setzten den Kommunisten ab.

Es war eine runde Geschichte, die Anton Kalt da vorlas und in der er, trotz Verfolgung und Lebensgefahr, immer auch die komischen Aspekte seiner Erlebnisse sah und betonte. Zum Schrecken über die Erlebnisse kam bei seinen Zuhörern deshalb immer gleich die Erleichterung durch Lachen. Typisch für ihn.

Schrecken und Komik nah beieinander

Nach dem Krieg wurde der frühere Bergmann Anton Kalt als Retter von Aplerbeck in die Dortmunder Stadtverwaltung aufgenommen. 20 Jahre lang war er Leiter des Fuhrparks, und als ihn nach dem KPD-Verbot 1956 sein Chef, Dortmunds Oberstadtdirektor Hansmann, ansprach, ob er nicht in die SPD eintreten wolle, er sei doch schließlich genauso wie sein Bruder ein politischer Mensch, da lehnte Anton Kalt höflich ab. Nein, er wollte seiner Gesinnung treu bleiben, sagte er, worauf Hansmann antwortete: „Jüngsken, hättest du was anderes gesagt, wärst du bei mir unten durch gewesen. Oder soll sich dein ehrlicher Vater im Grab rumdrehn?“

1962 erschien sein einziges Buch, „Hasenkuckuck“, in der Krügerschen Verlagsbuchhandlung. Inzwischen gibt es beide Krügerabteilungen nicht mehr, den kleinen Dortmunder Verlag und die große Buchhandlung, so dass Kalts Buch nicht mehr zu haben ist und – noch schlimmer – auch wenig Aussichten hat, noch einmal irgendwo aufgelegt zu werden. Verdient hätte es das Buch auf jeden Fall, denn es schildert, mit deutlich autobiographischen Zügen, das Leben eines Aplerbecker Bergmanns, der als Kleinkind zwei Tiere nicht unterscheiden kann und deshalb immer vom „Hasenkuckuck“ redet, worauf er denn auch sein Spitznamen hat.

Der Reiz des Buches, das mit einem Vorwort von Paul Polte erschien, liegt aber weniger im Thema als vielmehr in der derb-komischen Art, in der es erzählt wird. Es enthält bei der Gestaltung von Hasenkuckucks Lebenslauf herrlich komische, deftige Anekdoten und das alles, ohne die Realität des Lebens zu verschweigen.

„Ick sall grüßen…und hei wör daut“

Bei Hasenkuckucks Geburt zum Beispiel ist sein Vater schon sechs Wochen tot, verunglückt auf der Zeche. Die Betroffenheit beim Leser wird aber gleich durch die hilflos-komische Art ergänzt, wie Arbeitskollege Ernst Sauerbein der hochschwangeren Witwe diese Nachricht, nach quälenden Überlegungen während des Weges, mitteilt: „Guden Morgen, ick sall ink grüßen van inke Mann und hei wör daut.“ Man kann gar nicht anders als trotz der traurigen Situation zu lachen.

Das nächste Kapitel, Hasenkuckucks Taufe, ist ein wahres Kabinettstückchen komischer Literatur. Pfarrer Rübbert redet mit dem nörgeligen Nachbarn Bilstein zu, dass die Taufe würdig in dessen großem Wohnzimmer stattfindet muss, nicht in der dunklen Kate von Hasenkuckucks Mutter. Da Bilstein sowieso als Pate vorgesehen ist, stimmt er zu. Alles könnte gut gehen, wenn Pfarrer Rübbert nicht einen verwöhnten Hund namens Blemy hätte, vom Pfarrer stets „Blemchen“ gerufen, einen Verwandten von Bilsteins Hofhund Hektor, der nun wirklich den Namen Hund verdient. Was an Blemchen Fett und faules Fleisch ist, sind an Hektor Muskeln und Sehnen.

Klar, dass nicht nur Bilstein den Hund des Pfarrers ablehnt, auch für Hektor ist er der Todfeind. Nun bringt Rübbert ausgerechnet sein Blemchen mit zur Taufe und während draußen Hektor tobt, weil er seinen Todfeind natürlich gerochen hat, sieht auch Bilstein mit immer größer werdendem Ärger, wie der Pfarrer seinem Blemchen ein Tortenstückchen nach dem anderen reicht. Während alle um die drei herum fröhlich und ausgelassen sind, während Opa Heinken in gewohnter Routine dem Schnaps zuspricht und seine Anekdoten erzählt, steigert sich Bilstein Ärger zur Wut.

Als Blemchen schließlich, völlig übersättigt, das letzte Tortenstückchen auch noch liegen lässt, weil nun wirklich nichts mehr in ihn hineingeht, ist es Bilstein endgültig zu viel und das Unglück passiert. Gerade in dem Moment, als der Pfarrer zur Taufhandlung ansetzt, jagt Hektor ins Zimmer, beißt seinem Todfeind ein halbes Ohr ab, Blemchen jagt entsetzt davon, in voller Hektik geht die Jagd durch die Zimmer, während die Gäste kreischend auf die Stühle springen. Opa Heinken möchte mit dem Kartoffelstampfer die beiden Hunde trennen, aber da sein Schlag daneben geht, trifft er nur die alte Kaffeetasse, die daraufhin in tausend Stücke zerspringt.

Das große Durcheinander

Alles ist am Ende durcheinander, Opa Heinken zweiter Schlag geht nämlich wieder daneben und richtet noch mehr Schaden an, Blemchen sieht inzwischen wie gerupft aus, da weiß sich der ängstliche Pfarrer, besorgt um das Leben seines geliebten Blemchen, nicht anders zu helfen als das Ofenrohr aus der Wand zu ziehen und damit zuzuschlagen. Natürlich ergießt sich eine Wolke Ruß ins Wohnzimmer, natürlich verbrennt sich der Pfarrer bei seiner Rettungsaktion die Finger, aber endlich lässt Hektor von Blemchen ab. Nur zwei behalten in all der Hektik die Ruhe, Nachbar Bilstein und Hasenkuckuck. Der eine stellt befriedigt fest, dass der Pfarrer bestimmt nie wieder mit seinem Hund zu einer Taufe kommen wird und der andere schläft tief und fest in seinem Bettchen.

Erst drei Tage später findet in der Kirche die Taufe statt und der Erzähler stellt mit lakonischem Tonfall fest, dass sich an Hasenkuckucks Taufwasser der Pfarrer seine verbrannten Finger gekühlt hat.

Ein anderes Kapitel erzählt die Schlittenfahrt am „Freischütz“, jener Gastwirtschaft, die es bis heute in der Nähe der Katholischen Akademie Schwerte gibt. Während Hasenkuckuck zusammen mit seinen Freunden die Straße Richtung Schwerte runtersaust, ist der alte Heinrich Bräker gerade mit seinem Pferde Baldur unterwegs. Baldur ist auch alt und wunderlich geworden, genauso wie sein Herrchen. Jedenfalls erschreckt Baldur sich vor jeder Maus, umso mehr natürlich vor dem merkwürdigen Gefährt, das da plötzlich, mit Hasenkuckuck an der Spitze, um die Ecke gesaust kommt. Entsetzt springt Baldur auf die Mitte der Straße und bleibt dort, dem Schlitten die Seite zuwendend, stehen.

Ein störrischer Gaul

Bräker versucht zu retten, was zu retten ist, aber sein störrischer Gaul hört auf niemanden mehr. Hasenkuckuck hat inzwischen gemerkt, dass es nur einen Weg gibt, die Katastrophe zu vermeiden, nämlich unter der Pferdebrücke hindurch zu steuern. Das tut er dann auch, reißt dabei Heinrich Bräker mit auf den Schlitten, während Baldur weiter stocksteif verharrt und kommt schließlich heile unten an, direkt vor Heinrich Bräkers Kneipe. Erst da stellen sie allerdings fest, dass es doch eine Verletzung gegeben hat, denn genau in jenem Moment, als Hasenkuckuck rief: „Achtung, Köppe einziehen!“, hat Christine Happe, hinten auf dem Schlitten sitzend und neugierig geworden, aufgeschaut. Und weil Baldur zwar alt, aber doch immer noch ein Hengst ist, hat sie nun einen blauen Streifen an der Stirn. Wenn doch die Neugier der Frauen nicht wäre, soll der Leser denken, andererseits, was wüssten sie sonst von der Männlichkeit?

Der Leser ahnt, nichts in „Hasenkuckuck“ ist völlig frei erfunden. Solche und ähnliche Geschichten haben Anton Kalts Leben immer begleitet. Sogar bei seiner Tätigkeit als Meldereiter war das so. Als er zu einem liegen gebliebenen Lastwagen mit Waffen reiten sollte, musste er ausgerechnet eine Kutsche überholen, die von einer rossigen Stute gezogen wurde. Es ging um die lebenswichtige Sicherung des Lastwagens, die darüber entschied, ob die Schlacht gegen die Lichtschlag-Truppen gewonnen wurde oder nicht, da bedrängte Anton Kalts Hengst die Stute. Immer wieder sprang er auf die Deichsel der Kutsche, Kalt konnte sich nur mit Mühe auf dem Hengst halten und erst als irgendwo in der Ferne ein Schuss ertönte, erinnerte sich der Gaul an seine militärischen Erziehung. Augenblicklich ließ er von Kutsche und Stute ab und der Lastwagen mitsamt Waffen konnte gesichert werden. Leben und Literatur, bei Anton gingen sie stets eine komische Verbindung ein.

Das zweite Buch ging verloren

Dazu passt, was Polte in seinem Vorwort über Antons Kalts Schreibprozess berichtet: „Das Gelächter, das mich oft beim Schreiben übermannt hat, war ein fröhliches Gelächter, aus dem Sinn und der Fülle dieser Landschaft geboren, es entsprang der vollen Lust am Komischen, das in der menschlichen Natur ganz nah beim Tragischen wohnt.“ Anton Kalt hat es Polte erzählt, und Polte hat es in seinem Vorwort aufgeschrieben und lakonisch hinzugefügt:
„Er muss es wissen. Ich weiß es auch.
Und wünsche auch euch davon einen Hauch.“

Der Bericht über Anton Kalts literarisches Schaffen muss trotzdem mit einem traurigen Faktum enden. Kalt hatte eine Fortsetzung von Hasenkuckuck geschrieben, aber weil die Krügersche Verlagsbuchhandlung schon damals aufgelöst war, hatte er keinen Verlag dafür gefunden. So blieb das Manuskript in der Schublade liegen und als Anton Kalt um 1980 herum starb, stellte seine Familie betroffen fest, dass es niemanden gab, der seine Handschrift entziffern konnte. Für einen Graphologen hatten sie kein Geld, so ist dieser Band leider verloren gegangen. Anton Kalt würde das einerseits traurig, aber irgendwie auch komisch finden.




Familienfreuden XXI: Der Schlüssel zum Osterfest

Der Schlüssel zum Osterfest. (Bild: Albach)

Der Schlüssel zum Osterfest. (Bild: Albach)

Fiona ist im Osterfieber. Schließlich ist die Zeit zwischen Weihnachten und Sommer-Geburtstag aber auch so verdammt lang. Also: Hasen, Eier, Schokolade – immer her damit!

Der Schneemann sah wirklich nicht mehr schön aus: Das Glibber-Klebematerial, aus dem er bestand und das sich zuverlässig an jede Fensterscheibe saugt, hatte bereits alle Haare und Staubflocken der Umgebung angezogen. Ich fühlte mich kurz erinnert an die Yps-Gummihand, mit der ich als Kind für glückliche zwei Stunden alles in meinem Umfeld versucht hatte herbeizuziehen, bis sie eben auch aussah wie Kaugummi, das man durch verschiedene Dreckschichten gezogen hatte.

Ich hatte Mitleid mit dem Schneemann und auch Fiona muss gespürt haben, dass seine Zeit gekommen war. Auf Zehenspitzen stellte sie sich an ihr Fenster, knibbelte den kalten Gesellen runter und schüttelte die an ihr klebenden Reste ungeduldig ab. „Wir müssen was Neues basteln!“, stellte sie fest. Und gab ihre Bestellung auf: „Hasen, Eier, Bäume, Schmetterlinge, einen Korb, eine Möhre…“

Fensterdeko am Fließband

Akkordbasteln! Wie am Fließband schnitt ich die geforderten Rohlinge aus, die Fiona großzügig mit Wasserfarben bedachte. Der beste Ehemann von allen steuerte eine Möhre bei. Fertig war das bunte Osterbild. Dass Symmetrie im Allgemeinen oder gar Konzepte wie die Petersburger Hängung nur etwas für Spießer und Eltern ist, bewies Fiona durch ihre ganz eigene Fensteraufhängung: die wild durcheinandere. Nur bei einer Sache blieb sie strikt: „Die Eier müssen hinter die Bäume!“ – „Warum?“ – „Na, weil der Osterhase sie dahinter versteckt hat!“ Was im Ergebnis dazu führt, dass wir die schönen Eier nun nur noch von draußen sehen können.

Pusten!

Der nächste Schritt zum glücklichen Osterfest war ein externer Auftrag: Der Kindergarten hatte ausgepustete Eier bestellt. So viele wie möglich. Ich schaute mir erst einmal auf YouTube an, wie das überhaupt geht. Neugierig sah Fiona anschließend zu, wie ich mit hochrotem Kopf das Innere des Eis hinauspustete, pustete, pustete – bis endlich mit einem „Plopp“ auch die Hagelschnur herauskam. Mehr als zwei Mal konnte ich mich nicht dazu überwinden. Und die Puste-Beute verarbeiteten wir zwar tapfer zu Rührei – das abends aber auch keiner mehr so recht essen wollte. Immerhin: Nun baumeln zwei wunderschön bunt bemalte Eier in Fis Kindergarten.

Süße Tänze

Gestern dann war ich mit Fiona einkaufen. Versonnen stand sie vor den Türmen aus Süßigkeiten. Hasen, Lämmer, Küken lächelten sie verführerisch an. „Zu Ostern gibt es viel Schokolade, oder?“, fragte sie. „Ja.“ „Juchuh“, rief sie und vollführte einen kleinen Tanz.

Ein wahres Fest war für Fiona aber die Dekoration: Alles, was nicht schnell genug fortgelaufen war, wurde mit bunten Eiern behängt. Sträucher. Bäume. Türen. Wir immerhin nur temporär.

Es ist also beinahe alles bereit für Ostern. Heute Morgen aber fiel Fiona noch ein entscheidendes Detail ein: Wir hatten ihr erklärt, dass wir die Eier bemalen und der Osterhase sie dann abholt und versteckt. „Aber dann“, sagte sie ernst zu mir, „müssen wir doch noch einen Schlüssel für den Hasen hinlegen. Wie soll er denn sonst hier reinkommen?“




Flüchtlingsdrama in Düsseldorf: „Wir sind keine Barbaren“ von Philipp Löhle

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Zunächst fühlt man sich an Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ erinnert: Zwei Ehepaare, eine Yuppie-Wohnung, ein Konflikt. Doch spätestens als der Chor beginnt, die Nationalhymne zu summen, wird klar, dass es sich hier um eine deutsche Angelegenheit handelt.

„Wir sind das vollkommene Volk, wir müssen uns schützen“, skandieren die wohlgekleideten Menschen aller Altersgruppen und sehen dabei so harmlos aus wie in der Vorabendwerbung im ZDF. Und das Problem, das Barbara und Mario sowie Linda und Paul umtreibt, ist ein hochaktuelles: Bringen sie sich in Gefahr, wenn sie einen Flüchtling in der Wohnung aufnehmen oder handelt es sich um ein Gebot der Menschlichkeit?

Mona Kraushaar hat Philipp Löhles „Wir sind keine Barbaren“ am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert und damit die Balance zwischen Boulevard und politischem Theater gefunden.

„Wir sind nicht zufrieden, mit dem, was wir haben“, deklamiert der Chor, „wir rufen nach 22 Uhr nicht mehr an, wir sind stolz auf uns.“ Auf diese Weise dargeboten, reizen deutsche Sitten und Gebräuche regelrecht zum Lachen. Wäre die Situation nicht so ernst: Zwischen Barbara (Stefanie Rösner) und Mario (Jonas Gruber) kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, weil Barbara den Flüchtling Bobo (oder heißt er Klint?) eingeladen hat, bei ihnen zu leben, während ihr Ehemann lieber mit ihr und seinem riesengroßen Flachbildschirm alleine wäre.

Auch die neuen Nachbarn Linda (Bettina Kerl) und Paul (Dirk Ossig) können mit Barbaras Altruismus überhaupt nichts anfangen. Linda bezichtigt ihre Nachbarin, eine Sozialromantikerin zu sein, und Paul beginnt mit dem Bau eines Schutzraumes in seiner Wohnung, denn man wisse ja nie, was diese Afrikaner so im Schilde führten.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Wie es der Boulevard so will, spitzt sich der Konflikt natürlich zu: Barbara wird ermordet und nur der Flüchtling kann es gewesen sein, wer sonst? Das nette Vorstadtleben schliddert in die schwärzeste Abgründigkeit aus Rassismus, Vorurteilen und Scheinheiligkeit.

Der Dramatiker Philipp Löhle, geboren 1978, findet trotzdem noch einen überraschenden Dreh am Schluss, der hier aber nicht verraten werden soll…

Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Das Trauma des Kindes: David Bösch inszeniert in Essen „Elektra“ von Richard Strauss

Elektra (Rebecca Teem) mit einem Kinderstühlchen (Foto: Matthias Jung)

Von den Gegenständen ihrer Kindheit umgeben, sinnt Elektra (Rebecca Teem) auf Rache (Foto: Matthias Jung)

Blut überall. Es klebt am Boden, es haftet an den Wänden, es besudelt alle, die zu tun haben mit diesem Schlachthof von einem Königshaus. An der Wand eine weiß leuchtende Inschrift, wie im Wahn herausgekratzt aus den rotbraun geronnenen Schichten. „Mama, wo ist Papa?“, steht da, kurioserweise auf Englisch. Denn wir befinden uns im Palast der Klytämnestra und des Aegisth, jenes ehebrecherischen Paares, das den rechtmäßigen König Agamemnon hinterrücks erschlug.

Hier haust Elektra, Tochter Klytämnestras, Protagonistin aus der gleichnamigen Oper von Richard Strauss: traumatisiert, halb verwildert, erfüllt von der Gier nach Rache, aus der sie Lebenskraft saugt. Regisseur David Bösch zeigt sie uns im Essener Aalto-Theater als eine Frau, die nie erwachsen wurde. Gemäß den Erkenntnissen der Freud’schen Psychoanalyse, die dem Dichter und Strauss-Librettisten Hugo von Hofmannsthal vertraut waren, interpretiert Bösch die Tragödie als ein psycho-pathologisches Werk mit hysterischen Zügen.

In dieser Lesart bleibt Elektra in ihrer inneren Entwicklung stehen, seit sie den blutigen Mord an ihrem Vater mit ansehen musste. Bösch zeigt sie uns als kranke Frau, wehrloses Kind und gefährliche Psychopathin in einem. Sie liebkost Stofftiere, kratzt sich verlegen die Arme und sinnt tückisch auf Mord. Anders als ihre Schwester Chrysothemis, die sich nach einem normalen Leben in Freiheit sehnt, kennt Elektra keine Zukunft. All ihre Gedanken enden bei der Erfüllung ihres Rachewunsches.

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplüsch. Foto: Matthias Jung)

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplusch. Foto: Matthias Jung)

Das Konzept der Regie ist schlüssig und entspricht den bis zum Wahnwitz aufgepeitschten Emotionen. Das wirkmächtige Einheits-Bühnenbild von Patrick Bannwart und Maria Wolgast wird von Michael Bauer psychologisch einfühlsam ausgeleuchtet. Weniger glücklich wirkt die Personenführung. Fast alle Akteure agieren 110 Minuten lang gleich: Sie taumeln, greifen sich immerzu an den Kopf und raufen sich die Haare. Zwischendurch wird gerne mal an der Rampe gesungen.

Musikalisch erreicht diese Elektra-Produktion ein gutes Niveau, ohne überragend zu wirken. Die Amerikanerin Rebecca Teem, die in Essen bereits als Brünnhilde zu erleben war, wirft sich mit nachgerade animalischer Emphase in die Titelpartie hinein. Mag manche Pianostelle im Dialog mit Orest ihren Sopran auch in Verlegenheit bringen, so zeigt die Sängerin doch keine ernsthaften Intonationsprobleme und gibt Elektra eine Fülle von Nuancen mit. Sie kann hasserfüllt keifen, verführerisch schmeicheln, in tückischer Reserve lauern und sich bis zum wilden Aufschrei steigern. Katrin Kapplusch klingt als Chrysothemis monochromer, befeuert die Tragödie aber immer wieder durch Klänge haarsträubender Hysterie.

Für Klytemnästra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Für Klytämnestra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Kammersängerin Doris Soffel zelebriert die Klytämnestra als amoralische Zombie-Diva. Sie verlässt sich dabei auf die Erfahrung, die sie aus ihrer großen Karriere mitbringt, und wird für ihre enorme Bühnenpräsenz gefeiert, obgleich sie die Partie mit erheblichen stimmlichen Verformungen präsentiert. Almas Svilpa schlägt als Orest einen ernsten, angemessen düster grundierten Ton an.

Die Essener Philharmoniker haben ihre Strauss-Qualitäten seit der Ära Soltesz nicht verloren. Spannend wird dieser Abend durch die Vielzahl musikalischer Bezüge, die sie unter der Leitung von Tomáš Netopil aufdecken. Ohne die expressive Partitur zu glätten, klingen da plötzlich Arabella-Schmelz und Rosenkavalier-Romantik an. Dann wieder dringt dumpfes Brüten aus dem Orchestergraben, schauerliches Sausen und niederschmetternde Wucht.

Dass eine Untat nicht mit einer weiteren Untat aus der Welt geschafft werden kann, zeigt Bösch am Ende mit grausamer Konsequenz. Die Kinder des Agamemnon, sie sind verdammt: seien sie nun gerächt oder nicht.

Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/elektra.htm, Karten: 0201/ 8122 200).

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen). 




Neckische Gewinnspiele und sonstige PR-Aktionen? – Nö, hier jedenfalls nicht!

Nur noch mal zur kurz Klarstellung:

Nein, die Revierpassagen werden keine Pressemitteilungen zum „Speed-Dating“ „ausgeben“, wie es ein unbedarfter Anrufer uns jetzt angesonnen hat.

Diese aufgekratzten PR-Fuzzis halten es nicht für nötig, sich auch nur ansatzweise über ihre Ansprechpartner zu informieren. Sie wollen nur, dass man begeistert, ja womöglich ekstatisch mitmacht, bei welchem Humbug auch immer. Und sie verstehen es gar nicht, wenn jemand ablehnt. Ihr Anliegen ist doch so cool, krass und fantastisch. Welches Zeug haben sie nur genommen? Vielleicht Speed?

Hauptsache Speed... (aber hier mal in sympathischer Ausprägung). (Foto: BB)

Hauptsache Speed… (aber hier mal in sympathischer Ausprägung). (Foto: BB)

Mag sein, dass ich in solchen Fällen am Telefon manchmal etwas ruppig geworden bin. Tschuldigung. Aber auf längere Dialoge hat man da einfach keine Lust. Speed-Dating? Nö. Höchstens Speed-Bashing! Oder besser noch: rapides Wegdrücking nutzloser Gespräche.

Schweigen wir lieber von jenen PR-Mäuschen, die schon mit passend naiven Stimmchen ihrem Job nachgehen. Jederlei Rückfrage irritiert sie in ihrem Tun. Im Pop-Bereich duzen sie einen sogleich frechweg. Einfach zurücksiezen, heißt die Devise.

Genug der sexistisch behauchten Boshaftigkeit. Was ich eigentlich sagen wollte: Wie jede(r) wissen kann, der/die ab und zu auf diese Homepage schaut, machen wir beispielsweise auch keine neckischen Gewinnspiele oder Kartenverlosungen, um zweit- bis drittklassige Bands zu promoten. Trotzdem kommen immer mal wieder Anfragen dieser Güteklasse. Mögen andere auf solch korrumpierende Weise Klicks generieren. Sicher, das ist hochkultureller Hochmut, was sonst?

Aber wie lautet noch jene goldene Grundregel des Journalismus, geprägt vom legendären TV-Moderator Hanns Joachim Friedrichs? Genau, man soll „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten…“

Aber derlei Weisheit kursiert heute wohl nur noch in längst eingeweihten Kreisen. So hoch wollen wir ja auch gar nicht greifen. Es reicht fürs Erste schon, wenn etwas weniger Unsinn verzapft wird. Dann sehen wir weiter.




Gleißende Hysterie: George Benjamins Oper „Written on skin“ im Konzerthaus Dortmund

Konzerthaus Dortmund. Written on Skin. Von und mit George Benjamin. © Pascal Amos Rest

„Written on Skin“ – der britische Komponist George Benjamin dirigiert das fulminante Mahler Chamber Orchestra. Foto: Pascal Amos Rest

Das Beste kommt zum Schluss. Ein Musikdrama, das uns wie ein wirbelnder Strudel verschlingt. Mit erstklassigen Sängern, die vor keiner emotionalen Entäußerung zurückschrecken. „Written on skin“ – George Benjamins Oper entpuppt sich als ein Stück gleißender Hysterie, als Schwester der „Elektra“ oder des „Wozzeck“. Die Aufführung im Konzerthaus Dortmund ist eine Herausforderung fürs Publikum – und wird mit Jubel belohnt.

Der Brite Benjamin steht selbst am Pult des höchst intensiv spielenden Mahler Chamber Orchestra, dirigiert gewissermaßen mit körperlichem Understatement, gleichwohl ungeheuer präzise. Er ist charmanter Vertreter einer neuen Musik, deren stetiger Fluss uns bannt, weil nichts dahinplätschert. Zuweilen rütteln eruptive Klangballungen auf, immer fasziniert die Vielfalt instrumentaler Farben. „Written on skin“ wird so zum Höhepunkt der dreitägigen Zeitinsel, die das Konzerthaus dem Komponisten gewidmet hat.

Benjamin ist ein Musiker, der viel schreibt und ebenso viel verwirft. Seine Skizzenblätter übertreffen deutlich das gedruckte Werk. Etwa 40 Kompositionen in 40 Jahren sprechen die Sprache eines äußerst skrupulösen Künstlers. „Written on skin“ entstand 2012, sechs Jahre nach seiner ersten Oper, „Into the little hill“, eine moderne Fassung des „Rattenfängers von Hameln“; sie war ebenfalls im Konzerthaus zu erleben.

Der "Beschützer" (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto:  Pascal Amos Rest

Der „Beschützer“ (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto: Pascal Amos Rest

Für Benjamin gilt aber auch das akribische Bemühen um die Weiterentwicklung seiner Ausdrucksmittel. Für „Written on skin“ etwa setzt er als charakterstarke Farbe eine Kontrabassklarinette ein, mischt Harfen- und Banjoklang, verweist mit einer Glasharmonika in sphärische Weiten, blickt mit einer Viola da Gamba auf alte Zeiten.

Denn die Geschichte, die hier verhandelt wird, fußt auf einer Sage des 13. Jahrhunderts. Ein Maler soll all die Herrlichkeit eines hohen Herrn aufs Papier, damals noch „auf die Haut“, bannen. Der Künstler verführt die Frau des Hauses, der gekränkte Gatte reißt dem Nebenbuhler das Herz heraus und zwingt seine Frau es zu essen. Die stürzt sich aus dem Fenster.

Ein archaischer, blutrünstiger Stoff, den Benjamin und Librettist Martin Crimp in die Moderne überführt haben. Drei zynische Engel schaffen eine brutale Welt, der hohe Herr gilt als „Beschützer“ seiner Frau Agnés, entpuppt sich indes als fieser Sklavenhalter. Agnés‘ Zorn, Trotz, Widerstand und Betrug wird durch die Verführungskraft des Malers genährt. Benjamin hat die Rolle mit einem Counter besetzt, und wenn sich die Stimme Tim Meads mit dem Wundersopran Barbara Hannigans vereint, scheint das emotionale Zentrum der Oper erreicht. Doch erst ihr Ehebruchgeständnis ist der eigentliche Kulminationspunkt. Hannigan wächst zur Rachefurie, das Orchester schreit und überwältigt mit grausamen Schlägen.

Nicht minder ausdrucksstark singt Christopher Purves den „Beschützer“ seiner Frau, ein zynischer Machtmensch, der sich selbst am meisten gefällt, der manchmal aber nur dasitzt wie ein geprügelter Hund. Es ist nicht zuletzt diese Mimik, abgeleitet aus der emotionalen Urgewalt der Musik, die uns auf die Stuhlkante treibt. „Written on skin“ ist Beispiel dafür, dass die komponierende Avantgarde durchaus zur Darstellung des Sinnlichen fähig ist. Mag George Benjamin auch einer jener Künstler sein, die ihr Werk akribisch konstruieren, ist diese Oper alles andere als ein um sich selbst kreisendes Konstrukt. Theater wie Bonn und Detmold haben sich ihrer angenommen, andere Häuser sollten den Mut aufbringen, ihr oft eingefahrenes Repertoire zu erweitern. Es lohnt sich.

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form in der WAZ erschienen.)




Knickstellen, Übersäuerung, Datenflut – Archivare haben’s auch nicht leicht

Archivalien und Archivare gelten den Medien offenbar nicht als sonderlich „sexy“. Ganze zwei Journalisten (meine Wenigkeit inbegriffen) waren heute zugegen, als beim 68. Westfälischen Archivtag in Lünen eine Zwischenbilanz skizziert wurde. Die hiesige Presselandschaft ist arg überschaubar geworden. Hier also ein nahezu exklusiver Bericht:

Die Leute vom Fach sind jedenfalls zahlreich erschienen. Über 280 Archiv-Expert(inn)en aus Westfalen und darüber hinaus treffen sich am 15. und 16. März im Lüner Hansesaal. Als sich die Fachwelt vor 25 Jahren hier einfand, waren es nur 170. Würde es nicht so albern klingen, könnte man schlussfolgern, Archivieren liege doch im Trend. Jedenfalls ist es eine durch mancherlei Gesetze geregelte öffentliche Aufgabe von wachsender Bedeutung. Und das Metier hat sich zunehmend ausdifferenziert.

Das dürftige Lokalteil-Foto kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe), versammelt um eine Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Ein Lokalteil-Aufsteller-Foto landesüblicher Machart kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe) – neben einer Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Schwerpunktthema ist diesmal der sachgerechte Umgang mit Plänen, Karten und Plakaten. Fredy Niklowitz, Leiter des Stadtarchivs Lünen, beschreibt die spezifischen Probleme. Sie bestehen vor allem in der schieren Größe dieser Archivobjekte. So sammelt sein Archiv z. B. auch kommunale Wahlplakate bis zur Größe DIN A0 (841 x 1189 mm).

Pläne und Karten können durchaus ähnliche Größen erreichen. Früher wurden sie in Akten eingenäht, so dass man sie heute kaum noch unbeschadet aufblättern kann. An den Knickfalten sind mit der Zeit meist Bruchstellen entstanden. Dennoch: Um ihnen Informationen abzugewinnen, muss man sie aufklappen und auf Dauer flach und eben auslegen. Solche großen Dokumente muss man erst einmal liegend unterbringen.

Wir reden nicht von Petitessen. Zahlreiche Inhalte, etwa von Bauplänen und Katastern (einst häufig aus empfindlichem Pergamin), sind noch heute rechtsverbindlich. Also sucht man sie nach Kräften zu restaurieren und zu digitalisieren, wobei man die Originale natürlich behält, um selbst bei einem elektronischen Datenverlust abgesichert zu sein.

Der Landschaftverband Westfalen-Lippe (LWL) steht den Stadtarchiven beratend zur Seite. Gegen Gebühr übernimmt er auch kompliziertere Teile der Digitalisierung. Ein Scanner, der das genannte Format A0 schonend und berührungslos verarbeiten kann, kostet leicht über 100000 Euro, gibt Dr. Marcus Stumpf, Leiter des LWL-Archivamtes, zu bedenken. Das übersteigt die Finanzkraft vieler Gemeinden, deren Archive übrigens auch lohnende Bestände von Unternehmen und Vereinen, zuweilen auch von Privatleuten sichten und ordnen.

Mit Plakaten, die auch für Ausstellungen taugen, hat man die Aufarbeitung begonnen. Derweil liegen viele Karten noch brach. Da wartet Arbeit für Jahrzehnte, denn nach der Digitalisierung müssen Findbücher erstellt und systematisch mit Schlagworten versehen werden. Diese Findbücher werden allgemein im Internet zugänglich sein, das Einstellen von Abbildungen scheitert hingegen in der Regel an Urheberrechtsfragen.

Unterdessen hat sich das Berufsbild des Archivars grundlegend verändert. Etliche Dokumente werden heute ausschließlich digital und gar nicht mehr auf Papier erstellt. Sie müssen freilich „im Original“ aufbewahrt werden. Dass dieser Begriff seine Tücken hat, kann man sich als Computernutzer denken. Es gilt, Metadaten und den Modus der Übernahme genau festzuhalten, um möglichen Manipulationen vorzubeugen. Der pensionierte Studienrat, der in etlichen ländlichen Orten fleißig archiviert, ist damit wohl heillos überfordert. Es sollten sich schon hauptamtliche Fachkräfte darum kümmern.

Noch einmal kurz zurück zum Papier. Welcher Laie weiß schon, dass die alten Papiersorten von vor 1840 sich als ungleich haltbarer erweisen als jene neueren Datums. Seit Papier aus Holz und nicht mehr aus leinenen Lumpen gefertigt wird, seit es also vielfach übersäuert ist, bereitet es den Archivaren Sorgen. Auch Umweltpapier neigt zum zeitigen Zerfall.

Entsäuerungsmaßnahmen allein reichen nicht. Alles spricht für zügige Digitalisierung, die freilich ein weiteres Problem birgt. Jeder, der schon einige Zeit mit PCs arbeitet, kennt es auch: Ständig wechseln die Systeme, Dateiformate und Datenträger. Schon heute ist es kaum noch möglich, manche Disketten zu lesen, denn irgendwann gibt auch der letzte alte Computer seinen „Geist“ auf.

Lünens Stadtarchivar Fredy Niklowitz nennt ein berüchtigtes Beispiel für Datenschwund durch Systemwechsel: „Die Daten der ersten Mondlandung von 1969 kann heute kein Mensch mehr entziffern. Auch nicht bei der NASA.“ Mag sein, dass dieses Manko auch zu den Verschwörungstheorien (die Mondlandung wurde demnach „nur im Studio nachgestellt“ und ist niemals wirklich erfolgt) beigetragen hat. Es war allerdings wohl auch eine Art Initialzündung modernen Archivierens. Im Gefolge ist man hellhöriger und vorsichtiger geworden.




Zwischen den Stühlen: Gelsenkirchen zeigt Vincenzo Bellinis Oper „Norma“

Dive mit Dornenkrone: Die Regisseurin Elisabeth Stöppler zeichnet "Norma" als Heilige und Schmerzensgestalt (Foto: Monika Forster/MiR)

Diva mit Dornenkrone: Die Regisseurin Elisabeth Stöppler zeichnet „Norma“ als Heilige und Schmerzensgestalt (Foto: Monika Forster/MiR)

Viele Regisseure neigen bei Vincenzo Bellinis „Norma“ zur großen Ausstattungsoper. Dabei eignet sich die Tragödie um die gallische Seherin auch hervorragend für eine abstrakt-psychologisierende Deutung. Diesen Weg hat Elisabeth Stöppler jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater eingeschlagen, das die Oper erstmals in Deutschland in der kritischen Neuausgabe in Szene setzt.

Anhand der Originalpartitur belebten der Komponist Maurizio Biondi und der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi viele Details, die im Laufe der Aufführungstradition verloren gingen. Wie ursprünglich von Bellini vorgesehen, wird die Rolle der Adalgisa in Gelsenkirchen von einem Sopran gesungen statt von einem Mezzo. Das erweist sich als starkes Argument für den Besuch dieser Produktion: Nicht allein, weil die Rivalität zwischen den Protagonistinnen so noch schärfer hervor tritt, sondern weil Gelsenkirchen mit Hrachuhi Bassénz (Norma) und Alfia Kamalova (Adalgisa) zwei Sängerinnen aufbieten kann, deren Gesangskunst den derzeit acht weiteren Norma-Produktionen an deutschen Bühnen scharfe Konkurrenz machen dürfte.

Die in Gelsenkirchen bekannte Elisabeth Stöppler, inzwischen Hausregisseurin am Staatstheater Mainz, zeigt „Norma“ als ein Stück über die siegreiche Kraft der Liebe. Dabei mag sie sich weder auf eine Zeit noch auf einen Ort festlegen, sondern entfaltet das Drama zwischen Tischen und Stühlen in gesichtsloskalten Räumen. Dieser Ansatz bleibt schmerzlich vage, zumal hochhackige gelbe Damenschuhe ein doch recht schwaches Symbol für die Welt der weiblichen, Frieden spendenden Mondgöttin Luna sind.

Die Druidin ruft zum Kampf: Norma (Hrachuhi Bassénz, Mitte) stachelt ihre gallischen Landsleute auf (Foto: Monika Forster/MiR)

Die Druidin ruft zum Kampf: Norma (Hrachuhi Bassénz, Mitte) stachelt ihre gallischen Landsleute auf (Foto: Monika Forster/MiR)

Aber die Regisseurin beweist zugleich eine spannungsvolle Personenführung, die innere und äußere Konflikte so scharf nachzeichnet, dass Emotionen aufreißen wie Erdspalten. Normas Seelendrama wird durch ihre heimlich mit Pollione gezeugten Kinder deutlich, die in Gelsenkirchen beinahe ständig um sie sind: unschuldige Beweise ihrer Schuld (Lili und Mona Lenz agieren an der Seite der Großen bemerkenswert professionell). Lars-Oliver Rühl (Flavio) spricht Texte von Pier Paolo Pasolini, die von Krieg und Frieden handeln. Ob es dieser bedurft hätte, um Normas Drama zu erzählen, bleibt wiederum fraglich.

Ein starkes Frauenduo: Adalgisa (Alfia Kamalova) und Norma (Hrachuhi Bassénz. Foto: Monika Forster,/MiR)

Ein starkes Frauenduo: Adalgisa (Alfia Kamalova, links) und Norma (Hrachuhi Bassénz. Foto: Monika Forster,/MiR)

Allen Freunden des Belcanto sei diese „Norma“ unbedingt ans Herz gelegt. Es ist außerordentlich, wie Hrachuhi Bassénz sich in die Titelpartie hinein schraubt, wie sie ihren beweglichen, leicht dunkel umflorten Sopran zu einem Gefäß für glühende Leidenschaft, wilde Rachegefühle, tiefe Reue und nicht geweinte Tränen macht. Als Norma wächst diese Sängerin zur großen Schmerzensgestalt: Diva, Heroine, liebende Frau und sorgende Mutter in einem. Die Adalgisa von Alfia Kamalova ist ihr hart auf den Fersen. Umwerfend ihre zarten Piani, ihre vehemente Attacke, ihre leuchtend klare und scheinbar mühelose Formung von Bellinis endlosen Melodiebögen. Geschickt legt Hongjae Lim den Pollione so lyrisch an, dass er nicht forcieren muss.

Am Dirigentenpult ist es der Finne Valtteri Rauhalammi, der diesen lyrischen Schleier weiter webt. Nie klingt marschartiges Gerumse aus dem Orchestergraben, ja nicht einmal die furchterregenden Kriegschöre wirken krachend. Rauhalammi zelebriert durchweg einen feinen, federnden Klang, der die Sänger unterstützt und viele Szenen unterschwellig mit nervöser Spannung auflädt. Des Dirigenten vollmundige Ankündigung, Gesang zelebrieren zu wollen, wird auch Dank der Neuen Philharmonie Westfalen wahr, die dem Dirigenten aufmerksam und geschmeidig durch alle Temposchwankungen folgt.

Termine und Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Norma/ Karten: 0209/ 40 97 200).

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Vom mühsamen Neubeginn nach dem Krieg

Wer die Fernsehbilder aus Syrien oder Libyen sieht, der kann sich kaum vorstellen, wie einmal aus diesen Trümmern eine neue Gesellschaft und ein Neuaufbau auch in ganz handfestem Sinne entstehen könnte. Dazu sei ein Rückblick auf das Jahr 1945 in Deutschland erlaubt. Vor gut sieben Jahrzehnten sahen unsere Städte auch so aus, vielleicht noch stärker zerstört, und auch hier gab es Hunger und Tod und vor allem viele traumatisierte Kinder und Erwachsene.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Natürlich war die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnungen zunächst das größte Problem. Die Besatzungstruppen organisierten die Grundversorgung, wenn auch nicht überall erfolgreich, und außerdem funktionierte der Schwarzmarkt sehr schnell – nach dem Motto: Schattenwirtschaft ist auch eine Wirtschaft.

Unbelastete Männer

Politisch sorgten sich die Alliierten sofort um die Verdrängung der faschistischen Strukturen und Ideologie. Beim Vormarsch setzten sie in allen befreiten Gemeinden unbelastete Deutsche als Bürgermeister oder Gemeindevorsteher ein. Teilweise brachten sie diese Kandidaten sogar schon mit. Außerdem entstanden in vielen Städten unmittelbar nach der Befreiung die sogenannten „antifaschistischen Ausschüsse“, die sich um die Installation einer demokratischen Selbstverwaltung kümmerten.

Am Beispiel des Amtes Milspe-Voerde, der späteren Stadt Ennepetal, kann man das weitere Vorgehen aufzeigen: Der von den Amerikanern bestimmte Amtsbürgermeister, ein von den Nazis 1933 entlassener Sozialdemokrat, setzte drei Monate nach dem Ende der Diktatur einen „Amtsausschuss“ ein, dem ausschließlich unbelastete Männer angehörten. Dieser Ausschuss organisierte den Neuaufbau der Verwaltung und war bis Herbst 1946 im Amt, denn die alliierte Militärverwaltung hatte in der Zwischenzeit die Neu- oder Wiedergründung demokratischer Parteien zugelassen.

Wahlbeteiligung bei 80 Prozent

Am 15. September 1946 gab es dann in der Britischen Zone auf kommunaler Ebene die ersten freien Wahlen seit dem Ende des NS-Regimes. Im Amt Milspe-Voerde, unserem Beispiel, erhielt die SPD 18 Sitze, die CDU bekam drei Sitze, die FDP 2 und die KPD einen Sitz. Die 24 Sitze entfielen ausschließlich auf Männer. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 80 Prozent.

Zwei Jahre später, am 17. Oktober 1948, gab es die zweite Wahl, und in der erhielt im Amt Milspe-Voerde die FDP mit sieben Sitzen die selbe Anzahl an Mandaten wie die CDU, und die Liberalen stellten sogar danach den Bürgermeister, der wegen des Patts in der Amtsvertretung per Los ins Amt kam.

Von „unbelasteten“ Personen konnte man da aber nicht mehr sprechen, denn dieser FDP-Bürgermeister Dr. Fritz Textor war seit 1933 in der SA und seit 1937 in der NSDAP und ein aktiver Unterstützer der NS-Ideologie gewesen. Trotzdem widmete ihm der Rat der Stadt Ennepetal später eine Straße. Ein „Neuaufbau“, wie er in vielen Städten unseres Landes abgelaufen ist.




Unstillbare Begehrlichkeit der Bessergestellten – eine verbreitete Form der Barbarei

Um niemanden bloßzustellen, will ich nicht so deutlich werden. Sagen wir also, notgedrungen etwas gestelzt: Wir reden von einer Institution, die sich einem Zweig der kulturellen Bildung widmet. Irgendwo im Ruhrgebiet. Bundesweit renommiert.

Um das hohe Niveau zu halten, wählen sie ihre Schülerinnen und Schüler nach strengen Maßstäben aus. Ohne Ansehen des sozialen und finanziellen Hintergrunds. Gut so.

Darf's noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Darf’s noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Doch gerade das bringt Höhergestellte auf die Palme. Wie man hört, gibt es immer wieder Fälle, in denen sich prägende Gestalten des „öffentlichen Lebens“, zumal aus Wirtschaft und Politik, mit ihren maßlosen Ansprüchen an besagte Institution wenden: Warum denn ihre (selbstredend allesamt hochbegabten) Kinder die Hürden der Vorprüfungen nicht genommen hätten? Da müsse man doch wohl schleunigst nachjustieren…

Doch auch wenn die Sprösslinge es durch eigene Begabung geschafft haben, sind manche Besserverdiener nicht zufrieden. Es gibt nur einige wenige Förderplätze für die wirklich Bedürftigen. Von denen trauen sich manche nicht, sich zu bewerben – aus falscher Scham oder sonstigen traurigen Beweggründen. Wer sich aber traut, sind manchmal just jene, die überhaupt nicht gemeint sind. So hatte etwa ein Paar mit rund 10000 Euro Monatseinkommen die Stirn, einen Antrag auf soziale Beihilfe auszufüllen.

Beiderlei Begehrlichkeiten sind Anzeichen eines widerwärtigen Klassenkampfs von oben. Gewiss: Etliche Angehörige der gehobenen Mittelschicht haben mehr Anstand und Fairness im Leibe. Aber man mag nicht so recht glauben, dass deren Anzahl zunimmt. Eher scheint es so, als ob die Hässlichkeit wüchse und Entsolidarisierung sich rotzfrech ausbreite. Mit Kultur hat das nichts zu tun. Umso mehr mit Barbarei.




Lesebuch erinnert an den Autor Willy Kramp

Bald jährt sich zum 30. Mal der Todestag des bekannten Schwerter Schriftstellers Willy Kramp (18.6.1909-19.8.1986). Ein Lesebuch, das der Autor Heinrich Peuckmann zusammengestellt hat, erinnert an den Mann, der für einige Jahre Leiter des Evangelischen Studienwerkes in Villigst war.

Während des Zweiten Weltkrieges kam Willy Kramp mit dem Widerstand gegen Hitler in Kontakt. Seine Erlebnisse hat Kramp in dem Werk „Brüder und Knechte“ verarbeitet, aus dem Peuckmann einige Abschnitte für das jetzt erschienene Lesebuch ausgewählt hat. In diesen Passagen schildert Kramp, wie er während der letzten Jahres des Zweiten Weltkrieges mit dem Offizier Roland von Hößlin ins Gespräch kommt und sich schon sehr schnell abzeichnet, dass sie beide Hitler nicht nur ablehnen, sondern auch alles daran setzen würden, ihn loszuwerden. Gleichwohl spiegeln sich in den Unterhaltungen auch die Bedenken von Soldaten wider, die einen Eid auf Hitler geschworen haben und sich zur Treue verpflichtet fühlen.

Kramp

Als das Attentat vom 20. Juli 1944 misslingt, stirbt Kramps Hoffnung auf ein Ende des Tötens „Millionen unschuldiger Menschen“. Er wäre wahrscheinlich wie Hößlin, der im Oktober 44 hingerichtet wurde, in die Fänge der Nazis geraten, aber der Offizier hatte die Unterlagen vernichtet, in denen der Name des späteren Schriftstellers auftauchte.

Auf das Ende des NS-Regimes folgt, wie es Willy Kramp eindrucksvoll schildert, das böse Erwachen bei den meisten Deutschen, die jetzt erst das gesamte Ausmaß des Terrors begreifen.

Der gebürtige Elsässer gerät selbst in sowjetische Gefangenschaft, in der er viele Grausamkeiten sehen und erleben muss, wie er es in einer Erzählung schildert. Kramp gibt jedoch zu bedenken, wie sehr sowjetische Soldaten in deutscher Gefangenschaft zu leiden hatten.

Mit seinem Buch „Brüder und Knechte“ hat Kramp auch posthum Aufsehen erregt. Eine Neuauflage im Jahr 2000 stand mehrere Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste.

Mit dem Lesebuch gelingt es Peuckmann, die wesentlichen Charakteristika des Autors hervorzuheben. Meist sind es die existenziellen Fragen des Lebens, denen sich die Figuren in den Erzählungen stellen müssen: In einer Fischerfamilie schaffen es Mutter und Sohn nur mühsam, den Tod engster Angehöriger zu verarbeiten, die bei einem tragischen Unglücksfall gestorben sind. Ein Patient glaubt, nach einem Herzinfarkt bald wieder ein normales Leben führen zu können, bis man bei ihm Metastasen findet. Ein Jugendlicher setzt alles daran, das Schaf, mit dem er zusammen aufgewachsen ist, vor dem Schlachter zu retten.

Dem Schriftsteller, der 1967 den Droste-Hülshoff-Preis erhielt, gelingt es stets, tiefgründige Fragen durch Geschichten aus dem Alltag anschaulich zu beschreiben. In der Erzählung über ein Wespennest, das er als Hauseigentümer entfernen musste, zeigt sich Kramps Sinn für die feine Ironie. In fiktiven Zwiegesprächen versucht die Wespenkönigin, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, sollte er versuchen, ihr Volk umzubringen.

Lesebuch Willy Kramp, zusammengestellt von Heinrich Peuckmann. Nylands Kleine Westfälische Bibliothek (54), herausgegeben von Walter Gödden. Aisthesis Verlag. 132 Seiten, 8,50 €.




Das große „Irgendwie“ – zum wolkigen Stand der Dinge beim Berliner Humboldtforum

Plötzlich schrillen sie wieder, die Alarmglocken in Berlin. Eine zeitlang hatte man geglaubt, in der Stadt der gigantischen Fehlplanungen sei man doch noch in der Lage, die ganz großen Aufgaben ohne krisenhafte Begleiterscheinungen zu stemmen.

Nachdem sich beim neuen Flughafen und bei der Sanierung der Staatsoper milliardenschwere Finanz-Löcher und unbegrenzte Bau-Verzögerungen aufgetan haben, schien es, als sei bei dem in Berlins Mitte emporwachsenden Humboldtforum alles im Lot. Die vom italienischen Architekten Franco Stella entworfene Replik des ehemaligen Hohenzollern-Schlosses wächst und gedeiht, die Kosten liegen im Plan. Der für Herbst 2019 anvisierten feierlichen Eröffnung des Forums steht wohl nichts mehr im Wege.

Berliner Schloss - künftige Ansicht von der Nordwestseite her (© Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum / Architekt Franco Stella mit FS HUF PG)

Berliner Schloss – künftige Ansicht von der Nordwestseite her (© Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum / Architekt Franco Stella mit FS HUF PG)

Eigentlich. Denn seit Mitte Januar plötzlich der oberste Manager der Großbaustelle, Manfred Rettig, das Handtuch warf und sich in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedete, ist klar, dass es hinter den Kulissen der pseudo-barocken Schloss-Fassade gehörig kracht. Der Zeit- und Kostenplan, das wird jetzt klar, kann nur eingehalten werden, wenn sich die Begehrlichkeiten der vom britischen Museums-Impresario Neil MacGregor geführten Gründungsintendanz und die Änderungsvorschläge der zukünftigen Ausstellungsmacher in Grenzen halten.

Diffuses Sammelsurium

Bis heute weiß niemand genau, wie das Humboldtforum eigentlich bespielt werden soll und welche innenarchitektonischem Umbauten dafür noch nötig sind. Paul Spies, seit einigen Tagen Direktor des Berliner Stadtmuseums, soll im Forum eine Dependance errichten und auf einer Etage zeigen, was Berlin der Welt zu verdanken und zu geben hat. Die nur ein paar Steinwürfe entfernte Humboldt-Universität wird einige Sammlungen und Fachbibliotheken ins Forum verlagern.

Einstweilen noch eine Vision: Blick ins Foyer des Humboldtforums. (© Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum / Architekt Franco Stella mit FS HUF PG)

Einstweilen noch eine Vision: Blick ins Foyer des Humboldtforums. (© Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum / Architekt Franco Stella mit FS HUF PG)

In einem Veranstaltungszentrum, der „Agora“, soll ein Dialog der Weltkulturen stattfinden. Im Zentrum des Forums aber sollen die über 500.000 Artefakte stehen, die auf ihren Umzug von Berlin-Dahlem nach Mitte warten und jahrzehntelang im Ethnologische Museum und im Museum für Asiatische Kunst lagerten. Wie das alles konserviert und aufbereitet, mit welchen ästhetischen und politischen Schwerpunkten das Material dem Publikum präsentiert werden könnte, und was ein solch diffuses, vom wilhelminischen Erbe kontaminiertes Kunst-Sammelsurium im Herzen der neuen deutschen Republik zu suchen hat, darüber schweigt sich die Gründungsintendanz bisher beharrlich aus.

„Irgendwie“ soll das Ganze auch mit dem interdisziplinären Denken und abenteuerlichen Leben von Alexander und Wilhelm von Humboldt zu tun haben, und schön wäre es auch, so Neil MacGregor, wenn der Islam eine Rolle spielen könnte. Mit hämischem Blick auf das schwammige Museums-Konzept sprach „Die Zeit“ bereits vom „Palast der Verlogenheit“, und die „Frankfurter Allgemeine“ fragte entrüstet: „Baut sich hier ein Monstrum sein eigenes Labyrinth?“

Lauter unbeantwortete Fragen

Neil MacGregor, Wunschkandidat von Kanzlerin Angelika Merkel, freut sich auf einen „Container, der ein Ort sein kann für eine vollkommen neue Beziehung zwischen Deutschland und der Welt“, und schwärmt von einem neuen „Dialog der Berliner Sammlungen, der Stadt Berlin und der Weltöffentlichkeit.“ Geht´s noch ein bisschen wolkiger?

Warum all die mexikanischen Masken und indonesischen Boote, die schon in Dahlem nicht gerade ein Publikumsrenner waren, und warum all die aus dem märkischen Sand geborgenen Gegenstände, die in den Berliner Landesmuseen einstauben und vor sich hin dümpeln, im Humboldtforum plötzlich das Interesse der Kunst-Touristen wecken sollen; wie viel Geld man in die Hand nehmen muss, um die Ausstellungen vorzubereiten; welche Umbauarbeiten im doch schon fast fertigen Schloss noch anstehen, um das Forum zu einem attraktiven Kultur-Treffpunkt im Zeitalter der Unübersichtlichkeit zu machen: Auf all diese Fragen geben bisher weder Neil MacGregor noch seine beiden Kollegen aus der Gründungsintendanz (der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, sowie Kulturhistoriker Horst Bredekamp) verwertbare Hinweise.

Um die richtigen und längst überfälligen konzeptionellen Entscheidungen zu treffen, könnte es nicht schaden, sich die kurze Geschichte der „Humboldt-Box“ vor Augen zu führen. Der eigens neben die Baustelle gestellte Event-Turm ist ein Publikumsmagnet, weil man auf der oberen Plattform kulinarisch verköstigt wird und einen tollen Blick über die Mitte Berlins, die Museumsinsel, den Dom und das Brandenburger Tor hat. Hingegen liegen die Ausstellungsräume, in denen über den Wiederaufbau des Schlosses und die möglichen Aufgaben des Humboldt-Forums informiert wird, in verwaister Stille. Statt im und mit dem Humboldtforum über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der wiedervereinigten Republik in einer globalen Welt zu streiten, herrscht nur das große „Irgendwie“.




Bochumer Ausstellung über Polens „Wilden Westen“: Als in Wroclaw die Kultur aufblühte

Wroclaw (früher Breslau) hat einen historischen Wandel sondergleichen hinter sich. Die einst deutsche Stadt mit bis zu 1 Million Einwohnern wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch. Die Deutschen wurden vertrieben, Polen aus anderen Teilen des Landes sollten statt dessen in der zerstörten Stadt „heimisch“ werden. Doch wie sollte das ohne weiteres möglich sein? Mit einer bloßen Umsiedlung und einem Austausch der Bevölkerung war es ja nicht getan.

Um Identifizierung – gleichsam aus dem Nichts – zu stiften, sorgte Polens kommunistische Regierung ganz gezielt dafür, dass sich in Wroclaw nicht zuletzt Künstler aller Sparten ansiedelten. Tatsächlich blühten die Künste gerade an diesem Ort seit Mitte der 1960er Jahre so auf wie an keiner anderen Stelle des Landes.

Natalia LL: "Consumer Art" (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement  of the Fine Arts - Foto: Matgorzata Kujda)

Nach Art von Andy Warhol: Natalia LL „Consumer Art“ (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement of the Fine Arts – Foto: Matgorzata Kujda)

In Wroclaw durfte und konnte sich – trotz eines diktatorischen Regimes – das kulturelle Leben ungleich freier entfalten als etwa in Warschau oder Krakau. Und siehe da: Es wurden nicht nur ein paar kleine Freiräume in der Diktatur ausgelotet, das Zwangssystem wurde vielmehr beherzt überschritten. Alsbald konnte man die kreativen Hervorbringungen in Wroclaw kaum noch von den wesentlichen Strömungen der westlichen Welt unterscheiden.

Eine Ausstellung im Museum Bochum, das in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder polnische Kunst präsentiert hat, dokumentiert und illustriert nun einige Aspekte dieser erstaunlichen Vorgänge. Der Titel der Schau lautet „Wilder Westen“, er spielt an auf die herrlich „wildwüchsige“ Entwicklung der Kultur in einer Stadt, die eben im polnischen Westen liegt. Es geht hierbei nicht so sehr um einzelne Künstler, sondern vorwiegend um die Zeitstimmung.

Krzysztof Zarebski: "Autohemo", Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA - Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Krzysztof Zarebski: „Autohemo“, Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA – Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Wie gut, dass in Wroclaw das Bewusstsein für die eigene Avantgarde der 60er bis 80er Jahre wachgehalten wird. Beredt und geradezu entflammt weiß Dorota Monkiewicz, Gründungsdirektorin des seit 2011 bestehenden Zeitgenössischen Museums Wroclaw, aus jenen Blütezeiten zu berichten. Aus ihrem Hause stammt die überwiegende Zahl der rund 500 Exponate, die nun in Bochum gezeigt werden. Sie selbst fungiert als leitende „Kommissarin“ der Ausstellung, gleich sieben Kuratoren haben zudem ihre Spezialkenntnisse eingebracht. Der ausführliche Katalog dürfte auch bei einem etwaigen Besuch in Wroclaw gute Dienste als Kulturführer leisten.

Vor allem anhand zahlreicher Fotografien und Videos spürt man nun in Bochum den Geist des Aufbruchs, der damals geherrscht haben muss. Wenn nicht hie und da polnische Schriftzüge auftauchten, fiele es schwer, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Gar manches könnte sich ebenso gut in Düsseldorf, Köln oder London abgespielt haben.

Man befand sich in Wroclaw durchaus auf der Höhe des internationalen Zeitgeistes. Nicht alle künstlerischen Arbeiten in Bochum lösen diesen Anspruch ein, doch gibt es etliche Belege für das lebendige, inspirierende Klima, das nicht nur Künstler, sondern auch Theaterleute, Filmemacher und Musiker in die Stadt lockte. Und auch die Auseinandersetzung mit Architektur war eine gehörige Triebkraft.

Da entfalteten sich – beispielsweise – Konkrete Poesie, feministische Kunstansätze, Konzeptkunst, Videokunst, Happening und Performance, ja, eigentlich alle avantgardistischen Richtungen. Von Vorgaben oder Gängelung ist nichts zu bemerken. Freilich: Anders als im Westen, gab es keine (bürgerlichen) Kunstsammler, also richteten sich Künstler aller Sparten oftmals direkt an die breitere Öffentlichkeit. Was ja gewiss kein Fehler ist.

Vitales öffentliches Interesse: "Les Comediants". Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Vitales öffentliches Interesse: „Les Comediants“. Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Die Gattungsgrenzen, zumal zwischen Kunst und Theater (auch der große Theatermacher Jerzy Grotowski wirkte in Wroclaw), wurden offenbar mit Verve überwunden. So ansteckend kann Kultur sein, wenn die Zeit gekommen ist: Faszinierende Fotografien zeugen von leuchtenden Momenten, zeugen von einer grundsätzlichen Offenheit, die anscheinend alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erfasst hat. Es muss – wider allen grauen Alltag – eine Lust gewesen sein…

Es waltete wohl ein Genius loci. Die Künste waren seinerzeit Vorboten und Statthalter einer Freiheit, die sich in ganz Polen und anderen Ländern des europäischen Ostens erst mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ auch politisch manifestieren konnte.

Schon damals, so möchte man meinen, hätte es Wroclaw verdient gehabt, Europäische Kulturhaupstadt zu sein, doch da gab es diese Ehrung noch nicht – erst recht nicht für osteuropäische Städte. 2016 aber trägt Wroclaw (gemeinsam mit dem spanischen San Sebastian) den Titel. Mithin vermittelt Bochum auch in dieser Hinsicht erhellende Rückblicke.

Viele Impulse wurden erstickt, als Ministerpräsident Jaruzeski 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängte. Von den harschen Restriktionen waren auch die Künstler in Wroclaw betroffen.

Bekanntlich gibt es in Polen neuerdings wieder ein gesellschaftliches Rollback, das die Künste einzuschränken droht. Auch gegen solche fatalen Tendenzen bezieht diese Ausstellung unversehens Position. Als sie geplant wurde, wusste man noch nicht, wie dringlich das sein würde. Ausstellungs-Kommissarin Dorota Monkiewicz möchte auf diesen Zusammenhang nicht explizit eingehen. Sie findet allerdings, dass Wroclaw im Vergleich zu früher wohlhabend geworden sei – und damit auch etwas langweiliger.

„The Wild West – Wilder Westen. Die Geschichte der Avantgarde in Wroclaw“. 5. März (Eröffnung um 17 Uhr) bis 8. Mai 2016. Museum Bochum, Kortumstraße 147. Öffnungszeiten: Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 €. Eintritt 5 € (jeden ersten Mittwoch im Monat frei). Weitere Infos: www.kunstmuseumbochum.de

Die Ausstellung wurde zuvor schon in Warschau und Kosice (Slowakei) gezeigt. Nach Bochum folgen noch die Stationen Zagreb und Budapest.




„Der Klang sucht mich, nicht ich suche den Klang“ – zum 80. Geburtstag des Komponisten Aribert Reimann

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Als ich Aribert Reimann aus Anlass der dritten Inszenierung seines „Lear“ 1981 in Mannheim zum ersten Mal traf, erzählte er mir im Interview, wie die Szene des verzweifelten, verstoßenen alten Königs in ihm einen Reichtum an Musik hervorgerufen hat, dem er sich nicht entziehen konnte. Das einzige Stück Shakespeares, in dem er Musik gefunden hat, sei diese Geschichte eines Menschen gewesen, der von heute auf morgen nichts mehr hat als sich selbst. Ein Verstoßener unter Menschen, die nicht mehr miteinander reden, sondern nur noch lügen.

Ein Thema, das Reimann in den siebziger Jahren, als der „Lear“ entstand, als hochaktuell einschätzte: „Ausgesetztsein, Enteignung, Terror – alles Dinge, die sich heute pausenlos auf der Welt ereignen.“ Nur damals?, möchte man fragen – und mit dieser Frage erklärt sich, warum Reimanns großformatiges Werk über ein Thema, an dem kein geringerer als Giuseppe Verdi gescheitert ist, nach wie vor in den Spielplänen steht. Über 30 Mal ist die Oper seit ihrer Münchner Uraufführung 1978 neu inszeniert worden. Weltweit, zuletzt sogar in Japan.

„Lear“ in Düsseldorf und Essen

Düsseldorf zog damals, als die Rheinoper noch ein bedeutendes deutsches Haus war, sofort nach und sicherte sich die zweite Inszenierung. In Essen kam „Lear“ unter Stefan Soltesz 2001 heraus. Die letzten deutschen Neuproduktionen gab es in Frankfurt (Keith Warner, 2008), an der Komischen Oper Berlin (Hans Neuenfels, 2009), in Kassel (Paul Esterhazy, 2010) und in Hamburg (Karoline Gruber, 2012). Jetzt kommt die Shakespeare-Adaption, passend zum 400. Todestag des britischen Dramatikers, erneut in Paris auf die Bühne, Regie führt Calixto Bieito, die Premiere ist am 23. Mai.

Bei aller Vorsicht gegenüber Prognosen: Reimanns „Lear“ gehört zu den ganz wenigen Werken des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die jetzt schon einen Platz im großen Repertoire erobert haben. Wäre die Oper nicht so aufwändig orchestriert, hätte sie sicher auch den Weg auf kleinere Bühnen gefunden.

Im „Lear“ ist Reimann gelungen, was dauerhaft rezipierte Werke ausmacht: ein zeitloses Thema, das unter aktueller Perspektive erschlossen wird; eine expressive Tonsprache, die unmittelbar zu ergreifen vermag, dennoch höchst bewusst durchkonstruiert ist. Und ein untrügliches Gefühl für die menschliche Stimme und ihr Ausdrucksspektrum. Nicht umsonst hat Dietrich Fischer-Dieskau schon 1968 gedrängt, Reimann möge sich des „Lear“ annehmen. Zehn Jahre später sang er die Titelpartie in der Münchner Uraufführungsregie von Jean-Pierre Ponnelle, mit Gerd Albrecht am Pult.

Grotesk, unheimlich, tiefgründig: Aribert Reimanns "Die Gespenstersonate" in ihrer jüngsten Inszenierung 2014 in Frankfurt, mit Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Grotesk, unheimlich, tiefgründig: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ in ihrer jüngsten Inszenierung 2014 in Frankfurt, mit Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Inspiration durch große Literatur

In diesem „Lear“ und seiner Geschichte steckt vieles, was den Komponisten Aribert Reimann kennzeichnet. Zunächst der Stoff: Reimann hat sich stets von großer Literatur inspirieren lassen, von August Strindberg für seine erste Oper „Ein Traumspiel“ (Kiel, 1965), von Yvan Goll für seine mystische „Melusine“ (Schwetzingen, 1971), von Franz Kafka für „Das Schloss“ (Berlin, 1992) bis hin zu seinem jüngsten Musiktheater, der in Wien 2010 uraufgeführten und danach in Frankfurt herausgebrachten „Medea“ nach Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“.

Auch sein neues Werk, das für Berlin 2017 vorgesehen ist, fußt mit Maurice Maeterlinck auf einem bedeutenden Literaten. Begonnen hatte die Beschäftigung mit dem Musiktheater mit einem Ballett auf ein Libretto von Günter Grass: „Stoffreste“. Das Debüt des noch nicht 23-jährigen Komponisten erfolgte am 12. Februar 1959 am Essener Theater.

Man hat Reimann vorgeworfen, ein unpolitischer, konservativer, ja bildungsbürgerlicher Komponist zu sein, der an einer „linearen Erzählhandlung“ festhält. Inzwischen ist die Zeit vorbei, da man das Erzählen von Geschichten als nicht mehr zeitgemäß geringgeschätzt hat. Und Reimanns Stoffe haben mehr mit der Gegenwart zu tun als manches aufgeregt der Aktualität nachhechelndes oder in Kunsttheorie oder Selbstreferenzialität verschraubtes Musiktheater.

Nichts Abstraktes, sondern Durchlebtes

So ist Reimanns „Troades“ von 1986 – er nannte sie selbst einmal seine Anti-Kriegs-Oper – nicht nur eine musikalische Reflexion der furchtbaren Erlebnisse des Neunjährigen, der den verheerenden Bombenangriff auf Potsdam am 15. April 1945 miterlebt und seinen älteren Bruder verloren hat, sondern auch eine ungeheurer Herausforderung an den Zuschauer, der sich den Extremen im Orchester und in der Führung der Stimmen ungeschützt aussetzen muss – so, wie er auch den „Sturm auf der Heide“ in „Lear“ über sich hereinbrechen lassen muss.

Kennzeichnend für den Schaffensprozess: Reimann komponiert nicht Abstraktes, sondern Durchlebtes. Er braucht einen Schlüssel, der in ihm Musik erschließt. Im „Lear“ war das der erste Satz des Königs, in dem dieser seinen Entschluss mitteilt, sein Reich zu teilen – der Beginn eines Verhängnisses, aus dem es kein Entkommen mehr gibt. In „Medea“ war es der Ruf „Gebt Raum!“ aus dem Munde der Mutter, der man die Kinder entfremdet und wegnimmt. Medea ist in gewissem Sinne das weibliche Pendant zu Lear. Auch sie ist verstoßen, eine ohnmächtige Fremde in der Welt, die sie umgibt. Aber sie findet in der Bedrängnis zu Stärke. Eine Figur, in der Reimann die Tiefenschichten entdeckt hat, und die in ihm so viel Musik erzeugte, dass er ihr nicht mehr entkommen konnte.

„Plötzlich ist da eine Farbe, der ich nachgehen muss“

In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ hat Reimann seinen Schaffensprozess im Sinne einer Inspiration beschrieben: „Plötzlich ist da eine Farbe, eine Konstellation, der ich nachgehen muss. … Das Seltsame ist, dass ich das Gefühl habe, der Klang sucht mich, nicht ich suche den Klang – und dass er von außen kommt, von sehr weit weg.“ Auch er sei beim Komponieren „nicht ganz von dieser Welt“. Mit bloßer Intuition hat das freilich wenig zu tun: Von der Eingebung führt der Weg zum bis ins letzte Detail durchdachten Prozess der Organisation und Verarbeitung des Materials. Handwerk eben, wenn auch souverän gehandhabtes. Dennoch bleibt der Rest eines Geheimnisses.

Das Klavier war sein Instrument: Reimann war ein gesuchter Liedbegleiter. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Das Klavier war sein Instrument: Reimann war ein gesuchter Liedbegleiter. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Reimann ist schon von seiner Herkunft ein Mann der Stimme, des Singens. Seine Mutter war Sängerin und Gesangslehrerin, der Vater Leiter des Staats- und Domchores Berlin. Gesangsübungen gehörten zum täglichen Brot, Bach und Schubert waren „wie Essen und Trinken“. Die erste Komposition, die Reimann mit zehn Jahren schreibt, ist ein unbegleiteter Gesang, angeregt von Kurt Weills „Der Jasager“. Mit 22 Jahren begleitet er Dietrich Fischer-Dieskau – und nach dem Bariton noch viele weitere namhafte Sänger. Ein befruchtender Austausch: Kaum ein Komponist der Gegenwart zeigt sich kundiger und sensibler gegenüber der menschlichen Stimme.

Wiederentdeckung des Liedes

Das Begleiten hat Reimann in den neunziger Jahren aufgegeben, die Beschäftigung mit dem Gesang nicht. Bis zur Pensionierung hatte er eine Professur für Zeitgenössisches Lied in Hamburg, dann an der Berliner Hochschule der Künste inne. Kein Wunder, dass zahlreiche Lieder und Liedzyklen entstanden; Reimann gilt als der Zeitgenosse, der das Lied wieder ins Bewusstsein modernen Komponierens zurückgeholt hat.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Ein wenig seltsam mutet schon an, dass die deutsche Musikwelt vom 80. Geburtstag Aribert Reimanns am heutigen 4. März so wenig praktische Notiz nimmt. An keiner Bühne steht eine seiner acht Opern auf dem Spielplan. Studiert man auf den Internetseiten des Schott-Verlags die Aufführungsdaten, beschränken sich die Konzerte zum Geburtstag auf Berlin: ein Kammerkonzert von Musikern des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin, das nach den „Liedern auf der Flucht“ 1960 zahlreiche Ur- und Erstaufführungen realisiert hat.

Am 12. und 13. März spielt das DSO in der Berliner Philharmonie „Tarde“ für Sopran und Orchester; am 22. März folgt das Orchester der Deutschen Oper Berlin in einem Geburtstagskonzert unter Donald Runnicles mit den „Drei Liedern nach Gedichten von Edgar Allan Poe“. Stefan Soltesz dirigiert im Mai zwei Aufführungen des „Lear“ – in Budapest.

Interessant: Das Würzburger Mozartfest bringt im Juni eine ganze Reihe von kammermusikalischen und vokalen Werken Reimanns. Liegt das daran, dass Reimann Mozart „am meisten bewundert“? Und bei den sommerlichen Musiktagen in Hitzacker wird der Liedkomponist Reimann ausführlich gewürdigt. Dennoch: Für einen Komponisten dieses Rangs ein mageres Geburtstags-Portefeuille. Reimann wird’s verschmerzen. Er war, bei allem Selbstbewusstsein, eh nie der Mann fürs Glamouröse.




„Hallo!“ – der Gruß für alle Fälle

Wie kam das nur und wann hat das eigentlich angefangen: dass alle Leute einander mit „Hallo“ grüßen?

Mh. Das fragt sich doch heute längst niemand mehr. Was aber so selbstverständlich anmutet, verdient es – frei nach Lichtenberg * – vielleicht gerade, nochmals zur Sprache zu kommen. Wobei wir uns einigermaßen kurz fassen wollen.

Ist es aus dem Englischen zu uns gewandert? Sehr wahrscheinlich. Ging es schon im Laufe der 1980er Jahre los, war es nach der „Wende“ oder erst in den Zweitausendern? Man weiß es nicht mehr so recht, obwohl man den Wandel doch erlebt haben muss. Ein blinder Fleck der Zeitgeschichte. Nicht, dass mir noch jemand behauptet, das „Hallo“ sei parallel mit der Hal(l)ogenleuchte aufgekommen. Je nun. Kalauer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Auch das Skelett grüßt noch mit "Hallo". (Foto: Bernd Berke)

Auch das Skelett grüßt noch mit „Hallo“, sofern es nicht „Tschüssikowski“ sagt. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich plötzlich war es da und auch schon bald allgegenwärtig. „Hallo“ hat sich sozusagen hinterrücks eingeschlichen und nahezu grenzenlos ausgebreitet, als wäre es gasförmig. Kaum vorstellbar, dass diese sprachliche Gewohnheit eines Tages wieder verschwindet. Die ganz Cleveren grüßen seit einigen Jahren mit „Moin“. Ob sich das einmal auf breiter Front durchsetzen wird? Eher jedenfalls als „Grüß Gott“.

Übrigens: In vielen Fällen geht das „Hallo“ mit der Sitte des allgemeinen Ikea-Duzens einher. Ob es auch mit der Zunahme veganer Lebensweise zu tun hat, wird bei anderer Gelegenheit noch zu prüfen sein. Oder auch nicht. Abschweif-Schleife vorerst beendet.

Früher, in den analogen Zeiten, war das unscheinbare, wenig bedeutsame Wörtchen „Hallo“ eher auf Telefongespräche beschränkt. Nur selten gab es ein „großes Hallo“. Allenfalls taugte es als gezielter Zuruf, nicht aber als allgemein gültige Wortmünze für fast alle Wechselfälle des Alltags.

Wenn wir mal von den superlustigen Versionen „Hallöchen“ und „Halli hallo“ absehen, können wir feststellen: Wohin man auch kommt, überall schallt und schwallt einem „Hallo“ entgegen, das heißt: Oft wird es auch nur lustlos gemurmelt oder notdürftig hervorgequetscht. Zumeist aber soll es wohl immerzu wache Munterkeit signalisieren. Und junge oder jung geblieben sich wähnende Lockerheit (vulgo: Coolness) sowieso. Man beachte das geradezu adornitisch nachgestellte „sich“ im vorherigen Satz.

Aber wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja:

„Hallo“ ist praktisch universell verwendbar, in allen Ländern kann man es – mitunter leicht variiert – einsetzen. Es will ja auch, wie schon angedeutet, gar nicht viel besagen. Das altbackene „Guten Tag“ mag ich vielleicht nicht jedem Deppen entbieten, aber mit „Hallo“ vergebe ich mir nichts. Es entbehrt jeder näheren Verbindlichkeit. Es ist ungefähr so wenig profiliert wie das weltweit häufigste Wort „okay“.

Allerdings kann selbst dieses Wörtlein verschiedene Tonfälle und Färbungen annehmen. Mit fragend intonierter Endsilbe heißt „Hallo“ ungefähr „Bist du noch bei Trost?“ Doch derlei zeitraubende Ausformulierungen ersparen wir uns heutzutage. Aber hallo!

P.S.: Jetzt, da der Text fertig ist, merke ich, dass ich das hingehauchte, hingeschluderte, ungemein lässige „Hi“ nicht gewürdigt habe… Wie konnte ich das nur vergessen?

P.P.S.: Über Abschiedsformeln zwischen „Servus“, „(uuund) Tschüs(s)“, „Tschüssikowski“ und Ciao (Tschau) reden wir eventuell ein andermal.

Und nun das Wetter…

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* Das berühmte Zitat von Georg Christoph Lichtenberg lautet: „Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden.“