Ins Innere der Dinge vordringen – die Wuppertaler Werkschau des Tony Cragg

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Eine dermaßen weit ausgreifende Einzelausstellung hat es im Wuppertaler Von der Heydt-Museum noch nie gegeben: Für diesen Künstler hat Museumschef Gerhard Finckh gleich alle drei Etagen des Hauses freiräumen lassen. Der 1949 in Liverpool geborene Bildhauer Tony Cragg, so Finckh, sei ein „Weltstar“ der Kunst. Noch dazu lebt der Brite seit den 1970er Jahren in Wuppertal.

Nun also richtet ihm seine Wahlheimat die erste umfassende Retrospektive aus – und nicht etwa London oder Paris. Gar üppig, ja geradezu ausufernd füllt skulpturale Formenvielfalt mitsamt begleitenden Arbeiten 26 Räume. Cragg und sein 20köpfiges Team haben die aufwendige Aufstellung weitgehend selbst besorgt. Rund 120 dreidimensionale Arbeiten, manche um die 800 Kilogramm schwer, breiten sich jetzt aus, dazu Fotografien und Zeichnungen. Hier ist tatsächlich ein facettenreiches Lebenswerk zu besichtigen.

Tony Cragg: "Castor & Pollux", 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Castor & Pollux“, 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg, der auf dem Titel des schwergewichtigen Katalogs korrekt mit vollem Namen Anthony Cragg heißt, hat wahrlich seine großen Meriten. Er ist Träger so renommierter Auszeichnungen wie Turner-Preis und Praemium Imperiale, auch war er (bis 2013) Rektor der weltweit geachteten Kunstakademie in Düsseldorf. Die Liste der Verdienste und Ehrungen ließe sich länglich fortführen.

Mit Vorgefundenem und Vorhandenem, vorzugsweise mit „ärmlichem“ Material hat es in aller Bescheidenheit begonnen. Craggs frühe Fotos im Geiste des Minimalismus und der Land Art hängen am Beginn der Schau, gruppiert um ein imposantes Stapel-Kunstwerk, das so etwas wie eine schichtenhafte „Geologie der Dinge“ vor Augen führt.

Tony Cragg: "Secretions", 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank - © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Tony Cragg: „Secretions“, 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank – © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Nach und nach hat Cragg dann die vielfältigen Möglichkeiten und Eigenarten so mancher Stofflichkeiten von Glas bis Holz, Metall und Plastik erkundet. Jedes Material verlangt eine andere Herangehensweise, einen anderen Prozess. Vielfach gibt es – nicht nur mit Glas – zunächst Bruch und Chaos, bevor schließlich die angestrebte Form entsteht.

Wenn man erlebt, wie nervös und ruhelos, aber vor allem ständig inspiriert Tony Cragg zwischen seinen Schöpfungen erläuternd hin und her geht, erahnt man sein demiurgisches Wesen, das sich so viele Formen und Materialien bezwingend anverwandelt. „Abenteuer mit dem Material“ nennt er das und man darf wohl glauben, dass es dabei aufregend zugeht.

Tony Cragg: "Versus", 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Versus“, 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Schöner noch: Mit britischem Humor und feinsinnigem Understatement weiß er einem seine Kunst auf sympathische Weise nahezubringen. Schlecht habe er übrigens in den letzten Tagen geschlafen, denn gerade diese Ausstellung am Wohnort müsse besonders gelingen. Er wolle auch künftig ohne Gewissensbisse durch Wuppertal gehen…

1966-68, noch vor seinen Kunststudien, hat Cragg als junger Mann zeitweise als Techniker in einem Chemielabor gearbeitet. Vielleicht hat ihn diese Erfahrung dazu gebracht, gleichsam ins verborgene Innere der Dinge vordringen zu wollen, um möglichst sichtbar zu machen, was die Welt im Innersten zusammenhält oder auch antreibt? Die Wissbegier reicht sozusagen bis hinab zur molekularen Ebene. „Parts oft the World“ (Teile der Welt) heißt ja auch die ganze Schau.

Tony Cragg: "Making Sense", 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Making Sense“, 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Doch die Wissenschaften, so Craggs Überzeugung, tragen zwar zahllose Erkenntnisse zusammen, die allerdings emotional blass bleiben und einen nicht ergreifen. Erst die Künste verwandelten ihren Gehalt in spürbare Emotionen. In einer Zeit, in der sich die Welt mit theoretischen Konstrukten anfüllt, begreift er ein umfassendes Sichtbarmachen offenbar als seine Mission.

Und so wirken etliche seiner Werke einerseits, als basierten sie auf minutiösen Form-Analysen, die dann freilich wieder zur Synthese gelangt sind und jeweils ein (vielfältiges) Ganzes ergeben, um das man staunend herumgeht, immer neue Aspekte wahrnehmend. Diese Art der Bildhauerei erweist sich – durch die Jahrzehnte hindurch – als ständige Erfindung ungeahnt neuer Formen. Damit entstünden auch neue Begriffe und neue Freiheiten, sagt der Künstler selbst.

Tony Cragg: "Runner", 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Runner“, 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Faszinierend ist es zu sehen, wie zunächst abstrakt anmutende, beispielsweise wirbelsäulenförmige Figurationen, auf frappante Weise lebendige Körperlichkeit enthalten und vitale Zeitabläufe energiereich „speichern“. Diese Arbeiten oszillieren zwischen organischen und geometrischen Impulsen. Ein spannender Widerstreit.

Oft ist es, als seien Dinge und Körper zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder anders gewendet, besehen und geformt worden, so dass sie schließlich gar nicht mehr recht zu fassen sind. Herkunft verpflichtet: Auch eine überdimensionale Teekanne hat der Brite auf solche Art gestaltet, indem er simultan verschiedenste Ansichten derselben vorführt.

Neuerdings bedient sich Cragg auch der Möglichkeiten des Computer Aided Design (CAD), doch wird er seine schier unendlichen Formfindungen gewiss nicht von digitaler Technik beherrschen lassen. Dazu hat er wohl einfach zu viele Phantasien im Kopf und im Herzen, die ihn zum (un)steten Schaffen drängen. Der Computer bleibt Hilfsmittel.

Die Werkgruppen, die in Wuppertal präsentiert werden, reichen bis hin zu neuesten, bisher noch nicht gezeigten Skulpturen. Selbstverständlich hat sich im Laufe der Jahre manches entwickelt, was anfangs noch nicht da war. Doch gerade im Rückblick zeigt sich, dass sich dieses Lebenswerk wie ein Baum verzweigt hat und auch immer wieder zum Angestammten zurückkehrt.

Tony Cragg: „Parts oft he World“ – Retrospektive. 19. April bis 14. August 2016 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Fronleichnam geöffnet, 1. Mai und Pfingstmontag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 38 Euro, DVD 15 Euro. Internet: www.tonycragg-ausstellung.de




„Carmen“ auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova mag’s unterhaltsam im Konzerthaus Dortmund

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist "Junge Wilde" im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Ksenija Sidorova ist eine Virtuosin auf ihrem Instrument. Die flinken Finger finden sicher ihren Weg – technisches Können paart sich mit großer Leidenschaft. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für eindrucksvolles Klangfarbenspiel. Die Passion der lettischen Solistin gilt dem Akkordeon.

Im Konzerthaus Dortmund hat sie nun als „Junge Wilde“ virtuos für dieses Instrument Partei ergriffen – einerseits, denn andererseits sind die „Carmen“-Arrangements, die sie mit einem fünfköpfigen Ensemble offeriert, heftig ins seichte Unterhaltungsfach abgerutscht. Zu wenig ist das für ein ernst gemeintes „Projekt“, wie sie dieses Konzert selbst beschreibt.

„Junge Wilde“: Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, ist längst zu Publikums Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert). Es bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Sie dürfen ungewöhnliche Programme im Gepäck haben, oder eben auch, wie Ksenija Sidorova, Instrumente, die nicht gerade zum klassischen Kanon gehören. Die Zuhörer sind allemal dankbar für Überraschungen und besondere Formate. Dass etwa die Solistin den Abend in englischer Sprache moderiert, mag ein Bruch mit den eingefahrenen Regeln des Konzertbetriebs sein. Gleichwohl werden die verbindenden Worte wohlwollend goutiert.

Alles beginnt mit der Malagueña des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona, ein nicht ganz unbekanntes Stück, das schon der Pianist Arcadi Volodos wirkmächtig in die Klaviertasten gegerbt hat. Sidorova setzt indes nicht auf virtuoses Muskelspiel, sondern vielmehr auf kantable wie rhythmische Gestaltung dieses spanischen Volkstanzes. Und präsentiert uns damit gewissermaßen das Rohmaterial dessen, was sich in Georges Bizets „Carmen“ in stilisierter Form wiederfindet. Gegenüberstellungen dieser Art, in stetem Wechsel, wären gewiss reizvoll gewesen. Doch das, was Sidorova und ihre Mitstreiter als Improvisationen benennen, sind überwiegend nur schlappe Potpourris.

Hinzu kommt, dass Alejandro Loguercio (Violine) keinen großen Ton ins Spiel bringen kann, während Michael Abramovich (Klavier) sich oft zu sehr in den Vordergrund musiziert und Reentko Dirks (Gitarre) im Ensemble eher untergeht. Ja selbst das Akkordeon bleibt bisweilen blass. Immerhin setzt Roberto Koch am Bass gewichtige Fundamente, schafft Itamar Doari hier und da perkussiven Klangzauber. Weit besser, authentischer als alle Bizet-Ableitungen klingen ohnehin die eingestreuten Stücke Astor Piazzollas. Sehr atmosphärisch etwa des Komponisten „Café 1920“ für Violine, Akkordeon und Bass.

Insgesamt ein eher unbefriedigender Abend, weil’s richtig wild und rhythmisch zupackend, munter und nachgerade parodistisch erst mit der Zugabe wird: Wenn das Ensemble durch das Torero-Lied aus „Carmen“ jagt, dieser aufgeblasene Opernmacho also gewissermaßen als Schaumschläger dargestellt wird, ist der brausende Beifall des Publikums wirklich verdient.




Start mit Gluck – Intendant Johan Simons stellt das Programm der RuhrTriennale 2016 vor

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Auf Zeche Zollern erklingt zumindest an einem Abend Triennale-Musik – allerdings nicht im abgebildeten Verwaltungsgebäude, sondern in der (unsichtbar) dahinter liegenden berühmten und frisch renovierten Jugendstil-Maschinenhalle (Foto: Ruhrtriennale/LWL Hudemann)

Christoph Willibald Gluck macht den Anfang, es folgen Albert Camus, Emile Zola und viele andere. Johan Simons hat das Programm seiner zweiten Ruhrtriennale (12. August bis 24. September 2016) vorgestellt, die an etlichen ehemaligen (oder noch aktiven) Industriestandorten des Ruhrgebiets stattfinden soll. Nach langer Pause ist auch Dortmund wieder mit Spielstätten vertreten, dem Hafen und (endlich!) der renovierten Maschinenhalle von Zeche Zollern in Bövinghausen. Hier ein paar Fakten:

Beginn in der Jahrhunderthalle

Große Auftakt-Produktion ist Glucks Reformoper „Alceste“ in der Bochumer Jahrhunderthalle. Simons hat sie, wie wir den sorgfältig zusammengestellten Presseunterlagen entnehmen können, „neu inszeniert und stellt Fragen nach Opferbereitschaft, Mut und Demut“. Der belgische Dirigent René Jacobs steht am Pult, leitet das B’Rock Orchestra und den MusicAeterna-Chor aus Perm.

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René Jacobs dirigiert die Eröffnungsproduktion „Alceste“ (Foto: Ruhrtriennale/ Molina-Visuals)

Drei Wochen später startet die zweite große Musikproduktion, wiederum unter Simons’ Leitung. Das Werk heißt „Die Fremden“ und ist eine musikalische Bühnenadaption des Romans „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud. Daouds Roman wiederum ist eine (etwas späte) Antwort auf den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus, in dem der scheinbar grundlose Mord an einem namenlos bleibenden Araber eine zentrale Rolle spielt. Der Mord, ist zu erfahren, war nicht nur tödlich, sondern seine Beschreibung auch rassistisch, was Daoud zur Gegendarstellung bewegte.

Jetzt auch Auguste Victoria

Die Inszenierung hinterfragt menschliches Dasein in einer gottverlassenen Welt, fragt nach den Werten, die unsere Kulturen bestimmen, und läßt bei alledem Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel hören. Da wage ich die Prognose, daß dies kein leichter Abend wird – aber ein spannender. Ein hoffentlich auch bereichernder. Spielort übrigens ist erstmalig die Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl, die erst vor kurzem stillgelegt wurde. Reinbert de Leeuw leitet das Asko/Schönberg Ensemble.

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Ein Bau von einschüchternder Größe: Die Marler Kohlenmischanlage, wo „Der Fremde“ gespielt wird (Foto: Ruhrtriennale/RAG Montan Immobilien GmbH)

In der Abteilung „Musik“ sticht das Projekt „Carré“ ins Auge, bei dem Bochumer Symphoniker und ChorWerk Ruhr, auf jeweils vier Gruppen verteilt, Musik von Karlheinz Stockhausen sozusagen dezentral zum Klingen bringen. Eigentlich geht das nirgendwo, aber in der Jahrhunderthalle eben doch.

Ebenfalls bemerkenswert: „Répons“, das „Raummusik-Meisterwerk“ des Komponisten Pierre Boulez, das im Landschaftspark Duisburg Nord vom Ensemble Inter-Contemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher gegeben wird.

Fortsetzungen: Zola und Couperus

Im Bereich „Schauspiel“ werden Fortsetzungen angekündigt. Luc Perceval wandelt weiterhin auf Emile Zolas Spuren und bringt „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ auf die Bühne. Ivo van Hove inszeniert „Die Dinge, die vorübergehen“ von Louis Couperus, eine Art Familienthriller. Wie auch im letzten Jahr, als das Couperus-Stück „Die stille Kraft“ im steten Tropenregen das Scheitern des Kolonialismus am Beispiel eines Verwaltungsbeamten und seiner Familie schilderte, umkreist Couperus das, was falsch ist an der Besitznahme ferner Länder durch sein Land.

Liebe. Trilogie meiner Familie 2 nach Émile Zola Regie Luk Perceval Bühne Annette Kurz Kostüme Ilse Vandenbussche Musik Lothar Müller Licht Mark Van Denesse Dramaturgie Susanne Meister Jeroen Versteele Darsteller Patrick Bartsch (Goujet) Stephan Bissmeier (Dr. Pascal) Pascal Houdus (Dr. Ramond) Marie Jung (Clotilde) Barbara Nüsse (Felicité; Frau Lorillieux; Leichenbesorger; Mme Goujet) Sebastian Rudolph (Lantier) Gabriela Maria Schmeide (Gervaise) Maja Schöne (Nana) Rafael Stachowiak (Jacques Lantier) Oda Thormeyer (Martine) Tilo Werner (Coupeau) Patrycia Ziolkowska (Clémence) Copyright by Armin Smailovic Gravelottestrasse 3                               D- 81667 Muenchen         Commerzbank Muenchen   Kto. 682038400 Blz. 70080000   Veröffentlichung honorarpflichtig! Umsatzsteuersatz 7% Steuernummer 146/198/60102  FA München

Das ist jetzt ein Symbolfoto zu „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ (Foto: Ruhrtriennale/ Armin-Smailovic)

Es gäbe der Projekte viele, viele mehr zu nennen, doch soll dies ja nur ein erster Eindruck sein.

Im Dortmunder Hafen, um darauf zurückzukommen, ist die neue Arbeit von „osa_office for subversive architecture“ zu bestaunen und auch zu benutzen. Konkret handelt es sich um einen zehn Tonnen schweren Container in der Farbe Pink, der in eine real existierende Bearbeitungshalle für Stahlprodukte gekrant wird. Dabei dürfen um die 20 Besucher „an Bord“ („an Container“?) sein, bestimmt ein unvergeßliches Erlebnis.

Endlich in der Maschinenhalle von Zeche Zollern

Die Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund schließlich ist am 17. August Ort des Konzerts „Spem in alium“, benannt nach einer Motette Thomas Tallis’. An diesem Abend wird es experimentell, mit Musik von Henry Purcell, Alfred Schnittke, György Ligeti und eben Tallis. Vitaly Polonsky dirigiert den Chor MusicAeterna, der aus dem russichen Perm zur Ruhrtriennale gestoßen ist.

So, hier soll es einstweilen sein Bewenden haben. Natürlich könnte man über das Ruhrtriennale-Programm noch unendlich viel mehr schreiben, doch würde es bald unübersichtlich und sicherlich auch langweilig. Auf den Internet-Seiten des Festivals können Interessierte sich orientieren und Karten kaufen. Noch gibt es 15 Prozent Frühbucherrabatt.

www. ruhrtriennale.de




Satire ohne Biss: Paul Linckes Milljöh-Operette „Frau Luna“ in Mönchengladbach

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes „Frau Luna“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Kein Zweifel: Die Panneckes und Pusebachs sind in der Jetztzeit angekommen. Die wilhelminische Nostalgie des alten „Spree-Athen“ von Paul Linckes unsterblichem Operettenschlager „Frau Luna“ schrumpft in der neuen Inszenierung am Theater Krefeld-Mönchengladbach auf eine hübsch auf alt getrimmte Kneipe. Im Hintergrund aber recken sich die endlosen Fensterreihen und Satellitenschüsseln Berliner Hochhaussiedlungen. Das „Milljöh“ von damals, das sind heute die Hartzer, Kleinrentner und zwischen fehlendem Schulabschluss und aussichtloser Stellensuche gestrandeten Jugendlichen.

Regisseur Ansgar Weigner hat gemeinsam mit Carsten Süß den Text von Heinz Bolten-Baeckers für seine Sicht auf „Frau Luna“ gründlich revidiert. Fritz Steppke, der pfiffige Berliner Mechaniker, baut keinen Mondballon mehr; die Technik-Begeisterung von 1899 ist der Frage nach einer politischen Option gewichen: Steppke hat eine idealistische Bewegung für „Jerechtigkeit (!) und Liebe zwischen den Menschen“ gegründet. Hat er damit eine Chance? Gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Operetten-Unterschicht?

Die Antwort ist dieselbe wie 1899: Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, und um im Glück sich einzurichten, hat man auf der Erde Platz – sprich, im Kuschelbett mit seinem Mädchen.

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen "Theophil" nach. Foto: Matthias Stutte

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen „Theophil“ nach. Foto: Matthias Stutte

Das ist die gründerzeitliche Stillhalte-Botschaft, die Linckes Operette wohl schon 1899 – und nicht erst in der opulenten Revue-Fassung von 1922 – verbreitet hat. Für den Kleinbürger der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es sich einfach nicht, nach glamourösen Sphären zu streben. Er sollte brav und bescheiden in Laube, Werkstatt und möbliertem Zimmer hausen. Dort ist es am schönsten, so redet Madame Operette dem einfachen Manne ein, der sich an ihrem musikalischen Busen, damals im Apollo-Garten, für zwei Stündchen burlesk und phantastisch der harten Realität der expandierenden Reichshauptstadt Berlin entheben ließ.

Und heute? Bei Weigner klingt das so: „Inne Politik jehn, so wat macht ma nich, so wat träumt ma höchstens“. Eine seltsame Botschaft in einer entwickelten Demokratie. Seine Operetten-Moral am Ende lautet: Der Kiez ist unsere Welt. Und die sollen wir in Ordnung halten durch individuelles Engagement. Jeder, so gut er kann.

Das ist wohl eine ehrenwerte, aber ziemlich unpolitisch gedachte Individualmoral. Ein Rückzug vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Spielplatz aufräumen statt TTIP bekämpfen. Nicht unbedingt eine adäquate Reaktion auf das tatsächlichen Problem in Deutschland, dass gesellschaftliche Schichten immer undurchlässiger werden. Die Operette war stets ambivalent: Sie bestätigte den Status ihrer Zuschauer, hebelte ihn aber auch lustvoll satirisch aus. In dieser „Frau Luna“ im Theater in Rheydt blieb die – angezielte – Satire freilich ohne Biss.

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aus der mit freundlich eingefärbten Betonfertigbauteilen tapezierten Bühne von Jürgen Kirner träumt sich Steppke in eine „Mond“-Welt, eine Mischung aus Raumschiff Orion und Bundeskanzleramt. Die Erdkugel entschwebt zum Ohrwurm des „Glühwürmchen“-Idylls; sichtbar werden die Reichstagskuppel und ein Rudel futuristischer Putzfeen mit Staubwedel und Stirnlicht.

Doch Weltraum-Fantasy ist nicht angezielt, sondern eher Neureichen-Avantgarde. Die opulente Freitreppe signalisiert: Hier läuft die Show. Und was „da oben“ gespielt wird, um „den Wähler“ klein zu halten, ist nicht mehr als hohle Polit-Inszenierung. Allen voran Frau Luna als Übermutti in einem hemmungslos übersteigerten Gold-Kostüm von Marlis Knoblauch, dazu die weißen Roben, Fräcke und Uniformen wie aus der alten Fernseh-Samstagabendrevue. Und ein grotesker, sechsarmiger Theophil, der Allround-Manager des lunaren Tollhauses, bei Matthias Wippich gut aufgehoben – so ganz ohne fantastische Elemente kommt selbst Weigners Konzept nicht aus.

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Das ist alles hübsch anzuschauen, doch weder der Satire noch dem Humor besonders förderlich. Selbst eine Frau Venus – Amelie Müller in koketten rosa Dessous – agiert zu betulich, um den braven Erdenbürgern den Herzschlag erotisch zu beschleunigen.

Die Szene, in der Steppke der Göttin des Mondes seine politischen Reformpläne erläutern will, während die nur auf seine vermuteten männlichen Qualitäten erpicht ist, wirkt wie braver Sozialkundeunterricht: Knisternde Spannung oder die naheliegende Enttäuschung des eifrigen politischen Missionars? Fehlanzeige. Wenigstens rettet Markus Heinrich durch agiles Spiel und ebenso beweglichen Tenor seine Figur vor der totalen Verblassung, während Debra Hays den Facetten der Frau Luna zwischen mondän, berechnend und ein wenig liebestoll zu viel Reserve entgegenbringt.

Im Quintett der mondfahrenden Erdlinge schießt Kerstin Brix den Vogel ab: Frau Pusebach ist in ihrem Fall eine schnoddrige Schnauze, die ohne Sentimentalität ihren verflossenen Theophil wiedererkennt, dessen Verlust sie mit Kittelschürze und dem herrlich verqueren Quäken einer erfahrenen Diseuse bereits auf Erden beklagt hat. Rafael Bruck gewinnt der Figur des Lämmermeier – in diesem Fall ein „freigestellter Deutschlehrer in ewigem Krankenstand“ – kaum Konturen ab; auch Haik Dèinyan hat wenig Chancen, aus seinem Pannecke mehr als einen angestaubt freundlichen älteren Herrn zu machen. Susanne Seefing mit Camouflagehose und Spaghettihaaren macht es ihrem Fritz leicht, den politischen Traum für das Nest unter nackter Glühbirne draufzugeben: Sie ist eine sanfte, anschmiegsame Mieze.

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Die herrlich auf die Spitze getriebenen Kostüme des Prinzen Sternschnuppe – Michael Siemon als Operettengeneral – und des aufgeblasenen Mars von Shinyoung Yen täuschen nicht darüber hinweg, dass auch den Mondbewohnern die Profilierung abgeht, die sie zu komischen oder wenigstens markanten Charakteren im Rahmen des Genres geformt hätte. Nur Gabriela Kuhn zeigt als nassforsche Stella, wie zynisch der „Betrieb“ auf dem Mond machen kann. Musikalisch bleiben die Niederrheinischen Sinfoniker den mal idyllischen, mal lustvoll-simpel gradlinigen Melodie-Erfindungen des „feinen Paule“ nichts schuldig, zumal sie in einer gut ausbalancierten Streicher-Bläser-Besetzung spielen.

Alexander Steinitz lässt den luftigen Amüsiernummern ihre Würde, ihren Charme und ihre Würze, meidet allzu trivialen Schmiss ebenso wie triefendes Sentiment. Der Chor ist auf Zack, lässt sich beim himmlischen Reinemachen nicht aus dem spitzen Offenbach-Rhythmus bringen. Wenn im Finale dann die „Berliner Luft“ dröhnt, ist das lastende politische Gedünst verpufft; was bleibt, ist der unverwehbare Duft der Berliner Operette, deren rauer Charme auch dem Optimierungswahn der Bearbeiter von heute widersteht.

Nächste Vorstellungen: 22./24. April, 17./21. Mai. Karten: Tel. (02166) 61 51 100 oder www.theater-kr-mg.de