Penner, Huren, Säufer: Dortmund zeigt mit „Peter Grimes“ erstmals eine Britten-Oper

Am Boden: Peter Grimes (Peter Marsh), Sonderling und Raubein, wird Opfer eines Hetzmobs (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Schuldig oder unschuldig? In Dortmund ist das Urteil über den Fischer Peter Grimes (Peter Marsh) rasch gesprochen (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Grandiose Stimmungsbilder vom Meer, eng mit der abgründigen und unbeständigen Psyche eines Außenseiters verzahnt, machen den Erfolg der Oper „Peter Grimes“ von Benjamin Britten aus. Der Titelheld, ein armer Fischer, ist ein Visionär, der von einem besseren Leben träumt, seine raubeinige, zu Gewalt neigende Natur indes nicht unter Kontrolle hat.

Ob er den Tod seines Lehrjungen auf dem Gewissen hat oder nicht, ist nicht nur für die Bewohnter des englischen Fischerdorfes „The Borough“ rasch beantwortet. Auch Regisseur Tilman Knabe, der die Oper jetzt in Dortmund neu in Szene setzt, lässt uns nicht lange im Ungewissen. Wo Britten nur vornehm andeutet, dass homoerotische, womöglich sogar pädophile Neigungen mit im Spiel sind, langt Knabe kräftig hin: Für ihn ist Grimes schlicht ein Kranker, der von seinem Trieb nach Jungs zerrissen wird. Aus Brittens gequältem Idealisten, der zwischen euphorischem Wahn und manischer Depression schwankt, wird ein Sexualstraftäter.

Das klingt nicht nur trostlos, sondern es sieht auch so aus. Im Einheitsbühnenbild von Annika Haller prallt der Blick auf eine Hafenmauer aus Beton, die eben jenen Seeblick verwehrt, den ein schäbiger Kiosk namens „Ocean View“ verspricht. Zwischen Bierkisten, Maschendrahtzaun und einer Spelunke führt Tilman Knabe uns die Dorfeinwohner als Lumpenproletariat vor. Säufer, Penner und Huren bestimmen die Szene: Man fragt sich ernsthaft, warum der Außenseiter Grimes so gerne Teil dieser Gesellschaft sein möchte.

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangkin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft zur Hatz auf Peter Grimes bläst (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangmin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft sich zur Menschenjagd formiert (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Durch die Überzeichnung macht die Regie es sich selbst schwer, einzelne Charaktere differenzierter zu beleuchten. Der eifernde Methodist Bob Boles fuchtelt mit dem anklagenden Zeigefinger herum, bis er zur Karikatur wird. Kapitän Balstrode tritt als gutmütiger Rocker in schwarzer Lederkluft auf, gewinnt trotz des sonoren Baritons von Sangmin Lee aber kaum Kontur. Geistige Brandstifter wie die tablettensüchtige Mrs Sedley und der Richter Swallow, die sich als Biedermeier tarnen, wirken wie komische Randfiguren. Wie gefährlich diese Typen werden, wenn sie sich zur Hetzmasse vereinen, zeigt immerhin eine starke Szene im zweiten Akt. Freilich hätte sich die Lust an der Menschenjagd auch ohne öde Rammeleien im Bühnenhintergrund vermittelt.

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jack / Stage Picture)

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Konzentrieren wir uns lieber auf die Hauptfiguren, die sängerisch und darstellerisch durchaus für sich einnehmen. Als Gast von der Oper Frankfurt gibt der Amerikaner Peter Marsh dem unglücklichen Titelhelden fragile Höhen und abrupte Stimmungsumschwünge mit. Sein Tenor kann wie in Trance auf Piano-Noten verweilen, aber auch ruppig und grob werden. Dass seine Stimme nicht immer bruchfrei klingt, ist für diese Partie kein Makel. Als Lehrerin Ellen Orford steht ihm die Sopranistin Emily Newton überzeugend zur Seite. Sie ist eine vom Leben gezeichnete Frau, die Grimes’ Träume von einem besseren Leben teilt. Emily Newton gibt ihr helle Töne der Hoffnung, aber auch verhärmte Klänge sowie Tiefen, aus denen Furcht herauf schaudert.

Die Musik macht am Premierenabend leider nicht wett, was Bühne und Regie uns an Zauber vorenthalten. Selten hat Brittens vielschichtige, farbenreiche und psychologisch dichte Partitur so wenig Atmosphäre entfaltet. Die von Manuel Pujol einstudierten Chöre des Theaters und die Dortmunder Philharmoniker agieren unter der Leitung von Gabriel Feltz oft stark aneinander vorbei, wodurch Strukturen unkenntlich werden.

Wo Brittens Musik uns die Gewalt der Elemente fühlen lässt, wo sie uns zum Träumen bringt und unseren Blick auf das Unendliche richtet, erleben wir in Dortmund bestenfalls einen Sturm im Wasserglas. Trocken werden die Noten der Partitur herunter gespult, ohne ihnen Sinn und Seele zu geben.

Diese erste Aufführung einer Britten-Oper in Dortmund überhaupt – von einem Gastspiel abgesehen –, sie hätte ein Plädoyer für mehr sein können, ja zwingend sein müssen. Die Chance wurde schmerzlich vertan.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen. Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/16177/)




Eine Peter-Rühmkorf-Allee oder Kippenberger-Straße in Dortmund – warum eigentlich nicht?

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Zuweilen hat man den Eindruck, dass zum Beispiel Dortmund einige seiner Straßen im Rahmen eines engeren Horizonts benannt hat. Jedenfalls sagen einem viele, viele Namen herzlich wenig – und oft genug fehlen erläuternde Hinweise auf den Schildern. Lokale und regionale Verdienste in allen Ehren. Doch manches mutet provinziell an.

Aber gibt es denn nichts Dringlicheres im Gemeinwesen? Sicherlich. Jedoch…

Wenn schon ortsbezogene Namen: Warum bringt es die Kommune dann nicht fertig, Straßen oder Plätze nach wirklich bedeutsamen Kulturschaffenden jüngerer Zeit zu benennen, die immerhin in Dortmund geboren wurden? Zwar sind sie nicht ihr Leben lang hier geblieben (was leider von mangelndem Kultur-Magnetismus des Ortes zeugt), doch siehe: Weder Karl Marx noch Rosa Luxemburg, weder Goethe noch Haydn oder Arndt haben hier je gelebt oder auch nur den Flecken besucht, sie sind nicht einmal gebürtige Dortmunder gewesen. Dennoch sind hiesige Straßen nach ihnen benannt, so wie vielerorts und allüberall.

Wen ich nun meine? Wen ich da vorschlagen möchte? Nun, da hätten wir beispielsweise Peter Rühmkorf (geboren am 25. Oktober 1929 in Dortmund), einen der wichtigsten Nachkriegsdichter deutscher Sprache überhaupt. Ginge es nach seiner Bedeutung, so müsste ihm eine Allee von gehöriger Breite gewidmet werden.

Gleich drei Namen von erheblicher Geltung drängen sich auf dem Gebiet der Bildenden Kunst auf: Bernhard Johannes Blume (geb. 8. September 1937), Norbert Tadeusz (geb. 19. Februar 1940) und nicht zuletzt Martin Kippenberger (geb. 25. Februar 1953); allesamt „Söhne der Stadt“, wie es ehedem so feierlich hieß, allesamt verstorben, was ja wohl eine Voraussetzung ist, um eine Straße nach jemandem zu benennen.

Auch der Dadaist Richard Huelsenbeck (Jahrgang 1892), der zwar nicht hier geboren wurde, aber in Dortmund (und Bochum) aufgewachsen ist und auf dem Dortmunder Südwestfriedhof begraben liegt, wäre ein gewichtiger „Anwärter“ auf einen Straßennamen in der Stadt – erst recht genau 100 Jahre nach Begründung der Dada-Bewegung.

Falls ich Künstler(innen) von vergleichbar hohem Rang vergessen haben sollte, bitte ich um ergänzende Mitteilung.

So. Und jetzt müsste man „nur noch“ ein paar Leute im kommunalpolitischen Raum überzeugen.

Bislang habe ich noch nichts von Bestrebungen gehört, einen der Genannten posthum zu ehren. Dabei liegt das Gute doch so nah. Man sollte die nächsten Gelegenheiten beherzt ergreifen. Es tut nicht weh und ist nicht allzu teuer. Aber bitte nicht irgend eine unwirtliche Sackgasse weit außerhalb…

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Es stand in den Revierpassagen

Über Peter Rühmkorf
Über Bernhard Johannes Blume
Über Norbert Tadeusz
Über Martin Kippenberger
Über Richard Huelsenbeck




Eingestaubtes Juwel bleibt unpoliert: Aubers „Manon Lescaut“ in Liège

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Bücher binden Staub. Kein Wunder, dass auch manche Opernpartituren feingrau überzogen in stillen Regalen abseits der vielbegangenen Wege des Tages harren, da ihnen jemand Interesse und Liebe entgegenbringt und sie wieder in die Hand nimmt. Daniel François Esprit Aubers rund 70 Bühnenwerke sind typische Kandidaten für die zweite Reihe im Opernarchiv. Und so freut es Kenner und Liebhaber, wenn jemand wie Stefano Mazzonis di Pralafera, der Chef der Oper im belgischen Liège, Aubers „Manon Lescaut“ aus dem Dämmer der Geschichte erlöst – wenigstens für fünf kurz hintereinander getaktete Vorstellungen.

Regisseur Paul-Èmile Fourny, im französisch sprechenden Raum eine Größe des Theaters, mag darauf anspielen, wenn er in der funkelnden Ouvertüre den Blick auf den Lesesaal einer Bibliothek fallen lässt und eine kleine Geschichte erzählt: Ein Buch fasziniert ein junges Mädchen aus der Schar der uniformierten College-Studenten, aber auch ein verträumter junger Mann an einem der Pulte zieht ihre Blicke magisch an. Der Bühnenbau von Benoît Dugardyn spielt ein wenig auf die Glas-Eisen-Konstruktionen an, die mit dem „Crystal Palace“ bei der Londoner Weltausstellung 1851 in Mode gekommen waren und mit dem Eiffelturm ihren Höhepunkt erreicht hatten. Der eiserne Rundbogen der Halle rahmt die Bühne in den folgenden zweieinhalb Stunden, bis das Buch am Ende wieder ins Regal gestellt wird.

Auch Aubers „Manon Lescaut“ wurde immer wieder weggestellt: Liège unternimmt nicht den ersten Versuch, das reizvolle Stück dem Vergessen zu entreißen. 1856 war das Gemeinschaftswerk des 74-jährigen Meisters der Opéra comique und des renommierten Opernverseschmieds Eugène Scribe ein Achtungserfolg, wurde 63 Mal an der Opéra-Comique gespielt und stand – etwa in Berlin, Stockholm und übrigens auch in Liège – bis 1882 immer wieder einmal auf einem Spielplan. 1975 entdeckte Jean-Pierre Marty das Werk neu und spielte es für die Platte ein; neun Jahre später dirigierte er es in einer szenischen Produktion von Dominique Delouche in Veronas Teatro Filarmonico. Aber weder diese Inszenierung noch die weiteren in Paris und Caen (1990), Wexford (2002) und Los Angeles (2006) beflügelten die Fortune dieser Opernversion des einst berühmten Romans von Abbé Prévost.

Dem Geist des Romans treu geblieben

Das hat seine Gründe: Auber und Scribe verändern zwar das Personal des Romans, gewichten die Figuren anders als Jules Massenet in seiner „Manon“ (1884)  und Giacomo Puccini in „Manon Lescaut“ (1893), bleiben aber dem Geist des Autors treu: Manon ist keine leidenschaftsentflammte Heroine, sondern ein einfaches Mädchen, das sich nach angenehmem Luxus sehnt. Der Marquis d’Hérigny vereint alle Liebhaber Manons in sich: Er ist der geldschwere Bewerber um die sexuelle Gunst der jungen Frau, über die leidenschaftslos, fast lapidar verhandelt wird.

Des Grieux tritt als Liebhaber weit zurück, wirkt eher wie ein nachpubertär überspannter Junge, der Züge Don Josés („Carmen“) vorwegahnen lässt, wenn er sich ans Regiment des Marquis verkauft, weil Manons Cousin Lescaut sein Geld verspielt hat, und später seinen Vorgesetzten im Streit verletzt. Die Nachbarin Manons, Marguerite, ist eine von Scribe auf die Soziologie seiner Zuschauer zugeschnittene Figur: Mit ihren Mahnungen, das Vergnügen nicht zu übertreiben, repräsentiert sie die Werte wohlanständiger Bürgerlichkeit.

So zollt – wie Aubers pfiffige Musik – die federleichte Handlung der Erwartung eines Publikums Tribut, das unterhalten und nur in schicklichen Maßen gerührt werden wollte. Damit hat es Aubers Manon-Version schwer gegen die späteren, expressiv aufgeheizten Dramen. Dass es der Komponist nicht ganz bei harmlosem Divertissement belassen wollte, zeigen der zunehmend ernster werdende Tonfall des zweiten Akts und vor allem der bewegende Schluss: Wenn Manon in der Wüste von Louisiana in den Armen des hilflosen Des Grieux verdurstet, erreicht Aubers Musik einen Ernst und eine emotionale Tiefe, die sich in der intensiven Melodik ebenso wiederspiegelt wie in der empfindsamen, jedes Dekor meidenden Gesangslinie.

Reizvolle melodische und rhythmische Erfindungen

Mit diesem Finale – es soll das erste tragische in der Opéra-Comique gewesen sein – hat Auber ein spätes Meisterstück hinterlassen, das weit in die Ausdruckswelt der „tragédie lyrique“ hineinreicht und eine Aufführung seiner Oper rechtfertigt. Wobei Auber mit seinen melodischen und vor allem rhythmischen Erfindungen durchaus noch mehr zu bieten hat: die spritzige Bourbonnaise am Ende des ersten Akts etwa, ein glitzerndes Paradestück für jeden Koloratursopran, das als „Éclat de rire“ als Einzelstück berühmt wurde. Oder die – weniger formal als melodisch – inspirierte Ouvertüre mit ihrem atemlosen Galopp.

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

In Liège schien es zunächst, als hätte Regisseur Paul-Èmile Fourny einen Weg gefunden, die Brücke zwischen einer vergangenen Epoche und der Gegenwart zu schlagen. Als aber dann die Figuren des Dramas in den unreflektiert historisierenden Kostümen Giovanna Fiorentinis in die Szene einsickern, als Sumi Jo ihren Auftritt als Manon mit dem Gestengehabe der Oper von anno Tobak bestreitet, als sich die Personen mit behäbigen, klischierten Bewegungen in angenehme Positionen schieben und ihre Interaktion die Lebendigkeit und Schlüssigkeit eines Guckkastenbilds aufweist, weiß man: Fourny sind die Ideen schnell ausgegangen.

Der Rest ist altbackenes Arrangement. Das steuert unaufhaltsam zum Höhepunkt, wenn in der Wüste der Tenor vor Manon gemessen auf die Knie sinkt und, mit der erhabenen Gestik der Comédie-Française erhoben, seinen Schmerz über die Rampe singt. Manon zieht sich derweil zum Sterben auf die Landkarte Louisianas zurück, die in einem riesigen, aufgeklappten Buch erscheint: das Maximum intellektueller Zumutung ist erreicht.

Die Sänger entschädigen nur zum Teil für die hilflose Blutleere der Szene, die schon zur Pause mit zwei kräftigen Buhs quittiert wurde. Sumi Jo lässt sich zwar in der Agilität ihrer Koloratur nichts vormachen, hat aber weder im Timbre noch in ihren püppchenhaften Bewegungen die unbekümmerte, natürliche Eleganz eines jungen Mädchens. Enrico Casari als Des Grieux erweist sich als Sänger, der nicht nur – wie an seinem Haus in Strasbourg – mit Charakterrollen, sondern auch mit der feinen Linie, dem eleganten Tonfall und den exponierten Hochtönen Aubers erfolgreich fraternisieren kann.

Wiard Withold hat als Hérigny mit geläufigen Passagen Probleme; auch die Höhe will dem Bariton nicht sicher gelingen. Sabine Conzen überzeugt als „vernünftige“ Marguerite mit einem gut gebildeten, ausgeglichenen Sopran. Das Orchester der Opéra Royale de Wallonie trifft den federleichten, spritzigen, rhythmisch beweglichen Ton der Musik Aubers, nur die Violinen können, vor allem in der Höhe, mehr Schliff vertragen; Cyril Englebert dirigiert ohne Schwere und achtet auf die Piano- und Pianissimo-Vorschriften der Partitur.

Wie lange heißt es nun abzuwarten, bis ein sensibler Regisseur dieses feine Juwel aufpoliert? Bis jemand die zeitbedingten Limits von Stoff und Musik in ein überzeugendes Konzept übersetzt und für die Gegenwart erhellt?

Noch eine Vorstellung am 19. April. Info: www.operaliege.be