Bochumer Schauspielhaus als Krimi-Schauplatz

Kriminalromane, die in einer identifizierbaren Stadt oder Region spielen, gibt es inzwischen in großer Menge, und auch das Ruhrgebiet als Schauplatz böser Taten kommt nicht zu kurz. In diese Gruppe reiht sich auch der Germanist und pensionierte Lehrer Rainer Küster mit einem Bochum-Krimi ein. Diese „Schuldenspiele“ ereignen sich überwiegend im Schauspielhaus, das wir doch sonst nur als trauten Ort der schönen Künste kennen.

Schuldenspiele

Als Gast-Star hat in einer „Wilhelm-Tell“-Inszenierung ein berühmter Schweizer Schauspieler die Hauptrolle übernommen, und dieser Star ist in der Nacht nach einem seiner umjubelten Auftritte plötzlich verschwunden. Angekündigte Vorstellungen müssen abgesagt werden, Unruhe unter Kolleginnen und Kollegen und größte Besorgnis bei der Intendantin sind selbstverständlich.

Der Hauptkommissar Erich Rogalla, ein etwas mürrischer Mann aus Wattenscheid, wird mit der Untersuchung beauftragt. Er findet zunächst nur Blut auf der Treppe des Gästehauses, aber keinen Schauspieler. Erst später kommen die Leiche und Erklärungen hinzu, und entsprechend wird der zweite Teil des Buches nach und nach spannender – natürlich gibt es hier nicht die Auflösung, aber am Titel kann man schon sehen, in welche Richtung es geht.

Auch bei Rainer Küster liegt ein Reiz der Lektüre am Schauplatz. Nicht nur das Schauspielhaus, auch die genannten Straßen und Plätze Bochums und die markanten Gebäude lassen den Ortskundigen in sein eigenes Bild dieser Stadt eintauchen.

Eher störend wirkt, dass Küster mit seinem Hauptkommissar immer wieder Klischees über das Ruhrgebiet und über die Westfalen sowie Vorurteile über Theaterkultur transportiert, die der Krimi-Atmosphäre eher schaden. Man wird den Verdacht nicht los, dass hier ein Autor seine eigenen Vorstellungen projiziert. Trotzdem: Für Freunde eines recht spannenden Lokalkrimis lohnt sich dieses Taschenbuch.

Rainer Küster: „Schuldenspiele“. Universitätsverlag Dr. Brockmeyer Bochum, 272 Seten, 12,90 €. (ISBN 978-3-8196-1015-8)




Mats, wat machste nur?

Ich geb’s ja zu, ordentlich Zweckoptimismus war schon dabei, als ich dieser Tage Bernd Berke, meinem Freund im schwatz-gelben Geiste, seine Zweifel über die zukünftige sportliche Heimat des Spielers Mats Hummels nehmen wollte. Ich schrieb, dass dieser ewig beim BVB bleiben werde. Aber ich bin nun mal ein gutgläubiger Mensch.

Solche Szenen wird Mats Hummels nicht mehr erleben: Momentaufnahme vom Meister-Corso durch die Dortmunder Innenstadt im Mai 2011. (Foto: Bernd Berke)

Solche Szenen wird Mats Hummels nicht mehr erleben: Momentaufnahme vom Meister-Corso durch die Dortmunder Innenstadt im Mai 2011. (Foto: Bernd Berke)

Ich setze nun gern auch mal die Intelligenz voraus, die ich bei Menschen zu erkennen glaube, deren eloquente Art, die eigene Arbeit zu analysieren, durchdacht erscheint. Okay, Mats Julian Hummels habe ich da allem Anschein nach ziemlich überschätzt. Hätte er Liverpool genannt als letzte Herausforderung einer angejahrten Karriere, oder den königlichen Verein in Spanien mit hauseigener Gelddruckmaschine, dann hätte ich das Profi-Gesabbel von der sportlichen Herausforderung ja noch verstanden. Aber Bayern? Nee. Die hatten ihn nach eigenem Bekunden schlecht behandelt. Die hatten nachweislich seine überragende Veranlagung nicht wahrgenommen. Die hatten seinen Vater und Berater gefeuert. Alles vergessen?

Mann, wie müssen die sprengend mit ihrem Gehaltsgefüge umgehen. Anders wäre doch so eine vollkommen unverständliche Affinität kaum zu erklären. Hier der unvergleichliche BVB, die unvergleichliche Südtribüne. Hier in Dortmund: das bestfrequentierte Stadion Europas. Hier ein Verein mit funktionierenden Strukturen, bei dem der Spieler Mats Julian Hummels geliebt und höchst geachtet wurde. Und hier der Verein, dessen großartige Arbeit erst den großartigen Spieler Mats Julian Hummels erst zu dem machte, der er wurde.

Torjubel im (wie üblich) ausverkauften Dortmunder Westfalenstadion, vulgo Signal Iduna Park. (Foto: Bernd Berke)

Torjubel im (wie üblich) ausverkauften Dortmunder Westfalenstadion, vulgo Signal Iduna Park. (Foto: Bernd Berke)

Und dort die „Buyern“, mit einem Stadion, das höflichen Applaus spendet, wo Dortmunds Südtribüne in leidenschaftliche Raserei übergeht. Dort die Buyern, die sich nur mit dem Ankauf der spielerischen Klasse bei konkurrierenden Vereinen in der Liga deren sportliche Qualität vom Hals halten können. Dort die zugegeben beste Vereinsstruktur der Liga, bei gleichzeitigem Verschleiß des “Spielermaterials”. Und da ist Mario Götze nur ein Beispiel.

Mats Hummels hatte das Zeug, eine Dortmunder Legende zu werden. Er wäre so einer wie Nobby gewesen, oder Kalle Riedle oder Timo. Ihm hätten Türen offen gestanden, wo der Süden applaudierend Spalier gestanden hätte, wenn sie von ihm durchschritten worden wären. So wird er nun in der Vergessenheit versinken, in der zahlreiche schon darben, die mal für den BVB gespielt haben. Und bei den Buyern ist er schon jetzt einer von vielen.

Bleibt zu hoffen, dass er Borussia Dortmund viel, viel Geld einbringt, für das der BVB wieder Talente in seine Mannschaft holen kann, sie zu sportlicher Höhe führt – und die dann von Bayern weggekauft werden. So brächte er doch noch zusätzlich was für den Verein, der ihn so wertvoll machte.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in Rudi Bernhardts Blog dasprojektunna.de erschienen.




Aus Komik wird Entsetzen: David Grossmans Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“

Einmal, da war der Stand-up-Comedian Dovele Grinstein noch ein Kind und verbrachte seine Ferien in einem Jugendcamp, wurde er von bösartigen Kerlen in einen Seesack gesteckt und so lange durch die Luft geworfen, bis er winselnd auf den Boden krachte.

Hilfe bekam Dovele nicht, auch nicht von seinem Schulkameraden Avishai Lazar. Denn dem ist der kleine Knirps, der gern auf den Händen läuft, um seine traurige Mutter zum Lachen zu bringen und die garstige Welt mit anderen Augen zu sehen, irgendwie peinlich.

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Avishai, der später ein berühmter Richter werden wird, hat seinen Schulfreund damals nicht nur verraten, sondern später auch ganz und gar vergessen – bis er, nach fast einem halben Jahrhundert, einen Anruf von Dovele bekommt, der Avishai bittet, in eine seiner Vorstellungen zu kommen, mit ihm zu lachen und seinen 57. Geburtstag zu feiern. Das kann ja heiter werden.

Wird es auch. Jedenfalls am Anfang, als der spindeldürre und grell geschminkte Dovele schnell ein paar knackige Witze heraushaut und das Publikum in der Hafenstadt Netanja mit erotischen Anzüglichkeiten zum Brüllen bringt.

Doch das wird sich bald ändern, und aus der kurzweiligen Blödelei wird eine grelle Publikumsbeschimpfung, eine mitleidlose Lebensbeichte und ein fataler Schicksalsbericht, bei dem die Zuschauer irgendwann fluchtartig den Raum verlassen. Wer will schon etwas von Verrat und Schuld, Vernichtung und Tod hören, wenn man sich doch abends nur ein bisschen amüsieren möchte?

Der israelische Autor David Grossman, bisher eher als sanfter Friedensapostel bekannt, hat angesichts von Verdrängen und Vergessen und der in Terrorzeiten um sich greifenden gesellschaftlichen Verrohung in seinem neuen Roman die Tonlage erheblich verschärft: Beim Lesen von „Kommt ein Pferd in die Bar“, das doch vordergründig nur vom Auftritt eines Comedian handelt, bleibt einem wahrlich das Lachen im Halse stecken. Das gilt auch für Avishai, der zum Chronisten dieser bizarren Show wird und bei seinem verratenen und zutiefst verletzten Jugendfreund Abbitte leisten muss.

Während Doveles Witzeleien immer grotesker werden und die zwischen Komik und Entsetzen schlingernde Show Fahrt aufnimmt, kramt Chronist Avishai in seinen Erinnerungen, versucht er zu begreifen, wie er, der einst so lebenslustig war, zum Menschenfeind werden konnte; versucht er zu verstehen, wie der Holocaust und seine Folgen, wie Vernichtung, Tod und die Schuldgefühle der Überlebenden die Gegenwart vergiften.

Eigentlich kann man all das, was Dovele da aus der Vergangenheit ausgräbt, und wie er sich selbst bei jeder Pointe eine schallende Ohrfeige gibt, kaum ertragen. Doch dann hat er noch eine schlimmere Geschichte parat. Die handelt davon, wie der ins Ferienlager abgeschobene kleine Junge plötzlich in einen Laster verfrachtet wird, der ihn zurück nach Jerusalem bringen soll. Während der Fahrer ihn mit Witzen ablenkt, begreift Dovele, dass es zu einer Beerdigung geht. Ein Elternteil ist gestorben. Nur wer, der Vater oder die Mutter, das sagt ihm niemand.

Und so hat Dovele das verzweifelte Gefühl, es liege an ihm, nur er könne und müsse entscheiden, wer tot ist und beerdigt werden muss – und wer weiterleben darf. Wie und ob es gelingen kann, den Schmerz der Vergangenheit zu ertragen und die Sehnsucht nach Vergebung zu stillen, davon erzählt David Grossman auf ebenso verstörende wie faszinierende Weise.

David Grossman: „Kommt ein Pferd in die Bar“. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser Verlag, München. 255 S., 19,90 Euro.




Soziale Miniaturen (15): Zuckfuß

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Nein, es ist eigentlich gar nicht komisch – und doch…

In der Arztpraxis. Etwa einen Meter vor dem Empfangs-Tresen ist die übliche Linie auf den Boden gezeichnet, die da bedeuten soll: Bitte Diskretion!

Die ältere Dame im Kamelhaarmantel, die jetzt an der Reihe ist, spricht allerdings so laut, dass man nichts überhören kann. Sie muss einmal recht elegant gewesen sein, doch heute achtet sie wohl nicht mehr so sehr auf sich.

Was sie der Arzthelferin mitteilen möchte, gestaltet sich schwierig. Immer und immer wieder diese Nachfragen. Ein zäher Dialog. Die Warteschlange wird währenddessen nicht kürzer.

Es geht um eine Klinik-Einweisung. Ja, wieso denn? Welche Klinik? Nach längerer Wechselrede scheint schließlich einigermaßen festzustehen, dass es sich um ihren „Zuckfuß“ handelt.

Zuckfuß. Dieses gleichsam selbst zuckende Wort wird sie fortan wie eine neckische Formel einstreuen. Vielleicht hat sie gelernt, durch hartnäckige Wiederholung aus einer gewissen Verzweiflung für sich selbst etwas distanzierende Komik zu schöpfen? Sie kokettiert geradezu damit.

Doch weiter geht’s mit der Befragung. Warum hat sie diesen Zuckfuß? Gibt es schon eine tragfähige Diagnose? Endlich rückt sie mit der Sprache heraus: „Ja, vom Kopf her.“ Das müsse näher untersucht werden. Also soll sie in die Neurologie gehen? Offenbar ja. Es steht wohl eine MRT-Untersuchung an. Wirklich nicht witzig.

„Ach. Und da wäre noch etwas.“ – „Ja? Was denn?“ – „Ja, diese Botox-Sache.“ – „Wie bitte?“ – „Ja, ich soll doch – äh – gebotoxt werden.“ – „Warum denn das?“ – „Ja, wegen dem Zuckfuß…“ Jetzt muss sie selbst leise lachen. Und auch die Arzthelferin glaubt, nun endlich herausprusten zu dürfen. Diskret war das alles nicht. Aber dann doch lustig. Irgendwie.

P. S.: Nachher habe ich „Zuckfuß“ in eine Suchmaschine eingegeben und erfahren, dass es sich vorwiegend um eine Pferdekrankheit handelt und man auch „Hahnentritt“ dazu sagt. Steigert oder mindert das nun die Komik?

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Mit diesem Beitrag soll die 2011/2012 begonnene und dann abgebrochene Textreihe „Soziale Miniaturen“ sporadisch wieder aufleben. Die bisherigen Folgen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14)




„…in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen“: Der große Minimierer – Samuel Becketts Briefe 1941–1956

In dem Zeitraum zwischen 1941 und 1956, den der zweite Band der Briefausgabe umfasst, schrieb Samuel Beckett seine bekanntesten Romane und Theaterstücke. In schneller Folge erschien die Romantrilogie mit Molloy (1951), Malone stirbt (1951) und Der Namenlose (1953), und dazwischen, 1952, die Druckfassung von Warten auf Godot – das Stück, das ihn schon bald nach seiner Uraufführung im Januar 1953 berühmt machen sollte.

Jedoch kamen solche Erfolge keinesfalls aus dem Nichts; und auch, was als Erfolg anzusehen ist und was nicht, stellt sich in seinen Briefen – nicht anders als in Becketts gesamtem literarischen Werk – als etwas Relatives dar.

Cover Beckett Briefe 1941 bis 1956

Die Geldsorgen seiner jungen Jahre haben nun neuen Nöten Platz gemacht. Auskunftsbegehren von Literaturwissenschaftlern, Übersetzern, Verlegern und Verehrern lassen die Korrespondenz mit Jugendfreunden, die den ersten Band der Beckett-Briefe prägten, in den Hintergrund treten. Kein ausgedehntes Umherschweifen von Museum zu Museum wie in der Vorkriegszeit; stattdessen nur wenige notwendige Reisen, meistens nach Irland.

Es ist auch der Zeitraum, in dem die beiden engsten ihm verbliebenen Angehörigen sterben, seine Mutter (1950) und sein Bruder Frank (1954). Vor allem aber liegt zwischen den Briefen aus Band 1 und denen des zweiten Bandes der Krieg, der ihn einiger seiner Freunde und Mitstreiter aus der Résistance beraubte – wie Alfred Péron, der ihm bei der Übersetzung seines ersten Romans Murphy (1938) ins Französische geholfen hatte.

Alfred Pérons Frau Maria, genannt Mania, konnte den Autor und seine Lebensgefährtin Suzanne Deschevaux-Dumesnil noch rechtzeitig mit einem Telegramm vor der Verhaftung durch die Nazis warnen. Die beiden versteckten sich daraufhin in Rousillon, einem abgelegenen Ort in der Vaucluse. Um 1943 füllte Beckett dort mehrere Notizbücher mit seinem letzten in englischer Sprache entstehenden Roman, Watt, der erst zehn Jahre später veröffentlicht wurde. Im Januar 1945 sandte Beckett ein Lebenszeichen an seinen Bruder Frank in Irland; die umfangreiche Korrespondenz sollte jedoch erst nach Kriegsende wieder einsetzen.

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Nicht von sich selbst absehen können

Einen Höhepunkt der Briefkunst dieser Jahre stellt die Korrespondenz mit dem Kunsthistoriker Georges Duthuit dar. Hier bilden sich die Formulierungen heraus, die 1949 als „Drei Dialoge“ (über Tal Coat, André Masson und Bram van Velde) in der von Duthuit mitherausgegebenen englischsprachigen Zeitschrift Transition veröffentlicht wurden und 1967 erstmals auf Deutsch in einem Auswahlband erschienen sind.

Zugleich wird ablesbar, wie Beckett in der Auseinandersetzung mit den Künstlerfreunden sich selbst auf die Spur kommen möchte. „Nur weil ich davon besessen bin, mich in eine Situation zu begeben, die buchstäblich unmöglich ist und die Du das Absolute nennst, hefte ich ihn [Bram van Velde] mir an meine Seite.“ Dabei äußert er auch Skrupel, dem Maler nicht gerecht geworden sein.

Die Frage nach Erlebtem und Fiktion in seinem Werk beantwortet Beckett in einem Brief an Georges Duthuit vom März 1949: „Aber bedenke, dass ich, der ich fast nie über mich spreche, fast nie über etwas anderes spreche.“ Jemand wie Beckett tut sich schwer mit Erwartungen, die an ihn herangetragen werden – auch dann, wenn er sich selbst zu etwas verpflichtet fühlt. Die Verehrung für den Maler Jack B. Yeats (den Bruder des Dichters William Butler Yeats) ging bereits in Becketts bitterarmen Jugendjahren so weit, dass er lieber mit verschlissenen, regenuntauglichen Schuhen herumlief, als auf das kleine Gemälde, das Yeats ihm zu einem Freundschaftspreis zu überlassen bereit war, zu verzichten.

Nach seinen ersten größeren Erfolgen vermittelte Beckett dem älteren Freund eine Ausstellung in Paris und kümmerte sich um positive Besprechungen. Über seinen eigenen Beitrag zu einer Würdigung in der Literaturzeitschrift Les Lettres Nouvelles äußert er sich in einem Brief: „Zu Yeats brachte ich nach Stunden und Tagen buchstäblicher Folterqualen eine kurze Seite der jämmerlichsten Art zustande, die, irritiert und müde, das genaue Gegenteil dessen ist, was ich so gern gewollt hätte. Selbst für diesen großen alten Mann, den ich liebe und verehre, war ich nicht imstande, ein wenig von mir abzusehen.“ (Samuel Beckett an Georges Duthuit am 2. März 1954)

Sein expressives Bedürfnis ist gleichzeitig von dem Bewusstsein beherrscht, dass die Mittel des Expressiven bereits ausgeschöpft sind. Er fühlt sich kraftlos und müde. Was Beckett im Januar 1949 an Bram van Velde schrieb – er „suche nach einem Weg, zu kapitulieren, ohne ganz und gar zu verstummen“ – könnte auch als Motto über seinem Gesamtwerk stehen.

Das Erzählen an einen Endpunkt geführt

In Becketts Romanen lässt sich von Murphy über Watt und dann vor allem in der Trilogie MolloyMalone stirbtDer Namenlose eine Entwicklung zum Immer-weniger nachvollziehen. Über den letzten Teil der Trilogie schreibt er im Februar 1952: „Das dritte, L’Innommable, kommt wahrscheinlich im Frühjahr und ist wohl das Ende der Partie, soweit es mich betrifft, da niemand mehr da ist, der spricht und, unabhängig davon vielleicht und ohnehin überflüssigerweise, nichts, wovon zu sprechen wäre.“

Durch immer radikalere Reduktion hat sich Beckett Schritt für Schritt in die Ausweglosigkeit geschrieben. Seine Protagonisten geben nach und nach alles auf: ihren Besitz, ihren Körper, bis in Der Namenlose nur noch die Sprache selbst übrigbleibt, ohne einen Sprechenden. „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“, heißt es im dritten der Texte um Nichts (Nouvelles et Textes pour rien; 1955 veröffentlicht) – ein Satz, den nicht zuletzt Michel Foucault in seinem kanonischen Text Was ist ein Autor? aufgegriffen hat.

„Absurder- und blöderweise bin ich die Kreatur meiner Bücher, und L’Innommable ist schuldiger an meiner gegenwärtigen Misere als alle anderen guten Gründe zusammengenommen“, teilt er am 27. Dezember 1954 seiner Freundin Pamela Mitchell mit. Und an Jacoba, die jüngere Schwester von Bram van Velde, schreibt er: „Nach L’Innommable habe ich nichts mehr zustande gebracht, das ist das Ende der Fahnenstange. Wenn Du es liest, verstehst Du vielleicht, warum. Ich zucke noch, aber ohne Resultat. Es wäre besser, ich könnte mich zum Aufgeben entschließen. Vielleicht komme ich noch dahin.“

Mit dem „Zucken“ sind die kurzen Texte um Nichts gemeint, Schritte auf dem langen Weg kunstvollen Verstummens. „Und ich habe in letzter Zeit etwa zehn kleine Texte geschrieben. Nachgeburten des L’Innommable und auf direktem Wege unzugänglich.“ Drastischer noch drückt er sich im April 1951 gegenüber Mania Péron aus: „In Paris muss ich Dir noch ein paar kleine Scheißtexte zeigen, von der Art wie die zwei, die Du gesehen hast.“

Das Herabwürdigen des eigenen Tuns bildet einen wiederkehrenden Kontrast zu seinem ausgeprägten Perfektionismus, der zum Beispiel deutlich wird, wenn er bei den Theaterproben penibel auf jedes Detail achtet oder wenn er gegenüber Herausgebern, die seine Texte eigenmächtig kürzen, seinem Ärger in schärfsten, den Eklat riskierenden, Worten Luft macht – wie etwa in den Auseinandersetzungen mit Jean Paulhan oder mit Simone de Beauvoir.

Um auch bei den Übersetzungen seiner Werke die Kontrolle zu behalten, übersetzt er vieles aus dem Französischen ins Englische selbst, oder arbeitet mit seinen deutschen Übersetzern eng zusammen, zunächst mit Erich Franzen, später vor allem mit Elmar Tophoven.

Auch auf dem Theater fast alles abschaffen

Beckett, der das Theater revolutionieren sollte wie kein anderer, schrieb noch im Januar 1952, während der Schauspieler und Regisseur Roger Blin nach einem geeigneten Aufführungssaal für Warten auf Godot suchte: „Ich habe keine Ansichten zum Theater. Ich weiß nichts vom Theater. Ich gehe nicht hin. Das ist verzeihlich.“

Im Theater reduziert er die Bewegungsmöglichkeiten seiner Figuren, steckt sie bis zum Hals in Sandhügel, minimiert die Kulisse zunächst auf einen einzigen Baum, um in späteren Stücken auch auf das letzte Requisit zu verzichten. Er schafft den Regisseur ab, indem der Autor jedes Detail selbst bestimmt; er wird später auch die Schauspieler abschaffen und nur noch einen sprechenden Mund auf die Bühne stellen (Not I, 1972), oder er lässt den Text vom Tonband einspielen. Vorhang auf, ein kurzer Schrei vom Band, Einatmen, Ausatmen, ein zweiter Schrei vom Band, Vorhang zu, alles zusammen in 35 Sekunden (Atem, 1969) – weniger Handlung geht nicht, um nicht auch noch das Publikum abzuschaffen. Das erledigt Beckett schließlich, indem er gar nicht mehr für das Theater schreibt. Er wendet sich Hörspiel, Pantomime, Ballett und Film zu, freilich nur, um auch hier jeweils auszukundschaften, mit wie wenig die einzelnen Künste auszukommen in der Lage sind.

Aber ganz so weit sind wir am Ende von Band 2 der Briefausgabe noch nicht. Die letzten Briefe zeugen von seiner Arbeit am Endspiel (Fin de Partie; von ihm selbst ins Englische übersetzt als Endgame), das 1957 uraufgeführt werden sollte.

„Ich bin darauf gespannt, mein Stück zu sehen, damit ich ein bisschen genauer weiß, ob ich in dieser Richtung weitergehen kann oder ob ich völlig auf dem Holzweg bin“, schreibt er im Dezember 1956 an Jacoba van Velde. „Weder das eine noch das andere, scheint mir schon jetzt, das kann heiter werden.“ Wobei wir auch das Wort „heiter“ wörtlich nehmen dürfen. Es ist ein richtiger, ein konsequenter Weg, kein Holzweg, der in die Ausweglosigkeit führt.

Alle Gedanken scheinen in Sackgassen zu münden, in Aporien, so wie der Philosoph Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.) es in umfassender Weise vorgeführt hatte. Dem radikalen pyrrhonischen Skeptiker dürfte Beckett auch bei der Lektüre Fritz Mauthners begegnet sein, dessen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ er, wie er Hans Naumann berichtet, seinerzeit für James Joyce gelesen hatte. Ebenfalls an Naumann schreibt er: „Sie dürfen mich in die traurige Kategorie derer einordnen, die, wenn sie mit vollem Bewusstsein handeln müssten, überhaupt nicht handeln würden.“ (17. Februar 1954)

Nicht mehr handeln

In Ussy-sur-Marne, östlich von Paris, findet Beckett ein kleines Haus, in dem er sich aus dem Trubel der Großstadt zurückziehen kann. „Ich werkele missmutig vor mich hin. Heute einen Tisch aus Eichenabfällen zusammengebastelt. Noch steht er. Für meine Arbeit kann ich mich nicht erwärmen, ob Altes, Gegenwärtiges, Künftiges. Ich will nichts weiter als mich in diesem Rübenkaff vergraben, in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen. Umschlossen von dicken Mauern.“

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Vom Graben ist in diesen Briefen oft die Rede, eingraben, umgraben, und von Müdigkeit in allen ihren Facetten. „Ich bin regelrecht angewidert vom Schreiben, davon, wie ich schreibe“ – im September 1951 an Mania Péron, und im gleichen Brief, fünf Zeilen darunter: „Ein Stimmungstief, allerdings. Aber ich kenne nichts anderes.“

Als Akt ohne Worte I auf dem Marseille Festival d’Avant-Garde aufgeführt werden soll – seine erste Pantomime, mit der Musik seines Cousins John S. Beckett – schreibt er im Juni 1956 an seinen alten Freund Thomas MacGreevy: „[…] ich habe ziemlichen Horror vor den nächsten Monaten. Aber ich sage mir auch, dass ich sehr schnell in eine Art vertrödelte Trägheit verfalle, wenn es nicht diese Dinge gibt, die mich anstacheln.“

Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muss – den glücklich gewählten Titel der Briefausgabe, Band 2, hat der Suhrkamp Verlag einem Brief Becketts an Simone de Beauvoir aus dem September 1946 entnommen. Wobei man sich bei Beckett auch das „Verteidigen“ nicht allzu martialisch vorstellen darf. „Ich bin ein schlechter Kämpfer“, schrieb er im August 1948 an Georges Duthuit. „Vielleicht erreichen wir etwas mit Nichtkämpfenkönnen.“

Das „Bedürfnis, schlecht gerüstet zu sein“ (Le besoin d’être mal armé) gibt er gegenüber Hans Naumann als einen der Gründe an, warum er seine literarischen Werke nicht länger in seiner Muttersprache verfasst, sondern ins Französische wechselt, eine Sprache, in der er sich (zunächst) weniger sicher fühlte.

In frühen Jahren mochte Beckett als Sekretär und Mitarbeiter von James Joyce erfahren haben, dass das Idol seiner Jugend an Sprachmächtigkeit kaum überboten werden konnte. Womöglich lag ihm einiges daran, sich literarisch in eine Position zu bringen, die ihn vor Eitelkeit schützte.

Zwei weitere Bände wie den vorliegenden (von Chris Hirte mit sensiblem Sprachgefühl und profunder Sachkenntnis übersetzten) aus der sorgfältig editierten Cambridge-Ausgabe der Briefe Samuel Becketts dürfen wir noch erwarten – Band 3, wenn wir Glück haben, bereits in diesem Herbst.

Samuel Beckett: „Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß. Briefe 1941–1956“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag. 819 Seiten, 45 Euro.




Weltweit für verfolgte Autoren eintreten – zur Jahrestagung der deutschen PEN-Schriftsteller

Als Gastautor berichtet der Dortmunder Schriftsteller Heinrich Peuckmann von der PEN-Jahrestagung in Bamberg – und gibt einen Ausblick auf die nächste Zusammenkunft der Schriftstellervereinigung, die 2017 in Dortmund stattfinden wird. Heinrich Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN.

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Die Ressourcen werden knapper, die Verteilungskämpfe härter, die sozialen Konflikte spitzen sich zu. Regierungen, besonders Diktaturen, denen dazu keine oder nur unzureichende Lösungen einfallen, haben immerhin noch die Möglichkeit, ihre Kritiker zu verfolgen. Und das tun sie.

Über 800 Autoren, Journalisten und zunehmend auch Blogger stehen im Moment auf der Case-List des internationalen PEN, weil sie in ihren Heimatländern im Gefängnis sitzen, gefoltert werden oder sogar mit dem Tode bedroht sind.

Bedrohliche Lage in der Türkei

Im Schatten dieser beängstigenden Zahl fand die Jahrestagung des PEN in der Weltkulturerbe-Stadt Bamberg statt. Das Motto der Tagung, von Jean Paul entliehen, bekräftigte den Kampfeswillen der gut 150 Autoren, die nach ihrer Charta der Freiheit des Wortes verpflichtet sind und den bedrückenden Zustand nicht hinnehmen wollen: „Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.“

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das "Dortmunder U" - hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das „Dortmunder U“ – hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Begleitet werden die Sitzungstage des PEN stets von einem literarischen und politischen Begleitprogeramm. Die Eingangsveranstaltung beschäftigte sich diesmal mit der Verfolgung der türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die veröffentlicht hatten, dass der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien, und dabei womöglich an den IS, geschmuggelt haben soll. Der deutsche PEN hatte die beiden schon vor dem Treffen zu seinen Ehrenmitgliedern ernannt, so dass Strafen gegen sie nun auch Strafen gegen Mitglieder des PEN sind.

Unter der Moderation des Rundfunkredakteurs und Autors Harro Zimmermann diskutierten der „Writers-in-Prison-Beauftragte“ und Vizepräsident Sascha Feuchert und der inzwischen aus der Türkei ausgewiesenen Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim ausführlich die bedrückende Situation für kritische Journalisten und Schriftsteller in der Türkei.

Gegen den Blasphemie-Paragraphen

In einer anderen Veranstaltung mit dem Titel „Befreit Gott von den Gläubigen“ diskutierten u.a. der Bundesrichter und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer und der Philosoph Christoph Türcke über den §166 zur Blasphemie, dessen Abschaffung am Ende der Veranstaltung von allen Beteiligten gefordert wurde. Fischer führte stringent aus, dass §130 (Volksverhetzung) ausreiche, um die Störung der öffentlichen Ordnung durch Beleidigung und Herabsetzung auch der Religion zu bestrafen.

Der deutsche PEN ist der einzige von insgesamt 130 PEN-Clubs in aller Welt, der ein eigenes „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte Autoren leben als Stipendiaten derzeit in seinen Wohnungen in verschiedenen deutschen Städten. Nach Gefängnis, Verfolgung, Todesdrohung können sie hier zwei Jahre Ruhe finden und wieder schreiben. Diese Stipendiaten sind natürlich auch Gäste bei den Jahrestagungen und werden stets dem Plenum vorgestellt.

Natürlich spielt auch die Literatur eine Rolle, und hier gibt es seit drei Jahren den schönen Programmpunkt, dass die neuen Mitglieder, die bei der vorangegangen Jahrestagung neu in den PEN gewählt wurden, sich mit einer Kurzlesung vorstellen. Diesmal waren bekannte Autoren und Kritiker wie Antje Ràvic Strubel, Sigrid Löffler oder Anne Mehlhorn darunter.

88 vorwiegend jüngere Autoren kommen hinzu

Die Neuwahlen waren in diesem Jahr ein Knackpunkt, denn das Präsidium hatte im Vorfeld festgestellt, dass von den jungen Autoren, die sich im Literaturbetrieb längst einen Namen gemacht haben, viel zu wenige Mitglieder im PEN sind. So hat denn das Präsidium selbst, was absolut ungewöhnlich ist und nur einmal vor vielen Jahren, als Heinrich Böll noch PEN-Präsident war, vorgekommen war, eine umfangreiche Liste mit achtundachtzig Autoren vorgelegt, die dann tatsächlich alle gewählt wurden. Man wollte eine Lücke schließen und einer Überalterung vorbeugen, unter der viele Verbände (nicht nur im Kulturbereich) leiden. Autorinnen und Autoren wie Albert Ostermaier, Jenny Erpenbeck, Gabriele Krone-Schmalz, aber auch der Dortmunder Jörg Albrecht sind darunter.

Vorfreude auf Dortmund

Daraus ergibt sich sich nun für die Jahrestagung 2017 die Notwenigkeit einer langen Literaturnacht mit Parallellesungen an verschiedenen Plätzen, um diese schöne Einrichtung beibehalten zu können. Diese nächste PEN-Jahrestagung wird von 27. bis 30. April 2017 in Dortmund stattfinden, weshalb Kulturdezernent Jörg Stüdemann nach Bamberg gekommen war, um die Stadt in einem ebenso launigen wie informativen Vortrag vorzustellen. Nach diesem Vortrag gab es viel Zustimmung, die PEN-Autoren freuen sich auf Dortmund. Haupttagungsort wird das Dortmunder „U“ sein, aber es werden auch Veranstaltungen im Depot im Dortmunder Norden und im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte stattfinden.

Dabei soll die literarische Tradition dieser Stadt aufgegriffen werden. Die „Dortmunder Gruppe 61“ mit Autoren wie Max von der Grün, Günter Wallraff oder Josef Reding wurde hier gegründet und beschäftigte sich mit dem Thema Arbeitswelt zu einer Zeit, als es in der übrigen Literatur so gut wie gar nicht auftauchte. Später wurde dieser Schwerpunkt vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, der viele Jahre im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus tagte, fortgesetzt.

Neuer Blick auf soziale Konflikte

Dass es längst wieder Zeit ist, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, zeigen die vielen sozialen Konflikte im Land. Zu diesem Punkt gab es ein großes Einvernehmen unter den PEN-Autoren, denn viele finden, dass es längst Zeit ist, sich wieder neu diesem Thema zuzuwenden.

Das Motto der Dortmunder Tagung, zu der auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihr Kommen zugesagt hat, geht natürlich auf einen Dortmunder Autor zurück. Peter Rühmkorf wurde in dieser Stadt geboren und er äußerte zum politischen Engagement eines Autors „Bleib erschütterbar und widersteh.“ Fast so etwas wie ein Dauerauftrag an den PEN.

Die Dortmunder Jahrestagung soll durch verschiedene Veranstaltungen vorbereitet werden, damit das Anliegen schon vor dem Kommen der vielen Autoren den Kulturinteressierten der Stadt bekannt ist. Beispiel: Der kolumbianische Stipendiat Erik Allena Bautista, ein Filmemacher und Lyriker, soll im Herbst seine Arbeiten im Literaturhaus vorstellen. Seine Mutter wurde in Kolumbien getötet, er selber wurde nach kritischen Filmen über die Mafia gesucht. Nun lebt er als Writer-in-Exile in Hamburg. Dazu soll es eine Lesung mit einem prominenten PEN-Autor geben.




Alles steht kopf – Thomas Schweres macht mit dem Krimi „Die Abdreher“ das große Fass auf

Die Abdreher Vier frisch abgetrennte Männerköpfe auf dem Fensterbrett einer Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Und gesehen hat natürlich keiner was. Wirklich keiner? Der Jagdinstinkt des Polizeireporters Tom Balzack ist geweckt. Da müssen sich doch Augenzeugen auftreiben lassen, besser noch ein Video. Und am allerbesten, wenn es zu diesem Video noch ein bisschen journalistischen Beifang gibt, mit dem man Mafiabosse an die Angel kriegt.

Blöd allerdings, wenn die Mafia noch der angenehmste Gegner ist und man vor lauter Recherche gar nicht gewahr wird, wer die eigentlichen Hintermänner sind und mit wem man sich da noch alles anlegt. Mit dem IS zum Beispiel. Oder mit der Dortmunder Polizei in Gestalt des mürrischen, aber fähigen Kommissar Schüppe und seinem in der rechten Szene agierenden Undercover-Agenten.

Noch blöder, wenn man auf allen Abschusslisten steht und dadurch ganz prima als Köder für Schüppe und Co. fungieren kann, selbst aber der Letzte ist, der das mitkriegt.

Mit „Die Abdreher“ schickt Thomas Schweres zum dritten Mal den kauzigen Schüppe und den umtriebigen Balzack auf Verbrecherjagd – und nicht nur das Cover steht auf dem Kopf. Die ganze Welt scheint aus den Fugen geraten.

Nichts ist, wie es scheint und alles hängt mit allem zusammen. Passt gut auf den Schauplatz Ruhrgebiet, hier mischt sich ja von jeher alles mit allem und das gilt natürlich auch für das Verbrechen. Und wo der Autor schon einmal dabei ist, das ganz große Fass aufzumachen, findet sich auch noch Platz für die Genderdebatten: Als Tribut an den Feminismus gibt es eine eiskalte Auftragskillerin und mit dem Märchen von den angeblich nicht existenten gesetzesfreien Zonen räumt Schweres direkt mit auf. Zur Auflockerung gibt es ein paar boulevardeske Gestalten, deren real existierende Vorbilder unschwer zu erkennen sind.

Schweres gibt sich mit diesem überbordenden Füllhorn an Themen, die er da über den Leser ausschüttet, selbst genug Gelegenheit, sich zu verzetteln – aber er kriegt immer die Kurve. Hat man erst einmal alle handelnden Personen verinnerlicht, liest es sich trotz der überbordenden Ereignisse leicht. Der langjährigen Berufserfahrung der Reporters Schweres sei Dank. Verkürzen, zusammenfassen und schnell wieder zurück auf den Punkt kommen, das kann er.

„Die Abdreher“ sind noch etwas düsterer als ihre Vorgänger. Zu aktuellen Geschehnissen wie der „Flüchtlingskrise“ und der Bedrohung durch den IS eröffnet Schweres neue Blickwinkel. Glaubwürdig zeigt er, dass auch Allianzen funktionieren, die auf den ersten Blick absurd anmuten, möglicherweise motiviationsbedingt aber logisch sind. Denn ein Krieg, eine Krise entsteht nur vordergründig aus Ideologien und Glaubensfragen, letztendlich geht es immer nur um Macht und Geld. Wie nahe Schweres mit seiner Romanhandlung der tatsächlich vorhandenen Bedrohung kommt, zeigte sich just diese Woche mit mit dem erschreckenden Anschlag auf den Tempel der Sikh in Essen.

Wie schon in den vorangegangen Bänden spricht Schweres unerschrocken das aus, was viele wissen, alle ahnen, was aber nur allzu gerne unter den Tisch gekehrt wird. Er legt seine Finger in die Wunden des Reviers und spricht Klartext. Seine geschickt in die Romane eingebauten Erkenntnisse aus seinem real existierenden Reporterleben wiegen umso schwerer, als Schweres selbst aus dem Ruhrgebiet ist und es erkennbar liebt. Trotz allem. Wegen allem.

Dennoch sind Schweres‘ Krimis nicht nur etwas für die Freunde der spannenden Ruhrpott-Literatur. Die Handlung spielt hier, kann auch nur hier spielen, aber Lesefreude dürfte auch weit über das Revier hinaus aufkommen. Und das bisschen Ruhrpottsprech in den Dialogen schaffen auch Auswärtige.

Bei aller Düsternis bleibt aber auch dieses Mal der Humor nicht auf der Strecke. Dafür kennt der Medienprofi Schweres sein Publikum zu gut. Etwas Auflockerung muss sein. Und wenn sie in der Gestalt des Labradoodles Renault daherkommt. (Renault, weil er auch nicht anspringt. Haha. Aber geschenkt. Verbuchen wir es unter der alten Ruhrpottweisheit: Mit ’nem guten Plattwitz kriegste allet aufgelockert). Auch aktuelle Steilvorlagen wie die verunsichernden Teile einer Antwort lässt der Medienprofi nicht ungenutzt.

Eine reizvolle, willkommene Abwechslung bei Lektüre sind wieder die kleinen Blicke durchs Schlüsselloch des Boulevards. Wobei Schweres da immer respektvoll bleibt und Grenzen nicht verletzt. Man darf mit einiger Sicherheit annehmen, dass beispielsweise das reale Vorbild für Gloria Wolkenstein ihr im Buch auftauchendes Alter Ego durchaus goutiert. Zumal ausgerechnet sie entscheidend zur Aufklärung beitragen wird. Gut für die Kommissare, gut für sie. Kann sie so doch unbelastet in ein Dschungelabenteuer starten. Ausgang zum Zeitpunkt der Krimi-Entstehung noch ungewiss.

Thomas Schweres: „Die Abdreher“. Grafit Verlag, Dortmund. 280 Seiten, 11 Euro.




Vom Florentiner Hut bis zum Tristan: Das MiR Gelsenkirchen stellt sein Programm vor

Das Musiktheater im Revier (Foto: Pedro Malinowski)

Das Musiktheater im Revier gehört zu den bedeutendsten Theaterbauten der Nachkriegszeit. Am 15. Dezember 1959 wurde der neugebaute Komplex nach den Entwürfen des federführenden Architekten Prof. Werner Ruhnau eröffnet. (Foto: Pedro Malinowski)

Es ist eigentlich ein ganz einfacher Satz. Aber welchem anderen Stadtoberhaupt in der Region käme er jemals über die Lippen? Frank Baranowski, amtierender Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, eröffnet die Pressekonferenz im Opernhaus der Stadt mit einem klaren Bekenntnis zum Theater.

Kurz zählt er die Fördermittel auf, 13 Millionen Euro für das Musiktheater, 4 Millionen für die Neue Philharmonie Westfalen. Gelder, um die es in Gelsenkirchen zum Glück keine Konkurrenz gebe, wie der OB sagt. Dann fügt er mit großer Selbstverständlichkeit hinzu „Ich bin davon überzeugt, dass dieses Geld gut angelegt ist.“

Der OB bekannt sich zum Theater

Glückliches Gelsenkirchen! Von solcher Rückendeckung durch die Stadtspitze können Kulturschaffende andernorts nicht einmal mehr träumen. Indes weiß Baranwoski als regelmäßiger Theatergänger sehr genau, wovon er spricht. Er lobt die Bandbreite des Angebots, das Intendant Michael Schulz im Folgenden genauer vorstellt. Die Spielzeit wird im Kleinen Haus mit „The Turn of the Screw“ beginnen (10. September 2016), einem psychologisch raffinierten Geister- und Gruselstück, mit dem das Theater seinen Britten-Zyklus fortsetzt. Das Große Haus, vom 1. Juni bis 3. Oktober wegen Baumaßnahmen geschlossen, erwacht am 16. Oktober 2016 mit der Wiederaufnahme des Musicals „Anatevka“ zu neuem Leben.

Szenenfoto aus dem Musical "Anatevka" (Foto: Pedro Malinowski)

Szenenfoto aus dem Musical „Anatevka“ (Foto: Pedro Malinowski)

Es sind vor allem zwei Raritäten, die den neuen Opernspielplan würzen. Zu nennen ist zunächst „Der Florentiner Hut“ des Italieners Nino Rota, berühmt vor allem durch seine Filmmusiken zu „La Strada“, „La Dolce Vita“ und „Der Pate I & II“. Der Stoff, eine Hochzeitskomödie mit vielen heiteren Verwicklungen um einen Strohhut, wurde in Deutschland durch den gleichnamigen Film mit Heinz Rühmann bekannt.

Oper über eine Auschwitz-Überlebende

Einen überaus ernsten Kontrapunkt bildet „Die Passagierin“, Hauptwerk des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der vor den Nazis nach Moskau floh. In zwei Akten erzählt die Oper von einer Auschwitz-Überlebenden, die nach dem Krieg auf einem Ozeandampfer einer ehemaligen KZ-Aufseherin wieder begegnet. Nach der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen im Jahr 2010 wird das MiR das vierte Haus sein, das „Die Passagierin“ aufführt. Um das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu vertiefen, bietet das Haus ein Rahmenprogramm mit Lesungen, Kammermusik, Chansons und Schauspiel.

Die großen Opernproduktionen seien natürlich nicht verschwiegen: Es sind Richard Wagners „Tristan und Isolde“ (4. März 2017, Regie: Michael Schulz), Mozarts „Don Giovanni“ (29. April 2017, Regie: Ben Baur) und „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach (10. Juni 2017, Regie: Michiel Dijkema). Hinzu kommen Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ (16. Dezember 2016) und das Kult-Musical „Linie 1“ (11. März 2017) von Birger Heymann und Volker Ludwig. Experimentell wird es ab September 2016 mit der Fortsetzung von Daniel Kötters Musiktheaterprojekt „ingolf #2 – 6“, an dessen Entwicklung sich das Publikum und Gelsenkirchener Bürger beteiligen können.

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion "Ruß", die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Pedro Malinowski)

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion „Ruß“, die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Costin Radu)

Gleich neun Tanz-Produktionen

Kaum zu bremsen ist die Compagnie von Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner, die sich mit insgesamt neun Produktionen präsentiert. Der Jahresjubilar William Shakespeare hinterlässt dabei deutliche Spuren im Programm. Der Wiederaufnahme des Aschenputtel-Stücks „Ruß“ (23. September 2016) folgt das Ballett „Prosperos Insel“ (8. Oktober 2016), das Breiner in diesen Tagen nach Shakespeares „Der Sturm“ entwickelt.

Für Kinder und Jugendliche tanzt die Compagnie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Kevin O’Day (26. November 2016). Weiter geht es mit „Hamlet“ (11. Februar 2017), einem Ballett der britischen Choreographin Cathy Marston, die in Gelsenkirchen bereits mit ihren ungewöhnlichen Perspektiven auf Strawinskys „Oprheus“ und Anton Tschechows „Drei Schwestern“ überraschte. Die Orgelsymphonie von Camille Saint-Saens inspirierte Bridget Breiner zu einem zweiteiligen Ballettabend mit dem Titel „The Vital Unrest“ (25. März 2017). Choreographien von Marguerite Donlon und Renato Paroni de Castro sind an einem mehrteiligen Abend mit dem Titel „Der Rest ist Tanz“ zu sehen (20. Mai 2017). Die 4. Internationale Ballettgala (17. Juni 2017), eine experimentelle Jam Session im Frühjahr 2017 sowie das Schüler-Tanzprojekt „Move!“ (28. Juni 2017) runden das Programm ab.

Mahlers „Sinfonie der Tausend“

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Neue Philharmonie Westfalen, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert, eröffnet die Spielzeit am 11. September 2016 im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen mit der „Sinfonie der Tausend“ von Gustav Mahler.  Lange musste dafür nach einem Spielort gesucht werden, was  angesichts der für dieses Werk erforderlichen Vielzahl von Musikern, Choristen und Gesangssolisten nicht verwundert.

Mit „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms und der 7. Sinfonie von Anton Bruckner finden sich weitere Monumentalwerke in den Sinfoniekonzerten, die neben bekanntem Repertoire aber auch Raum für Entdeckungen lassen: zum Beispiel für das Konzert für Saxophon und Orchester von Henri Tomasi (Solistin: Asya Fateyeva), das Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“ von Bernd Alois Zimmermann (Solist: Reinhold Friedrich) oder auch das Konzert für Koloratursopran und Orchester von Reinhold Glière (Sopran: Nicole Chevalier).

Breite Publikumsschichten anzusprechen, ohne die Kenner zu langweilen: Zu dieser Gratwanderung gesellt sich in Gelsenkirchen eine weitere, weil sich das Theater möglichst geschickt zwischen den großen Häusern in Essen und Dortmund positionieren muss. 90.000 Besucher in der noch laufenden Spielzeit (Stand: 31. März 2016) sprechen derzeit für einen guten Zulauf. Man darf gespannt sein, wie es weiter geht.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/)




Mit Glanz und Gloria: Gabriel Feltz, Johannes Moser und die Dortmunder Philharmoniker

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Carl Maria von Weber vermerkte einmal, das Anschauen einer Gegend sei ihm wie die Aufführung eines Musikstücks. „Ich erfühle das Ganze, ohne mich bei den es hervorbringenden Einzelheiten aufzuhalten …“ Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz hat diese ästhetische Äußerung Webers wohl etwas zu wörtlich genommen: Die Konzertouvertüre „Der Beherrscher der Geister“ rauscht zu Beginn des Achten Philharmonischen Konzerts in angemessenem Presto vorüber, entbehrt aber jeglicher Binnengestaltung.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

In den Tutti denunziert Feltz Webers Orchester als bloßen Lärm, das spannungsvoll tremolierende Crescendo verpufft ohne Wirkung, die Oboe singt, aber schwingt nicht und der abschließende majestätische Choral der Blechbläser bleibt steif. Nicht toll, dieser Konzerteinstieg der Dortmunder Philharmoniker und ihres Chefs.

Die dynamische Unbeherrschtheit schwappt auch noch in den Beginn des Cellokonzerts Antonín Dvořáks hinein, legt sich dann aber, als das Horn sein sehnsuchtsvolles erstes Solo intoniert. Mit den tiefen Streichern gelingen herbe Klangmischungen. Feltz zeigt jetzt, dass er Orchesterfarben passend abmischen kann. Den Beginn des zweiten Satzes phrasieren die Bläser mit weitem Atem. Doch wenn sie von der Pauke flankiert losbrechen, dröhnt das, gemessen am Ton des verhalten gestaltenden Solisten, wieder zu vehement.

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Der Solist Johannes Moser nähert sich diesem Juwel in der Krone des Repertoires auf ungewohnten, aber schlüssigen und reflektierten Wegen. Bei Moser stehen nicht opulenter Klang und satte Farbe im Vordergrund, auch nicht das Prunken mit einer unfehlbaren Spieltechnik. Sein Dvořák erweist sich als musikalisch durchdrungen, formbewusst angelegt und dann erst, sozusagen auf der zweiten Ebene, mit einem fabelhaften Reichtum an Nuancen und Klangfärbungen gestaltet.

Für den Beginn wählt er einen sämigen, vielleicht etwas zu druckreichen Ton, aber die raschen, kurznotigen Teile des Allegro-Satzes sind präzis ausmodelliert und sicher intoniert. Das schimmernde Mezzoforte der kantablen Episoden erreicht Moser mit einem schnellen, feinen Vibrato – so charakterisiert man Töne! Wenn das Thema im Pianissimo wiederkehrt, beleuchtet er den Klang wieder neu und überraschend.

Mosers melodische Linien sind rein und auf erfrischende Art „sachlich“ gefasst; er schmachtet nicht und meidet das Portamento als allzu feiles Ausdrucksmittel. Sehr verhalten und ohne Anflug von Selbstdarstellung spielt er die Kadenz; er bestätigt damit, wie er das Konzert sieht: als eine Art Requiem Dvořáks für seine Jugendliebe und Schwägerin Josefina Kaunitzová. Deutlich wird diese wehmütige, melancholische Haltung auch im Dialog mit der Solovioline von Shinkyung Kim; der Ton erstirbt in die Finalakkorde des Orchesters hinein. Mit dieser profilierten Deutung hat Moser das Cello-Konzert überzeugend erschlossen.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Zum Abschluss eine erfreulich unkonventionelle Wahl: César Francks gewichtiger Beitrag zur Gattung der Symphonie. Selbstredend kosten Feltz und die Philharmoniker vor allem die leidenschaftlichen Steigerungen, die brachialen Aufbrüche, die machtvolle Vehemenz der zyklisch in immer wieder neuem Licht erscheinenden thematischen Einfälle aus. Das geht zu Lasten des impressionistischen Aspekts der Musik Francks, der finessenreichen Farbenspiele, der immer wieder chromatisch unsteten, nervösen Momente, die etwa zu Beginn des zweiten Satzes nicht recht gelingen wollen. Glanz und Gloria behalten die Oberhand und heizen das Publikum im Konzerthaus an, das Orchester und seinen Dirigenten überwältigt zu bejubeln.

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Moser hat das Dvořák-Konzert 2015 übrigens auch aufgenommen. Die CD ist beim Label Pentatone erschienen; die Prager Philharmoniker leitet der künftige Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, Jakob Hrůša.

Nächstes Philharmonisches Konzert in Dortmund am 24./25. Mai. Axel Kobert dirigiert Anton von Weberns „Im Sommerwind“. Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ und das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Sophia Jaffé als Solistin. Karten: (0231) 50 27 222, www.theaterdo.de




Verloren in Blödigkeit – mit dem Smartphone im Konzerthaus

Spontaner Besuch im Dortmunder Konzerthaus. Nicht für Geigen-, Klavier- oder Orchesterklang, auch nicht zwecks Rezension, sondern ganz privat zum (anregenden) Auftritt des Kabarettisten Andreas Rebers. Bei solchen Anlässen sind Kleiderordnung und Sitten etwas legerer als in der edleren Klassik-Gemeinde. Doch was zu weit geht, geht zu weit.

Im nahezu ausverkauften Saal ist ausgerechnet der junge Platznachbar zu meiner Linken offenbar heillos süchtig. Von Anfang an nervös auf seinem Sessel hin und her rutschend, hält er es schon nach ein paar Minuten Programm nicht mehr aus und zückt sein Smartphone mit dem ziemlich großen Bildschirm. Der flackert fortan so grell und unstet auf, dass es ringsum im dunklen Zuschauerraum einfach irritiert – siehe Beweisfoto.

Ertappt: So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

Hei, wie die Däumchen hin und her fliegen, wie sie immer neuen Content aufrufen und flugs gegeneinander verschieben. Ein Ende ist und ist nicht abzusehen.

Man fragt sich, was dieser Mensch hier eigentlich verloren hat. Er schaut schon längst nicht mehr zur Bühne und hört auch gar nicht hin. Dabei müsste er für diesen Platz immerhin 39 Euro bezahlt haben.* Ein Fall von Fehlkauf? Hat er die Karte geschenkt bekommen oder bei einer Tombola gewonnen und sitzt sie nun widerwillig ab? Egal. Er zeigt jedenfalls keinerlei Regung. Worüber denn auch? Er nimmt ja – außerhalb des Bildschirm-Gevierts – nichts wahr.

Schließlich spreche ich ihn leise an. Ob er denn bitte das Gerät abschalten könne. Es störe doch sehr. Tatsächlich schaltet er gleich wort- und blicklos aus. Aber um welchen Preis der Seelenqual! Schon nach wenigen Sekunden traktiert er mit beiden Daumen einen Programmzettel, als wäre der ein Smartphone. Unentwegt. Verloren in Blödigkeit.

Zur Pause hat der Däumling das Haus verlassen. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.

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* In diesem Zusammenhang noch einmal besten Dank an den freundlichen Mann, der sich eigens aus Essen nach Dortmund bemüht hatte, um seine beiden Karten günstig abzugeben, damit sie nicht verfallen.




Über die Wirtschaftswelt hinaus: Düsseldorfer Einblick in Gabriele Henkels Kunstsammlung

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Wer kennt sie nicht noch von früher, die weiße Frau von Persil? Das Waschmittel ist vielleicht das berühmteste Produkt der Firma Henkel aus Düsseldorf. Gabriele Henkel, Kunstkennerin und Mäzenin, hat mit den Jahren eine eindrucksvolle Kunst-Sammlung aufgebaut, mit Werken von berühmten Düsseldorfer aber auch internationalen Künstlern des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegsmoderne.

Die Bilder aus der Firmenzentrale sind nun erstmals öffentlich im Museum zu sehen, kuratiert von Gabriele Henkel selbst. Die weiße Frau ist natürlich nicht dabei, dafür eine interessante Auswahl von Gerhard Richter über Günther Uecker bis hin zu Heinz Mack, Frank Stella und Imi Knoebel.

Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, den Saal mit der Henkel-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz in Düsseldorf überhaupt zu finden. Nach ein paar Irrwegen durch die ständige Sammlung öffnet sich aber der Blick in den großen rechteckigen Saal. In der Mitte sind zum Kontrast zu den Bildern und Objekten an den Wänden Podeste mit kostbaren außereuropäischen Teppichen und Wandbehängen ausgestellt. So exquisit und kunstvoll diese Stücke sind, erschließt sich nicht ganz der inhaltliche Zusammenhang zu den anderen Werken. Außer, dass sie auch Henkel gehören.

Die 40 ausgestellten Werke aber beweisen den untrüglichen Instinkt der Sammlerin Gabriele Henkel: Viele wichtige Künstler der klassischen Moderne sowie abstrakte Werke der Nachkriegszeit sind zu sehen. Farbenfroh ragen die bunten Blechobjekte von Frank Stella in den Raum; auch Imi Knoebel liebt knallige Farben und geometrische Formen.

Tatsächlich spiegelt sich sogar das Thema Arbeitswelt in einigen Werken wieder: So zeigt Jean Metzingers Gemälde „Relais“ von 1920 eine Fabrik, ironisch greift Konrad Klapheck das Verhältnis von Mensch und Maschine in seinem Werk „Die Diva“ von 1973 auf – die mondäne Dame ist eigentlich eine Dusche, die ihren „Kopf“ ziemlich hoch trägt.

Gabriele Henkel war es immer wichtig, diese Kunstwerke allen Mitarbeitern zugänglich zu machen, so hingen sie in Fluren, Konferenzräumen, Treppenhäusern oder Büros. Sie reflektierten und erweiterten dabei den Horizont der Arbeitswelt. Im Museum dagegen ergeben sie eine kompakte Schau und zeigen bisher Unbekanntes von bekannten Namen. Nach Umrundung des Saales stößt man links neben der Tür auf ein aktuelles Werk von Horst Münch („Der große Blonde“ von 2015) und ist mit diesem witzigen Abschluss direkt in der Gegenwart angekommen.

Den Ausgang aus dem Museum zu finden war dann wieder etwas schwieriger: Ich verirrte mich noch kurz in Joseph Beuys goldenem „Palazzo Regale“ (starke Sache, immer einen Kurzbesuch wert), bis ich wieder in der Düsseldorfer Altstadt landete. In der Dämmerung trat langsam die rote Leuchtschrift auf dem Wilhelm-Marx-Haus hervor: Sie wirbt für Persil.

Die Ausstellung „Henkel – Die Kunstsammlung“ ist bis zum 14. August 2016 zu sehen. Internet: www.kunstsammlung.de

 




Elend so nah: Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit Epilog im Bochumer Schauspiel

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Es regnet Menschen: Klein, rosa, nackt prasseln die Püppchen auf die Bühne hernieder und bleiben den Wohlstandsmenschen in den Haaren hängen. Sie häufen sich auf dem Boden, so dass die Bühnenarbeiter sie zum Schluss wegfegen müssen. Hilft ja nichts, es sind zu viele.

Wortkaskaden strömen in den Zuschauerraum, es sind viele Wörter, Textflächen, sie kreisen um die Themen Flucht, Migration, das Eigene und das Fremde und sie sind von Elfriede Jelinek. Hermann Schmidt-Rahmer inszenierte für das Bochumer Schauspielhaus „Die Schutzbefohlenen/Appendix/Coda/Epilog auf dem Boden“, wobei „Die Schutzbefohlenen“ bereits 2014 uraufgeführt wurde. Das Stück nimmt Bezug auf die antike Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Parallel zur Entwicklung der „Flüchtlingskrise“ in Europa hat Jelinek den Text seitdem fortgeschrieben und erweitert. Der letzte Teil „Epilog auf dem Boden“ war nun in Bochum erstmalig zu sehen.

Die Perücken und Kostüme der Schauspieler erinnern an Marie Antoinette und Luis XVI, aber als seien sie von Karl Lagerfeld verfremdet und zum letzten Schrei von Paris erklärt. Die dekadente Gesellschaft trägt dunkle Datenbrillen, durch die sie in sicherem Abstand die Tragödie auf dem Mittelmeer medial verfolgt.

Nein, die Europäer sind nicht am eigenen Leibe betroffen, sie schauen nur zu. Natürlich ist das schrecklich, da muss man Mitleid haben. Wirklich beängstigend wird es aber für sie erst, als plötzlich die realen Menschen in ihr Land strömen und man diesen und ihrem Unglück von Angesicht zu Angesicht begegnen kann. Da wird’s dann doch ein bisschen viel. So genau wollte man das Elend lieber doch nicht sehen.

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

In Jelineks Text prallen die Absurditäten der Politik und Gesellschaft mit einer ganz eigenen Ironie aufeinander. Sie hat dem Gerede gelauscht und reiht die wahnsinnigen Worthülsen dieser Tage so aneinander, dass man nicht zu fassen glaubt, was man da alles hört.

Doch wie funktioniert das auf der Bühne? Schmidt-Rahmer hat mit seinem Bühnenbildner Thilo Reuther und den Kostümen von Michael Sieberock-Serafimowitsch eine ästhetische Plattform gefunden, in der sich das Thema sinnfällig entfalten kann: Die große Landkarte von Nordafrika ist wie ein Trichter aufgehängt, durch den die eingangs beschriebenen Püppchen in die Szene purzeln. Die großartigen Schauspieler bringen den Text zum Schweben und helfen bei der Materialisierung – inklusive Püppchenköpfen (für das Video im Netz).

Allerdings ist Jelineks Perspektive immer nur die unsere: Auch wenn Schicksale von Flüchtlingen referiert werden, geschieht das durch unsere Augen und nicht aus deren eigener Sicht. Hier gerät der Text an seine Grenzen, das ist dramatisch nicht leicht zu überwinden. In Nicolas Stemanns Inszenierung für das Thalia Theater waren Flüchtlinge selbst als Chor einbezogen, Schmidt-Rahmer überlässt es in Bochum den Schauspielern, auch in die Rollen der Flüchtlinge zu schlüpfen. Das klappt nicht immer. Aber warum sollte es auch? Jelinek schreibt über uns, weil sie von uns am meisten weiß. Und wir im Publikum schauen dabei zu – die anderen stauen sich an den Grenzen…

Karten und Termine: www.schauspielhausbochum.de




Zeitlose Kultband „Element of Crime“ machte im Münsteraner „Jovel“ ihren Job

„Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruhen“ – ist das neue „Wenn der Kuchen spricht, schweigt der Krümel“, nur nachdrücklicher. Dieser Songtitel scheint das derzeit beliebteste Zitat bei den Bandmitgliedern von „Element of Crime“ zu sein. Schon im letzten Jahr wurden müde Tatort-Zuschauer damit aus ihrem verkaterten Neujahrs-Dämmerschlaf gerissen, die Webseite der Band macht damit auf und betritt man eine EoC-Konzert-Location, ist das Erste, was man sieht, Klamottage mit diesem Spruch.

Element of Crime gastierten am Donnerstag in Münsters nach wie vor famoser Music-Hall Jovel; nicht ohne vor dem eigentlichen Konzertbeginn einer hoffnungsvollen Nachwuchsband die Chance des Vorgruppen-Acts zu geben. Bei der aktuellen Tour ist es „Von Wegen Lisbeth“ aus Berlin, die zunächst einmal den Altersdurchschnitt in der Halle rapide senkte, vor allem aber mit funkigem Indie-Pop und rasantem Instrumentenwechsel gut ankam. Durchweg „nice“ wie die Jungs wohl selber sagen würden, folgt man ihrem amüsanten Tourblog.

Die Bühne für die Elements ist danach gut bereitet. Die Combo, nach dem gleichnamigen Kultfilm von Lars von Trier benannt, hat einen sehr eigenen und auch einzigartigen Stil in der deutschen Singer-Songwriter-Szene etabliert und das Kunststück fertig gebracht, gleichermaßen vom Publikum und vom Feuilleton gefeiert zu werden.

Melancholisch, aber nicht düster

Die Stücke leben musikalisch von einem unaufdringlichen, aber stets zielsicher führenden Rhythmus, den bei Indie-Gruppen üblichen schrammelnden Gitarren und den Bläser-Elementen, die einen an Wim-Wenders-Engel denken lassen – und natürlich von der rauen, man möchte fast sagen verlebten Stimme des Frontmanns Sven Regener, die auch zunächst „unsingbar“ wirkende Texte berührend zu intonieren weiß. „Element of Crime“ sind im besten Sinne eine zeitlose Kultband mit einer treuen Fangemeinde. Auf ihrer Homepage bezeichnen sie sich selbst als Melancho-Rocker, das trifft es ganz gut. Melancholisch, aber nicht düster, sondern hoffnungsfroh.

Das Spannendste an den Stücken sind die großartigen Texte. Bei Sven Regener stellt sich sowieso allenfalls die Frage: Mag man seine Bücher lieber oder doch seine Songtexte? Seine Texte handeln von den Mysterien des Alltags und was sie mit den Menschen machen. Aus alltäglichen, jedermann bekannten Situationen zieht Regener ganz erstaunliche Rückschlüsse, die einen in einer merkwürdigen Gefühlsgemengelage zwischen verzaubert und verstört zurücklassen. Selbstironisch wird Weltfremdheit absichtlich zelebriert, obwohl die Musiker ganz genau wissen, wie es läuft.

Das perfekte Liebeslied

Betroffenheits-Rock und politische Statements findet man so gut wie nie. Wobei die Darbietung des Titels „Draußen vor dem Fenster“ aus dem Jahr 1993 gerade vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse erschreckend aktuelle Assoziationen heraufbeschwor. Und immer wieder ist natürlich Liebe ein Thema, Liebe und ihre Ausweglosigkeit. Liebe kann man nicht erklären, aber beschreiben kann man sie. Vor allem Sven Regener kann das, im Herzen vermutlich ein ungebrochener Romantiker. „Am Ende denk ich immer an Dich“ ist das perfekte Liebeslied. Alleine dafür gebührt den Elements ewiger Dank.

Die vier Stamm-Musiker (Regener, Jakob Ilja, David Young und Richard Pappik) werden bei der aktuellen Tour wie schon im Vorjahr von Rainer Theobald (Klarinette, Saxophon) unterstützt. Alle sind sehr gute Musiker, die auf der Bühne einen ausgezeichneten Job machen. Aber es schleicht sich der Eindruck ein, dass es genau das ist, was sie da machen: ein Job. Ausgezeichnet zwar, aber trotzdem ein Job.

Keine Überraschungen

Übertriebene Nähe zum Publikum gehört definitiv nicht zum Grundanliegen der Musiker, um es vornehm auszudrücken. Was nicht weiter schlimm ist. Aber worauf sich der geübte Rockkonzert-Gänger doch vor einem Konzert freut, sind Überraschungen. Neu-Interpretationen, Zusätze, verlängerte Soli bei den Stücken. Bei Element of Crime bedauerlicherweise Fehlanzeige. Geboten wird seltsam unbeteiligte Perfektion, nur ganz selten unterbrochen von einer zu hohen Aussteuerung, die leider gerade der Stimme Regeners nicht gut bekommt.

Die Darbietung auf der Bühne ist an Statik nicht zu überbieten und macht es schwer bis unmöglich, alle Musiker wenigstens einmal in Augenschein zu nehmen. Hat man einen blöden Platz und richtet sich der Vordermann plötzlich zu ungeahnter Körpergröße auf, hat man eben einen blöden Platz und Ende. Wer darauf hofft, dass das ein oder andere Bandmitglied mal seine Position verändert, der hofft vergebens. Bei Sven Regener wird es wohl der Tatsache geschuldet sein, dass er auf der Bühne den mit Abstand stressigsten Job macht. Dauernd zwischen Trompete und Gesang nahezu übergangslos wechselnd, maximal einen Atemzug lang Zeit, Luft zu holen. Dass er da nicht den Tanzbären gibt und Ansagen macht, die „kein Mensch braucht“ (O-Ton Regener), sieht man sogar ein.

Entlassen wurde das Publikum mit der inoffiziellen Hymne der norddeutschen Tiefebene („Delmenhorst“) und der erleichternden Beobachtung, dass keine E-Gitarren-Aufhängung gerissen ist. Es gab wohl genug Craft-Bier samt altmodischer Gummidichtungen*. Das freut dann doch.

„Element of Crime“ tourt in diesem Jahr noch außerordentlich fleißig. Termine auf der Homepage der Band.

(* bezieht sich auf ein in dieser Woche in der FAZ erschienenes „Bier-Dramolett“ von Sven Regener)




Klugheit, Humanität, Gottvertrauen: Die britische Queen Elizabeth II. wird 90 Jahre alt

Sie ist die älteste Monarchin der Welt. Sie regiert länger als alle britischen Königinnen und Könige vor ihr. Und sie ist nicht zuletzt dank des Fernsehens das wohl bekannteste gekrönte Haupt der Welt. Elizabeth II., die „Queen“, feiert am heutigen 21. April ihren 90. Geburtstag – und die Welt nimmt daran teil.

Queen Elizabeth II. im März 2015 bei einem offiziellen Termin in Plymouth. (Foto: Joel Rouse, Ministry of Defence - Open Government Licence - http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3/)

Queen Elizabeth II. im März 2015 bei einem offiziellen Termin in Plymouth. (Foto: Joel Rouse, Ministry of Defence – Open Government Licence: http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3/)

Ihr zu Ehren wird vom 12. bis 15. Mai eine gigantische Party gefeiert. Jeden Abend soll es auf dem Gelände von Schloss Windsor Paraden geben, mit 1.500 Künstlern aus aller Welt – und mit 900 Pferden, für jedes Lebensjahr der Pferdeliebhaberin zehn. Die Karten für diese öffentlichen Feiern waren nach Berichten der englischen Presse innerhalb von fünf Stunden verkauft.

Ein Höhepunkt der Feierlichkeiten ist das zweite Wochenende im Juni. An diesem Termin wird der Geburtstag der Regentin üblicherweise gefeiert. Am Freitag, 10. Juni, gibt es einen Dankgottesdienst in St. Paul’s Cathedral. Am Samstag folgt die traditionelle Geburtstagsparade „Trooping the colour“. Die „Royals“ verfolgen sie wie stets vom Balkon des Buckingham Palace aus. Und am Sonntag startet auf „The Mall“, der Straße, die zum Palast führt, ein Fest für die mehr als 600 Organisationen, deren Schirmherrin Queen Elizabeth ist. 10.000 Gäste sollen dann an langen Tischen speisen – ein Dank für ihren wohltätigen Einsatz.

Monarchin mit hohem Pflichtgefühl

Devotionalien stehen hoch im Kurs: Diese Teedose in standesgemäßem Pink gab es 2012 zum Diamantenen Thronjubiläum. Foto: Werner Häußner

Devotionalien stehen hoch im Kurs: Diese Teedose in standesgemäßem Pink gab es 2012 zum Diamantenen Thronjubiläum. Foto: Werner Häußner

Der 90. Geburtstag wird, ähnlich wie das Diamantene Thronjubiläum der Königin 2012, die britische Nation über Monate beschäftigen. Ebenso eine Reihe der 53 zum Staatenverbund „Commonwealth“ gehörenden Länder. Von ihnen haben etwa Kanada, Australien oder der pazifische Inselstaat Tuvalu nach wie vor Elizabeth II. als Staatsoberhaupt.

Beim Kronjubiläum 2012 gab es vom Kartenspiel bis zur Teedose Jubiläumsprodukte ohne Ende. Zahllose Briten feierten auf Parties oder Teegesellschaften ihre Königin. Dankgottesdienste fanden statt. An der längsten je veranstalteten Schiffsparade auf der Themse nahmen 670 Schiffe und Boote teil. Über zehn Millionen Fernsehzuschauer verfolgten sie am Nachmittag des 3. Juni 2012. Trotz miserablen Wetters drängten sich Hunderttausende an den Ufern und auf den Brücken der Londoner City.

Die Queen und der kränkelnde Prinz Philip zeigten sich von Kälte und Nässe unbeeindruckt. Das ist auch ein Zeichen für das Pflichtgefühl der Monarchin.

Streng geregelter Tagesablauf

Elizabeth II. nimmt ihren Amtseid sehr ernst. Ihr Tagesablauf beginnt gegen 8.30 Uhr. Nach Morgentoilette und Frühstück spielt ein Dudelsackpfeifer, denn Elizabeth liebt diese schottische Folklore. Dann folgen die Lektüre von Presseartikeln und das Unterschreiben wichtiger Dokumente. Von den mehreren hundert täglichen Zuschriften behält sich die Queen vor, einige selbst zu beantworten. Ab elf Uhr empfängt sie Gäste, bis das Mittagessen gegen 13 Uhr eine kleine Verschnaufpause bringt.

Die Nation flaggt für ihre Königin. Dass unter der Fahne für Münchner Bier geworben wird, stört nicht. Foto: Werner Häußner

Die Nation flaggt für ihre Königin. Dass unter der Fahne für Münchner Bier geworben wird, stört nicht. Foto: Werner Häußner

Termine prägen auch den Nachmittag. Heilig ist dem Vernehmen nach für Elizabeth die traditionelle englische Teestunde gegen 16 Uhr. Zum schwarzen Tee gibt es süße scones mit Butter und Marmelade, Gurken-Sandwiches oder „jam pennies“ – das sind winzige, runde Sandwiches mit etwas Marmelade, die etwa die Größe einer alten Penny-Münze haben.

Anschließend trifft sich die Königin mit Politikern oder liest Protokolle, bevor sie sich zu offiziellen Essen oder Feierlichkeiten rüstet. Hat die Königin einen ihrer seltenen freien Abende, soll sie gerne fernsehen. Mit dabei sind natürlich stets ihre geliebten Corgi-Hunde.

Unterleutnant und Automechanikerin

Die Krönung der 1926 als Elizabeth Alexandra Mary Windsor geborenen Monarchin am 2. Juni 1953 war eines der ersten Großereignisse des Fernseh-Zeitalters. Die Zeremonie wurde von dem neuen Medium übertragen, der Absatz von Fernsehgeräten ging in die Millionen.

Vorher genoss Elizabeth eine häusliche Erziehung und Schulausbildung. Im Zweiten Weltkrieg diente sie als Unterleutnant in der Frauenabteilung des Britischen Heeres. Dort erhielt sie eine Ausbildung als Automechanikerin und machte den LKW-Führerschein. Elizabeth galt in jungen Jahren als forsche Fahrerin. Sogar den saudi-arabischen Kronprinzen als Beifahrer soll sie in Angst und Schrecken versetzt haben.

Einige Krisen überstanden

Elizabeth hatte in den 64 Jahren ihrer Regentschaft politische, familiäre und persönliche Krisen zu bestehen, von den Scheidungen ihrer Kinder, über die Beziehungsprobleme Prinz Charles und den tragischen Tod Prinzessin Dianas bis zu den Eskapaden ihrer Enkel und dem Brand auf Windsor Castle 1992. Immer wieder stellten Kritiker der parlamentarischen Monarchie die Frage, ob diese Staatsform nicht überholt sei. Andere störten sich an den Kosten der Hofhaltung und den Apanagen der „Royals“.

Mit Besonnenheit und Zurückhaltung hat die Queen allen Krisen Paroli geboten. Bei allen Höhen und Tiefen ihrer Regierungszeit: Elizabeth ist heute beliebt wie nie zuvor. Das liegt sicher auch, wie der fachkundige Autor Robert Lacey schreibt, an ihrer Klugheit und Humanität, die sie mit großer Bescheidenheit an den Tag legt. Und sie ist als weltliches Oberhaupt der Kirche von England auch eine gläubige Frau: Der Glaube sei Anker und Inspiration ihres Lebens, ließ sie in ihrer Weihnachtsansprache 2014 wissen – eine der wenigen authentischen privaten Äußerungen der Königin. In einem neuen Buch anlässlich ihres 90. Geburtstags schreibt sie im Vorwort, sie bleibe dem Volk dankbar für seine Gebete und Gott „für seine unverbrüchliche Liebe“, die sie in den 64 Jahren ihrer Regentschaft erkannt habe.




Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

Wolfgang Wendland Ekkehard Freye Julia Schubert

Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.

 




Penner, Huren, Säufer: Dortmund zeigt mit „Peter Grimes“ erstmals eine Britten-Oper

Am Boden: Peter Grimes (Peter Marsh), Sonderling und Raubein, wird Opfer eines Hetzmobs (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Schuldig oder unschuldig? In Dortmund ist das Urteil über den Fischer Peter Grimes (Peter Marsh) rasch gesprochen (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Grandiose Stimmungsbilder vom Meer, eng mit der abgründigen und unbeständigen Psyche eines Außenseiters verzahnt, machen den Erfolg der Oper „Peter Grimes“ von Benjamin Britten aus. Der Titelheld, ein armer Fischer, ist ein Visionär, der von einem besseren Leben träumt, seine raubeinige, zu Gewalt neigende Natur indes nicht unter Kontrolle hat.

Ob er den Tod seines Lehrjungen auf dem Gewissen hat oder nicht, ist nicht nur für die Bewohnter des englischen Fischerdorfes „The Borough“ rasch beantwortet. Auch Regisseur Tilman Knabe, der die Oper jetzt in Dortmund neu in Szene setzt, lässt uns nicht lange im Ungewissen. Wo Britten nur vornehm andeutet, dass homoerotische, womöglich sogar pädophile Neigungen mit im Spiel sind, langt Knabe kräftig hin: Für ihn ist Grimes schlicht ein Kranker, der von seinem Trieb nach Jungs zerrissen wird. Aus Brittens gequältem Idealisten, der zwischen euphorischem Wahn und manischer Depression schwankt, wird ein Sexualstraftäter.

Das klingt nicht nur trostlos, sondern es sieht auch so aus. Im Einheitsbühnenbild von Annika Haller prallt der Blick auf eine Hafenmauer aus Beton, die eben jenen Seeblick verwehrt, den ein schäbiger Kiosk namens „Ocean View“ verspricht. Zwischen Bierkisten, Maschendrahtzaun und einer Spelunke führt Tilman Knabe uns die Dorfeinwohner als Lumpenproletariat vor. Säufer, Penner und Huren bestimmen die Szene: Man fragt sich ernsthaft, warum der Außenseiter Grimes so gerne Teil dieser Gesellschaft sein möchte.

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangkin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft zur Hatz auf Peter Grimes bläst (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangmin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft sich zur Menschenjagd formiert (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Durch die Überzeichnung macht die Regie es sich selbst schwer, einzelne Charaktere differenzierter zu beleuchten. Der eifernde Methodist Bob Boles fuchtelt mit dem anklagenden Zeigefinger herum, bis er zur Karikatur wird. Kapitän Balstrode tritt als gutmütiger Rocker in schwarzer Lederkluft auf, gewinnt trotz des sonoren Baritons von Sangmin Lee aber kaum Kontur. Geistige Brandstifter wie die tablettensüchtige Mrs Sedley und der Richter Swallow, die sich als Biedermeier tarnen, wirken wie komische Randfiguren. Wie gefährlich diese Typen werden, wenn sie sich zur Hetzmasse vereinen, zeigt immerhin eine starke Szene im zweiten Akt. Freilich hätte sich die Lust an der Menschenjagd auch ohne öde Rammeleien im Bühnenhintergrund vermittelt.

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jack / Stage Picture)

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Konzentrieren wir uns lieber auf die Hauptfiguren, die sängerisch und darstellerisch durchaus für sich einnehmen. Als Gast von der Oper Frankfurt gibt der Amerikaner Peter Marsh dem unglücklichen Titelhelden fragile Höhen und abrupte Stimmungsumschwünge mit. Sein Tenor kann wie in Trance auf Piano-Noten verweilen, aber auch ruppig und grob werden. Dass seine Stimme nicht immer bruchfrei klingt, ist für diese Partie kein Makel. Als Lehrerin Ellen Orford steht ihm die Sopranistin Emily Newton überzeugend zur Seite. Sie ist eine vom Leben gezeichnete Frau, die Grimes’ Träume von einem besseren Leben teilt. Emily Newton gibt ihr helle Töne der Hoffnung, aber auch verhärmte Klänge sowie Tiefen, aus denen Furcht herauf schaudert.

Die Musik macht am Premierenabend leider nicht wett, was Bühne und Regie uns an Zauber vorenthalten. Selten hat Brittens vielschichtige, farbenreiche und psychologisch dichte Partitur so wenig Atmosphäre entfaltet. Die von Manuel Pujol einstudierten Chöre des Theaters und die Dortmunder Philharmoniker agieren unter der Leitung von Gabriel Feltz oft stark aneinander vorbei, wodurch Strukturen unkenntlich werden.

Wo Brittens Musik uns die Gewalt der Elemente fühlen lässt, wo sie uns zum Träumen bringt und unseren Blick auf das Unendliche richtet, erleben wir in Dortmund bestenfalls einen Sturm im Wasserglas. Trocken werden die Noten der Partitur herunter gespult, ohne ihnen Sinn und Seele zu geben.

Diese erste Aufführung einer Britten-Oper in Dortmund überhaupt – von einem Gastspiel abgesehen –, sie hätte ein Plädoyer für mehr sein können, ja zwingend sein müssen. Die Chance wurde schmerzlich vertan.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen. Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/16177/)




Eine Peter-Rühmkorf-Allee oder Kippenberger-Straße in Dortmund – warum eigentlich nicht?

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Irgendwo da unten müssten doch ein paar passende Straßen zu finden sein. Hie und da entstehen ja auch Neubauviertel. (Foto von 2012, vom Florianturm herab: Bernd Berke)

Zuweilen hat man den Eindruck, dass zum Beispiel Dortmund einige seiner Straßen im Rahmen eines engeren Horizonts benannt hat. Jedenfalls sagen einem viele, viele Namen herzlich wenig – und oft genug fehlen erläuternde Hinweise auf den Schildern. Lokale und regionale Verdienste in allen Ehren. Doch manches mutet provinziell an.

Aber gibt es denn nichts Dringlicheres im Gemeinwesen? Sicherlich. Jedoch…

Wenn schon ortsbezogene Namen: Warum bringt es die Kommune dann nicht fertig, Straßen oder Plätze nach wirklich bedeutsamen Kulturschaffenden jüngerer Zeit zu benennen, die immerhin in Dortmund geboren wurden? Zwar sind sie nicht ihr Leben lang hier geblieben (was leider von mangelndem Kultur-Magnetismus des Ortes zeugt), doch siehe: Weder Karl Marx noch Rosa Luxemburg, weder Goethe noch Haydn oder Arndt haben hier je gelebt oder auch nur den Flecken besucht, sie sind nicht einmal gebürtige Dortmunder gewesen. Dennoch sind hiesige Straßen nach ihnen benannt, so wie vielerorts und allüberall.

Wen ich nun meine? Wen ich da vorschlagen möchte? Nun, da hätten wir beispielsweise Peter Rühmkorf (geboren am 25. Oktober 1929 in Dortmund), einen der wichtigsten Nachkriegsdichter deutscher Sprache überhaupt. Ginge es nach seiner Bedeutung, so müsste ihm eine Allee von gehöriger Breite gewidmet werden.

Gleich drei Namen von erheblicher Geltung drängen sich auf dem Gebiet der Bildenden Kunst auf: Bernhard Johannes Blume (geb. 8. September 1937), Norbert Tadeusz (geb. 19. Februar 1940) und nicht zuletzt Martin Kippenberger (geb. 25. Februar 1953); allesamt „Söhne der Stadt“, wie es ehedem so feierlich hieß, allesamt verstorben, was ja wohl eine Voraussetzung ist, um eine Straße nach jemandem zu benennen.

Auch der Dadaist Richard Huelsenbeck (Jahrgang 1892), der zwar nicht hier geboren wurde, aber in Dortmund (und Bochum) aufgewachsen ist und auf dem Dortmunder Südwestfriedhof begraben liegt, wäre ein gewichtiger „Anwärter“ auf einen Straßennamen in der Stadt – erst recht genau 100 Jahre nach Begründung der Dada-Bewegung.

Falls ich Künstler(innen) von vergleichbar hohem Rang vergessen haben sollte, bitte ich um ergänzende Mitteilung.

So. Und jetzt müsste man „nur noch“ ein paar Leute im kommunalpolitischen Raum überzeugen.

Bislang habe ich noch nichts von Bestrebungen gehört, einen der Genannten posthum zu ehren. Dabei liegt das Gute doch so nah. Man sollte die nächsten Gelegenheiten beherzt ergreifen. Es tut nicht weh und ist nicht allzu teuer. Aber bitte nicht irgend eine unwirtliche Sackgasse weit außerhalb…

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Es stand in den Revierpassagen

Über Peter Rühmkorf
Über Bernhard Johannes Blume
Über Norbert Tadeusz
Über Martin Kippenberger
Über Richard Huelsenbeck




Eingestaubtes Juwel bleibt unpoliert: Aubers „Manon Lescaut“ in Liège

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Bücher binden Staub. Kein Wunder, dass auch manche Opernpartituren feingrau überzogen in stillen Regalen abseits der vielbegangenen Wege des Tages harren, da ihnen jemand Interesse und Liebe entgegenbringt und sie wieder in die Hand nimmt. Daniel François Esprit Aubers rund 70 Bühnenwerke sind typische Kandidaten für die zweite Reihe im Opernarchiv. Und so freut es Kenner und Liebhaber, wenn jemand wie Stefano Mazzonis di Pralafera, der Chef der Oper im belgischen Liège, Aubers „Manon Lescaut“ aus dem Dämmer der Geschichte erlöst – wenigstens für fünf kurz hintereinander getaktete Vorstellungen.

Regisseur Paul-Èmile Fourny, im französisch sprechenden Raum eine Größe des Theaters, mag darauf anspielen, wenn er in der funkelnden Ouvertüre den Blick auf den Lesesaal einer Bibliothek fallen lässt und eine kleine Geschichte erzählt: Ein Buch fasziniert ein junges Mädchen aus der Schar der uniformierten College-Studenten, aber auch ein verträumter junger Mann an einem der Pulte zieht ihre Blicke magisch an. Der Bühnenbau von Benoît Dugardyn spielt ein wenig auf die Glas-Eisen-Konstruktionen an, die mit dem „Crystal Palace“ bei der Londoner Weltausstellung 1851 in Mode gekommen waren und mit dem Eiffelturm ihren Höhepunkt erreicht hatten. Der eiserne Rundbogen der Halle rahmt die Bühne in den folgenden zweieinhalb Stunden, bis das Buch am Ende wieder ins Regal gestellt wird.

Auch Aubers „Manon Lescaut“ wurde immer wieder weggestellt: Liège unternimmt nicht den ersten Versuch, das reizvolle Stück dem Vergessen zu entreißen. 1856 war das Gemeinschaftswerk des 74-jährigen Meisters der Opéra comique und des renommierten Opernverseschmieds Eugène Scribe ein Achtungserfolg, wurde 63 Mal an der Opéra-Comique gespielt und stand – etwa in Berlin, Stockholm und übrigens auch in Liège – bis 1882 immer wieder einmal auf einem Spielplan. 1975 entdeckte Jean-Pierre Marty das Werk neu und spielte es für die Platte ein; neun Jahre später dirigierte er es in einer szenischen Produktion von Dominique Delouche in Veronas Teatro Filarmonico. Aber weder diese Inszenierung noch die weiteren in Paris und Caen (1990), Wexford (2002) und Los Angeles (2006) beflügelten die Fortune dieser Opernversion des einst berühmten Romans von Abbé Prévost.

Dem Geist des Romans treu geblieben

Das hat seine Gründe: Auber und Scribe verändern zwar das Personal des Romans, gewichten die Figuren anders als Jules Massenet in seiner „Manon“ (1884)  und Giacomo Puccini in „Manon Lescaut“ (1893), bleiben aber dem Geist des Autors treu: Manon ist keine leidenschaftsentflammte Heroine, sondern ein einfaches Mädchen, das sich nach angenehmem Luxus sehnt. Der Marquis d’Hérigny vereint alle Liebhaber Manons in sich: Er ist der geldschwere Bewerber um die sexuelle Gunst der jungen Frau, über die leidenschaftslos, fast lapidar verhandelt wird.

Des Grieux tritt als Liebhaber weit zurück, wirkt eher wie ein nachpubertär überspannter Junge, der Züge Don Josés („Carmen“) vorwegahnen lässt, wenn er sich ans Regiment des Marquis verkauft, weil Manons Cousin Lescaut sein Geld verspielt hat, und später seinen Vorgesetzten im Streit verletzt. Die Nachbarin Manons, Marguerite, ist eine von Scribe auf die Soziologie seiner Zuschauer zugeschnittene Figur: Mit ihren Mahnungen, das Vergnügen nicht zu übertreiben, repräsentiert sie die Werte wohlanständiger Bürgerlichkeit.

So zollt – wie Aubers pfiffige Musik – die federleichte Handlung der Erwartung eines Publikums Tribut, das unterhalten und nur in schicklichen Maßen gerührt werden wollte. Damit hat es Aubers Manon-Version schwer gegen die späteren, expressiv aufgeheizten Dramen. Dass es der Komponist nicht ganz bei harmlosem Divertissement belassen wollte, zeigen der zunehmend ernster werdende Tonfall des zweiten Akts und vor allem der bewegende Schluss: Wenn Manon in der Wüste von Louisiana in den Armen des hilflosen Des Grieux verdurstet, erreicht Aubers Musik einen Ernst und eine emotionale Tiefe, die sich in der intensiven Melodik ebenso wiederspiegelt wie in der empfindsamen, jedes Dekor meidenden Gesangslinie.

Reizvolle melodische und rhythmische Erfindungen

Mit diesem Finale – es soll das erste tragische in der Opéra-Comique gewesen sein – hat Auber ein spätes Meisterstück hinterlassen, das weit in die Ausdruckswelt der „tragédie lyrique“ hineinreicht und eine Aufführung seiner Oper rechtfertigt. Wobei Auber mit seinen melodischen und vor allem rhythmischen Erfindungen durchaus noch mehr zu bieten hat: die spritzige Bourbonnaise am Ende des ersten Akts etwa, ein glitzerndes Paradestück für jeden Koloratursopran, das als „Éclat de rire“ als Einzelstück berühmt wurde. Oder die – weniger formal als melodisch – inspirierte Ouvertüre mit ihrem atemlosen Galopp.

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

In Liège schien es zunächst, als hätte Regisseur Paul-Èmile Fourny einen Weg gefunden, die Brücke zwischen einer vergangenen Epoche und der Gegenwart zu schlagen. Als aber dann die Figuren des Dramas in den unreflektiert historisierenden Kostümen Giovanna Fiorentinis in die Szene einsickern, als Sumi Jo ihren Auftritt als Manon mit dem Gestengehabe der Oper von anno Tobak bestreitet, als sich die Personen mit behäbigen, klischierten Bewegungen in angenehme Positionen schieben und ihre Interaktion die Lebendigkeit und Schlüssigkeit eines Guckkastenbilds aufweist, weiß man: Fourny sind die Ideen schnell ausgegangen.

Der Rest ist altbackenes Arrangement. Das steuert unaufhaltsam zum Höhepunkt, wenn in der Wüste der Tenor vor Manon gemessen auf die Knie sinkt und, mit der erhabenen Gestik der Comédie-Française erhoben, seinen Schmerz über die Rampe singt. Manon zieht sich derweil zum Sterben auf die Landkarte Louisianas zurück, die in einem riesigen, aufgeklappten Buch erscheint: das Maximum intellektueller Zumutung ist erreicht.

Die Sänger entschädigen nur zum Teil für die hilflose Blutleere der Szene, die schon zur Pause mit zwei kräftigen Buhs quittiert wurde. Sumi Jo lässt sich zwar in der Agilität ihrer Koloratur nichts vormachen, hat aber weder im Timbre noch in ihren püppchenhaften Bewegungen die unbekümmerte, natürliche Eleganz eines jungen Mädchens. Enrico Casari als Des Grieux erweist sich als Sänger, der nicht nur – wie an seinem Haus in Strasbourg – mit Charakterrollen, sondern auch mit der feinen Linie, dem eleganten Tonfall und den exponierten Hochtönen Aubers erfolgreich fraternisieren kann.

Wiard Withold hat als Hérigny mit geläufigen Passagen Probleme; auch die Höhe will dem Bariton nicht sicher gelingen. Sabine Conzen überzeugt als „vernünftige“ Marguerite mit einem gut gebildeten, ausgeglichenen Sopran. Das Orchester der Opéra Royale de Wallonie trifft den federleichten, spritzigen, rhythmisch beweglichen Ton der Musik Aubers, nur die Violinen können, vor allem in der Höhe, mehr Schliff vertragen; Cyril Englebert dirigiert ohne Schwere und achtet auf die Piano- und Pianissimo-Vorschriften der Partitur.

Wie lange heißt es nun abzuwarten, bis ein sensibler Regisseur dieses feine Juwel aufpoliert? Bis jemand die zeitbedingten Limits von Stoff und Musik in ein überzeugendes Konzept übersetzt und für die Gegenwart erhellt?

Noch eine Vorstellung am 19. April. Info: www.operaliege.be




Bewegender Abend der Bewegung: Das Gehen im Tanztheater Cordula Nolte

„Gehweg“ heißt die jüngste Produktion aus dem Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte – das inzwischen neunte Stück der freien Bühne im Unionviertel, die Jahr für Jahr gesellschaftliche Entwicklungen tanz-theatralisch verarbeitet und kommentiert. Diesmal geht’s ums Gehen – eine nur scheinbar profane Angelegenheit, wie die gefeierte Premiere am Samstagabend bewies.

Alles Leben – also auch alle Bewegung – kommt aus dem Wasser.  Zu Beginn liegt das Ensemble auf dem Boden, schwimmt, windet sich. Nach und nach streben die Körper aufwärts, entdecken ihre Beine, rollen langsam ihre Füße ab, ertasten den Boden und erproben die Höhe – die Evolution in wenigen Minuten. Und kaum stehen sie auf eigenen Beinen, beginnt der Stress: Die Menschheit hastet vorwärts, immer weiter, an- und voreinander vorbei, dem Zusammenprall oft nur haarscharf entgehend. Ist der Fort-Schritt wirklich ein Fortschritt?

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Die Musik dazu und für das ganze Stück stammt von Ensemble-Mitglied Olaf Nowodworski, der die Stimmungen und Rhythmen der Szenen in seinen Synthie-Klängen aufnimmt, sie unterstützt und verstärkt – ein Glücksfall. Zum Beispiel in der folgenden kleinen, feinen Studie der Gangarten. Von links nach rechts, von rechts nach links laufen die Tänzerinnen und Tänzer zu treibenden Klängen über die Bühne und zeigen dabei ein skurriles Panoptikum der Laufstile von Zweibeinern.

Da gibt es den eilig Hastenden, das Telefon in der einen Hand, mit der anderen gestikulierend und wahllos in der Hosentasche wühlend. Den Kleinen, der sich mit seinem Gang umso breiter und wichtiger macht. Den Vorsichtigen, der dem Boden nicht zu trauen scheint. Es gibt jene, die das Becken beim Gehen weit vorschieben – und jene, bei denen der Kopf immer zuerst anzukommen scheint. Es gibt den Gang, der nach oben strebt und den, der sich nach unten orientiert.

Bartisch

Foto: Jochen Riese

Was es dagegen bedeutet, über-gangen zu werden, erfährt das Publikum fast schmerzvoll, als eine Tänzerin (Sabine Siegmund) lustvoll über einen menschlichen Steg stolziert: Wie selbstverständlich balanciert sie über die Rücken der Tänzer, die den Weg immer wieder nach vorn verlängern und bei jedem Übergangen-Werden qualvoll aufstöhnen.

Doch nicht nur als Fußabtreter werden Menschen mitunter missbraucht, sondern auch, um sich mal „auszukotzen“, zu entleeren – überdeutlich in der Darstellung eines Toilettengangs mit vier menschlichen Klosetts, die sich für diverse körperliche Vorgänge öffnen. Ein reinigender Akt, der andere beschmutzt zurücklässt.

Der erste Teil, komplett barfuß getanzt, endet mit einem riesigen Schuh-Berg: Die Ensemble-Mitglieder schleudern nach und nach Dutzende Schuhe in die Bühnenmitte, auf den sich ein Tänzer gierig stürzt. Im zweiten Teil geht es dann auch um das Laufen auf Schuhen, und es folgt eine zweite Bewegungsstudie: Wie unterschiedlich läuft es sich auf Gummistiefeln, auf Turnschuhen, auf Spitzenschuhen, auf Garten-Clogs, auf Pumps.

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Es gibt kaum je Stillstand auf der Bühne. Beeindruckend die Szene, in der ein Tänzer (Pao Nowodworski) über ein imaginäres Seil stolpert und dann, geschmeidig und behend wie ein Tier auf der Flucht, auf allen Vieren kriechend, rollend und springend, einen Ausweg aus der Gefahrenzone sucht.

Wunderbar, wenn eine Tänzerin (Birgit Sirocic) wie ein tollender Hund von vier auf Stehtischen stehenden Tänzern hin- und hergelockt und geärgert wird – und sie die nervenden Menschen einfach wegpustet, erst die einzelnen Glieder mit ihrem Atem in Bewegung versetzt, dann die ganzen Menschen. „Gehweg“, nur wenig anders geschrieben, heißt „geh weg“ – ein typisches Beispiel dafür, wie das Tanztheater Cordula Nolte hintersinnig nicht nur mit Bewegung, sondern auch mit Worten experimentiert.

Witzig und nachdenklich machend, wenn die Tänzer wie ferngesteuert und blind für die Umgebung ihre Schritte setzen, einen Plan vor der Nase, offenbar vollständig abhängig davon, was die Navigation ihnen vorgibt. Einfach schön anzusehen, wie beim Tanz im Dunkeln Taschenlampen-Spots einzelne Körperpartien und Schritt-Kombinationen erhellen.

In Erinnerung bleibt: ein bewegter und bewegender Abend.

Nächste Termine im Tanztheater Cordula Nolte: samstags 30.04., 21.05., 11.06. und 25.06., jeweils 20 Uhr.




Werden wirklich viele alte Menschen arm sein?

Im Herbst 2017 wird es wieder Wahlen zum Deutschen Bundestag geben, und schon hört man im Hintergrund das Säbelrasseln. Die CSU möchte die zukünftigen Rentner beglücken und weiß die Sozialdemokraten an ihrer Seite. Mit der Behauptung, im Alter sei fast die Hälfte der Mitbürger von Armut bedroht, wird der Ruf nach einer Rentenreform auf Kosten der jetzt noch berufstätigen Generationen laut.

Aber stimmt das wirklich? Werden tatsächlich so viele Menschen im Alter arm sein? Dietrich Creutzburg ist jetzt dieser Frage in der Samstagausgabe der FAZ nachgegangen, und er nennt sein Ergebnis „Das Märchen von der Altersarmut“. Zumindest nachdenken kann man über seine Berechnungen.

Zwei Rentner im Park. (Foto Fischer-Pöpsel)

Zwei Rentner im Park.
(Foto Fischer-Pöpsel)

An dieser Stelle sollen einmal nur die von Creutzburg genannten Zahlen zur Diskussion stehen: Nach dem aktuellen Rentenbericht und der Prognose der Ministerin Andrea Nahles werden die Renten bis 2029 bei angenommener jährlicher Steigerung von 2 Prozent um insgesamt rund 41 Prozent steigen.

Im vergleichbaren Prognose-Zeitraum, nämlich in den vergangenen 15 Jahren, haben sich die Verbraucherpreise um insgesamt etwa 25 Prozent erhöht. Wenn diese Entwicklung so fortgeschrieben wird, „werden die Renten 2029 auch real, also preisbereinigt, 15 Prozent mehr wert sein als heute“, schreibt Creutzburg. Eine Durchschnittsrente von 1000 Euro steigt also nach Nahles‘ Prognose bis 2029 auf 1400 Euro, in heutigen Preisen gerechnet also auf einen Wert von 1150 Euro. „Verschärfte Altersarmut folgt daraus nicht“, schreibt der Autor.

Aber es gibt doch jetzt schon so viele Mini-Renten, rufen die Sozialverbände. Horst Seehofer hat sogar vermutet, dass bald „die Hälfte der Bürger“ auf Grundsicherung angewiesen sein könnte.

Auch dazu nennt Creutzburg Zahlen: Zur Zeit seien nur etwa 3 Prozent der Bürger über 65 Jahre auf Grundsicherung angewiesen. Natürlich sei der Anteil der Rentner, die nur eine kleine gesetzliche Rente erhalten, deutlich höher als 3 Prozent. Das habe aber meist andere Gründe – Beamte zum Beispiel, die neben ihrer Versorgung aus früheren Tätigkeiten eine gesetzliche Minirente beziehen, oder Ärzte, Anwälte und andere Berufsgruppen, die Versorgungswerken angehören. Auch werde in manchen Berechnungen bei Ehepaaren mit ungleichem Einkommen der Partner mit dem geringeren Einkommen automatisch als arm gewertet, „auch wenn der Haushalt finanziell gut ausgestattet ist“.

Es lohnt sich also meines Erachtens, auch in so schwierigen Fragen wie der Altersversorgung auf die Fakten zu achten, ohne das Schicksal der wirklich armen Mitbürger aus den Augen zu verlieren.




Games und Gaffer – das tägliche und manchmal tödliche Elend mit den Smartphones

Eigentlich sollte man alle „Smartphones“ in den Orkus werfen. Dann Deckel drauf. Fertig. Und keine Wiederkehr. Warum ich so wütend bin? Abwarten. Kommt gleich.

Manchmal sind die Dinger nützlich, gewiss. Doch sie richten immensen Schaden an.

Nein, es geht nicht in erster Linie zum 1000. Mal darum, dass so viele Zeitgenossen (nein: zeitabwesende, geisterhafte Gestalten) ständig auf die lächerlichen Bildschirmchen stieren und starren, um sich aller wirklichen Umgebung zu entziehen. Nähme man ihnen die Handys weg, wüssten gar manche wohl nicht, was sie mit sich und der Welt noch anfangen sollten.

Man hat ja selbst auch so'n Zeug. (Foto: BB)

Man hat ja selbst auch so’n Zeug. (Foto: BB)

Auch geht es jetzt nicht um Autofahrer, die durch „Simsen“ oder sonstigen Handy-Gebrauch werweißwieviele Unfälle verursachen.

Hier dreht es sich vielmehr um zwei Nachrichten der vergangenen Tage, die einem gleichermaßen Schrecken einjagen:

Zum einen besteht der dringende Verdacht, dass der Fahrdienstleiter, unter dessen Aufsicht (Aufsicht?) das schreckliche Zugunglück von Bad Aibling geschehen ist, durch ein Online-Game auf seinem Handy abgelenkt war. Der 39-Jährige sitzt deshalb in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Elf Tote und 85 Verletzte wegen eines läppischen Computerspielchens? Ach, wäre es doch nicht wahr…

Weiter nordwärts, in Hagen am Rande des Ruhrgebiets, gab es am letzten Mittwoch eine unfassbare Steigerung des ohnehin schon elenden „Gaffens“. Ein zehnjähriges Mädchen war von einem Auto angefahren worden, ein Rettungshubschrauber musste es in eine Spezialklinik bringen.

Die Helfer hatten eigens Tücher aufgehängt, welche das schwerverletzte Mädchen vor neugierigen Blicken schützen sollten. Tatsächlich hat ein ungebetener Zuschauer eines der Tücher weggerissen, um die Szenerie mit seinem Smartphone besser ablichten zu können. Angeblich soll er es auch so idiotisch begründet haben: „Das muss ich so machen, ich kann sonst nicht richtig filmen.“ Was für ein armseliger Wicht.

War’s ein selbsternannter „Bürgerreporter“, der den Film womöglich noch verkaufen wollte? Egal. Er war wahrscheinlich der übelste, aber beileibe nicht der einzige Schaulustige, der im Umkreis des lebenswichtigen Einsatzes die Grenzen allen Anstands überschritten hat. Auch andere haben nach Kräften Film- und Fotoaufnahmen gemacht. Ob sich andere Passanten dagegen gewendet haben? Davon ist leider nichts zu lesen.

Aber hat denn die Polizei gar keine richtige Handhabe gegen solche ruchlosen Leute? Offenbar blieb ihr nichts übrig, als das schäbige Verhalten im Internet zu brandmarken. Wenigstens das.

Für einen unmissverständlich formulierten „Gaffer-Paragraphen“ wäre ich sofort zu haben. Statt dessen steht bei uns immer noch „Majestätsbeleidigung“ unter Strafe…

Spontan möchte man also am liebsten die Geräte einstampfen und sich für immer davon verabschieden. Mir ist schon klar, dass das vollkommen illusorisch ist. Auch der innige Wunsch, dass man die hochgerüsteten Handys einiger Funktionen beraubt, so dass man mit ihnen nicht mehr ins Netz gehen oder fotografieren könnte, sondern nur – wie ehedem – telefonieren; auch dieser Wunsch wird ein frommer bleiben. Es ist ein Jammer.

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Mit Nachrichtenmaterial von www.spiegel.de (Bad Aibling) und www.derwesten.de (Hagen)




Roman von Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ kämpft ums Überleben

Es ist ein faszinierender und zugleich verstörender Roman, den der Österreicher Michael Köhlmeier geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, von dem man annehmen kann, dass es sich um ein Flüchtlingskind handelt.

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Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, den recht schmalen Band (140 Seiten) nur als eine Sozialparabel zu verstehen. Anklänge daran sind sicherlich vorhanden, wenn „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, vollkommen auf sich allein gestellt, irgendwo auf einem Marktplatz in Westeuropa auftaucht.

Der Onkel, der sich um sie gekümmert hat, scheint verschwunden zu sein oder die Kleine findet ihn nicht mehr. Woran es auch immer liegen mag, dass die beiden nicht mehr zusammenkommen, wird mehr und mehr zur Nebensache. Jedenfalls muss sich das Kind nun selbst durchschlagen, es übernachtet im Müllcontainer, wird schließlich von der Polizei aufgegriffen und kommt in ein Heim.

Während das Mädchen anfangs noch namenlos bleibt, ändert sich das, als es sich mit zwei Jungen anfreundet und einen Namen für sich erfindet. Die drei sind fortan ein festes Trio, das durch die Wälder streift, gern auch mal unter freiem Himmel schläft und sich seine Gedanken macht, wie es den Menschen in beheizten Häusern ergehen mag.

Köhlmeier beschreibt solche Erlebnisse in einer Art, die an Abenteuergeschichten wie „Die drei ???“ oder an Bücher von Enid Blyton erinnern. Diese Vergleiche haben wiederum auch nicht allzu lange Bestand. Spätestens, wenn Arian, Schamhan und Yiza sich entschließen, auf Diebestour zu gehen, erfährt der Roman eine deutliche Wendung.

Bevor allerdings die Geschichte mit einer folgenschweren Tat ihren traurigen Tiefpunkt erreicht, scheint es das Leben doch plötzlich mit dem Mädchen gut zu meinen. Eine Frau nimmt sie bei sich auf, worauf sich aber schon bald zeigt, dass scheinbar wohlwollende Helfer auch ihre hässlichen Seiten zeigen können. Yizas Flucht aus dem Hause ihrer vermeintlichen Gönnerin gerät allerdings zu einer dramatischen Aktion, die das Trio noch mehr aneinander schweißt und vor allem Yizas Bindung an Arian verfestigt.

Köhlmeiers wählt eine einfache Sprache mit kurzen Sätzen und oft knappen Dialogen. Bei den Figuren des Romans bleibt manches eher schemenhaft, wie beispielsweise die eigentliche Herkunft des Mädchens und der beiden Jungen. Dafür schreibt der Verfasser eher aus der Perspektive der Kinder. Eine kindliche Sicht ist das aber nicht.

Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 18,90 Euro.




Das Museum soll sich ändern: Jens Stöcker als neuer Leiter des MKK in Dortmund

Dortmund muss ja doch etwas Verlockendes an sich haben – oder war’s speziell diese hochinteressante Stelle? Rund 80 Fachleute hatten sich um die Leitung des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) beworben. Die Entscheidung fiel dann einmütig. Heute wurde der neue Kopf des Hauses offiziell den Medien vorgestellt: Dr. Jens Stöcker kommt aus Kaiserslautern, wo er bislang die Städtischen Museen und das Stadtarchiv leitet.

Im Präsentkorb für den "Neuen" war auch ein schwarzgelber Schal: Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann (li.), der neue Museumsleiter Jens Stöcker (Mi.) und Elke Möllmann, Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen. (Foto: Bernd Berke)

Im Präsentkorb für den „Neuen“ war auch ein schwarzgelber Schal: Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann (li.), der neue Museumsleiter Jens Stöcker (Mi.) und Elke Möllmann, Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen. (Foto: Bernd Berke)

Mit 42 Jahren ist der Vater zweier kleiner Töchter noch relativ jung. Just das war – neben allen fachlichen Qualifikationen – auch gefragt, denn es gilt, in Dortmund einige Langzeitprojekte zu stemmen, wie Kulturdezernent Jörg Stüdemann klarstellte. Dazu brauche es nicht zuletzt langen Atem und Wagemut. Womöglich „teuren Wagemut“, fügte Stüdemann an, der in Personalunion auch Stadtkämmerer ist.

Sammlung in anderem Licht

Besonders die Dauerausstellung zur Stadtgeschichte, so Stüdemann weiter, sei in die Jahre gekommen. Der jetzige Horizont reicht nur bis zur Schwelle der 1960er Jahre, die Abteilung muss also wesentlich ergänzt werden, aber beileibe nicht nur im Sinne einer zeitlichen Anstückelung: Denn es hat sich in den letzten Jahrzehnten Grundlegendes in der Geschichtswissenschaft getan. Das wirkt sich auch auf die Gewichtung älterer Exponate und somit letztlich der gesamten Bestände aus. Sozialhistorische Aspekte bis hin zur Migrationsgeschichte sind immer wichtiger geworden. Beispielsweise. Ergo, mit dem Modewort gesagt: Fürs Museum müsse ein neues „Narrativ“ her, also quasi eine neue Erzählweise.

Dem Populären nicht abgeneigt

Am Vorabend (schmerzliche BVB-Niederlage gegen Klopps FC Liverpool) hatte Jens Stöcker in Dortmund miterlebt, wie sehr hier das Fußballfieber grassiert. Immerhin: Auch in Kaiserslautern ist Kicken keine Nebensache. Dass in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB in Sichtweite des MKK liegt, dürfte ein Ansporn sein. Der neue Mann, der sein Amt im Sommer antreten wird, kann sich durchaus vorstellen, im MKK auch an fußballhistorische Phänomene anzuknüpfen, wie er denn überhaupt dem Populären nicht abgeneigt zu sein scheint.

Stöcker will die Türen des Museums „weit öffnen“ und auch bei subjektiven Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen. So schwebt ihm etwa eine Umfrage vor, die zu einem Stadtplan mit Lieblingsorten der Bürger führen könnte.

„Traumhaft schöne Objekte“

Ansonsten ist es für konkrete Pläne noch zu früh. Stöcker glaubt aber schon jetzt, dass die Neuausrichtung des Museums weit über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregen werde – zunächst wohl vornehmlich in Fachkreisen. Aber vielleicht schlägt sich der Umschwung ja irgendwann auch in einem Besucherplus nieder.

Jens Stöcker fremdelt nicht mit den Medien, er war vor seiner Museumskarriere zeitweise selbst Pressereferent. Überdies beherrscht er den Jargon des Kulturmanagements zwischen „Vernetzung“ und „Modulen“ recht geläufig. Man kann sich vorstellen, dass er – auch in Kooperation mit anderen Museen – einiges in Bewegung setzen wird.

Ein besonderes Augenmerk dürfte auf der besuchernahen Vermittlung liegen, digitale Möglichkeiten inbegriffen. Zudem will Stöcker neue Beziehungen zwischen den Exponaten stiften, ungewohnte Blickachsen und Querbezüge schaffen, zumal auch ein behutsamer Umbau des Hauses auf der Agenda steht. Die Sammlung gebe jedenfalls manches her, sie enthalte „traumhaft schöne Objekte“ und sei weitaus umfangreicher als das pfälzische Pendant in Kaiserslautern.

Vielfalt der Studienfächer

Das Dortmunder Haus mit der repräsentativen Fassade und der charakteristischen Rotunde hat Stöcker schon vor der Stellenausschreibung gekannt und geschätzt, wie er sagt. Der nahezu lexikalischen Vielfalt der Sammlung entspricht ziemlich passgenau die breite Palette seiner Studienfächer. Hauptsächlich hat er sich an der Mainzer Uni mit Kunstgeschichte befasst (Promotion auf kulturanthropologischem Gebiet), als Nebenfächer kamen Mittlere und Neue Geschichte, Volkskunde, Klassische Archäologie und Musikwissenschaft hinzu. Er hätte vielleicht auch als Jazzmusiker (Schwerpunkte Schlagzeug und Klarinette) reüssieren können. Kontrabass spielt er ebenfalls. Klingt doch schon mal gut.

Schwarzgelbe Erdung

Übrigens: Während Stöckers vor einiger Zeit verabschiedeter Vorgänger Wolfgang E. Weick gleichzeitig Chef aller städtischen Museen war, kann sich der Neue ganz aufs MKK konzentrieren. Geschäftsleiterin der Dortmunder Museen ist und bleibt Frau Dr. Dr. Elke Möllmann.

Kulturdezernent Stüdemann überreichte dem künftigen Neu-Dortmunder Stöcker schließlich einen Präsentkorb, der zwischen BVB-Schal, Dortmunder Bier und Pumpernickel symbolträchtige, vorwiegend stadt- und landestypische Schmankerl aus Westfalen enthielt. So ist das hier eben. Ohne schwarzgelbe Erdung geht auf Dauer so gut wie nichts.




Geisterhafte Unwirklichkeit des Materials: Gips-Arbeiten Henry Moores in Wuppertal

Henry Moore: Working Model for Reclining Figure Bone Skirt, 1977. Foto: Henry Moore Foundation

Henry Moore: Working Model for Reclining Figure Bone Skirt, 1977. Foto: Henry Moore Foundation

Henry Moore (1898 bis 1986) ist vor allem durch seine eleganten, expressiven Bronzeplastiken bekannt geworden. Dass er auch Arbeiten in Gips anfertigte und dieses Material am Ende seines Schaffens immer mehr schätzte, ist Kunstfreunden kaum bewusst. Erstmals in Deutschland zeigt der Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal nun eine größere Auswahl von Moores Gips-Skulpturen.

Die empfindlichen Kunstwerke sind mit Unterstützung der Henry Moore Foundation von Großbritannien nach Deutschland gekommen. Dreißig Arbeiten aus drei Jahrzehnten zeigen, wie Moore die eigentlich als Vorstufen für Bronzeskulpturen dienenden Gipsmaquetten allmählich als eigenständige Originale betrachtete, sie nach dem Bronzeguss nachträglich kolorierte oder – etwa durch Reliefierung – weiter bearbeitete. Einige bildhauerische Ideen hat Moore sogar ausschließlich in Gips gestaltet. Diese wenig bekannten Arbeiten sind nicht in das systematische Werkverzeichnis seiner Skulpturen aufgenommen wurden.

Henry Moore: Three Quarter Figure Lines, 1980. (c) Henry Moore Foundation LH 797_037 Max

Henry Moore: Three Quarter Figure Lines, 1980. (c) Henry Moore Foundation LH 797_037 Max

In Wuppertal zeigt sich an den Gipsarbeiten, wie stark die vernarbten Oberflächen, auf denen jede eingeschnittene Linie sichtbar ist, ein Gefühl der Unmittelbarkeit hervorrufen. Moore erklärte dazu in seinem Todesjahr 1986: „Gips besitzt eine geisterhafte Unwirklichkeit im Gegensatz zur soliden Kraft der Bronze.“

Mit Gips fand Moore zu einer vollkommenen Freiheit beim Finden der Form. Er arbeitete mit dem feuchten, formbaren Gips, bearbeitete das ausgehärtete Material dann auch mit Feilen, Meißel, zahnärztlichen Instrumenten oder Alltagsgegenständen wie Käsereiben. Mit einer zurückhaltenden Kolorierung betonte er bisweilen bestimmte Formpartien.

Der Skulpturenpark Waldfrieden gruppiert sich um die gleichnamige Villa, die der Künstler und Architekt Franz Krause im Auftrag des Fabrikanten Kurt Herberts anstelle eines im Krieg zerstörten Baus zwischen 1947 und 1950 realisierte. Das Haus mit seinen einzigartigen organisch anmutenden Formen und das Gelände wurden 2006 vom Bildhauer Tony Cragg erworben. Das Haus ist heute Sitz der Cragg Foundation. Die Dauerausstellung im Park zeigt etwa drei Dutzend bedeutender Plastiken der Moderne und der Gegenwart.

Henry Moore: Three Way Piece No. 1, 1964. Foto: Jonty Wilde

Henry Moore: Three Way Piece No. 1, 1964. Foto: Jonty Wilde

Das Gelände und der Ausstellungsraum sind Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Die Tageskarte kostet 10 Euro (ermäßigt 8 Euro); Studenten zahlen 6 Euro, Schüler und Kinder unter sieben Jahren haben freien Eintritt. Öffentliche Führungen gibt es samstags um 15 und sonntags um 11 Uhr.

Gut zu der laufenden Ausstellung im Skulpturenpark passt ein Besuch der Retrospektive zum Werk des seit 1977 in Wuppertal lebenden Bildhauers Tony Cragg im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, die am 19. April eröffnet und bis 24. August gezeigt wird.

Info: Skulpturenpark Waldfrieden, Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal, Tel.: (0202) 47 89 81 20, www.skulpturenpark-waldfrieden.de

 




Ins Innere der Dinge vordringen – die Wuppertaler Werkschau des Tony Cragg

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Eine dermaßen weit ausgreifende Einzelausstellung hat es im Wuppertaler Von der Heydt-Museum noch nie gegeben: Für diesen Künstler hat Museumschef Gerhard Finckh gleich alle drei Etagen des Hauses freiräumen lassen. Der 1949 in Liverpool geborene Bildhauer Tony Cragg, so Finckh, sei ein „Weltstar“ der Kunst. Noch dazu lebt der Brite seit den 1970er Jahren in Wuppertal.

Nun also richtet ihm seine Wahlheimat die erste umfassende Retrospektive aus – und nicht etwa London oder Paris. Gar üppig, ja geradezu ausufernd füllt skulpturale Formenvielfalt mitsamt begleitenden Arbeiten 26 Räume. Cragg und sein 20köpfiges Team haben die aufwendige Aufstellung weitgehend selbst besorgt. Rund 120 dreidimensionale Arbeiten, manche um die 800 Kilogramm schwer, breiten sich jetzt aus, dazu Fotografien und Zeichnungen. Hier ist tatsächlich ein facettenreiches Lebenswerk zu besichtigen.

Tony Cragg: "Castor & Pollux", 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Castor & Pollux“, 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg, der auf dem Titel des schwergewichtigen Katalogs korrekt mit vollem Namen Anthony Cragg heißt, hat wahrlich seine großen Meriten. Er ist Träger so renommierter Auszeichnungen wie Turner-Preis und Praemium Imperiale, auch war er (bis 2013) Rektor der weltweit geachteten Kunstakademie in Düsseldorf. Die Liste der Verdienste und Ehrungen ließe sich länglich fortführen.

Mit Vorgefundenem und Vorhandenem, vorzugsweise mit „ärmlichem“ Material hat es in aller Bescheidenheit begonnen. Craggs frühe Fotos im Geiste des Minimalismus und der Land Art hängen am Beginn der Schau, gruppiert um ein imposantes Stapel-Kunstwerk, das so etwas wie eine schichtenhafte „Geologie der Dinge“ vor Augen führt.

Tony Cragg: "Secretions", 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank - © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Tony Cragg: „Secretions“, 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank – © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Nach und nach hat Cragg dann die vielfältigen Möglichkeiten und Eigenarten so mancher Stofflichkeiten von Glas bis Holz, Metall und Plastik erkundet. Jedes Material verlangt eine andere Herangehensweise, einen anderen Prozess. Vielfach gibt es – nicht nur mit Glas – zunächst Bruch und Chaos, bevor schließlich die angestrebte Form entsteht.

Wenn man erlebt, wie nervös und ruhelos, aber vor allem ständig inspiriert Tony Cragg zwischen seinen Schöpfungen erläuternd hin und her geht, erahnt man sein demiurgisches Wesen, das sich so viele Formen und Materialien bezwingend anverwandelt. „Abenteuer mit dem Material“ nennt er das und man darf wohl glauben, dass es dabei aufregend zugeht.

Tony Cragg: "Versus", 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Versus“, 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Schöner noch: Mit britischem Humor und feinsinnigem Understatement weiß er einem seine Kunst auf sympathische Weise nahezubringen. Schlecht habe er übrigens in den letzten Tagen geschlafen, denn gerade diese Ausstellung am Wohnort müsse besonders gelingen. Er wolle auch künftig ohne Gewissensbisse durch Wuppertal gehen…

1966-68, noch vor seinen Kunststudien, hat Cragg als junger Mann zeitweise als Techniker in einem Chemielabor gearbeitet. Vielleicht hat ihn diese Erfahrung dazu gebracht, gleichsam ins verborgene Innere der Dinge vordringen zu wollen, um möglichst sichtbar zu machen, was die Welt im Innersten zusammenhält oder auch antreibt? Die Wissbegier reicht sozusagen bis hinab zur molekularen Ebene. „Parts oft the World“ (Teile der Welt) heißt ja auch die ganze Schau.

Tony Cragg: "Making Sense", 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Making Sense“, 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Doch die Wissenschaften, so Craggs Überzeugung, tragen zwar zahllose Erkenntnisse zusammen, die allerdings emotional blass bleiben und einen nicht ergreifen. Erst die Künste verwandelten ihren Gehalt in spürbare Emotionen. In einer Zeit, in der sich die Welt mit theoretischen Konstrukten anfüllt, begreift er ein umfassendes Sichtbarmachen offenbar als seine Mission.

Und so wirken etliche seiner Werke einerseits, als basierten sie auf minutiösen Form-Analysen, die dann freilich wieder zur Synthese gelangt sind und jeweils ein (vielfältiges) Ganzes ergeben, um das man staunend herumgeht, immer neue Aspekte wahrnehmend. Diese Art der Bildhauerei erweist sich – durch die Jahrzehnte hindurch – als ständige Erfindung ungeahnt neuer Formen. Damit entstünden auch neue Begriffe und neue Freiheiten, sagt der Künstler selbst.

Tony Cragg: "Runner", 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Runner“, 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Faszinierend ist es zu sehen, wie zunächst abstrakt anmutende, beispielsweise wirbelsäulenförmige Figurationen, auf frappante Weise lebendige Körperlichkeit enthalten und vitale Zeitabläufe energiereich „speichern“. Diese Arbeiten oszillieren zwischen organischen und geometrischen Impulsen. Ein spannender Widerstreit.

Oft ist es, als seien Dinge und Körper zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder anders gewendet, besehen und geformt worden, so dass sie schließlich gar nicht mehr recht zu fassen sind. Herkunft verpflichtet: Auch eine überdimensionale Teekanne hat der Brite auf solche Art gestaltet, indem er simultan verschiedenste Ansichten derselben vorführt.

Neuerdings bedient sich Cragg auch der Möglichkeiten des Computer Aided Design (CAD), doch wird er seine schier unendlichen Formfindungen gewiss nicht von digitaler Technik beherrschen lassen. Dazu hat er wohl einfach zu viele Phantasien im Kopf und im Herzen, die ihn zum (un)steten Schaffen drängen. Der Computer bleibt Hilfsmittel.

Die Werkgruppen, die in Wuppertal präsentiert werden, reichen bis hin zu neuesten, bisher noch nicht gezeigten Skulpturen. Selbstverständlich hat sich im Laufe der Jahre manches entwickelt, was anfangs noch nicht da war. Doch gerade im Rückblick zeigt sich, dass sich dieses Lebenswerk wie ein Baum verzweigt hat und auch immer wieder zum Angestammten zurückkehrt.

Tony Cragg: „Parts oft he World“ – Retrospektive. 19. April bis 14. August 2016 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Fronleichnam geöffnet, 1. Mai und Pfingstmontag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 38 Euro, DVD 15 Euro. Internet: www.tonycragg-ausstellung.de




„Carmen“ auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova mag’s unterhaltsam im Konzerthaus Dortmund

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist "Junge Wilde" im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Ksenija Sidorova ist eine Virtuosin auf ihrem Instrument. Die flinken Finger finden sicher ihren Weg – technisches Können paart sich mit großer Leidenschaft. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für eindrucksvolles Klangfarbenspiel. Die Passion der lettischen Solistin gilt dem Akkordeon.

Im Konzerthaus Dortmund hat sie nun als „Junge Wilde“ virtuos für dieses Instrument Partei ergriffen – einerseits, denn andererseits sind die „Carmen“-Arrangements, die sie mit einem fünfköpfigen Ensemble offeriert, heftig ins seichte Unterhaltungsfach abgerutscht. Zu wenig ist das für ein ernst gemeintes „Projekt“, wie sie dieses Konzert selbst beschreibt.

„Junge Wilde“: Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, ist längst zu Publikums Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert). Es bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Sie dürfen ungewöhnliche Programme im Gepäck haben, oder eben auch, wie Ksenija Sidorova, Instrumente, die nicht gerade zum klassischen Kanon gehören. Die Zuhörer sind allemal dankbar für Überraschungen und besondere Formate. Dass etwa die Solistin den Abend in englischer Sprache moderiert, mag ein Bruch mit den eingefahrenen Regeln des Konzertbetriebs sein. Gleichwohl werden die verbindenden Worte wohlwollend goutiert.

Alles beginnt mit der Malagueña des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona, ein nicht ganz unbekanntes Stück, das schon der Pianist Arcadi Volodos wirkmächtig in die Klaviertasten gegerbt hat. Sidorova setzt indes nicht auf virtuoses Muskelspiel, sondern vielmehr auf kantable wie rhythmische Gestaltung dieses spanischen Volkstanzes. Und präsentiert uns damit gewissermaßen das Rohmaterial dessen, was sich in Georges Bizets „Carmen“ in stilisierter Form wiederfindet. Gegenüberstellungen dieser Art, in stetem Wechsel, wären gewiss reizvoll gewesen. Doch das, was Sidorova und ihre Mitstreiter als Improvisationen benennen, sind überwiegend nur schlappe Potpourris.

Hinzu kommt, dass Alejandro Loguercio (Violine) keinen großen Ton ins Spiel bringen kann, während Michael Abramovich (Klavier) sich oft zu sehr in den Vordergrund musiziert und Reentko Dirks (Gitarre) im Ensemble eher untergeht. Ja selbst das Akkordeon bleibt bisweilen blass. Immerhin setzt Roberto Koch am Bass gewichtige Fundamente, schafft Itamar Doari hier und da perkussiven Klangzauber. Weit besser, authentischer als alle Bizet-Ableitungen klingen ohnehin die eingestreuten Stücke Astor Piazzollas. Sehr atmosphärisch etwa des Komponisten „Café 1920“ für Violine, Akkordeon und Bass.

Insgesamt ein eher unbefriedigender Abend, weil’s richtig wild und rhythmisch zupackend, munter und nachgerade parodistisch erst mit der Zugabe wird: Wenn das Ensemble durch das Torero-Lied aus „Carmen“ jagt, dieser aufgeblasene Opernmacho also gewissermaßen als Schaumschläger dargestellt wird, ist der brausende Beifall des Publikums wirklich verdient.




Start mit Gluck – Intendant Johan Simons stellt das Programm der RuhrTriennale 2016 vor

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Auf Zeche Zollern erklingt zumindest an einem Abend Triennale-Musik – allerdings nicht im abgebildeten Verwaltungsgebäude, sondern in der (unsichtbar) dahinter liegenden berühmten und frisch renovierten Jugendstil-Maschinenhalle (Foto: Ruhrtriennale/LWL Hudemann)

Christoph Willibald Gluck macht den Anfang, es folgen Albert Camus, Emile Zola und viele andere. Johan Simons hat das Programm seiner zweiten Ruhrtriennale (12. August bis 24. September 2016) vorgestellt, die an etlichen ehemaligen (oder noch aktiven) Industriestandorten des Ruhrgebiets stattfinden soll. Nach langer Pause ist auch Dortmund wieder mit Spielstätten vertreten, dem Hafen und (endlich!) der renovierten Maschinenhalle von Zeche Zollern in Bövinghausen. Hier ein paar Fakten:

Beginn in der Jahrhunderthalle

Große Auftakt-Produktion ist Glucks Reformoper „Alceste“ in der Bochumer Jahrhunderthalle. Simons hat sie, wie wir den sorgfältig zusammengestellten Presseunterlagen entnehmen können, „neu inszeniert und stellt Fragen nach Opferbereitschaft, Mut und Demut“. Der belgische Dirigent René Jacobs steht am Pult, leitet das B’Rock Orchestra und den MusicAeterna-Chor aus Perm.

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René Jacobs dirigiert die Eröffnungsproduktion „Alceste“ (Foto: Ruhrtriennale/ Molina-Visuals)

Drei Wochen später startet die zweite große Musikproduktion, wiederum unter Simons’ Leitung. Das Werk heißt „Die Fremden“ und ist eine musikalische Bühnenadaption des Romans „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud. Daouds Roman wiederum ist eine (etwas späte) Antwort auf den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus, in dem der scheinbar grundlose Mord an einem namenlos bleibenden Araber eine zentrale Rolle spielt. Der Mord, ist zu erfahren, war nicht nur tödlich, sondern seine Beschreibung auch rassistisch, was Daoud zur Gegendarstellung bewegte.

Jetzt auch Auguste Victoria

Die Inszenierung hinterfragt menschliches Dasein in einer gottverlassenen Welt, fragt nach den Werten, die unsere Kulturen bestimmen, und läßt bei alledem Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel hören. Da wage ich die Prognose, daß dies kein leichter Abend wird – aber ein spannender. Ein hoffentlich auch bereichernder. Spielort übrigens ist erstmalig die Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl, die erst vor kurzem stillgelegt wurde. Reinbert de Leeuw leitet das Asko/Schönberg Ensemble.

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Ein Bau von einschüchternder Größe: Die Marler Kohlenmischanlage, wo „Der Fremde“ gespielt wird (Foto: Ruhrtriennale/RAG Montan Immobilien GmbH)

In der Abteilung „Musik“ sticht das Projekt „Carré“ ins Auge, bei dem Bochumer Symphoniker und ChorWerk Ruhr, auf jeweils vier Gruppen verteilt, Musik von Karlheinz Stockhausen sozusagen dezentral zum Klingen bringen. Eigentlich geht das nirgendwo, aber in der Jahrhunderthalle eben doch.

Ebenfalls bemerkenswert: „Répons“, das „Raummusik-Meisterwerk“ des Komponisten Pierre Boulez, das im Landschaftspark Duisburg Nord vom Ensemble Inter-Contemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher gegeben wird.

Fortsetzungen: Zola und Couperus

Im Bereich „Schauspiel“ werden Fortsetzungen angekündigt. Luc Perceval wandelt weiterhin auf Emile Zolas Spuren und bringt „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ auf die Bühne. Ivo van Hove inszeniert „Die Dinge, die vorübergehen“ von Louis Couperus, eine Art Familienthriller. Wie auch im letzten Jahr, als das Couperus-Stück „Die stille Kraft“ im steten Tropenregen das Scheitern des Kolonialismus am Beispiel eines Verwaltungsbeamten und seiner Familie schilderte, umkreist Couperus das, was falsch ist an der Besitznahme ferner Länder durch sein Land.

Liebe. Trilogie meiner Familie 2 nach Émile Zola Regie Luk Perceval Bühne Annette Kurz Kostüme Ilse Vandenbussche Musik Lothar Müller Licht Mark Van Denesse Dramaturgie Susanne Meister Jeroen Versteele Darsteller Patrick Bartsch (Goujet) Stephan Bissmeier (Dr. Pascal) Pascal Houdus (Dr. Ramond) Marie Jung (Clotilde) Barbara Nüsse (Felicité; Frau Lorillieux; Leichenbesorger; Mme Goujet) Sebastian Rudolph (Lantier) Gabriela Maria Schmeide (Gervaise) Maja Schöne (Nana) Rafael Stachowiak (Jacques Lantier) Oda Thormeyer (Martine) Tilo Werner (Coupeau) Patrycia Ziolkowska (Clémence) Copyright by Armin Smailovic Gravelottestrasse 3                               D- 81667 Muenchen         Commerzbank Muenchen   Kto. 682038400 Blz. 70080000   Veröffentlichung honorarpflichtig! Umsatzsteuersatz 7% Steuernummer 146/198/60102  FA München

Das ist jetzt ein Symbolfoto zu „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ (Foto: Ruhrtriennale/ Armin-Smailovic)

Es gäbe der Projekte viele, viele mehr zu nennen, doch soll dies ja nur ein erster Eindruck sein.

Im Dortmunder Hafen, um darauf zurückzukommen, ist die neue Arbeit von „osa_office for subversive architecture“ zu bestaunen und auch zu benutzen. Konkret handelt es sich um einen zehn Tonnen schweren Container in der Farbe Pink, der in eine real existierende Bearbeitungshalle für Stahlprodukte gekrant wird. Dabei dürfen um die 20 Besucher „an Bord“ („an Container“?) sein, bestimmt ein unvergeßliches Erlebnis.

Endlich in der Maschinenhalle von Zeche Zollern

Die Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund schließlich ist am 17. August Ort des Konzerts „Spem in alium“, benannt nach einer Motette Thomas Tallis’. An diesem Abend wird es experimentell, mit Musik von Henry Purcell, Alfred Schnittke, György Ligeti und eben Tallis. Vitaly Polonsky dirigiert den Chor MusicAeterna, der aus dem russichen Perm zur Ruhrtriennale gestoßen ist.

So, hier soll es einstweilen sein Bewenden haben. Natürlich könnte man über das Ruhrtriennale-Programm noch unendlich viel mehr schreiben, doch würde es bald unübersichtlich und sicherlich auch langweilig. Auf den Internet-Seiten des Festivals können Interessierte sich orientieren und Karten kaufen. Noch gibt es 15 Prozent Frühbucherrabatt.

www. ruhrtriennale.de




Satire ohne Biss: Paul Linckes Milljöh-Operette „Frau Luna“ in Mönchengladbach

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes „Frau Luna“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Kein Zweifel: Die Panneckes und Pusebachs sind in der Jetztzeit angekommen. Die wilhelminische Nostalgie des alten „Spree-Athen“ von Paul Linckes unsterblichem Operettenschlager „Frau Luna“ schrumpft in der neuen Inszenierung am Theater Krefeld-Mönchengladbach auf eine hübsch auf alt getrimmte Kneipe. Im Hintergrund aber recken sich die endlosen Fensterreihen und Satellitenschüsseln Berliner Hochhaussiedlungen. Das „Milljöh“ von damals, das sind heute die Hartzer, Kleinrentner und zwischen fehlendem Schulabschluss und aussichtloser Stellensuche gestrandeten Jugendlichen.

Regisseur Ansgar Weigner hat gemeinsam mit Carsten Süß den Text von Heinz Bolten-Baeckers für seine Sicht auf „Frau Luna“ gründlich revidiert. Fritz Steppke, der pfiffige Berliner Mechaniker, baut keinen Mondballon mehr; die Technik-Begeisterung von 1899 ist der Frage nach einer politischen Option gewichen: Steppke hat eine idealistische Bewegung für „Jerechtigkeit (!) und Liebe zwischen den Menschen“ gegründet. Hat er damit eine Chance? Gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Operetten-Unterschicht?

Die Antwort ist dieselbe wie 1899: Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, und um im Glück sich einzurichten, hat man auf der Erde Platz – sprich, im Kuschelbett mit seinem Mädchen.

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen "Theophil" nach. Foto: Matthias Stutte

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen „Theophil“ nach. Foto: Matthias Stutte

Das ist die gründerzeitliche Stillhalte-Botschaft, die Linckes Operette wohl schon 1899 – und nicht erst in der opulenten Revue-Fassung von 1922 – verbreitet hat. Für den Kleinbürger der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es sich einfach nicht, nach glamourösen Sphären zu streben. Er sollte brav und bescheiden in Laube, Werkstatt und möbliertem Zimmer hausen. Dort ist es am schönsten, so redet Madame Operette dem einfachen Manne ein, der sich an ihrem musikalischen Busen, damals im Apollo-Garten, für zwei Stündchen burlesk und phantastisch der harten Realität der expandierenden Reichshauptstadt Berlin entheben ließ.

Und heute? Bei Weigner klingt das so: „Inne Politik jehn, so wat macht ma nich, so wat träumt ma höchstens“. Eine seltsame Botschaft in einer entwickelten Demokratie. Seine Operetten-Moral am Ende lautet: Der Kiez ist unsere Welt. Und die sollen wir in Ordnung halten durch individuelles Engagement. Jeder, so gut er kann.

Das ist wohl eine ehrenwerte, aber ziemlich unpolitisch gedachte Individualmoral. Ein Rückzug vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Spielplatz aufräumen statt TTIP bekämpfen. Nicht unbedingt eine adäquate Reaktion auf das tatsächlichen Problem in Deutschland, dass gesellschaftliche Schichten immer undurchlässiger werden. Die Operette war stets ambivalent: Sie bestätigte den Status ihrer Zuschauer, hebelte ihn aber auch lustvoll satirisch aus. In dieser „Frau Luna“ im Theater in Rheydt blieb die – angezielte – Satire freilich ohne Biss.

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aus der mit freundlich eingefärbten Betonfertigbauteilen tapezierten Bühne von Jürgen Kirner träumt sich Steppke in eine „Mond“-Welt, eine Mischung aus Raumschiff Orion und Bundeskanzleramt. Die Erdkugel entschwebt zum Ohrwurm des „Glühwürmchen“-Idylls; sichtbar werden die Reichstagskuppel und ein Rudel futuristischer Putzfeen mit Staubwedel und Stirnlicht.

Doch Weltraum-Fantasy ist nicht angezielt, sondern eher Neureichen-Avantgarde. Die opulente Freitreppe signalisiert: Hier läuft die Show. Und was „da oben“ gespielt wird, um „den Wähler“ klein zu halten, ist nicht mehr als hohle Polit-Inszenierung. Allen voran Frau Luna als Übermutti in einem hemmungslos übersteigerten Gold-Kostüm von Marlis Knoblauch, dazu die weißen Roben, Fräcke und Uniformen wie aus der alten Fernseh-Samstagabendrevue. Und ein grotesker, sechsarmiger Theophil, der Allround-Manager des lunaren Tollhauses, bei Matthias Wippich gut aufgehoben – so ganz ohne fantastische Elemente kommt selbst Weigners Konzept nicht aus.

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Das ist alles hübsch anzuschauen, doch weder der Satire noch dem Humor besonders förderlich. Selbst eine Frau Venus – Amelie Müller in koketten rosa Dessous – agiert zu betulich, um den braven Erdenbürgern den Herzschlag erotisch zu beschleunigen.

Die Szene, in der Steppke der Göttin des Mondes seine politischen Reformpläne erläutern will, während die nur auf seine vermuteten männlichen Qualitäten erpicht ist, wirkt wie braver Sozialkundeunterricht: Knisternde Spannung oder die naheliegende Enttäuschung des eifrigen politischen Missionars? Fehlanzeige. Wenigstens rettet Markus Heinrich durch agiles Spiel und ebenso beweglichen Tenor seine Figur vor der totalen Verblassung, während Debra Hays den Facetten der Frau Luna zwischen mondän, berechnend und ein wenig liebestoll zu viel Reserve entgegenbringt.

Im Quintett der mondfahrenden Erdlinge schießt Kerstin Brix den Vogel ab: Frau Pusebach ist in ihrem Fall eine schnoddrige Schnauze, die ohne Sentimentalität ihren verflossenen Theophil wiedererkennt, dessen Verlust sie mit Kittelschürze und dem herrlich verqueren Quäken einer erfahrenen Diseuse bereits auf Erden beklagt hat. Rafael Bruck gewinnt der Figur des Lämmermeier – in diesem Fall ein „freigestellter Deutschlehrer in ewigem Krankenstand“ – kaum Konturen ab; auch Haik Dèinyan hat wenig Chancen, aus seinem Pannecke mehr als einen angestaubt freundlichen älteren Herrn zu machen. Susanne Seefing mit Camouflagehose und Spaghettihaaren macht es ihrem Fritz leicht, den politischen Traum für das Nest unter nackter Glühbirne draufzugeben: Sie ist eine sanfte, anschmiegsame Mieze.

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Die herrlich auf die Spitze getriebenen Kostüme des Prinzen Sternschnuppe – Michael Siemon als Operettengeneral – und des aufgeblasenen Mars von Shinyoung Yen täuschen nicht darüber hinweg, dass auch den Mondbewohnern die Profilierung abgeht, die sie zu komischen oder wenigstens markanten Charakteren im Rahmen des Genres geformt hätte. Nur Gabriela Kuhn zeigt als nassforsche Stella, wie zynisch der „Betrieb“ auf dem Mond machen kann. Musikalisch bleiben die Niederrheinischen Sinfoniker den mal idyllischen, mal lustvoll-simpel gradlinigen Melodie-Erfindungen des „feinen Paule“ nichts schuldig, zumal sie in einer gut ausbalancierten Streicher-Bläser-Besetzung spielen.

Alexander Steinitz lässt den luftigen Amüsiernummern ihre Würde, ihren Charme und ihre Würze, meidet allzu trivialen Schmiss ebenso wie triefendes Sentiment. Der Chor ist auf Zack, lässt sich beim himmlischen Reinemachen nicht aus dem spitzen Offenbach-Rhythmus bringen. Wenn im Finale dann die „Berliner Luft“ dröhnt, ist das lastende politische Gedünst verpufft; was bleibt, ist der unverwehbare Duft der Berliner Operette, deren rauer Charme auch dem Optimierungswahn der Bearbeiter von heute widersteht.

Nächste Vorstellungen: 22./24. April, 17./21. Mai. Karten: Tel. (02166) 61 51 100 oder www.theater-kr-mg.de




Bonus für Euch: Auch heute wieder ohne Kommentar zur „Causa Böhmermann“!

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(Foto: BB)

(Foto: BB)

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In des Königs Wunderkammer – Objekte aus der Sammlung Olbricht im Museum Folkwang

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In der Tat: Der Helm aus Vitrinen ist einem Motorradhelm nachempfunden. (Foto: Museum Folkwang, Courtesy of the Artists and Ivorypress)

Wo beginnen? Der raumgreifende „Helm“, den das kubanische Künstlerduo Los Carpinteros (die Zimmerleute) 2014 extra für das Museum Folkwang geschaffen hat, besteht aus 192 verglasten Waben, jede mithin eine Ausstellungsvitrine. Es gibt Vitrinen auf Bodenniveau, in Knie-, Brust- und Augenhöhe und auch ganz oben, in vier, fünf Metern. Alle buhlen sie um die Aufmerksamkeit des Betrachters, fein beleuchtet und mit gut 400 Objekten reich bestückt. Es macht wenig Sinn, sie von links nach rechts oder von oben nach unten „lesen“ zu wollen. Sinnzusammenhänge des Ausgestellten stellen sich, wenn überhaupt, anders dar.

Bunte Mischung

Zu sehen gibt es „Gediegenes und Kurioses“ aus den reichen Beständen des Sammlers Thomas Olbricht. Und der Titel der Schau ist ziemlich wörtlich zu nehmen, die Liste der Exponate reicht vom Kugelfisch über afrikanische Masken und eine gruselig-bunte Totenschädelplastik der Chapman-Brüder zu entzückenden Kopfvasen aus den 50ern, Korallenbäumen und dramatisch gewundenen Bonsai-Stämmchen, Vogelpräparaten, einem leidenden Jesuskopf aus dem 18. Jahrhundert und der Skulptur eines stromlinienförmigen Mataré-Rinds aus den 20er Jahren. Womit beileibe nicht alles aufgezählt wäre. Eine Vitrine zum Beispiel beherbergt das Technische Hilfswerk (THW), das mit einer stattlichen Anzahl von Wiking-Modellautos angerückt ist, eine zweite amerikanische Straßenkreuzermodelle aus Blech, eine dritte Jubiläumseditionen edler Märklin-Modelleisenbahnlokomotiven, samt Originalverpackung. Und so fort.

Mit Modellautos fing es an

Spätestens jetzt mag sich der eine oder andere daran erinnern, daß schon die letzte Ausstellung im „alten“ Essener Museum Folkwang, bevor es umgebaut wurde, Teile der Sammlung Olbricht zeigte, damals aber mehr „richtige“ Kunst, die Stücke waren überwiegend auch größer. Jedoch gab es auch damals schon einige Vitrinen mit Modellautos, denn mit denen hat Olbricht das Sammeln begonnen. Das erwähnt er gern. Übrigens war Hartwig Fischer damals noch der Direktor des Hauses. Bekanntlich machte er mittlerweile eine steile Karriere und ist nun in London Chef des British Museum.

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Gruselig: „Famine“ von Jake und Dinos Chapman (2004), Bronze und Kunststoff, bemalt, 16 x 25 x 21 cm (Foto: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Friedrich Rosenstiehl, Köln)

Zurück zum Essener Helm, der zu anderen Zeiten andere Objekte, vorzugsweise aus Folkwang-Beständen, zeigt. Ihm zugesellt hat Olbricht einige große Tierpräparate (Giraffe, Leopard und weißen Pfau), die, der Sammler legt Wert darauf, selbstverständlich völlig legal und (sozusagen) umweltgerecht erworben wurden. Die Giraffe entstammt einer Sammlung des 19. Jahrhunderts, die anderen beiden sind Präparate von dahingeschiedenen Zirkustieren.

Verbindendes

Von Los Carpinteros sind einige Architekturmodelle und Zeichnungen zu sehen, an den Wänden hängen quadratmetergroße, naiv-chiffrenhafte Darstellungen von monarchischen Prunkzügen, „The Coronation of the Usurper“ heißt eine von ihnen, „The King’s Woman“ eine andere. Geschaffen hat sie der Chinese Ouyang Chun, ausgeführt sind sie in Öl und Goldbronze auf Leinwand, und davon abgesehen verbindet sie mit der anderen gezeigten Kunst kaum mehr als der Umstand, daß Thomas Olbricht sie mag.

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Ebenfalls vitrinenwürdig: Cadillac-Model, 20. Jahrhundert, Blech, lackiert, verchromte Zierteile, Schwungradantrieb, Länge ca. 31 cm (Foto: Museum Folkwang, Jana Ebert, Berlin)

Oberbegriffe? Thematische Klammern? „Vanitas“-Motiv wie auch das biblisch-barocke „Memento Mori“ seien in vielen Exponaten gegenwärtig, sagt Olbricht. Realisiere man dies, so würden Bezüge manchmal klarer, die sich durch die Nachbarschaft der Dinge ergäben. Wohl wahr. Trotzdem bleibt ein Großteil der Präsentation im Helm willkürlich, rätselhaft, systematisch nicht zu fassen.

Ein reicher Mann

Helm und umgebende Exponate stehen in der Tradition der Wunderkammern absoluter Monarchen, die Freude an schönen, seltenen, kostbaren, wertvollen, auf jeden Fall exzentrischen Dingen fanden. Der Sammler Olbricht könnte sich da einreihen, zum Geldadel zählt er sowieso. Das „Manager Magazin“ schätzt sein Vermögen auf 850 Millionen Euro (Quelle: Wikipedia) und sieht ihn auf Platz 138 der deutschen Reichenliste (Stand 2013). Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, daß Olbricht als Chemiker, Arzt und ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzend der Wella AG beruflich sehr erfolgreich war und seinen Hang zur Kunst nicht mit Ererbtem finanzieren mußte.

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Giraffenkopf, undatiert, Präparat, 230 x 60 x 110 cm (Foto: Museum Folkwang, Jana Ebert, Berlin) Download

Als was nun also sieht er sich? Allein als Bewunderer und Erhalter irdischer Vielfalt und Schönheit, oder auch als Selbstdarsteller? Olbricht lacht. „Ich bin der Generalkünstler“, antwortet er, solcherart befragt. Etwas anderes hätte man ihm auch nicht abgenommen.

Schwimmende Schätze

Da nun aber, Spaß beiseite, in den fürstlichen Wunderkammern sozusagen die Wiege des modernen Museumsbetriebs stand (der heute zwischen Kunst und Kunstgewerbe, Natur, Technik Wissenschaften und so weiter streng unterscheidet), mögen sie nach wie vor dazu taugen, junge Menschen für Kunst, Schönheit, Ästhetik und was der Werte mehr sind zu begeistern. Deshalb läßt Olbricht Ende April im Brandenburgischen eine schwimmende Wunderkammer in See stechen („in Kanal stechen“ wäre genauer, existiert als Begriff aber nicht), die den Schulunterricht bereichern soll.

Wer schließlich mehr von des Sammlers Sammlungen sehen will, findet es in seinem Privatmuseum: „me Collectors Room“ in der Auguststraße in Berlin.

  • „Gediegenes und Kurioses – Los Carpinteros, Ouyang Chun und Lieblingsstücke aus der Sammlung Olbricht“
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen – www.museum-folkwang.de
  • Bis 16. Mai 2016
  • Geöffnet Di, Mi 10-18 Uhr, Do, Fr 10-20 Uhr, Sa, So 10-18 Uhr.
  • 1. Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Pfingstmontag, Fronleichnam geöffnet.
  • Der Eintritt ist frei

 

 




Auf der Suche nach den lustigen Momenten – „Faust“ am Westfälischen Landestheater

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Ein leidender Faust, ein lauernder Mephisto: Bülent Özdil (links) und Guido Thurk bei den Proben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Bunt, wie Andy Warhol es einst malte, beherrscht ein riesiges Portrait das Bühnenbild: Johann Wolfgang von Goethe, Schöpfer des „Faust“, deutsche Dichterikone. Auch die Figuren des Stücks, bunt gekleidet in farbenfroher Kulisse, haben optisch ihre Individualität verloren und somit einen gewissen Ikonencharakter angenommen. Und im Spiegel sieht Gretchen späterhin statt ihres Gesichts eine Warhol-Marilyn, Inbegriff der Pop-Ikone.

Wir sollen, ahnt man früh, bar allen Beiwerks so etwas wie die Essenz des Stoffs erleben. Knappe zwei Stunden braucht Gert Becker (Regie) für seine „Faust“-Inszenierung am Westfälischen Landestheater. Das ist knapp bemessen, da darf nicht gebummelt werden. Positiver Effekt für das Publikum, das sei schon hier verraten: Langweilig wird diese Inszenierung zu keiner Minute.

Spruchweisheiten

In Castrop-Rauxel redet das faustische Personal noch getreulich in des Dichters Versen, nur hier und da wird mal ein aktuelles Halbsätzchen eingestreut. Doch da der Text passagenweise rigoros zusammengestrichen wurde, klingt das häufig wie die plumpe Reihung abgenutzter Spruchweisheiten. Goethe wurde halt gern zitiert. Einige Szenen fehlen ganz, etwa die in Auerbachs Keller. Doch Becker, ist zu lesen, wollte sich ganz auf Teufelspakt und Gretchen-Tragödie fokussieren und „die komischen Momente“ auf die Bühne bringen, die er im Stück in reicher Zahl erkennt. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das dem Stoff möglicherweise nicht ganz gerecht wird.

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Proben, Ensembleszene (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Zum Teil aber schon: Mephisto, stets auf der Suche nach waidwunder Seelen-Beute, verführt den unglücklichen Intellektuellen Faust nach Strich und Faden, und es ist ein großes Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Guido Thurk, im roten Anzug, brilliert in der Rolle des Teuflischen, verwirrt mit Schmeicheleien und entwaffnender Ehrlichkeit, ist heimliche Hauptfigur dieses Theaterabends, auch wenn er der Versuchung widersteht, die ebenfalls untadelig aufspielenden Bülent Özdil (Faust) und Samira Hempel (Gretchen) „an die Wand zu spielen“. Der Mephisto ist eben eine sehr dankbare Rolle, wie es seit Gustaf Gründgens viele weitere Schauspielkünstler gezeigt haben.

Gretchens Schicksal ist nicht komisch

Etwas problematischer, um auf die „komischen Momente des Stücks“ zurückzukommen, ist sicher das Schicksal Gretchens. Faust verführt sie, schwängert sie, lässt sie dann sitzen und bestätigt so, Mephisto hin oder her, das Motto „Männer sind Schweine“. Dass Gretchen, deren ehrliche Schlichtheit Faust zunächst betörte und die er gern „mein Kind“ nannte, in der Folge zur verzweifelten Kindsmörderin wird, ist nachvollziehbar und beim besten Willen kein komischer Moment. Auch wenn man, was Becker hier offenbar versucht, den „Faust“ als so etwas wie eine Abfolge von Ereignis-Ikonen liest, wird dieser tragische Handlungsstrang nicht lustiger. Doch mag das Publikum dies diskutieren; die klare Erzählstruktur der Inszenierung lädt dazu ein.

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Vom Teufel geritten – Faust (Bülent Özdil) und Mephisto (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Elke Königs schnörkellose Bühne, deren gedämpfter Apricot-Farbton die bunten Kostüme der Mitwirkenden sehr schön hervortreten lässt, ist erkennbar eine für das Tourneetheater, schnell auf Lastwagen verpackt und schnell aufgebaut. Die häufigen Auf- und Abtritte der Personen erfolgen durch zwei große, elektrisch angetriebene Schiebetüren in der Kulissenhinterwand, und wie dort mit geringstem Aufwand, mit farbigem Licht und etwas Nebel im besten Sinne Stimmung geschaffen wird, beeindruckt; vielleicht allerdings hätte es dem Fluss des Spiels zumal nach der Pause gutgetan, die Zahl der Personenwechsel etwas zu reduzieren.

Großartiges Komödiantentum

An den wohl heitersten Teilen dieses Abends hat Vesna Buljevic in der Rolle der Marte ihren nicht geringen Anteil; wie sie, die rüstige Witwe, sich Mephisto an den Hals wirft, dass diesem Angst und bange wird, um im nächsten Moment recht tugendsam die Augen zu senken, das ist großartiges Komödiantentum. Doch auch die anderen gefallen: Thomas Zimmer, Pia Seifert, Thomas Tiberius Meikl und Felix Sommer liefern eine homogene Ensembleleistung ab, mit der sich das Westfälische Landestheater allemal sehen lassen kann.

Reicher, begeisterter Schlussapplaus.

www.westfaelisches-landestheater.de

Weitere Termine:

  • 12.05.2016 19.00h Meinerzhagen Stadthalle
  • 25.10.2016 19.30h Hamm Kurhaus
  • 28.10.2016 11.00h Hattingen Gebläsehalle des Industriemuseums
  • 15.11.2016 20.00h Ratingen Stadttheater
  • 17.11.2016 19.30h Lüdenscheid Kulturhaus
  • 22.11.2016 9.00h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 22.11.2016 13.30h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 25.11.2016 20.00h Wetzlar Stadthalle
  • 13.12.2016 19.00h Iserlohn Parktheater
  • 15.12.2016 19.30h Rheine Stadthalle
  • 26.01.2017 20.00h Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 08.02.2017 19.30h Solingen Theater und Konzerthaus
  • 22.05.2017 10.00h Castrop-Rauxel Studio
  • 22.05.2017 14.00h Castrop-Rauxel Studio



Ein wenig Theater mit jungen Migranten – „Grubengold“ im Bochumer Prinzregenttheater

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„Grubengold“ – das Ensemble. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

„Grubengold“: Das Wort lässt an die Kohle denken und an die Menschen, die sie aus der Grube holten. Im gleichnamigen Projekt des Theaterpädagogen Holger Werner indes, dessen Ergebnis nun im Bochumer Prinzregenttheater zu sehen war, ist nichts davon. Sein „Gold“ sind geflüchtete Menschen, die das Revier sozusagen in der Kohle-Nachfolge bereichern werden. Neun junge Leute aus Guinea, Irak, Syrien und Deutschland, zwischen 18 und 31 Jahre alt, haben das Stück erarbeitet, und nach einer Stunde ist schon alles vorbei.

Ein langes Gedicht

Die ersten etwa 20 Minuten gehören dem Vortrag eines dramatischen Gedichtes in arabischer Sprache, in dem, wenn das gleichzeitig stattfindende sparsame Bühnenspiel nicht täuscht, der Tod eines jungen Mannes eine zentrale Rolle spielt. Das Gedicht stammt von Yousef Ahmad Zaghmout, der es auch vorträgt. Auf dem Besetzungszettel findet sich eine deutsche Übersetzung. Mit großem Pathos geht es um den Schmerz, den Tod und vor allem um „das Lager“, das im Lager Yarmouk bei Damaskus sein reales Vorbild hat. Hier ist das Leben offenbar unerträglich, und so sehen wir im zweiten Bild ein qualliges, waberndes Gebilde aus Plastikfolie und Menschenleibern, das offenbar in (Fort-) Bewegung ist. Diese sehr beeindruckende Visualisierung von Flucht, Meer und Gefahr hat mit sparsamsten Mitteln Sylvia Fadenhaft geschaffen, die überaus kreative Bühnenbildnerin des Prinzregenttheaters.

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„Grubengold“ – wiederum das Ensemble. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Gepriesen sei Sylvia Fadenhaft

Auch die sich anschließende dritte Visualisierung trägt Sylvia Fadenhafts Handschrift: Da nämlich gilt es, die nach der turbulenten Überfahrt krumm und schief herabhängenden Stoffbahnen zu ordnen. Willkommen in Deutschland: Hier herrscht Ordnung, und das hat die jungen Migranten offenbar so sehr beeindruckt, dass sie mit der Beschreibung dieses oft doch recht sinnfreien Ordnungswahns eine putzige Dreierreihe von szenischen Deutschland-Wahrnehmungen beginnen.

Im nächsten Bild geht eine junge Frau von einem zum anderen und richtet an jeden und jede den Satz „Sprechen Sie Deutsch“, wobei nicht klar auszumachen ist, ob es sich um eine Frage oder um eine Anweisung handelt. Jedenfalls spricht keiner Deutsch, unübersehbar ist die spitzbübische Freude an Dilemma und Verweigerung. „Dodge“ vielleicht, die alte amerikanische Automarke? Aber Deutsch? No, sorry.

Fingerabdrücke

Im dritten dieser amüsanten Bilder geht es um Fingerabdrücke, die ein Kontrolleur gnadenlos von allen fordert und die zu geben offenbar als große Zumutung empfunden wird. Nachdem die Prozedur einige Male durchgeführt wurde, dreht das Ensemble den Spieß um und verlangt nun Fingerabdrücke vom Publikum, wohl, um den Zumutungscharakter herauszustreichen. Schließlich reiht es sich auf der Bühne und intoniert „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und dann ist der Abend auch schon vorbei.

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„Grubengold“ – das Flatterband markiert die Grenze. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Seit September 2015, ist zu erfahren, wurde dieses Stück erarbeitet. Daran gemessen ist das Ergebnis dürftig. Wer im Themenfeld Migration, „Flüchtlingskrise“ usw. auf persönliche Antworten gehofft hatte, die über das immer Ähnliche der täglichen Nachrichten hinausgehen, hoffte vergebens.

Wie aus einem Förderantrag

Dabei wüsste man schon gerne, wie sich diese jungen Leute, beispielsweise in Bochum, ihre Zukunft vorstellen. Das Projekt hatte sich so etwas wohl auch vorgenommen, nämlich „die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in Bochum zu erlangen, Kontakte zur Bevölkerung herzustellen und zu fördern und ein Teil dieser Gesellschaft zu werden“. So jedenfalls ist es im Begleittext nachzulesen, der seinerseits klingt wie aus einem Förderantrag zitiert. Gefördert wurde das Projekt gleich aus mehreren Töpfen, unter anderem vom Familienministerium des Landes.

Nun, vielleicht erfüllt sich der eigene Anspruch in Zukunft ja noch, „Grubengold“ ist als Langzeitprojekt ausgeflaggt. In guter Erinnerung bleiben die Tanzeinlagen von zwei, drei Mitwirkenden, deren Ambitionen sicherlich über dieses Projekt hinausreichen dürften.




In eigener Sache: 5 Jahre „Revierpassagen“

Nach Maßstäben des Netzes ist das bereits ein Weilchen: Auf den Tag genau seit 5 Jahren sind die „Revierpassagen“ heute online.

„Established 2011“. Das hört sich noch nicht nach altehrwürdiger Tradition an, deutet aber schon auf eine gewisse Kontinuität und Beharrlichkeit hin. Fünf Jahre sind nicht mehr so ganz „kurzlebig“. Bei vielen Kulturveranstaltern haben wir uns denn auch inzwischen einen Namen gemacht.

Das Logo der Revierpassagen (© Thomas Scherl)

Das Logo der Revierpassagen (© Thomas Scherl)

Nur wer sich ändert, bleibt sich treu: Das Erscheinungsbild unseres Kulturblogs hat sich seit den Anfängen mehrmals leicht verändert. Vor allem sind heute teilweise andere Autorinnen und Autoren dabei als zu Beginn. Im Gefolge haben sich auch thematische Schwerpunkte mehr oder weniger merklich verschoben.

Der Gesamtumfang der Revierpassagen ist mittlerweile stattlich: Knapp über 2200 Beiträge (!) befinden sich insgesamt auf der Seite, Archivtexte aus der Zeit vor 2011 inbegriffen. Über die Jahres-, Monats- oder Stichwortsuche lässt sich so manches aufstöbern.

Wie schon zur Gründung gesagt, können und wollen wir nicht die Kulturseite(n) einer Tageszeitung ersetzen, hin und wieder aber sinnvoll ergänzen, überdies den einen oder anderen Gegenakzent setzen. Auch kommt es immer wieder vor, dass wir Themen in einer Ausführlichkeit aufgreifen, wie es die Regionalpresse nicht (mehr) vermag.

Einiges bleibt zu wünschen übrig. In den Bereichen des Kinos und der Popmusik sind wir mäßig bis gar nicht „aufgestellt“, wie man so unschön sagt. Aber bevor wir in den – gerade in diesen Sparten – landläufigen Chor PR-affiner Journalisten einstimmen, lassen wir solche Gebiete lieber beiseite. Entweder fundierte Berichte und Rezensionen – oder gar keine. So jedenfalls unsere Leitlinie.

Da die Revierpassagen leider keine Autorenhonorare zahlen können und auf konsequenter Selbstausbeutung basieren, sind wir auch nicht in der Lage, Termine nach Belieben zu „besetzen“. Folglich sind wir eher punktuell bzw. sporadisch präsent und nicht flächendeckend. Wenden wir’s positiv: Schon deshalb hat bei uns bloße Termin-Routine keine Chance…

Bleibt und bleiben Sie uns bitte auch in den kommenden Zeiten gewogen.

Bernd Berke
(für die Autorinnen und Autoren der Revierpassagen)




Eier gut, Milch böse oder: Was gestern galt, kann morgen schon verworfen werden

Wer gehört noch zur Generation, die damals permanent und penetrant mit Lebertran abgefüllt worden ist? Das eklige Zeug sollte angeblich urgesund, ja nahezu lebenswichtig sein. Irgendwann war es dann nicht mehr die herrschende Lehrmeinung.

Heute wissen wir auch noch nicht richtig Bescheid. Neulich brachte die überregionale Sonntagszeitung meines (nicht ganz uneingeschränkten) Vertrauens in einer Ausgabe zwei vermeintlich eherne Ernährungs-Gewissheiten zur Sprache, die nun nicht mehr gelten sollen.

Lebensmittel im Bedeutungswandel: vorne die Guten, hinten der Bösewicht? (Foto: BB)

Lebensmittel im Bedeutungswandel: vorne die Guten, hinten der Bösewicht? (Foto: BB)

Punkt eins: Eier, die bislang im Verdacht standen, uns mit „schlechtem“ Cholesterin in Gefahr zu bringen, wurden erster Klasse von dieser Anklage „freigesprochen“. Überhaupt werde die Bedeutung des Cholesterins weit überschätzt, hieß es weiter. Das alles stand in einer nachösterlichen Nummer, kam also eigentlich etwas zu spät.

Punkt zwei: Milch hingegen, die über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte für ein unentbehrliches Grundnahrungsmittel (noch immer ist Schulmilch die Regel) gehalten wurde, soll neuerdings schädlich sein. Stichwort Laktose. Und überhaupt. Hier nahm das Blatt freilich Partei für die Milch.

Es bleibt der Eindruck, den man schon oftmals haben konnte: Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse haben keinen Bestand. Die Forschung sagt heute „Hü“, morgen „Hott“; gerade, wenn es um Gesundheit und Ernährung geht. Die nächste Kehrtwende kommt bestimmt. Wenn ich allfällige Wortfolgen wie „Eine neue Studie hat ergeben, dass…“ oder „Experten raten zu…“ lese, werde ich sogleich misstrauisch.

Auch Naturwissenschaften unterliegen offenbar Trends und Moden und sind nicht so objektiv, wie ihre Protagonisten gern vorgeben. Mit einer steilen These, die gegen alle bisherige Überzeugung sich wendet, kann man wohl schneller Bekanntheit innerhalb und außerhalb der Fachwelt erlangen, als mit drögen Bestätigungen. Und wenn nun auch noch wirtschaftliche Interessen hinein spielten? Gar nicht auszudenken.

Sobald dann in der Grundlagenforschung eine kritische Masse erreicht ist, bequemen sich auch die Mediziner zum Umdenken. Was gestern gesund war, wird heute verworfen – und umgekehrt. Manchmal werden dabei Schwenks um 180 Grad vollzogen.

Einmal zum Skeptiker geworden, möchte man sich am liebsten überhaupt nicht mehr in die Hände von Ärzten begeben. Wenn’s denn anginge. Und Kliniken möchte man gänzlich meiden, am besten lebenslänglich. Mag auch die Ursprungskrankheit kuriert werden, so geht man vielleicht an den Krankenhaus-Keimen ein. Oder an Milch.




Das Revier im Paket: Adolf Winkelmanns Ruhrgebiets-Filme im Kino und auf DVD

Der legendäre Spruch aus "Jede Menge Kohle". (Grafik: Winkelmann / Turbine Medien)

Der legendäre Spruch aus „Jede Menge Kohle“. (Grafik: Winkelmann / Turbine Medien)

Witz, Gefühl und Lebensechtheit hat der berühmte Kritiker Hellmuth Karasek Adolf Winkelmann 1981 im „Spiegel“ für den Film „Jede Menge Kohle“ attestiert. Komplimente, die sich auf die gesamte Ruhrgebiets-Trilogie des Regisseurs ausweiten lassen. Sie kommt jetzt, technisch frisch poliert und mit einigem Bonus-Material, passend zum 70. Geburtstag Winkelmanns (10. April), noch einmal in Dortmund ins Kino und in einer DVD-Box auf den Markt.

Wenn man (wie ich) 1978 geboren wurde, hat man zwar das „Entstehungsdatum“ mit den „Abfahrern“ gemein, hat aber gleichwohl den ursprünglichen Kult um die drei Ruhrgebietsfilme von Adolf Winkelmann nicht live miterlebt. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig die Distanz zu der Zeit und ihrem Lebensgefühl der Rezeption schadet: Gerade bei den Abfahrern erstaunt die Frische, die Unverbrauchtheit und Authentizität des Films.

Die Geschichte der drei arbeitslosen Jugendlichen, die aus Langeweile den Lkw einer Möbelspedition klauen und so planlos wie vergnügt in die Nacht fahren, um skurrile Abenteuer zu erleben, hat einen so situativen Witz und eine Lässigkeit, wie man sie vielen deutschen Filmen nur wünschen kann.

Der Dortmunder Winkelmann hat schon in diesem Film einen Blick für kleine Perlen des Ruhrgebietsalltags – und das, ohne die Region und ihre Menschen für einen billigen Gag zu verkaufen. Die Musik von den Schmetterlingen – die übrigens eigentlich eine österreichische Band waren und sich in das Ruhrpott-Idiom einfach hineinsangen (mit dem Titelsong „Wir sind die Gang von Johnny Vermessen“) geht einem tagelang nicht mehr aus dem Ohr.

Klischees ohne Schablonen

Das Talent, Klischees zwar zu thematisieren, aber nie ins Schablonenhafte oder Zynische zu überführen, prägt auch „Jede Menge Kohle“: Der Bergmann Katlewski, der unter Tage von Recklinghausen nach Dortmund läuft, um vor seinem alten Spießerleben mitsamt gescheiterter Ehe und hohen Schulden zu fliehen, erinnert an die Tragik mancher Figur aus der Hochliteratur. Und trotzdem gibt es genügend Szenen, die gerade durch die präzise Beobachtung und die Lust an der Anarchie besten absurden Humor entfalten. Inhaltlich wirkt „Jede Menge Kohle“ wie eine Fortschreibung der Abfahrer. Tatsächlich sagt Adolf Winkelmann, dass er nichts schlimmer fände, als sich zu wiederholen: „Ich fühle mich nur wohl, wenn ich nicht gefangen bin in Konventionen.“

Technisches Neuland

Deswegen wollte er nach seinem kleinen, ‚dreckigen‘ Erstlingswerk nun einen Streifen drehen, der „technisch Neuland war: Alles, was nicht ging und noch keiner gemacht hatte, wollten wir schaffen.“ Seinen Tonmann Hans Peter Kuhn stellte er vor die Herausforderung, Dolby Stereo im Originalton aufzunehmen – ein Verfahren, das laut Winkelmann kein Spielfilm danach mehr genutzt habe. Was Dolby für Ton, war damals Cinemascope für das Bild: Winkelmann und sein Kameramann David Slama fuhren eigens nach London zu dem Panavision-Hersteller Samuelson, um ein Problem zu lösen. Denn unter Tage durften sie nur ohne Elektrizität drehen, wegen des Funkenflugs. „Die kamen dann tatsächlich mit einer Art Schuhkarton aus Blech aus ihrem Museum wieder und statteten ihn extra für uns mit dem Objektiv aus“, berichtet Winkelmann.

Eine Spur Verrücktheit

Geschichten wie diese hält die neue Box von Turbine Medien im Bonus-Material bereit: Interviews, Drehortbesuche, Fotografien ermöglichen einen Blick auf die drei Filme, der ein Gefühl von Aufbruch, Unkonventionalität und einer Spur Verrücktheit hinterlässt – verbunden mit der Frage, ob Ähnliches in dem überregulierten Filmgeschäft heute überhaupt noch realisierbar wäre.

Mit dem dritten Film im Bunde schließlich vollzieht Adolf Winkelmann einen harten Bruch: Zeigte er die schrägen, unheldenhaften Protagonisten bis dato mit einem liebevollen Blick, ändert sich in „Nordkurve“ Ton und Perspektive drastisch. In diesem Film, bei dem sich viele kleine, menschliche Tragödien rund um den Kulminationspunkt, das Fußballspiel, ereignen, wird der Zuschauer mit Gewalt, Suff, Sex konfrontiert. Enthemmte Menschen sind da zu sehen, offen brutal auf der Fanseite, verschlagen und noch viel skrupelloser auf Manager-Ebene. „Unser Ziel war es, jede einzelne Figur bis auf die Haut nackt auszuziehen“, sagt Winkelmann.

Alles auf einmal

Alle drei Filme sind jetzt, am Freitag, 8. April (20 Uhr), in der Dortmunder „Schauburg“ (Brückstraße 66 – Tel.: 0231 / 95 65 606) zu sehen. Adolf Winkelmann und einige Schauspieler bzw. Beteiligte sind anwesend. Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. Die DVD-Box mit der Ruhrgebietstrilogie kommt ebenfalls am 8. April heraus.

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Und hier noch eine kurze Impression: https://www.youtube.com/watch?v=lqycf2CugnI

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P. S.: Transparenz ist uns immer wichtig. Also sei’s offen gesagt: Revierpassagen-Autorin Nadine Albach moderiert den erwähnten Winkelmann-Abend in der Dortmunder „Schauburg“. Deshalb hat sie sich intensiv mit seinem Werk befasst.

 




Aus dem Ressort „Kulturlosigkeit“: Die windigen Methoden eines Schlüsseldienstes

Wer länger bei einer Zeitung gearbeitet hat, hat das vielleicht mal erfahren: Wenn einen Chefredakteur etwas ärgert, was rings um seinen privaten Dunstkreis geschieht, spricht er entweder auf kurzem Weg den (Ober)-Bürgermeister bzw. den zuständigen Dezernenten der Kommune an – oder er gibt „seiner“ Redaktion die „Anregung“, doch mal kritisch über die hochinteressante Begebenheit zu berichten. Im Interesse aller Leserinnen und Leser. Was haben Sie denn gedacht?

Wie komme ich nur darauf? Weil ich jetzt auch eine Chose aus dem eigenen Umfeld ausbreite. Die hat zwar reinweg gar nichts mit Kultur zu tun, ist aber womöglich punktuell lehrreich und kündet nebenbei von einer gewissen Verwilderung der Sitten. Also geht’s doch um Kultur. Oder besser: um deren Abwesenheit. Irgendwie.

Die sollte man möglichst bei sich haben... (Foto: BB)

Die sollte man möglichst bei sich haben… (Foto: BB)

Zum Thema: Immer mal wieder ist in diversen TV-Sendungen vor unseriösen Schlüsseldiensten gewarnt worden. Man denkt, nur unbedarfte Omas fielen darauf herein – so kennt man’s ja von damals aus Ede Zimmermanns „Vorsicht Falle! Nepper, Schlepper, Bauerfänger“ (un)seligen Angedenkens. Doch manche Firmen haben seither ihre Masche verfeinert. Hier also die detaillierte Chronologie eines tatfrischen Dortmunder Vorfalls, einstweilen ohne direkte Nennung von Ross und Reiter. Denn es ist gleichsam noch ein schwebendes Verfahren.

Unter falscher Flagge
1. Das Elend beginnt damit, dass die Firma unter falscher Flagge segelt. Sie erweckt den Anschein, familiär und lokal in Dortmund verwurzelt zu sein („Familienbetrieb seit…“ – es folgt eine weit zurückliegende Phantasie-Jahreszahl). Tatsächlich versteckt sich häufig bundesweit ein und dieselbe Firma hinter solchen lokalen Trugbildern. Natürlich soll man durch die behauptete lokale Nähe Vertrauen schöpfen. Ein offenbar weit verbreiteter Täuschungs-Trick. Man könnte auch Adressschwindel dazu sagen.

Anschein des Seriösen
2. Der angeblich örtliche Anbieter, mit dem wir es zu tun bekamen, gibt sich in Branchenbuch- und Internet-Einträgen den Anschein besonderer Seriosität, indem er frechweg mit derselben Adresse auftritt wie die Handwerkskammer. „Ehrbares Handwerk“ also. Soll man jedenfalls denken. Seltsam nur: Der vermeintliche Chef sieht auf verschiedenen Internet-Seiten immer wieder ganz anders aus. Das Ladenlokal sollte man lieber gar nicht erst aufsuchen, denn es wird – wie es online weiter heißt – derzeit „gründlich renoviert“. Das kann lange dauern. Sehr lange. Eine Überprüfung an Ort und Stelle ergibt denn auch, dass dort kein lokaler Schlüsseldienst seinen Sitz hat.

Dreiste Anmaßung
3. Erhöhte Dreistigkeit: Die Dortmunder Fake-Anschrift stimmt auch noch mit jener der Verbraucherzentrale NRW e. V. überein. Ausgerechnet. Es sieht fast so aus, als hätte da jemanden der Hafer gestochen. Etwa nach dem Motto: „Ihr kriegt uns sowieso nicht“.

Nahezu anonyme Hotline
4. Man wählt also jene (Dortmunder) Telefonnummer, wird aber hernach per Computerstimme aufgefordert, noch eine weitere Ziffer einzutippen. Die schaltet einen dann sonstwohin. Weiß der Teufel. Die Mitarbeiter der Hotline, die nun hinter der lokalen Nummer stecken, melden sich nur mit „Schlüsseldienst“ oder mit einem (erfundenen?) persönlichen Nachnamen, aber nicht als konkret benannte Firma. So sind die Herrschaften nicht so recht fassbar, sie bleiben nahezu anonym. Es lässt sich überdies bezweifeln, dass es mit dem schließlich auf der Quittung angegebenen Hauptsitz seine Richtigkeit hat. Von Briefkastenfirmen ist ja neuerdings viel die Rede.

Preise sind Geheimsache
5. Besagte Hotline gibt auf Anfrage keinerlei Auskunft über Preise, nicht einmal über den ungefähren Kostenrahmen. Das könne erst „vor Ort“ beurteilt werden. Hört sich plausibel an, ist aber eine Ausflucht.

Druck und Einschüchterung
6. Sobald man auch nur skeptisch nachfragt oder gar widerspricht, beschweren sie sich harsch über den „unverschämten Tonfall“ des widerspenstigen Kunden. Und zwar alle Mitarbeiter, samt und sonders. Es ist ganz offenkundig – wie alles andere auch – Teil einer bewussten Strategie, die den Mitarbeitern gewiss in internen Schulungen eingetrichtert wird. Druck und Einschüchterung gehören wesentlich zur ausgeklügelten Methode.

„Ich hab’ Polizei…“
7. Es wird am Telefon versichert, der Handwerker, der die Tür öffnen soll, werde schon in etwa 10 Minuten eintreffen. Dann dauert es eine Dreiviertelstunde, bis er kommt – ohne jegliche Entschuldigung. Auf Nachfrage heißt es nur kryptisch, er habe kurzfristig noch „für die Polizei“ tätig werden müssen. Da denkt man unwillkürlich an Jan Böhmermanns Song „Ich hab’ Polizei“… Eine Aussage, die auf jeden Fall Eindruck schinden soll. Allerdings ist es nur schwer vorstellbar, dass die Polizei wirklich mit einer solchen Firma kooperiert. Außerdem dient das Wartenlassen zumindest der Verschärfung der auszunutzenden Notlage derjenigen, die nicht in ihre Wohnung gelangen. Sie sollen auf diese Weise noch ein wenig „weichgekocht“ und zermürbt werden.

Zwei Minütchen Arbeit
8. Der Schlosser (oder was er nun ist) mahnt vorab, wenn er bohren müsse, könne es richtig teuer werden. Auch könne es sein, dass man das ganze Schloss ersetzen müsse. Als er ans Werk geht, dauert der eigentliche Vorgang etwa 2 Minuten. Er zieht ein eingeschweißtes Stück Papier durch den Schlitz zwischen Türblatt und Rahmen – und klick! Die Tür ist auf. Man ist erleichtert und vielleicht sogar einen Moment lang dankbar fürs glimpfliche Davonkommen. Denn er hat ja gar nicht gebohrt…

Mondpreis sofort bezahlen!
9. Umso überraschender dann der Preis für die ausgesprochen kurze und leichthändig absolvierte Arbeit. Mit Mehrwertsteuer und Anfahrt sind in diesem Falle satte 260 Euro fällig – und das kurz nach 16 Uhr, am Nachmittag eines gewöhnlichen Werktages. Einzige Zahlungsmethoden: Sofort in bar oder sofort per EC-Karte. Und ab dafür… Dass man im Gegenzug keine ordentlich ausgeführte Rechnung, sondern nur einen notdürftig ausgefüllten Wisch erhält, versteht sich fast schon von selbst.

Hätte man doch nur verglichen
10. Nachträglicher Vergleich: Ein tatsächlich ortsansässiger Anbieter, der übrigens die Schließanlagen für Reichstag und Kanzleramt erstellt hat, nimmt für die Türöffnung tagsüber (bis 17 Uhr) lediglich 69 Euro (inklusive Anfahrt und Steuern), von 17 bis 22 Uhr dann alles in allem 109 Euro. Diese Preise sind kein Dumping, sondern reelle, faire Beträge, durchaus marktüblich bei seriösen Anbietern. Und wie soll man dann die 260 Euro nennen? Etwa „Wucher“?

Hoffentlich versichert
11. Damit man die fette Kröte leichter schluckt, hat der Handwerker zwischendurch behauptet, die Hausversicherung übernehme derlei Kosten. Ach so, na dann… Freilich ist es in Wahrheit nicht die Gebäude-, sondern die Hausratversicherung und auch nur dann, wenn man sich gegen solche Wechselfälle – über den Standardtarif hinaus – eigens mitversichert hat. In aller Regel ist es also nichts mit der Übernahme durch die Versicherung. Schade eigentlich.

Ein klitzekleiner Betrugsversuch
12. Übler noch: Der Mann will einen auch noch zu einer milden Form des Versicherungsbetrugs anstiften. Er schlägt vor, man solle doch behaupten, Kinder hätten die Tür beim Spielen zugeschlagen. Das komme bei den Versicherungen immer gut an. All diese Finten sollen die überhöhte Summe erträglicher erscheinen lassen.

Nachbesserung nötig
13. Nun nimmt die Sache noch eine andere Wendung. Als der Security-Mitarbeiter eilends abgezogen ist, stellt man sogleich fest, dass sich die Tür nunmehr einfach widerstandslos aufdrücken lässt und nicht mehr einrastet. Als technischer Laie weiß man vielleicht nichts vom kleinen Häkchen namens „Schnapper“, das wieder zurückgestellt werden muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schnapper beim Türöffnen durch den Handwerker (absichtlich?) verstellt und so belassen worden ist, erscheint außerordentlich hoch. Selbstverständlich ruft man die Firma sofort noch einmal an, um Nachbesserung zu verlangen.

Widerwillige Rückkehr
14. Das sei mit erneuten Kosten verbunden, heißt es daraufhin. Jeder Einwand wird in unfreundlichem Ton niedergebügelt. Ein Telefonist bricht das Gespräch kurzerhand ab, weil er keine Widerrede erdulden mag. Beim nochmaligen Anruf muss man schon sehr entschieden auftreten, um die Leute zur Rückkehr zu bewegen und bereits anzudeuten, dass man einen etwaigen Aufpreis nicht bezahlen wolle. Denn es muss ja der ursprüngliche Zustand der Tür wiederhergestellt werden.

„Geld mitnehmen!“
15. Der Mitarbeiter, der noch im unmittelbaren Umkreis des Einsatzortes gewesen sein muss, trifft alsbald erneut ein, stellt mit einer Handbewegung den „Schnapper“ zurück auf die Ausgangsposition – und verlangt dafür unglaubliche 189 Euro netto, sofort fällig. Zahlungsverweigerung ist die einzig richtige Antwort darauf. Der Mann ruft daraufhin bei eingeschaltetem Handy-Lautsprecher die Zentrale an und fragt „Wie sollen wir jetzt vorgehen?“ Die Frau am anderen Ende der Leitung schnappt nur: „Geld mitnehmen!“ Erneute Weigerung. Nun lässt er sich mit seinem Chef verbinden (kurze Irritation, weil der offenbar die Kollegin überhaupt nicht kennt). Der Boss wird pampig und besteht ebenfalls auf Sofort-Zahlung. Und natürlich droht er bereits mit einer Inkassofirma. Deren oft rüde Methoden sind berüchtigt.

Und jetzt?
16. Und jetzt? Nun, der Rest muss notfalls juristisch geregelt werden. Mal sehen… Wobei der erwähnte Schlüsseldienst-Boss schon postuliert hat: „Sie haben keine Chance! Wir gewinnen jedes Verfahren!“ — Und künftig? Zweitschlüssel bei netten Nachbarn hinterlegen und schon jetzt eine seriöse Schlüsseldienstnummer notieren. Was sonst?




Dauerempörung und blasse Endzeitvision: Karen Duves Roman „Macht“

DuveMachtFrauen regieren die Welt und haben alle Schaltstellen der Macht besetzt. Nur Olaf Scholz hat es wie durch ein Wunder geschafft, Bundeskanzlerin zu werden. Die Wunderpille Ephebo sorgt für ewig jugendliches Aussehen, Nebenwirkungen wie Krebs spielen keine Rolle mehr, da der Menschheit aller Voraussicht nach – dem Klimawandel sei Dank – eh kein ganzes Jahrtausend mehr zum Überleben bleibt.

Und weiter: Religiöse Fanatiker freuen sich über massenhaften Zulauf und wer von den Männern es gar nicht mehr ertragen kann, der kettet seine Gattin einfach im Keller an, gibt sie als vermisst aus und hat wenigstens für die letzten Jahre auf Erden eine Sklavin, die ihm seine Lieblingskekse backt und auch sonst zu Diensten ist…

So ungefähr sieht es mit den „Macht“-Verhältnissen im Jahre 2031 aus, wenn es nach dem neuen Roman der Streitschrift-freudigen Autorin Karen Duve geht.

Die Männer sind an allem schuld

Während der Arbeit an diesem Roman erschienen der Autorin die herrschenden Machtverhältnisse der Gegenwart wohl so schrecklich, dass sie die Arbeit an „Macht“ für das ihr dringend gebotenes, als Essay gedachtes Werk „Warum die Sache schiefgeht – Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ unterbrach. Der Zusammenbruch der Zivilisation war ihr Thema, sekundär infolge der Klima-, Energie- und Flüchtlingskrisen, primär verursacht durch die „jahrtausendealten Schimpansenregeln schamloser aggressiver und gemeiner“ – na klar – Männer.

Bedauerlicherweise scheinen der Kraftakt dieses Essays und die folgende Talkshow-Tour einen Teil ihrer Kräfte verbraucht zu haben, denn die Beschreibung der dystopischen Welt, in der sie „Macht“ ansiedelt, erschöpft sich in Effekthascherei. Im Wesentlichen begnügt sie sich mit der Fortschreibung schon heute existenter Zustände: Hitzewellen, Gletscherschmelze, Wirbelstürme. Garniert mit alles überwucherndem gentechnisch manipuliertem Raps und Killerfliegen, das Ganze eingezwängt in ein Korsett aus Staatsfeminismus und Veganismus, verziert mit besagten Wunderpillen. Für ein als Endzeitroman beworbenes Werk eine ausgesprochen dürftige blasse Vision, in der die Ausgestaltung künftiger Namensgebung noch die meiste Aufmerksamkeit bekommen zu haben scheint.

Weltuntergang? – Halb so schlimm

Ein guter Endzeitroman vermag durch realistisch erscheinende, bedrohliche Visionen Betroffenheit und vielleicht sogar Bereitschaft zum Umdenken zu erzeugen. Karen Duve hingegen erzeugt nur Überdruss und Langeweile, davon allerdings eine Menge. Noch dazu ist die in der Vision angesiedelte Handlung derart unausgegoren, dass es genug Leser geben dürfte, die das Buch mit dem Gedanken beenden: naja, gut, die Welt geht unter, aber so schlimm wird es schon nicht. Die Gestalten in dem Buch arrrangieren sich ja auch alle irgendwie damit. Auch davon, was Gefangenschaft in einem engen Raum mit Menschen macht, hat man schon wesentlich aufwühlender gelesen – sei es in der Fiktion als auch in der Berichterstattung über real existierende Verhältnisse.

Die überschaubare Handlung wird erzählt aus der Sicht von Sebastian, genannt Bassi, der eine Sklavin hält. Doch auch dieser Ansatz, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu erkunden, verliert sich im Ungefähren. Schon alleine deshalb, weil „Bassi“ unglaublich eindimensional daherkommt und man kaum glauben mag, dass ein so simpel gestrickter Mensch eine ruhmreichere Vergangenheit als Aufrüstungsgegner in seiner Biographie zu verzeichnen hat.

Der Weltuntergang an sich ist Bassi relativ egal, das größte Problem des armen Tropfes ist mangelnde Bewunderung. Ein klassischer Langeweiler, der sich in Allmachtsphantasien steigert und diese letzten Endes noch auslebt. Leider ziemlich phantasielos: Man erinnere sich, die Kekse! Immerhin bringt ihn das zu der nicht gerade neuen Erkenntnis, dass „Macht nie so gut ist wie in den Momenten, wo man sie mißbraucht“.

Wut allein schreibt keine Bücher

Man fragt sich nach der Lektüre ernsthaft, was Karen Duve mit diesem Buch erreichen wollte. Alleine an der so enttäuschend mager ausgestatteten Utopie lässt sich ablesen, dass es ihr wohl nur vordergründig um eine gesellschaftskritische Mahnung ging. Analyse geht anders, ja, es sind letzten Endes nicht einmal Thesen, die sie aufstellt. Es sei denn, man akzeptiert als Kernbotschaft die übrig bleibende Aussage, dass alle Männer böse sind und unfassbar blöde.

Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Autorin ihr Werk dazu genutzt hat, selbst einmal ein ungeniertes Machogehabe ausleben zu können. Alles zusammengenommen wirkt „Macht“ wie eine dauerempörte Hetzschrift gegen Männer, nur notdürftig getarnt als Gesellschaftskritik und feministische Streitschrift. Beiden Anliegen hat Karen Duve damit keinen Gefallen getan. Vor allem der Sache der Frauen stünde etwas mehr Differenzierung und weniger ermüdendes Lamento gut zu Gesicht. Mit aufgewärmtem Tante-Emma-Feminismus holt man heute keinen und keine mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar nicht die „Aufschrei“-Feministinnen im zwitschernden Neuland.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Karen Duve im Grunde eine wirklich begabte Erzählerin ist. Sie kann mit Sprache umgehen, sie erzählt flüssig und eigentlich kann sie auch Figuren gut zeichnen. Doch in „Macht“ siegt das Lamento. Selbst die obligatorische Danksagung am Ende entfällt zugunsten nickeliger Kritteleien, die einmal mehr erahnen lassen, wie schwer Frau Duve an der Ungerechtigkeit leidet. Auch als Parodie auf Menschen, die die Ungerechtigkeit der Welt beklagen und die Schuld grundsätzlich nur bei anderen suchen, taugt der Roman eher weniger, denn selten hat es ein humorbefreiteres Werk gegeben. Nur Wut allein schreibt keine Bücher.

Karen Duve: „Macht“. Verlag Galiani Berlin. 416 Seiten, € 21,99.




Nüchterner Blick auf die Ursachen und Folgen der „Flüchtlingskrise“

Kaum ein Problemfeld ist so stark von Emotionen geprägt oder genauer mit ihnen belastet wie die sogenannte Flüchtlingskrise.

Oft naive Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, starke Ablehnung oder nur leichte Überfremdungsängste auf der anderen Seite bestimmen die Diskussion in Europa, seitdem Millionen Menschen aus Krisen- und Armutsgebieten in die reiche Europäische Union migrieren. In dieser Situation tut eine Versachlichung, wie sie der Politikwissenschaftler Stefan Luft jetzt vorgelegt hat, sehr gut.

Fluecht

In der Taschenbuchreihe Beck Wissen fasst der bereits einschlägig mit ähnlichen Veröffentlichungen hervorgetretene Bremer Privatdozent „Ursachen, Konflikte und Folgen“ der massenhaften Wanderung von Menschen in aller Welt zusammen, natürlich mit dem Schwerpunkt der Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa seit dem Spätsommer 2015.

Stefan Luft liefert klare Definitionen der einzelnen Migrationsgruppen und bedient sich auch zahlreicher Statistiken. Er relativiert damit so manche in der Größenordnung überschätzte Zuwanderer-Zahl. Weltweit, zum Beispiel, beträgt der Anteil der grenzüberschreitenden Migration nur 0,6 Prozent der Bevölkerung. Das soll aber auch bei Luft nicht heißen, dass die derzeitige Situation in Deutschland zum Beispiel problemlos wäre.

Der Privatdozent geht auch auf die emotionale Belastung der Bevölkerung in den Aufnahmeländern ein. Er kritisiert, dass die Politik in der EU im vergangenen Jahr trotz deutlicher Hinweise der UNO nicht rechtzeitig reagiert hat, und er sagt auch, dass ein Gelingen von Integration ganz deutlich von der Größe der zugewanderten Gruppe abhängt. Das kann man auch als Argument für eine sogenannte „Obergrenze“ lesen.

Auch auf die Rolle der Religion geht der Wissenschaftler ein, und in seinem Ausblick referiert er die Forderungen des UNHCR: Genau wie zum Beispiel in der Verteidigungspolitik müsse es dringend einen europäischen Konsens über die Aufnahme und Integration derjenigen Migranten geben, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können oder die nicht in andere Länder umgesiedelt werden, zum Beispiel nach Kanada oder in ähnliche Zielgebiete. „Die Unterstützung durch ökonomisch starke Staaten ist in jedem Fall unumgänglich“ schreibt er, und das heißt: Es wird sehr viel Geld benötigt.

Stefan Luft: „Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen“. Reihe Beck Wissen, München 2016. 128 Seiten, 8,95 €