In Gelsenkirchen Federn lassen: Die Kissenschlacht als (beinahe) neuester Schrei

Leute! Ihr seid in Disco-Schaumbädern versunken. Ihr habt euch über und über mit Farbe bepulvert – und was des Kitzels mehr war. Aber vergesst das alles. Schleunigst. Denn jetzt kommt der ultimative Kick, und der heißt:

Kissenschlacht !!!

Jetzt guckt ihr etwas enttäuscht und murmelt vielleicht, das sei doch ein Vergnügen aus Urgroßmutters Zeiten. Aber ihr ahnt ja gar nicht, wie krass das sein kann. Ihr habt ja noch nichts vom „Frau-Holle-Festival“ gehört, das am 2. Juli im Gelsenkirchener Amphitheater die hedonistisch enthemmten Massen begeistern soll. Ausgerechnet Gelsenkirchen…

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland - Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland – Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Voll des anspielungsreichen Sprachwitzes, lässt der Regionalverband Ruhr (RVR) in seinem Nachrichtendienst idr wissen, beim besagten Festival müssten „die Besucher Federn lassen“.

Tatsache ist wohl, dass DJs (wer sonst?) elektronische Tanzmusik (was sonst?) auflegen werden und es dazu im Publikum „gigantische“ Kissenschlachten geben soll. Wir zitieren: „Und damit die Federn so richtig fliegen, werden sie regelmäßig aus Kanonen abgefeuert.“ Ob man sich auch mit Wattebäuschen bewerfen wird, ist noch nicht heraus.

Um es passend altmodisch zu sagen: Heißa, das wird ein Hauptspaß!

Denn was gibt es da nicht noch alles: Eine Gauklerbühne (was sonst?), „mittelalterliche“ Musik (was sonst?), eine Märchenbühne und ein Märchenspiel (bilingualer Titel: „Escape the Märchenwald“). Mit anderen Worten: Es ist offenbar das soundsovielte Festival, das sich an den erstaunlich langlebigen „Mittelalter“-Trend hängt und selbigen Aufguss mit Elektro-Pop und Märchen verrührt. Das mit dem Abspielen der „altertümlichen“ Musik sehen die Veranstalter freilich als Novum an: „Mit Sicherheit etwas Besonderes und mal was anderes“. Aha.

Auf der Festival-Homepage spricht „Frau Holle persönlich“, beispielsweise so wundersam authentisch: „Hier habe ich mich mit meinen Waldgeistern zusammengetan…“ Oder: „Mit dabei sind natürlich auch meine Gauklerfreunde aus dem fernen Nordland.“ Klar, dass auch die Besucher möglichst verkleidet erscheinen sollen. Bloß raus aus der unübersichtlichen Gegenwart mit Wahnwitz-Kapitalismus, Flüchtlingskrise(n), Terror und Brexit.

Auf dem Gelände gilt folglich nicht der schnöde Euro, sondern man zahlt mit Silber- und Kupfertalern, für die man allerdings zuvor Euros ausgegeben hat. Frau Holle weiß auch schon, wie man sie nutzbringend verwenden soll: „…kostet von meinen Speisen und eiskalten Getränken.“ Außerdem lässt sie („in meiner kleinen Manufaktur“ – ach, wie süß!) Entenfeder-Kissen sonder Zahl herstellen – „extrem umweltfreundlich und biologisch abbaubar“, versteht sich. Schade nur, dass nicht auch sprachlicher Unrat biologisch abbaubar ist.

Apropos Kissen. In der Märchenwald-Regel Nummer 6 wird klargestellt: „Die Kissen dürfen nicht mit voller Wucht auf eine Person geschlagen werden.“ Kissenschlacht light also, gewaltfrei und womöglich nachhaltig.

Frau Holle kennt sich übrigens auch mit den Finten der Juristerei aus. Regel 5 lautet: „Sobald mein Festplatz betreten wird, gilt mein Foto- und Videorecht. Das bedeutet: sämtliches Material von dir darf ich für Werbe- und Promotionszwecke nutzen…“

Och. Das hört sich ja plötzlich gar nicht mehr so altfränkisch an.

www.frau-holle-festival.de




,,Brennender Midi“ – neuer Provence-Krimi

Seine Fans haben schon darauf gewartet, und endlich, seit Mitte Mai, liegt Cay Rademachers neuer Provence-Krimi vor. Ganz pünktlich, wie vom Verlag Dumont angekündigt, hat der ehemalige GEO-Redakteur und Frankreich-Kenner sein Manuskript fertiggestellt und lässt unter dem Titel „Brennender Midi“ seinen Kommissar, den Capitaine Roger Blanc, unter der südlichen Sonne den dritten Fall ermitteln.

Brennender Midi

Blanc war strafversetzt worden von Paris in den Süden. Dort fand er natürlich keine Ruhe, sonst wären diese Krimis nicht so spannend. Im ersten Fall ging es um Korruption und ihre Folgen („Mörderischer Mistral“), im zweiten greift Radmacher in die jüngere Geschichte Frankreichs („Tödliche Camargue“), und nun muss Roger Blanc herausfinden, warum ein Propellerflugzeug über einem Olivenhain abstürzte. Der tote Pilot gehörte der franzosischen Luftwaffe an und war sehr erfahren.

Der Capitaine und seine Kollegen ermitteln zahlreiche Ungereimtheiten, während es privat ebenfalls sehr turbulent umgeht, denn Blancs Affäre mit der Untersuchungsrichterin geht weiter. Immerhin ist diese Aveline die Ehefrau jenes Staatssekretärs, der damals für seine Versetzung in die Provinz gesorgt hatte.

Cay Rademacher lebt mit seiner Familie seit Jahren in der Nähe der kleinen Stadt Salon-de-Provence, und nicht zufällig arbeitet auch seine französische Frau als Untersuchungsrichterin, vergleichbar etwa mit einer Staatsanwältin in Deutschland.  Der 1965 geborene Autor hat sich seine recht große Anhängerschaft sicher nicht nur durch die spannenden Plots erworben, sondern auch durch die gelungene Beschreibung der südlichen Lebensweise, die in seinen Lesern die Sehnsucht nach dem Midi aufleben lässt.

Cay Rademacher: „Brennender Midi. Ein Provence-Krimi mit Roger Blanc“. DuMont Buchverlag Köln. 304 Seiten, 14,99 € (als E-Book 11,99 €).

 




Zum Tod von Götz George: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen! – Wiedersehen mit „Schimanskis“ erstem Fall

Und schon wieder so eine zutiefst betrübliche Nachricht: Der Menschendarsteller Götz George ist, wie jetzt bekannt wird, bereits am 19. Juni mit 77 Jahren gestorben. Gewiss: Er hat auf der Theaterbühne, im Kino und im Fernsehen viele, viele Rollen eindrucksvoll verkörpert. Doch nicht nur uns im Revier bleibt er naturgemäß vor allem als „Schimanski“ in Erinnerung. Daher hier noch einmal der Rückblick auf seinen allerersten „Tatort“-Fall, wie er in den Revierpassagen am 22. Juli 2013 geschildert wurde:

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Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals zur Erstausstrahlung rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli 2013, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr).

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als selbst Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon verdammt gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!




Eine eher missmutige Zwischenbilanz zur Fußball-EM 2016 in Frankreich

Doch, doch: Vorab hatte ich mich aufs EM-Turnier in Frankreich gefreut. Allen Bedrohungen zum Trotz. Ich habe mir sogar eines dieser Vorschau-Hefte gekauft. Doch dann hat (nicht nur) mich das vielfach uninspirierte Ballgeschiebe ein ums andere Mal ziemlich abgeschreckt.

Ihr wisst schon, was ich meine: Dieses (vom dämlichen Austragungsmodus begünstigte) leidenschaftslose Taktieren, das inzwischen die allermeisten Spiele prägt, zersetzt den Geist des Fußballs. Findet ihr nicht?

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War's ein Pflaster oder ein Tattoo? War's aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War’s ein Pflaster oder ein Tattoo? War’s aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Kleinmütiges Gekicke überwiegt. Jeder Einwurf und jede Ecke werden beiderseits reklamiert. Von Fouls ganz zu schweigen. Und immer sind die Anderen schuld. An allem. Keine filigrane Kunst, nur Bollwerk und Riegel. Keine Dramen, keine Tragödien. Und niemand, der bereit wäre, notfalls einmal mit fliegenden Fahnen „unterzugehen“.

Stand 25. Juni, nach Beendigung des ersten Achtelfinal-Spieltags am späten Abend: Wenn ich richtig gezählt habe, haben schon zwölf (!) Spiele nach 90 Minuten (plus x) mit dem gähnträchtigen Ergebnis 1:0 geendet, ein zumeist fades 2:1 gab’s in fünf, ein vielfach bräsiges 1:1 in sechs Fällen (davon eines, das per Elfmeterschießen entschieden werden musste), dazu kamen vier torlose Begegnungen. Das Prädikat „aufregend“ haben allenfalls zwei bis drei von bislang 39 Partien verdient.

Bestens bezahlte Jubler (vulgo: TV-Kommentatoren) reden die meisten Szenen dennoch schön oder suchen künstlich Spannung zu beschwören. Dieses pseudo-maskulin hervorgepresste Gefasel. Dieses dürftige Standard-Vokabular („geblockt“ für abgewehrt). Dieses immergleiche Crescendo, wenn einer mehr oder weniger gefährlich vor dem Tor auftaucht („Gommeeeeeez“).

Ansonsten sind sie als Künder des Offensichtlichen am Werk, ganz nach dem Muster: „Ronaldo kommt nicht ran.“ Oder: „Der Freistoß war gut. Aber nicht gut genug.“ Ach was. Man mag’s nicht mehr hören. Aber mit ihnen tauschen möchte man auch nicht, mit wohlfeiler Kritik vom Sofa aus ist es nicht getan. Hier müsste grundsätzlich etwas passieren. Lasst meinetwegen Lyriker ans Mikrofon. Oder Satiriker.

Wie auch immer: So manches Match schaue ich mir gar nicht mehr an oder lasse es nur nebenher mitlaufen. Das Fieber hält sich bis dato in engen Grenzen und übersteigt die 37-Grad-Marke nur äußerst selten.

Das Drumherum tue ich mir schon lange nicht mehr an. Mit dem Abpfiff zur Halbzeit wird sofort ausgeschaltet, ca. 15 Minuten später wieder ein und mit dem Schlusspfiff ist eben auch Schluss. Kein endloses Gelaber über „Packing“ und dergleichen. Erst recht keine spätabendlichen Gruseltreffs wie bei Beckmann, die ich gottlob nur vom Hörensagen kenne. Das reicht schon. Es ist offenbar der absolute Tiefpunkt des Fernsehjahres. Und das bei einem öffentlich-rechtlichen Sender. Zweckdienliche Verwendung der Gebühren sieht anders aus.

Aber jetzt beginnt das Turnier doch erst richtig, oder? Nun, falls man hoffnungsfroh auf die K.o.-Runde gesetzt haben sollte, wird man von den bisherigen Partien ebenfalls enttäuscht. Nun gut, die Schlussphase von Kroatien vs. Portugal hatte was. Schade ums kroatische Team.

Man soll den Fußball nicht immer gleich politisch interpretieren, aber insgesamt man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, bei dieser EM den sportlichen Elaboraten eines Kontinents in Erstarrung zuzusehen, Insel-Anhängsel inbegriffen. Wo wäre da ein befreites, seiner selbst gewisses oder auch nur unbekümmert frohgemutes Aufspielen? Nein, das womöglich liebenswerte Gewurschtel isländischer Prägung oder muntere irische Fangesänge können uns den wahren Spielzauber nicht ersetzen. Sorry.

Ach so. Heute (Sonntag) um 18 Uhr spielt die deutsche Elf gegen die Slowakei. Nein, nicht gegen Slowenien. Und auch nicht mit Gewinn-Garantie.

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P.S. am Sonntag, 26. Juni, 22:09 Uhr abends: Nun, das lässt sich schon besser an. Ein durchaus beachtlicher deutscher Auftritt gegen die (allerdings erbärmlich abwehrschwachen) Slowaken, dazu die phasenweise putzmunteren Belgier. Und Frankreich – Irland soll auch ganz nett gewesen sein, wie ich höre. In diesem Stile darf’s von nun an gern weiter gehen.

Aber jetzt bitte nicht gleich wieder in den altbekannten Modus der deutschen Titel-Euphorie wechseln! Italien oder Spanien wartet.




Ein paar atemlose Bemerkungen zum „Brexit“

An diesem Thema kann man einfach nicht achtlos vorüber gehen, nicht einmal als Kulturblog aus dem Revier: Großbritannien verlässt also die Europäische Union. Dazu hier ein paar atemlose Notizen des Augenblicks, der gegenwärtigen, durchaus diffusen Stimmung entsprechend. Man muss der beengten Brust ja auch Luft verschaffen.

In den bisweilen über Gebühr zitierten sozialen Netzwerken ist (neben mancherlei Scherz und Ironie) eine Art Schockzustand zu verzeichnen. Auch mancher wüste Vorschlag („Jetzt den Eurotunnel fluten“) lässt indirekt auf Beklemmung schließen.

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Etliche Leute rechnen sich schon preiswerte England-Reisen aus oder bangen um den bisher noch halbwegs günstigen englischen Tee. In Frankfurt spekuliert man, ob man jetzt vollends zum neuen Finanzzentrum des Kontinents wird. Viele hegen halt ihre eigennützigen Erwartungen.

Bei Facebook und Twitter setzen unterdessen die üblichen Mechanismen ein. Es werden alle, aber auch wirklich alle Songs gepostet, die sich irgendwie auf den #Brexit beziehen lassen – von „Should I Stay or Should I Go?“ (The Clash) über „Anarchy in the U.K.“ (Sex Pistols) bis hin zu „Hello Goodbye“ von den Beatles.

Es jagen sich die Eilmeldungen. Pfund und DAX stürzen ab, David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Wer weiß, welche Nachrichten dieser denk- und merkwürdige Tag noch bringen wird. Nur eins interessiert uns nicht: ob Erdogan darob in schadenfrohen Taumel gerät. Soll er doch.

Mal ganz nebenbei. Zufällig habe ich gestern ein wenig nach der Ausstattung von Navigationsgeräten geforscht. Und siehe da: Viele Modelle bieten just 22 vorinstallierte Karten („Mitteleuropa“) – ohne die britischen Inseln. Ein Zeichen, ein Zeichen… Demnach müssten freilich auch die bislang verbliebenen skandinavischen Länder bald austreten.

Von der Fußball-EM ganz zu schweigen. Dort sind noch drei Mannschaften dabei, deren Landstriche vom Brexit unmittelbar betroffen sind: England, Wales und Nordirland. Von Rechts wegen müssten sie doch jetzt freiwillig abreisen, oder? Ehrlich gesagt, hat mich das Privileg schon immer gestört, dass sie derart viele Mannschaften entsenden können (Schottland käme im Qualifikationsfalle noch hinzu). Aber in Wahrheit möchte man sie ja allesamt nicht missen, insbesondere nicht die sangesfreudigen Fans.

Apropos Privilegien. Ich kann mir vorstellen, dass die Briten trotz des Austritts gewisse Vergünstigungen im Warenverkehr mit der EU für sich aushandeln werden. Man wird sehen. Lächerlich erscheinen jedenfalls die Insel-Phantasien, die auf „Rule, Britannia“ hinauslaufen, als könnte nun die alte Herrlichkeit des Weltreiches wieder beginnen. Man möchte (im Londoner Wettbüro?) beinahe auf das Gegenteil setzen.

Für den Brexit haben angeblich vor allem die Älteren und die Bewohner ländlicher Bezirke gestimmt. Es hat schon einen bitteren bis absurden Beigeschmack, dass vor allem sie über die Zukunft enscheiden. Schotten und Nordiren waren hingegen mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Gut möglich, dass die Schotten nun noch einmal über die Loslösung von Großbritannien abstimmen werden.

Wenn man aber dann die triumphalen Schlagzeilen in den Extrablättern der britischen Boulevardzeitungen sieht (in Riesenlettern „See EU later“ usw.), zweifelt man am letzten Rest des pragmatischen Verstandes, der doch angeblich die Inselbewohner auszeichnet. Die britische Brüllpresse ist allerdings eh eine Welt für sich.

Ganz schlimm wäre es, wenn dies ein Anfang vom Ende wäre. Fliegt uns jetzt das ganze europäische Projekt um die Ohren? Muss es nicht völlig neu ausgerichtet werden, etwa als Union gegen Sozialdumping?

Oder lassen sich die Völker jetzt wieder gegeneinander in Stellung bringen, wie ehedem in finsteren Zeiten?

Macht euch auf lange Leitartikel gefasst. Und hoffentlich auf beherzte Entscheidungen. Auf Weisheit wagt man ja gar nicht zu hoffen.

Übrigens: Man wüsste doch nur zu gern, wie die Queen über all das denkt. Obwohl es nichts ändert.




Brutaler Vernichtungskrieg: Vor 75 Jahren begann der Feldzug gegen die Sowjetunion

„Kaum ein Krieg war wie dieser. Kaum einer hat so viel Blut gekostet, hatte solche Wirkungen, hat so tiefe Spuren in der Erinnerung der Zeitgenossen hinterlassen …“ So beginnt der Historiker Christian Hartmann sein Buch über den Krieg im Osten zwischen 1941 und 1945. Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall auf die Sowjetunion. Vorbereitet unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ setzten sich in der Morgenfrühe 121 deutsche Divisionen in Bewegung.

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch "Unternehmen Barbarossa" (© Beck Verlag)

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch „Unternehmen Barbarossa“ (© Beck Verlag)

3,3 Millionen Soldaten begannen, auf einer Linie von 2130 Kilometern die Grenze zu überschreiten. 600.000 Kraftwagen, 3350 Panzer, 7300 Geschütze, unterstützt von 2000 Flugzeugen – eine riesige Streitmacht. Um 5.30 Uhr morgens verlas Proagandamininster Joseph Goebbels eine „Proklamation des Führers an das deutsche Volk“. Darin verbreitete er die Lüge, die sich auch nach dem Krieg lange halten sollte: Die Wehrmacht, so hieß es, sei zur „Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten“ in den „gewaltigen Aufmarsch der feindlichen Kräfte hineingestoßen“.

Die Behauptung, Hitler habe einen präventiven Krieg begonnen, wurde erst vor 20 Jahren wissenschaftlich gänzlich widerlegt. Tatsächlich ging es dem Diktator um einen Vernichtungskrieg. Geboren aus einer politischen Idee, die einst „in der dämmerigen Wahnwelt Münchner Bierspelunken Gestalt angenommen hatte“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb. Hitler hatte wohl auch den Gedanken, den Krieg auszuweiten, um England zum Frieden zu zwingen – den einzigen ernstzunehmenden Gegner, der ihm in Westeuropa geblieben war. Um Englands letzte Hoffnung auf dem Kontinent zu zerschlagen, müsse Russland „erledigt“ werden.

Doch es würde zu kurz greifen, in dem Russlandfeldzug nur eine Reaktion auf die politisch-militärische Lage zu sehen. Intensive Forschungen haben gezeigt: Hitler setzte einen Plan um, den er schon in „Mein Kampf“ skizziert hatte. Ihm ging es um die Vernichtung von Judentum um Bolschewismus, um den „Lebensraum“ im Osten, um die Vertreibung slawischer „Untermenschen“ und um den monströsen Plan, ein großgermanisches Reich zu errichten. Wie radikal und inhuman Hitler diesen Ansatz verfolgte, ist heute aus zahllosen Dokumenten erschließbar.

Wahnidee vom „Lebenraum im Osten“

Begünstigt wurde das „Unternehmen Barbarossa“ durch eine breite Akzeptanz des Kampfs gegen den „jüdischen Bolschewismus“ in der militärischen Führung. Nach dem Ende des „Blitzkriegs“ im Westen war einigen Generälen klar, dass die große Operation im Osten gemäß Hitlers Wahnidee vom „Lebensraum im Osten“ nicht lange auf sich warten lasse. So waren bereits Pläne in Arbeit, als Hitler am 3. Juli 1940 den offiziellen Befehl erteilte, prüfen zu lassen, wie ein militärischer Schlag gegen Russland zu führen sei.

Nicht nur militärisch, auch ideologisch bereiteten Hitler und seine Getreuen den Überfall mit deutscher Gründlichkeit vor. Elf Millionen „Slawen“ wollten sie nach Sibirien abdrängen und dort ihrem Schicksal überlassen – oder gleich „verschrotten“, wie der geplante Massenmord technisch bemäntelt ausgedrückt wurde.

Bei der wirtschaftlichen Ausbeutung der eroberten Gebiete rechneten die deutschen Planer bedenkenlos mit dem Hungertod von Millionen Menschen. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der russischen Führungsschicht war von Anfang an vorgesehen. „Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger Unterdrücker, muss beseitigt werden“, hieß es in Hitlers Richtlinien zu Sondergebieten. Die Massenmorde vor allem von SS-Einheiten im Hinterland wurden als „Sonderaufgaben im Auftrag des Führers“ eingeplant. Notwendig, so betonte Hitler wenig später, sei dazu „brutale Gewalt“.

Systematischer Massenmord

Militärisch sah der Plan vor, in nur 22 Wochen in einem „Blitzkrieg“ die Rote Armee handlungsunfähig zu machen und eine Linie zwischen Leningrad und dem Donezbecken zu erreichen. Mit schnellen Kräften sollten Keile in die russische Verteidigungslinie getrieben, die russischen Truppen vom Nachschub abgeschnitten, eingekesselt und aufgerieben werden, während die motorisierten Spitzen des Heeres schon weiter nach Osten vorrücken. Die Erfolge der drei Heeresgruppen und vier Luftflotten waren in der Tat gewaltig. Schon Anfang September war das belagerte Leningrad von Landverbindungen abgeschnitten. Drei verlustreiche Kesselschlachten bei Bialystok, Minsk und Smolensk brachten riesige Raumgewinne.

Ende 1941 waren das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine besetzt. In der Ukraine und in den baltischen Ländern wurden die Deutschen anfangs als Befreier bejubelt. Das änderte sich schnell, als die SS, unterstützt von Einheiten der Wehrmacht, mit ihrem Unterdrückungssystem und mit Erschießungen ernst machten. Rund eine halbe Million Menschen, so schätzt man heute, sind den systematischen Morden zum Opfer gefallen.

Schwere moralische Hypothek

Entgegen lange verbreiteten Theorien war die Niederlage der deutschen Militärmacht nicht erst mit Stalingrad, sondern schon mit dem Scheitern des „Blitzkrieges“ im Herbst 1941 besiegelt. Hitler hatte den dringend empfohlenen Angriff auf Moskau – die Kremltürme waren schon in den Ferngläsern der Panzerspitzen zu sehen – gestoppt, um die wirtschaftlich wichtige Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Die Moskauer Offensive begann erst im Oktober 1941 und blieb nach Anfangserfolgen im Schlamm und in den eisigen Temperaturen des einbrechenden Winters stecken. Auch die sträflich vernachlässigte deutsche Logistik hielt den Herausforderungen des gewaltigen Raumes nicht stand.

Was Hitler einmal als „Sandkastenspiel“ bezeichnet hatte, endete nach knapp vier Jahren in einer vollständigen Niederlage. Die Bilanz ist grauenerregend: Allein 27 Millionen toter Soldaten und Zivilisten auf russischer Seite, hunderte von Kilometern „verbrannter Erde“, traumatisierte Opfer, zerstörte Familien, Millionen vertriebener und heimatloser Menschen. Für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist dieser Krieg eine schwere moralische Hypothek; für die Weltgeschichte war er eine der fundamentalen Entscheidungen und bestimmt in seinen Auswirkungen die politische Landkarte bis heute.




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Traum und Wirklichkeit: Koblenz glänzt mit André Previns Oper „Endstation Sehnsucht“

Zaghafte Annäherung: Mitch (Juraj Hollý) und Blanche (Kerrie Sheppard). Foto: Matthias Baus

Zaghafte Annäherung: Mitch (Juraj Hollý) und Blanche (Kerrie Sheppard). Foto: Matthias Baus

Vier Menschen, von Sehnsucht erfüllt: Blanche, die verletzte Seele, die sich nach dem Zauber hinter allen Dingen sehnt. Die sich in Lügen und Fehlern verstrickt, weil ihr Träume wichtiger sind als Wirklichkeit. Stella, die ergeben unter der Grausamkeit ihrer Welt und ihres Mannes leidet, ein hilfloses Opfer, das sich ein wenig Schönheit und Würde wünscht. Mitch, ein aufrechter, aber etwas fantasieloser Mann, gefangen in seinen Hemmungen, seiner Anständigkeit und dem psychischen Spinnennetz seiner Mutter. Und Stanley, dessen Ängste mit verbaler Aggression, plakativem Männlichkeitsgehabe und ungeniert ausbrechender Gewalt überdeckt sind – aber im kindlichen Greinen nach Zuwendung offenbar werden.

Vier Menschen, deren Lebensstrecke die Sehnsucht zur Endstation hat, wie die Straßenbahn, die Tennessee Williams von seinem Fenster in New Orleans beobachtete, als er sein Stück schrieb. Und deren andere Station nicht Erfüllung, sondern Friedhof heißt. „A streetcar named desire“, eines der erfolgreichsten Dramen des amerikanischen Autors, diente dem musikalischen Multitalent André Previn als Vorlage für seine Oper gleichen Namens. 1998 uraufgeführt, hat sie sich zu einem viel gespielten Musiktheaterwerk der Gegenwart gemausert, immer wieder auch an deutschen Theatern inszeniert – unter anderem 2008 höchst erfolgreich in Hagen.

Aus dem Jahr 1787 stammt der Bau des Theaters Koblenz, der bei einer Renovierung 1985 wieder dem Originalzustand angenähert wurde. Foto: Werner Häußner

Aus dem Jahr 1787 stammt der Bau des Theaters Koblenz, der bei einer Renovierung 1985 wieder dem Originalzustand angenähert wurde. Foto: Werner Häußner

Auf der Bühne des historischen Theaterbaus in Koblenz rahmt Bodo Demelius eine anspruchslose Zwei-Zimmer-Wohnung mit der filigranen Eisen-Architektur des erblühten Industriezeitalters. Den Hintergrund füllen einfache Mietshaus-Ziegelfassaden. Vom Lebensgefühl der Fünfziger, als Williams‘ Stück und der weltberühmte Film Elia Kazans entstanden, sprechen die Sessel um den Nierentisch und ein voluminöser Kühlschrank. Einfache Attribute eines Lebens knapp über der Unterkante der Armut.

Auch die Kostüme von Claudia Caséra sprechen von dem Wunsch, ein wenig mehr zu scheinen als man ist. Verblichener Flitter für Blanche, ein etwas zu schreiend modisch bedrucktes Hemd für Mitch, Südstaatler-Hüte und viel Macho-Feinripp für die Hitze des Südens. Die Atmosphäre ist stimmig, das Milieu passend gezeichnet. Behutsam wird der bloße Naturalismus vermieden – etwa durch die Galerie, die sich über die Wohnung spannt, oder durch Haruna Yamazaki als mexikanische Frau, geschminkt als Todesbotin wie eine Figur des mexikanischen „Día de los muertos“.

Intendant Markus Dietze arbeitet in seiner Inszenierung mit den Menschen des Stücks. Die Entwicklung, die Blanche von der Lebenslüge über die Illusion bis in den Wahn treibt, zeichnet er stimmig nach. Kerrie Sheppard verkörpert die Frau auf der Flucht vor der unerbittlich durch den brutalen Stanley Kowalski (beklemmend realistisch: Michael Mrosek) eindringenden Realität in jeder Nuance ihres Spiels. Sie ist das Opfer, das sich fadenscheinige Fassaden aufbaut, bis sie unbarmherzig abgerissen werden und nur noch die Flucht in den Wahn bleibt. Sheppard ist gesanglich immer dann glaubwürdig und nahe bei ihrer Figur, wenn sie die allzu voluminöse Emission hinter sich lässt und psychologische Nuancen in Piano-Facetten und in differenzierten Tönungen des Klangs ausdrückt.

Poker der Machos (von links): Michael Mrosek, Jona Mues, Christoph Plessers, Juraj Hollý. Foto: Matthias Baus

Poker der Machos (von links): Michael Mrosek, Jona Mues, Christoph Plessers, Juraj Hollý. Foto: Matthias Baus

Konzentriert gelingt so die für das psychologische Verständnis der Figuren entscheidende Szene zwischen Blanche und Mitch im zweiten Akt: Zwei zutiefst einsame Menschen, die einander bräuchten, um sich zu befreien – aus den halb eingestandenen Alpträumen der Vergangenheit und aus der psychischen Umklammerung durch eine dominierende Mutter. Juraj Hollý beglaubigt als Mitch mit seinem warm abgetönten Tenor und seinem sorgsam geformten Spiel die sensible Seite eines Mannes, der nicht wirklich in die raue Runde Poker spielender Prolls passt, der im entscheidenden Moment jedoch den Aufbruch nicht wagt.

Christoph Plessers (Steve) und Jona Mues (Gonzales) komplettieren das Männerquartett mit sorgfältig entwickelten Personenstudien. Irina Marinaş als Blanches Schwester Stella hat ihre Rolle verinnerlicht; mit schüchternen Momenten des Aufbegehrens hat sie keine Chance gegen ihren ordinären Mann.

Kerrie Sheppard (Blanche) und Michael Mrosek (Stanley) in André Previns "A streetcar named desire" in Koblenz. Foto: Matthias Baus

Kerrie Sheppard (Blanche) und Michael Mrosek (Stanley) in André Previns „A streetcar named desire“ in Koblenz. Foto: Matthias Baus

Previns Partitur merkt man an, dass ein erfahrener Operndirigent musikalische Mittel in kluger Dosierung einsetzt und der Stimme den Primat einräumt. Schostakowitsch hat in „Lady Macbeth von Mzensk“ die grellere und komplexere Vergewaltigungs-Musik geschrieben, doch Previns ökonomischer Mitteleinsatz macht aus der demütigenden Szene gleichwohl einen dramatischen Höhepunkt. Eine Musik ohne Avantgarde-Anspruch, aber eminent theaterwirksam und über das unverkennbare Können hinaus auch mit Momenten, die nur so und nicht anders für das Drama geschrieben sein könnten. Musiktheater, das unter die Haut geht.

Die Rheinische Philharmonie hat unter Enrico Delamboye ihre Spielkultur weiter ausgebaut. Es gibt weder klangliche Nachlässigkeiten noch rhythmische Unschärfe. Vor allem in den nächtlich leisen, den fiebrig lauernden, den gebrochen traurigen Klängen beweisen sich die Solisten in rund gestaltetem Ton und in filigranem Zusammenspiel. Den Tutti nimmt Delamboye das Fett von den Hüften, lässt straff und konzentriert artikulieren und findet die Balance, die den Spielraum zum Gestalten weitet. Nicht nur das Orchester – das gesamte Koblenzer Ensemble glänzt mit dieser Produktion, die über die Region hinaus einen Stern verdient hätte.

Aufführungen am 22., 27. und 30. Juni. Info: www.theater-koblenz.de




Gespräche mit einem Vatermörder – „Theben-Park“ bei den Ruhrfestspielen

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Vatermörder Martin Santos (Nicolai Despot, links), Dramatiker S. (Maik Solbach) (Foto: Bohumil Kostohryz / Ruhrfestspiele)

Vatermord gleich Ödipus, oder? Der namenlos bleibende Autor S. in Sergio Blancos Zweipersonenstück „Theben-Park“ hat da eine ganz feste Meinung, die er in einem Theaterprojekt mit einem ganz realen Vatermörder realisieren möchte – im Auftrag, kleiner inszenatorischer Scherz, der Ruhrfestspiele.

Die Absicht, den jungen Vatermörder sich selbst spielen zu lassen, scheitert am Einspruch der Behörden, und so wird aus dem Zweipersonen- flugs ein Dreipersonenstück, in dem ein Schauspieler nun abwechselnd den richtigen Vatermörder und den Schauspieler, der den Vatermörder geben soll, spielt, es somit summa bei zwei Darstellern bleibt. Autor und Delinquent/Schauspieler nähern sich aneinander an, entwickeln Szenen, das Geschehen ist längere Zeit absehbar.

Kaum Parallelen zu Ödipus

Natürlich hat der Stoff seinen Konflikt, der in den anderthalb Stunden, die die Inszenierung dauert, deutlich wird: Ödipus und Vatermörder Martin Santos haben kaum Gemeinsamkeiten. Die schuldhafte Verstrickung des Königssohns Ödipus, der um die Wirklichkeit nicht wissend seinen Vater umbringt, ist ein Konflikt für die gymnasiale Oberstufe; der Vater indes, den der junge Martin Santos mit einer Gabel abstach, war ein Arschloch, ein Sadist und Kinderschänder, der es nicht besser verdiente. Der Mörder wußte ganz genau, in wessen Leib er seine Waffe rammte, das steigerte seinen Furor in der Grenzsituation eher noch. Wenn er die Mordtat erst in Nachgang realisierte, so bringt ihn das dem unwissenden Ödipus doch nicht wirklich näher; netter Bastelversuch des Dramatikers S.

In der Folge dieser Tat könnte man natürlich nach ihrer moralischen, ethischen Bewertung in unseren Tagen fragen, was die überaus schlüssige, intensive Inszenierung Frank Hoffmanns indes unterläßt. Sie verortet (wortwörtlich) den Täter im Gefängnis, wo er wohl schon länger und für lange noch einsitzt und deutliche Symptome von Hospitalismus zeigt. Die Gesellschaft hat ihn ausgestoßen und weggeschlossen. Für immer? Und zu Recht?

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Vatermörder Martin Santos (Nicolai Despot, rechts), Dramatiker S. (Maik Solbach) (Foto: Bohumil Kostohryz / Ruhrfestspiele)

Heißes Wasser in den Duschen

Der Dramatiker S. denn also bekommt vom Täter seine (vermeintliche) Ödipus-Geschichte, schmückt sie mit einigen frei erfundenen, eher geschmacklosen Details aus und sieht zu, daß die Beziehung zu Martin dann zügig ihr Ende findet. Der nämlich hatte sich dem Autor nach anfänglicher aggressiver Scheu doch sehr geöffnet, ihm auch homosexuelle Avancen gemacht und überhaupt wenig Interesse an den Begrenzungen des Settings gezeigt. Wozu auch? Im Gefängnis bemißt sich Lebensqualität nicht nach publizistischen Konventionen, sondern nach der Besuchsregelung und der Zeit, zu der das heiße Wasser in den Duschen abgedreht wird. Und an Kontakten zu Menschen von draußen, auch wenn sie hemmungslose Ausbeuter von Zwangssituationen sind wie der Dramatiker S.

Maik Solbach gibt S., Nicolai Despot den Vatermörder Santos wie auch den Schauspieler Federico, und beide machen ihre Sache sehr gut. Vielleicht sollten sie in den weniger dramatischen Passagen der Inszenierung mehr Gelassenheit zeigen – das Stück ist ja eher naturalistisch angelegt. Vielleicht aber auch ist das Geschmackssache.

Was Klassik heute noch bedeutet

In jedem Fall könnte dieses kurze Stück eines bei uns nahezu noch unbekannten uruguayanischen Autors (Wikipedia, kleiner Schwank am Rande, bietet für den Namen Sergio Blanco lediglich einen Fußballer an oder aber die Möglichkeit, selber etwas über ihn zu verfassen) der Einstieg in eine Diskussion darüber sein, wie bedeutsam die dramatischen Motive der Klassik für uns Heutige noch sind; vielleicht auch der Einstieg in eine Diskussion über den zeitgemäßen Umgang mit Morden, Mördern und anderen traumatischen Ereignissen.

Mit seiner Inszenierung von „Theben-Park“ hat Frank Hoffmann ein Stück Theater geschaffen, das das Publikum zum Nachdenken auffordert, ohne ihm sogleich die finale Weltsicht des Regisseurs aufzudrängen.

Freundlicher, anhaltender Applaus in der Recklinghäuser Halle König Ludwig 1/2 für einen kleinen Höhepunkt in der Schlußphase der Ruhrfestspiele.

Termin: Samstag, 18.Juni www.ruhrfestspiele.de

 




Marionetten der Geldgier: Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ im Essener Aalto-Theater

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Die berühmten Crescendo-Walzen, die mit der Dynamik einer Dampflok über das Publikum hinweg rollten, trugen zum Erfolg des Komponisten Gioacchino Rossini ebenso bei wie die irrwitzig-automatenhafte Qualität seiner Koloraturen und das Baukastenprinzip seiner musikalischen Floskeln. Jan Philipp Gloger nimmt das Nahen eines mechanisch getriebenen, technikbegeisterten Zeitalters jetzt als Folie, um Rossinis komische Oper „Der Barbier von Sevilla“ neu in Szene zu setzen.

Im Essener Aalto-Theater entwickelt der 1981 geborene Regisseur, der von Hagen aus zu einer internationalen Karriere startete, das Intrigenspiel um den eitlen Doktor Bartolo und die hübsche Rosina ganz aus der Musik heraus. Sie wird zum Motor, zu einer übermächtigen Maschine, die alle Figuren vorwärts peitscht. Die können gar nicht anders, als ihren Trieben hinterher zu hetzen. Geldgier, Geltungssucht und Eitelkeit feiern fröhliche Urständ.

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Beängstigend leer ist die Bühne zu Beginn. Holzkisten verschiedener Größe, die Figaro nach und nach heran karrt, fügen sich zu einem schlichten, aber wirkungsvollen Bühnenbild (Ben Baur). Quasi im Schachtelsystem erschließt sich der Charme der italienischen Stegreifkomödie, betont durch die Kostüme von Marie Roth, die viel über den Charakter der Personen verraten. Diese bleiben Marionetten, trotz allzu menschlicher Züge. Figaro, der wohl berühmteste aller Barbiere, ist Dirigent, Strippenzieher und vor allem tüchtiger Geschäftsmann, der den liebestollen Grafen Almaviva ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.

Glogers Einstand in Essen wird zum Erfolg, weil er sich eng an die Turbulenz und die Überzeichnungen der Commedia dell’arte hält, ohne auf schenkelklopfendes Lachen zu zielen. Vielmehr lässt er uns lächeln über die menschlichen Schwächen, die Rossini treffgenau vorführt.

Kluge Bezüge machen das Spiel vielschichtig: So wird Rosina in ihrer Koloraturarie „Una voce poco fa“ als Vorläuferin von Hoffmanns „Olympia“ kenntlich. Die Chöre schickt er in der Gewitterszene in einen Taumel, der uns die Rossini-Raserei im Wien des Jahres 1822 nahe bringt. Die Beleuchtung (Christian Sierau) zaubert immer wieder Stimmungswechsel, Schattenrisse und absichtsvoll falsche Spots.

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker, v.l.) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Warum Giacomo Sagripanti jüngst in London als bester Nachwuchsdirigent ausgezeichnet wurde, wird am Premierenabend deutlich. Unter seiner espritgeladenen und punktgenauen Leitung lassen die Essener Philharmoniker die Musik herrlich moussieren, folgen den Sängern biegsam und lassen die Crescendo-Walzen vom eisigen, am Steg der Streicher erzeugten Schauer zum klangschönen Fortissimo anschwellen. Detailversessenheit kommt hier nicht verbissen daher, sondern mit lebensfroher Lust am Raffinement.

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Auch sängerisch gibt es viel Gutes zu berichten. Als neues Ensemblemitglied stellt sich der Grieche Georgios Iatrou mit einem eleganten Bariton vor, in der berühmten Arie „Largo al factotum“ noch mäßig blutvoll, aber stets zunehmend an samtiger Kraft – und dabei herrlich selbstgefällig. Der als Rossini-Experte geltende Tenor Juan José de Léon zeigt als Almaviva große Spielfreude und enorme Strahlkraft, wobei sich vermutlich durch Nervosität bedingte Schärfen in den Höhen aufs angenehmste mildern. Wunderbar sonor klingt Baurzhan Anderzhanov, der manche Sympathie für den eitlen Doktor Bartolo weckt. Tijl Faveyts, der als Musiklehrer Don Basilio einem alternden Rockstar ähnelt, zieht mit seiner Verleumdungsarie nahezu gleich. Karin Strobos ist als Rosina erfrischend stimmgewandt und koloratursicher.

Frustrierte Musiker, missglückte Polizei-Einsätze, durchtriebene Weiblichkeit und potente Geldgeber ohne Grips und Geschmack geben dem Abend die amüsant-bösen Untertöne, die alle Rossini-Fans lieben. Ein Trauerspiel, was manche Menschen sich so leisten… Wenn sie nicht so lachhaft wären.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ (Hamm) erschienen. Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/il-barbiere-di-siviglia.htm)




Was man mit 1 Million Euro anfangen kann – zum Beispiel viele Menschen ins Museum holen

Kürzlich hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf einer ganzen Seite die Frage abgehandelt, was sich mit 1 Million Euro auf dem deutschen Immobilienmarkt anfangen ließe.

Gut ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Weithin sichtbar ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Befund: In abgelegenen Ecken Brandenburgs könnte man damit ein repräsentatives Anwesen erwerben, in Münchens gefragtesten Vierteln mitunter nur noch eine 70-Quadratmeter-Wohnung. Verrückt.

Man kann aber besagte Million auch ganz anders verwenden, nämlich nutzbringend für die Allgemeinheit. Just diesen Betrag hat die Krupp-Stiftung zur Verfügung gestellt, um im Essener Museum Folkwang fünf Jahre lang kostenfreien Zutritt zur ständigen Sammlung zu ermöglichen.

Vor ziemlich genau einem Jahr (19. Juni 2015) hat die löbliche Aktion begonnen. Wie jetzt bekannt wird, zeigt sie erwartungsgemäß ordentlich Wirkung. Denn seitdem und bis vorgestern haben exakt 103 763 Menschen das Angebot angenommen, das entspricht einer Steigerung der Besucherzahl um 141 Prozentpunkte. Bei Kindern betrug der Besucherzuwachs sogar exorbitante 186 Prozentpunkte.

Es gehört zur angenehmen Routine, dass sich angesichts solch erfreulicher Zahlen sowohl der Musumsdirektor (Dr. Tobia Bezzola) als auch die Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung (Prof. Ursula Gather, zugleich Rektorin der Dortmunder Uni) sehr angetan äußern. Wie auch sonst?

Und tatsächlich. Das ist mal ein kultureller Lichtblick. Weiß man, was vor allem bei Kindern die frühzeitige Berührung mit den Künsten fürs spätere Leben anstiftet? Man ahnt es ja und hofft das Beste.

Und die 70-Quadratmeter-Behausung in bester Münchner Lage? Soll kaufen, wer da will (und kann). Sympathie wird so jedenfalls nicht erworben.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




Telekom-Fehler seit über einem Monat: Millionen Mailausdrucke ohne Ä, Ö, Ü und ß…

Gerade mal wieder mit der Telekom-Hotline gesprochen. Eines meiner Hobbys, dem ich recht häufig fröne; zähneknirschend frönen muss, um genau zu sein. Weil immer mal wieder etwas schief läuft.

Worum geht’s jetzt? Seit einiger Zeit kann ich meine t-online-Mails nicht mehr richtig ausdrucken. Es fehlen dann alle Umlaute, jegliche Akzente und das ß, die in der empfangenen Mail auf dem Bildschirm zu sehen sind. Doch im Ausdruck sind die Zeichen verschwunden. Im Deutschen wahrlich keine Kleinigkeit, im Französischen z. B. ebenfalls nicht. In jedem Falle ärgerlich.

Screenshot-Ausschnitt des Telekom-Mailprogramms

Screenshot-Ausschnitt des Telekom-Mailprogramms

Es liegt nicht etwa am Drucker, es nützt auch nichts, Einstellungen im Mailprogramm zu ändern, nein, die Telekom muss offen zugeben: Es liegt an ihren zentralen Servern. Das heißt: Alle Telekom-Mailkunden sind betroffen. Es dürften also viele Millionen sein, die sich seit Wochen mit diesem Fehler plagen.

Nun sind sie bei der Telekom gewiss Tag und Nacht fieberhaft zugange, um den peinlichen Fehler zu beheben?

Wohl weniger.

Schaut man in einschlägige Hilfeforen, so haben die Probleme bereits vor dem 13. Mai begonnen. Und welchen Rat erhalten die Kunden, die online um Hilfe nachsuchen? Ich zitiere aus der höchst unbefriedigenden Antwort des „Telekom hilft Teams“ auf eine just am 13. Mai gestellte Kundenanfrage:

„Bei dem von Ihnen beschriebenen Sachverhalt handelt es sich um einen bekannten Fehler, der seit kurzem auftritt. Er wird mit einem der nächsten Updates behoben – zurzeit kann ich noch keinen konkreten Termin nennen und bitte daher um Ihre Geduld.“

Inzwischen haben wir Mitte Juni und sie vertrösten einen bei der Hotline immer noch mit den gleichen Sprüchen auf „eines“ der nächsten Updates. Derweil zahlt man ihnen Monat für Monat seinen Obolus. Aber man ist ja nur Bestandskunde, den die Telekom sicher im Sack zu haben glaubt.

Klar, der Typ von der Hotline hat irgendwie recht: Man kann den Mail-Inhalt definieren, kopieren, in ein anderes Programm einsetzen und dann ausdrucken. Doch welch ein Umstand wäre das. Blöde Bemerkungen übers papierlose Büro möchte ich jetzt gleichfalls nicht hören. So manches Schriftstück braucht man eben als Ausdruck. Auch anno 2016.




Ein bisschen Schwund ist immer: Wie die Erinnerungen an die Rundschau verblassen

Nein, es ist gar kein „Jahrestag“. Die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau in Dortmund wurde zum 31. Januar 2013 entlassen – und das „rundet“ sich gerade mal nicht. Doch was soll’s. Die ganze Angelegenheit geht einem zwischendurch immer mal wieder durch den Kopf, wenn man dort Jahrzehnte seines Berufslebens zugebracht hat.

Alte Schriftzüge abmontiert: das frühere Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg. (Foto: Bernd Berke)

Alte Schriftzüge abmontiert: das frühere Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg. (Foto: Bernd Berke)

An trüben Tagen wie diesen kann es geschehen: So dachte ich mir neulich, dass einstige Rundschau-Redakteure und dito freie Mitarbeiter(innen), wenn sie nur lang genug dabei gewesen sind, vielleicht ein wenig nachvollziehen können, wie sich das mit der nachträglich gründlich abgewerteten „Lebensleistung“ (z. B. früherer DDR-Bewohner) anfühlen mag. Da haben viele, viele Leute Tausende von Stunden ihrer Arbeitskraft investiert (vom etwaigen Herzblut mal zu schweigen), um zu einem möglichst guten Blatt beizutragen – und dann wird eines Tages die ganze Chose kurzerhand über die Reling gekippt.

Was also ist übrig von all den täglichen Mühen, außer vergilbten Archivexemplaren, außer einer leeren Hülle, einer bloßen Phantom-Marke? So gut wie nichts. Jedenfalls nichts vom früheren Geist (oder sagen wir bescheidener: vom Spannungsfeld) einer Redaktion, die sich immerzu zwischen Kooperation und Konflikt bewegt hat, die auf ihre Art ein lebendiger Organismus gewesen ist. Es war grundlegend anders als jetzt, wo die Zeitung mit fremden Inhalten gefüllt wird wie eine Flasche mit einer lauwarmen Flüssigkeit undefinierbarer Herkunft, Konsistenz und Zusammensetzung.

Nun gut. Das mit der DDR war wohl ein schräger, etwas gesuchter Vergleich. Aber so ist das, wenn etwas dermaßen abrupt aufgehört hat. Dann greift man, weil es ein beispielloser, schwer benennbarer Vorgang war, auch mal zu weniger passenden Analogien. Und dabei war ich ja nicht einmal direkt vom plötzlichen Ende betroffen, weil ich die Zeitung schon fast vier Jahre vorher aus freien Stücken verlassen hatte. Aber egal. Es beschäftigt einen doch. Über den Tag hinaus.

Vor einigen Wochen sind endlich die längst sinn- und funktionslosen Schilder (Westfälische Rundschau / WAZ) vom vormaligen Rundschauhaus am Dortmunder Brüderweg abmontiert worden. Einerseits verschwinden so Signale der Verlogenheit, andererseits auch Zeichen der Erinnerung.

Apropos Erinnerung. Als vor einiger Zeit für den Bau eines (ziemlich misslungenen) neuen Innenstadtviertels die noch früher genutzten WR-Gebäude an der Bremer Straße abgerissen wurden, wussten jüngere Dortmunder gar nicht mehr, dass dort jemals die Zeitung herausgekommen war. Sie kannten allenfalls noch die Disco „Soundgarden“, die dort später für ein paar Jahre Betrieb gemacht hat.

Noch etwas kommt hinzu. In den Jahren seit 2013 sind einige Kolleginnen und Kollegen gestorben, die man aus der Redaktion gekannt hat. Es lässt sich nicht ausschließen, dass im einen oder anderen Fall auch nagender Kummer über den Schwund der beruflichen „Heimat“ das Leben verbittert oder gar verkürzt hat.

Als der Laden noch lief, konnte man sich bei Todesfällen in den Reihen der Redaktion allerdings noch gut zureden: Da kommt etwas nach, wir haben wieder gute Volontärinnen und Volontäre, sie werden die Fackel weiter tragen. Jetzt aber ist es Mal um Mal und Stück für Stück ein Absterben auch noch der letzten kleinen Überlieferung, die allmähliche Auflösung eines restlichen Zusammenhangs. Und dabei geht es wahrlich nicht nur um verblassende Anekdoten aus dem beruflichen Alltag.




Originelle Museen in Berlin – aber die Currywurst würde ebenso gut ins Revier passen

Wenn es in der Stadt Bochum ein Bergbaumuseum gibt, dann kann man für seine Existenz und den Standort Ruhrgebiet gute Gründe finden – die Geschichte des Kohle-Abbaus eben. Nach Berlin fahren viele Menschen nur wegen der reichhaltigen Kunstmuseen, das hat eine Hauptstadt nun einmal zu bieten. Berlin glänzt aber auch mit kuriosen Ausstellungen, für die es natürlich ebenfalls lokale Begründungen gibt.

Einheitsladen für Berliner Currywurst. (Foto Pöpsel)

Einheitsladen für Berliner Currywurst. (Foto: Pöpsel)

Da rühmt sich das „Spy-Museum Berlin“ zum Beispiel damit, die Geschichte der „Hauptstadt der Spione“ zu zeigen, multimedial natürlich und mit 350 Ausstellungsstücken auf 32.000 Quadratmetern. Ebenfalls auf die Teilung der Stadt geht das „DDR-Museum“ in der Nähe des Doms zurück, passend an der Karl-Liebknecht-Straße angesiedelt.

Auch auf die damalige Ostzone gehen das „Trabi-Museum Berlin“ in der Nähe des Checkpoint Charlie und das „1. Berliner DDR-Motorrad-Museum“ zurück. Letzteres zeigt neben dem Alexanderplatz ausschließlich „The History of east german Motorbike Production“. Besonders bekannt in dieser Reihung ist die „East Side Gallery“, das bemalte Stück Berliner Mauer, ein Freiluft-Museum, das ständig durch Bauherren gefährdet ist.

Eine Einrichtung allerdings weckt im Ruhrgebiet zwiespältige Gefühle: Das „Currywurst-Museum“ an der Schützenstraße / Ecke Friedrichstraße, eine „interactive exhibition“. Schließlich sieht sich der Ruhrpott genauso wie Berlin als Geburtsstätte dieser kulinarischen Spezialität. Herbert Grönemeyer hat sie besungen, und während hier im Westen die Bratwurst als Grundlage dient, wird in der Hauptstadt eine Knackwurst zerschnibbelt.

Vielleicht macht ja mal jemand in Dortmund ein konkurrierendes Currywurst-Museum auf, oder zumindest ein Museum für die berühmte „Pommes Schranke“. Aber dann kommt bestimmt wieder ein Belgier und nimmt das Urheberrecht für sich in Anspruch.




Kreuzbrave Lektüre für EM-Pausen: Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum

So. Die EM läuft also. Wie wär’s jetzt für die Pausen mit etwas Lektüre zur Geschichte der Nationalmannschaft – und dann auch noch mit gewissem Regionalbezug?

Kein Problem. Schließlich ist im letzten Jahr in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB eröffnet worden. Und just dazu gibt es ein ziemlich üppiges Begleitbuch zum vergleichsweise günstigen Preis. Natürlich kommt auch die Edition aus dem Revier, nämlich aus dem Essener Klartext-Verlag.

9783837509731

Der gewichtige Band im Katalogformat heißt „Mehr als ein Spiel“ und ist selbstredend durchweg positiv gestimmt. Es geht vor allem um die Nachfeier der vier deutschen Weltmeistertitel (bekanntlich 1954, 1974, 1990, 2014). Es gibt weder Kritik am Nationalteam noch etwa an Finanzierung oder Architektur des Fußballmuseums und erst recht nicht am Gebaren des DFB, sondern Lob und Preis bis hin zur Devotionalien-Verehrung („Götzes goldener Schuh“ und dergleichen).

Gelegentliche Leistungstiefs von „La Mannschaft“ werden nicht verschwiegen, sie wirken aber in diesem Kontext nur wie bedauerliche Ausrutscher in der insgesamt triumphalen Historie. Das wesentliche „Narrativ“ (um das Modewort zu verwenden) dieses Buches läuft eben eher auf Girlanden, Gloriolen und Heldentaten hinaus. Freilich: Zwischenzeitliche tragische Momente passen hinein, sie verleihen ja den Siegen zusätzliche Tiefenschärfe.

Den in den letzten Jahren vielfach erfreulich verfeinerten und oft wunderbar ironisierten Fußballdiskurs (besonders gepflegt von der Zeitschrift „11 Freunde“, von Arnd Zeigler etc.) wird man vielleicht hie und da vermissen, aber derlei geistreiches Funkeln gehört wohl auch nicht in ein solch offizielles Buch und hat anderweitig Platz.

Immerhin ergeben die Textbeiträge und die Fotoauswahl ein doch recht großflächiges Gesamtbild, das deutlich über das Nationalteam hinaus reicht und z. B. auch die Entwicklung der Bundesliga, des Vereinsfußballs oder der Fankultur in den Blick nimmt. Weitere (kurze) Kapitel handeln beispielsweise von Frauenfußball, dem Fußball in der einstigen DDR, von Fußball und Kultur oder gar von der Basis des Sports, hier in Gestalt der C-Junioren des Essener Clubs Fortuna Bredeney. Pflichtgemäße Gespräche mit den deutschen Kickergrößen Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm kommen sozusagen erschwerend hinzu.

So weit, so kreuzbrav und verbandsfromm. Aber wer will denn auch nachträglich mit errungenen Titeln hadern? Da meckert man doch (als einer von zig Millionen Bundestrainern) lieber zum Exempel ganz aktuell über die „unmögliche“ Aufstellung, die Jogi Löw jetzt gegen die Ukraine…

Manuel Neukirchner (Hrsg.): „Mehr als ein Spiel. Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum“. Klartext-Verlag, Essen. 258 Seiten. 19,95 Euro.




Appetithäppchen aus der Fremde – Dennis Gastmanns „Atlas der unentdeckten Länder“

Atlas der unentdeckten Länder Wenn es einer schwer hat in der durchkarthographierten, digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, dann ist es der Entdecker und Abenteurer. Die Welt ist vermessen, ganz bequem kann man vom Schreibtischstuhl aus per Mausklick allüberall hinreisen. Was also tun, wenn man im Herzen ein Entdecker und Abenteurer ist?

Der Journalist Dennis Gastmann ist so einer, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, will er so schnell nicht klein beigeben. Natürlich weiß er, „dass alle Länder dieser Welt längst entdeckt worden waren“, er weiß „aber auch, wie unerreichbar manche von ihnen scheinen.“ Also macht er sich auf und sucht „das Unbekannte, verborgene Königreiche, verbotene Berge, ferne, vergessene, magische Orte“ wie die tausendjährige Mönchsrepublik Athos. Er überwindet Berge und Ozeane, aber auch ungezählte „bürokratische Schützengräben“. An all dem lässt er den Leser in seinem „Atlas der unentdeckten Länder“ teilhaben.

Unter Haien und in der Wüste

Eingerahmt von sorgfältigen Schwarz-Weiß Illustrationen, die Details aus den Geschichten zeigen, erzählt Gastmann in seinen Reportagen von versinkenden Inseln wie dem einstigen Zufluchtsort der Bounty-Meuterer Pitcairn und von deren eigenwiligem Autarkie-Verständnis. Er taucht mit Haien, kämpft gegen Sandstürme in der Wüste und wandelt auf den Spuren von Tom Hanks, als er tagelang in einem Flughafenterminal kampiert.

Wenn es nicht anders geht, arrangiert sich Gastmann für seine Reise auch mit Staatsformen, die durchaus als mafiös zu bezeichnen sind (und das ist noch wohlwollend). Immerhin kann er von sich sagen, die Gastfreundschaft der Karakalpakstaner genossen zu haben. Ihm ist kein Weg zu weit, um seine journalistische Neugier und seine Entdeckerfreude zu stillen.

Sehnsucht nach dem Abenteuer

Aber was genau er bei all dem herausfinden will, wird nicht ganz klar. Die einzig klare Intention ist es, Abenteuer zu erleben, alles andere bleibt im Ungefähren.

Dennis Gastmann ist ein deutscher Reise-Schriftsteller und Moderator, eine erste größere Öffentlichkeit erreichte er mit gleichermaßen witzigen wie entlarvenden Beiträgen für das Satiremagazin „Extra3“, in dem Gastmann in die Rolle der renitent penetranten Reporterfigur „Dennis“ schlüpfte. Gastmann bezeichnet sich selbst als Gonzo-Reporter. Diese Form von Journalismus charakterisiert sich durch die Berichterstattung aus subjektiver Sicht des Autors, der sich und seine Erlebnisse selbst in Beziehung zum Thema setzt.

Und genauso subjektiv muss man sich auch an die Lektüre dieses Buches begeben. Dennis Gastmann geht es allenfalls am Rande um die Vermittlung von Wissen, Vorwissen wird sogar vorausgesetzt. Besser man hat bei Lektüre immer ein Nachschlagewerk der Wahl zur Hand. Oder ein kleines, feines Kulturportal mit Bildungsanspruch – dann weiß man zumindest im Kapitel über Ladonien, worüber genau der Autor da gerade so wehmütig sinniert.

Schmaler Erkenntnisgewinn

Gastmann ist unbestritten ein sehr genauer Beobachter. Umso bedauerlicher, dass er von seinem mühevollen Reisen meist nur Mikro-Ausschnitte wiedergibt. Letzten Endes ist sein Buch nicht mehr als eine Sammlung von zwar amüsanten flott geschriebenen Anekdoten, deren Erkenntnisgewinn aber marginal ist und sich auf Urteile wie „Wilhelm Bligh, der cholerische Kapitän der Bounty, war ein überforderter CEO“ beschränkt.

Wer vorherige Werke von Gastmann wie beispielsweise seinen Ausflug in die „Geschlossene Gesellschaft“ der Superreichen kennt, vermisst auch die leichte Prise Boshaftigkeit, die seine Werke sonst oft begleiteten. Das geht einerseits in Ordnung, weil er mit viel Respekt auf die schaut, denen er begegnet. Andererseits fehlt aber der kritische Blick auf soziale und politische Mißstände. Den muss sich der Leser schon selbst aus erwähnten Versatzstücken zusammenklauben.

Meinung wird schmerzlich vermisst

Schon beim Titel empfindet man leichte Irritation – das Werk enthält weder genauere Ortsbeschreibungen noch wenigstens eine Karte, die den Titel Atlas rechtfertigen würde. Und dieses Gefühl der Irritation bleibt. Wenn man sich als Leser auf Reisereportagen einlässt, dann will man doch etwas lernen, etwas Neues erfahren. Anekdoten wie die gebotenen bekommt man auf jeder Familienfeier und da ist es irgendwo auch egal, ob sie vom öffentlichen Nahverkehr am Chiemsee oder in Palästina handeln.

Nun könnte man argumentieren, dass die Berichte über unterschiedlichen Lebensstile immerhin die Frage aufwerfen, was uns das über den Rest unserer durchorganisierten Welt sagt. Auch Gastmann stellt diese Frage, aber er geht ihr auch nicht im Ansatz nach. Da ist er – Gonzo hin oder her – klassicher Journalist. Er berichtet und fertig. Dabei wäre die Meinung desjenigen, der wirklich vor Ort war, schon interessanter gewesen als die Meinung, die man sich als Leser nach den servierten Häppchen selber bildet.

Dennis Gastmann: „Atlas der unentdeckten Länder“. Illustrationen von Harry Jürgens. Rowohlt Berlin. 267 Seiten, €19,95.




Neues Design der Hörfunk-Nachrichten auf WDR 2: Das Dudeln höret nimmer auf

Zugegeben: Auf die Hörfunkwelle WDR 2 komme ich sowieso nur noch selten zurück. Schon die Musik missfällt mir, sie besteht größtenteils aus dem allgegenwärtigen Hitparaden-Mainstream.

Überhaupt biedert man sich dort zunehmend dem angeblichen Mehrheitsgeschmack an. Nur gut, dass es noch WDR 5 und WDR 3 bzw. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur gibt. Selbst WDR 4, wo sie früher hauptsächlich Schlager abnudelten, liegt mir mit seiner Rock- und Pop-Nostalgie inzwischen näher.

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Aber das wollte ich gar nicht hauptsächlich erzählen, es ist nur der dauerhafte Hintergrund meines Ärgers. Vielmehr geht es um dies:

Bei den heutigen Morgennachrichten auf WDR 2 habe ich meinen Ohren nicht getraut. Das konnte doch nicht wahr sein, oder?

Da gab’s eine unsägliche Neuerung, die offenbar schon am letzten Wochenende eingeführt wurde, nämlich ein „Musikbett“, das den Hauptnachrichten jetzt permanent unterlegt wird. Das undefinierbare, absolut identitätsfreie Muzak-Gedudel oder auch Gesäusel wird also gnadenlos durchgezogen; ganz egal, welcherlei Nachricht gerade verlesen wird. Mord und Totschlag? Terrorattentate? Katastrophen? Völlig einerlei. Das Dudeln höret nimmer auf.

Immer wenn Sprecherin oder Sprecher die Stimme zwischen zwei Nachrichten senken und Luft holen, kommt einem diese erbärmliche, fluchwürdige Klanguntermalung plötzlich lauter vor. Zwischendurch wabert sie in einer enervierenden Endlosschleife.

Wer hat sich das nur einfallen lassen? Nun ja, man muss wohl nur schauen, wer an der Spitze des WDR-Hörfunks steht. Die Dame heißt Valerie Weber, kam vom Privatfunk (Antenne Bayern) und schickt sich seit einiger Zeit nachdrücklich an, unsinnige Gepflogenheiten aus den dortigen Sphären zu übernehmen. In manchen Punkten fällt es bereits schwer, WDR 2 noch zweifelsfrei als öffentlich-rechtlichen Kanal zu erkennen.

Was will man denn mit der neuen Aufmachung der Nachrichten bezwecken? Soll diese läppische Maßnahme jetzt Hunderttausende von zusätzlichen Hörer(inne)n anlocken? Oder soll sie auch nur das Stammpublikum bei Laune halten? Rätsel über Rätsel. Nur auf der Chefetage glaubt man die Lösung ganz genau zu kennen. Also wird nach Gusto umgemodelt und durchregiert.

Eines der Grundübel der Berufswelt ist ja ohnehin, dass neue Chefs/Chefinnen immer meinen, sie müssten das Rad noch einmal erfinden. Dann doktern und wurschteln sie haltlos am Vorhandenen herum – bis der nächste Boss wieder eine Kehrtwende ausruft. Beim Radio wird dann das Stations-Design abermals geändert. Nur zur Substanz geht’s wohl leider nicht mehr zurück.

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Nachtrag am 11. Juni: Offenbar setzt WDR 2 das Wabern jetzt – nach wenigen Tagen – „nur“ noch als akustische Trennung zwischen zwei Nachrichten ein und nicht mehr als permanenten Klangteppich. Das macht die Sache zwar nicht grundsätzlich besser, deutet aber auf eine Experimentierphase hin.

Und noch ein Nachtrag (14. Juni): Kann es sein, dass vormittags ein durchgehendes Musikbett läuft, nachmittags ein zwischendurch gedämpftes? Um das zu verifizieren, müsste man wenigstens einen ganzen Tag die Nachrichten auf WDR 2 durchhören. Das möchte ich mir nicht antun.




90 Jahre „Kampfbahn Rote Erde“: Wenn Gerd Kolbe erzählt, wird die Geschichte lebendig

Eigentlich war das damals alles saugefährlich. Die Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ war für 35000 Besucher ausgelegt, manchmal aber kamen 45000 oder gar 50000 und fanden notdürftig „Platz“, auch im Geäst der Bäume ringsum. Was da alles hätte passieren können!

Das Marathontor der 1926 eröffneten "Kampfbahn Rote Erde". (Foto: Bernd Berke)

Das Marathontor der 1926 eröffneten „Kampfbahn Rote Erde“. (Foto: Bernd Berke)

Nun, falls tatsächlich etwas Schlimmes geschehen sein sollte, so hat sich die damalige Presse offenbar nicht weiter darüber aufgeregt und es ist allenfalls mündlich in kleineren Zirkeln überliefert worden.

„Wellenbrecher“ erst in den 60ern

Erst in den 60er Jahren, als der BVB (frühe Meisterschaften anno 1956, 1957 und 1963 – es kamen später bekanntlich noch einige hinzu) hier auch im Europapokal spielte, wurden zwischen den Stehplätzen erstmals „Wellenbrecher“ installiert, die das wahnwitzige Gedrängel kanalisieren sollten. Heute würde kein Mensch mehr solch ein Stadion für Spitzenfußball genehmigen. Doch ehedem war es ein Stolz der Stadt und es bleibt ein längst denkmalgeschütztes Juwel.

Warum wir darauf kommen? Die Kampfbahn Rote Erde, bis 1974 auch das BVB-Stadion, ist soeben (am 6. Juni) 90 Jahre alt geworden – und das ist wirklich mal einen Rückblick wert; besonders, wenn er so kundig und unterhaltsam gerät wie jener des früheren Stadtpressesprechers Gerd Kolbe (71), der jetzt zum Jubiläum eine mit „Dönekes“ gespickte Stadionführung übernahm.

Einer der besten BVB-Kenner

Ein Kreis von rund 50 Interessenten hat Kolbe gebannt gelauscht. Die meisten hatten die Kampfbahn noch aus alten Zeiten in bester Erinnerung. Auch ich habe dort schon als Kind auf den Rängen gestanden. An dieser Stelle könnt ihr euch bitte einen wehmütigen Seufzer denken.

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Was hier zu lesen steht, geht weit überwiegend auf Gerd Kolbes Vortrag zurück. Und wahrlich: Er dürfte einer der besten BVB-Kenner auf dem Erdenrund sein, darüber hinaus weiß er auch generell in der Sportgeschichte und in der politischen Historie Bescheid. Wohl mindestens bundesweit einmalig: Von 1976 bis 1981 war er sogar Stadtsprecher und BVB-Pressesprecher in Personalunion. 2006 fungierte er als Organisator des Dortmunder Parts der Fußball-WM.

Impulse vom Stadtplaner Hans Strobel

Nun aber schnell zurück zum Stadionbau. Impulse und Entwürfe stammten vom ebenso autoritären wie visionären Architekten und Stadtplaner Hans Strobel (1881-1953), nach dem heute die Strobelallee am Stadion benannt ist. Sein Studienort München hätte den Mann gerne behalten, doch er kam – auf Umwegen über Bremen und Leipzig – im Oktober 1914 nach Dortmund. Rund zehn Jahre später gab er die Anstöße zum Bau der „Roten Erde“ und der (alten) Westfalenhalle, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Der Nachfolgebau wurde 1952 eröffnet.

Die 1920er Jahre waren eine Zeit, in der die Realisierung von Großprojekten mitunter rasend schnell vonstatten ging. Kaum zu fassen: Vom Ratsbeschluss bis zur endgültigen Fertigstellung (!) dauerte es bei der Westfalenhalle gerade mal von März bis November 1925.

Syburger Ruhrsandstein bevorzugt

Die anfängliche Idee, das Stadion in den 1918 eingemeindeten Vororten Brackel oder Wambel zu errichten, wurde rasch verworfen. Strobel wollte in der Nähe des historischen Steinernen Turms bauen lassen. Und so kam es dann auch.

Beim Stadionbau, dessen Umsetzung nur unwesentlich länger dauerte als bei der Halle, wurden zahlreiche Arbeitslose eingesetzt. Ungeheure Erdmassen mussten zur Begradigung des Geländes bewegt werden, ganz zu schweigen von abertausend Tonnen Ruhrsandstein, die mit Pferdefuhrwerken aus der Gegend um die Hohensyburg herbeigeschafft wurden, welche damals weit vor den Toren Dortmunds lag. Ruhrsandstein prägt übrigens auch die mächtigen Bauten des Dortmunder Hauptfriedhofs, der ebenfalls von Hans Strobel geplant wurde.

Mieses Wetter zur ersten Eröffnung

Am 6.6.1926 wurde der elegant, aber stellenweise auch trutzig wirkende Stadionbau eröffnet. Es kamen allerdings nur rund 8000 Leute, weil das Wetter so mies war. Pech für die bürgerlichen Vereine, die sich mit den Arbeitervereinen auf keine gemeinsame Eröffnung einigen mochten und zuerst an der Reihe waren.

Eine Woche später brachten – bei ungleich besserer Witterung – die proletarischen Sportler 30000 Menschen zur Zweiteröffnung auf die Beine. Ein Höhepunkt der Großveranstaltung war jenes anspruchsvoll choreographierte Schachspiel mit verkleideten Menschen als lebenden Figuren. Mag sein, dass es das meistbesuchte Schachspiel aller Zeiten gewesen ist. Der revolutionäre Ausgang stand jedenfalls fest: Am Ende musste ein Bauer (stellvertretend für die Arbeiter) den König besiegen…

Heutiger Tribünenblick in der "Roten Erde" (Foto: Bernd Berke)

Heutiger Tribünenblick in der „Roten Erde“ (Foto: Bernd Berke)

Nachzutragen bliebe noch eine Anekdote der bürgerlichen Eröffnung, die Gerd Kolbe geradezu genüsslich vorträgt: Eine Dortmunder Stadtauswahl kickte gegen Wacker München und verlor haushoch mit 1:11. Das Ergebnis hätte freilich noch übler ausfallen können, hätte nicht der Münchner Rechtsaußen Karl(chen) Reiter seinen Aktionsradius auf etwa 10 Meter beschränkt. Er ließ sich auch durch seine Mitspieler nicht bewegen, selbigen zu erweitern.

Warum sich der Rechtsaußen kaum rührte

Schlimmer noch: Nach dem Seitenwechsel wollte Richter auf ähnlich Weise Linksaußen sein, also auf derselben Platzseite nahezu regungslos verharren. Des Rätsels Lösung: Er hatte sich in eine Frau aus Dortmund-Dorstfeld verliebt und wollte ihrem Tribünensitz möglichst nahe bleiben. Er ist denn auch der Liebe wegen in Dortmund geblieben. So holt man Spieler aus München hierher!

Ein eigenes Kapitel verdienen die Begegnungen mit Schalke 04 in der „Roten Erde“. In den 30er und 40er Jahren kassierte der BVB regelmäßig „Packungen“, wobei etwa das 0:7 aus der ersten Partie vom 7.3.1937 noch vergleichsweise glimpflich war.

Anfangs mit den Schalkern befreundet

Wie Gerd Kolbe zu berichten weiß, schauten die Dortmunder damals in aller Freundschaft und sehnsüchtig bewundernd zu den damaligen Schalker Serienmeistern auf. Den Titel des Jahres 1934 feierten die Schalker – aus Berlin kommend – sogar zuerst mit einem Corso in Dortmund, bevor sie nach Gelsenkirchen weiter reisten. So etwas ist seit vielen Jahrzehnten nicht mehr vorstellbar.

Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Ruhrsandstein: Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Am 14. November 1943 errang Borussia Dortmund mit 1:0 den allerersten Erfolg gegen Schalke. Es war nur drei Tage nach einem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt. Trotzdem oder gerade deswegen war das Stadion voll. Die Menschen wollten einfach mal etwas anderes erleben als den Weltkriegsalltag.

Nur zwei Länderspiele

Die Rivalität oder später teilweise gar Feindschaft zwischen den beiden Revier-Vereinen sei just ab 1943 gewachsen, so Kolbe. Und seit dem Zweiten Weltkrieg hatten, man weiß es, zumeist die Dortmunder sportlich die Oberhand.

Der BVB ist also gebührend erwähnt worden. Doch die Kampfbahn Rote Erde (sprachliche Herkunft wahrscheinlich nicht farblich, sondern von „gerodeter“ Erde) war keineswegs allein die Domäne der Borussen und nicht einmal des Fußballs überhaupt. Es gab in der „Roten Erde“ auch nur mickrige zwei Länderspiele: 1935 gegen Irland und 1967 gegen Albanien.

Radrennen und legendäre Boxkämpfe

Dafür dominierten oft andere Sportarten. Hier fanden große Radrennen ebenso statt wie 1955 eine WM im Feldhandball. Nicht zu vergessen die spektakulären Boxkämpfe, beispielsweise am 20. Juli 1952 der Triumph des amtierenden Dortmunder Schwergewichts-Europameisters Heinz Neuhaus gegen den Hamburger Hünen Hein ten Hoff vor 50000 Zuschauern – durch K.o. in der ersten Runde.

Auch dabei soll, Gerd Kolbe zufolge, die Liebe buchstäblich den Ausschlag gegeben haben, denn der Hamburger hatte die Angewohnheit, zum jeweiligen Pausengong seine Gefährtin huldvoll aus dem Ring herab zu grüßen. Dies kriegten Neuhaus und seine Betreuer spitz – und Neuhaus setzte seine gefürchtete Rechte gezielt in dem Moment ein, als Hein ten Hoff mit den Gedanken schon wieder bei seiner Liebsten war…

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

1927 ging rund ums Stadion der Deutsche Katholikentag über die Bühne – allen voran mit dem päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli, der später (1939 bis 1958) ein politisch nicht unumstrittener Papst wurde. Und leider hatte auch Adolf Hitler in der Arena seinen Auftritt, als er SA-Paraden abnahm. Gerd Kolbe: „Ein Stadion kann sich nicht wehren.“ Stimmt sicherlich. Aber man darf ergänzen: Menschen hätten es vielleicht gekonnt.

Heute Regionalliga und Leichtathletik

Zur Fußball-WM 1974 wurde das zunächst als Zwillingsbau geplante Westfalenstadion direkt neben die Kampfbahn Rote Erde gesetzt, zunächst noch auf gleicher Traufhöhe, aber sehr viel moderner. Heute überragt der Gigant die „Rote Erde“ bei weitem und ist Deutschlands größte Fußballarena. Im alten Stadion tritt derweil die zweite Mannschaft des BVB in der Regionalliga West an, ansonsten regiert dort die Leichtathletik.

Aber jetzt haben wir noch gar nicht (nach)erzählt, warum der famose US-Leichtathlet Jesse Owens 1937 n i c h t in der Kampfbahn Rote Erde gelaufen und gesprungen ist. Und auch nicht, wie das zuging, als ein Polizeihund den Schalker Friedel Rausch am 6. September 1969 in der Kampfbahn in den Hintern biss, was noch heute ein Grinsen auf die Gesichter vieler BVB-Anhänger zaubert. Naja, dazu vielleicht ein andermal.




„Beschädigtes“ Mädchen: „Ewige Jugend“ – Donna Leons 25. Brunetti-Krimi

„Weh´ mir! Grausamer Gott, / Warum ließest du mich nicht sterben / Im Wasser, warum wurde ich errettet?“ In seiner Oper „Radamisto“ hat Georg Friedrich Händel die verzweifelte Todessehnsucht eines aus den Fluten geretteten Menschen in allerschönste Noten verwandelt. Ein Fingerzeig für die US-amerikanische Autorin Donna Leon, die ihre kriminalistischen Streifzüge durch ihre Wahlheimat Venedig gern mit einem aus der Opern-Literatur geborgten Motto beginnt und damit die Richtung vorgibt, in die sich ihr Commissario Brunetti bei der Lösung seines jeweiligen Falles bewegen wird.

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Aus dem Wasser gerettet, und doch mehr tot als lebendig, so steht es um Manuela, einst ein kluges und bildschönes 15jähriges Mädchen, heute ein 30jähriges Kleinkind. Denn bei dem Sturz in einen venezianischen Kanal war sie so lange im Wasser und hat sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass in ihrem längst erwachsenen Körper die geistigen und emotionalen Fähigkeiten eines kleinen Kindes wohnen.

Ihre alte und sterbenskranke Großmutter, Contessa Lando-Continui, mag sich bis heute nicht damit abfinden und will, bevor sie das Zeitliche segnet, unbedingt Klarheit darüber erlangen, was damals wirklich geschah, ob es nur ein Unfall oder vielleicht ein Mordanschlag war. Für die Contessa ist Manuela seitdem, und sie mag das Wort kaum aussprechen, ein „beschädigtes“ Mädchen.

Und wer könnte besser Licht in die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit bringen als Commissario Brunetti? Ist er doch nicht nur jemand, der aktuelle mafiöse Machenschaften aufdeckt, sondern auch ein Faible für die Fallstricke der Geschichte hat. Denn so wie die Autorin Liebhaberin des Barock und ausgewiesene Kennerin von Händels Musik ist, wandelt eben auch ihr Commissario bisweilen auf klassischen intellektuellen Pfaden, besucht die Oper in Venedig, La Fenice, oder schmökert in den Werken der griechischen und römischen Klassiker. Das macht er natürlich auch diesmal, bei der Lösung seines 25. Falles, in einem Roman, dem Donna Leon den Titel „Ewige Jugend“ gegeben hat.

Immer das gleiche, kaum variierte Spiel

Euripides und dessen „Medea“ liegen gerade auf Brunettis Nachttisch. Aber ob und was das Drama um die von ihrem Gatten betrogene und von ihrer Heimat entwurzelte Fremde mit dem Schicksal von Manuela zu tun hat, sollte jeder Leser selbst herausfinden. Das gehört schließlich zum literarischen Spiel, das Donna Leon nur allzu gern in Gang setzt, um den Ausflügen in mörderische menschliche Abgründe einen ironischen intellektuellen Überbau zu geben.

Zum irgendwie immer gleichen, nur leicht variierten Spiel gehört auch, dass Brunetti zu Hause mit Gattin Paola bei köstlichem Essen und gutem Wein über die Verrücktheiten der Moderne diskutiert und sich über die touristische Verwüstung der Lagunenstadt erregt. Klar ist auch, dass sein Vorgesetzter, Vice-Questore Patta, dem Commissario Steine in den Weg legt. Und dass Computerspezialistin Signorina Elettra aus den Untiefen des Internets wichtige Informationen empor zieht.

Neu ist aber, dass Brunettis Kollegin, Claudia Griffoni, jetzt eine so dominierende Rolle spielt. Inspektor Vianello dagegen läuft diesmal nur am Rande mit. Aber um das Vertrauen von Manuela zu erlangen, braucht es halt keinen kauzigen Kerl, sondern eine einfühlsame Frau. Zumal eine, die, wie einst Manuela, einen Hang zu Pferden hat und weiß, wie man hoch zu Ross sitzend auf die schnöde Welt herunter blicken kann. Denn genau das ist die Welt: schnöde, banal und hundsgemein.

Manuelas Retter, der sie aus dem Wasser zog, ist ein schwerer Säufer, will sein Wissen mit Geld veredeln und unterschreibt damit sein eigenes Todesurteil. Und der Mann, der Manuela „beschädigte“ und jetzt zum Mörder wird… Ach nein, dass wollen wir lieber nicht verraten.

Fazit: Auch dieser Fall ist als Krimi nicht besonders aufregend, aber unterhaltsam und literarisch filigran in Szene gesetzt.

Donna Leon: „Ewige Jugend. Commissario Brunettis fünfundzwanzigster Fall.“ Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2016, 324 S., 24 Euro.

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Fakten über die Autorin:
Donna Leon, geboren 1942 in Montclair/New Jersey, lebt seit 1981 in Venedig. Bevor sie Erfolgsautorin wurde, arbeitete sie als Reiseleiterin, Werbetexterin und Lehrerin, lebte in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien.
Ihren ersten Brunetti-Roman veröffentlichte sie 1992 („Venezianisches Finale“), seitdem ist jeder neue Venedig-Krimi ein internationaler Bestseller.
Weil Donna Leon ein normales Leben in Venedig führen möchte, erscheinen ihre Romane nicht in der Sprache ihrer Wahlheimat Italien. Donna Leon ist Liebhaberin klassischer Musik, weiß alles über Georg Friedrich Händel und unterstützt zwei musikalische Barock-Ensembles. Fast alle Brunetti-Krimis laufen als TV-Verfilmungen im deutschen Fernsehen.




Er war (und bleibt) wirklich der Größte – zum Tod des legendären Boxers Muhammad Ali

Cassius Marcellus Clay jun. – Nachgeborenen besser als Muhammad Ali bekannt -, dessen lautsprecheriges „I am the greatest!“ noch heute wie der Schrei einer Graugans gegen ein kleingeistiges und doch so übermächtiges Establishment in meinen Ohren klingt, ist tot.

„I am the greatest“ ließ er jeden vor seinen Kämpfen wissen, und hernach wiederholte er sein Credo auf die eigene Kraft, so als wollte er beweisen, dass er doch wieder einmal recht hatte.

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection - Library of Congress, Foto Ira Rosenberg - Wikimedia Commons)

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection – Library of Congress, Foto Ira Rosenberg – Wikimedia Commons)

Der Mann, der die bis dahin geltende Regel des „They never come back“ (Ausnahme Floyd Patterson) im Profi-Boxsport gleich dreimal außer Kraft setzte, der 1960 in Rom die Olympische Goldmedaille im Schwergewicht holte, der 56 seiner Profi-Kämpfe gewann und davon 37 durch Knockout (manche so schnell, dass der Kampf schon beendet war, ehe man schlaftrunken den Fernseher einschaltete), dieser Cassius Clay ist am 3. Juni 2016 in einem Krankenhaus in Scottsdale (Arizona) gestorben. 1984 war bei dem „Sportler des Jahrhunderts“ (Wahl des IOC) die Erkrankung am Parkinson-Syndrom diagnostiziert worden. Akut litt er an Atemnot, die im Hospital behandelt wurde.

Kriegsdienst in Vietnam verweigert

Muhammad Ali und seine Bedeutung für die amerikanische Gesellschaft allein aufs Sportliche zu reduzieren, empfände ich als unangemessen. Mitten in der Zeit emanzipatorischer Auseinandersetzungen zwischen Bürgerrechtlern und Rassisten wurde der schlaksige Jüngling Olympiasieger. Mitten in die übelste Phase des Vietnamkrieges fiel sein schier unaufhaltsamer Aufstieg im Profigeschäft. Mitten in diesen Aufstieg des Cassius Marcellus Clay, den seine Eltern nach einem mutigen Politiker und Gegner der Sklaverei nannten, verweigerte er die Ableistung des Kriegsdienstes, was ihm das abrupte Ende seines Aufstiegs einbrachte. „Nein, ich werde nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen.“ Klare Worte des als großmäulig berüchtigten Ali.

1967 wurde ihm der Weltmeistertitel aberkannt. Schon 1964, nach dem legendären Sieg gegen Sonny Liston, war er zum Islam konvertiert, war Muhammad Ali geworden.

Aber er kam wieder. Blieb seiner eigenen Unverwüstlichkeit treu. Ließ sich und seine Überzeugungen nicht durch staatsgewaltige Eingriffe in den Sport und dessen emanzipatorische Einflüsse auf die Stimmungen einer Gesellschaft bremsen. Cassius Marcellus Clay, dieser Name gefiel mir immer besser und er blieb kennzeichnend für sein Leben und seine Nachwirkungen, er holte sich seine Titel zurück. Wollte 1980 sogar das vierte Comeback erreichen. Sein früherer Sparringspartner Larry Holmes war der Gegner. Doch der war für den von der Krankheit schon Gezeichneten nicht mehr zu bezwingen. Ein Jahr später schlug der letzte Gong gegen Trevor Berbick, ein „Drama auf den Bahamas“ sollte es werden, aber es wurde das nur selten vom begnadeten boxerischen Können unterbrochene Ende einer glanzvolle Karriere – Niederlage nach Punkten.

An zweierlei Szenen mag ich mich erinnern, wenn ich an ihn denke. Das Bild, das ihn nach dem „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa zeigt, atlethisch und kraftvoll über den völlig erschöpften George Froreman gebeugt. Und das bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1996, als der hinfällige Gigant in Atlanta die Flamme entzündet, die Hände sichtbar vom Tremor gezeichnet, aber ein Bild, das die Unbeugsamkeit spiegelt, die Muhammad Ali auszeichnete.

Er war und bleibt „der Größte“.




Boxlegende Muhammad Ali – mythische Momente auf der Frankfurter Buchmesse 2003

Muhammad Ali (ehedem Cassius Clay), der größte Boxer aller Zeiten, ist mit 74 Jahren gestorben. Dazu ein Artikel-Auszug als kleine Erinnerung von der Frankfurter Buchmesse 2003:

Gar keine Frage: Es war d e r Auftritt der Buchmesse überhaupt. Als die Boxlegende Muhammad Ali sich endlich zeigte, drängelten sich Hunderte von Journalisten aus aller Welt. Als er dann bedächtig in einen vorbereiteten Boxring stieg und durchs Geviert zwischen den Seilen tappste, jubelte ihm die Menge der Messebesucher zu wie einem Messias.

Da könnte einer wie Dieter Bohlen tausendmal „titanenhaft“ zur Tür `reinkommen – und hätte nicht den Bruchteil jenes Schauders ausgelöst, wie er sich gestern in Frankfurt unfehlbar einstellte. Man weiß nicht, wie und warum. Doch für Sekunden fühlte man sich plötzlich, als befinde man sich näher am Herzen der Dinge. So wirkt der geheimnisvolle Stoff, aus dem wirkliche Mythen sind.

Dabei war es eine überaus zwiespältige Angelegenheit. Der schwer kranke Ali, der bekanntlich seit Jahren unter Parkinson leidet, kann sich gleichsam nur noch in Zeitlupe regen – welch ein betrüblicher Kontrast zu seinen großen Boxerzeiten! Dennoch hat man ihn zwecks Werbung für ein sündhaft teures Huldigungsbuch eingeflogen. Es war gewiss eine Strapaze, als die zahllosen Kamera-Teams ihn und seine Frau zu immer neuen Posen animierten: Fäuste ballen, Küsschen geben usw. Doch vielleicht hat es seiner müden Seele auch noch einmal gutgetan. Wie aus einer anderen Sphäre herbeigezaubert, kam das eine oder andere Lächeln auf sein Gesicht…

Mehr Rummel geht nicht. Damit verglichen hat es auch Doris Schröder-Köpf, immerhin Ehefrau des Bundeskanzlers, schwer, die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Im Lesezelt der Buchmesse startete sie gestern mit weiteren Prominenten (Amelie Fried, Petra Gerster) die Aktion „Deutschland liest vor“…

(Der komplette Bericht stand am 10. Oktober 2003 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




„Grenzen soll man überschreiten“ – Gespräch mit „Klangvokal“-Chef Torsten Mosgraber

Mit dem 8. „Fest der Chöre“ steuert das Dortmunder Musikfestival Klangvokal an diesem Samstag (4. Juni) auf seinen besonders publikumswirksamen Gipfel zu. 140 Chöre mit rund 4000 Sängerinnen und Sängern treten in der gesamten Dortmunder Innenstadt auf.
Hier ein Gespräch mit dem Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber über Konzept und Zukunftspläne des Festivals, das vor allem Grenzbereiche zwischen verschiedenen Musikrichtungen auslotet:

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Revierpassagen: Denkt man ans Konzerthaus, an die Oper, die Chorakademie, das Orchesterzentrum und nicht zuletzt an Ihr Festival, so muss man Dortmund inzwischen wohl als Musikstadt bezeichnen, oder?

Torsten Mosgraber: Auf jeden Fall. Hinzu kommen domicil, FZW, künftig die neue Pop-Halle auf dem Phoenix-Gelände, Veranstaltungen wie Juicy Beats und Mayday. Es ist sehr wichtig für eine Stadt, so ein ausgeglichenes Musikleben zu haben und Akzente in den unterschiedlichsten Bereichen zu setzen. Gerade in den letzten zehn Jahren hat sich hier vieles zum Guten entwickelt. Das Konzerthaus nimmt eine exzellente Entwicklung, die Oper hat jetzt wieder bessere Besucherzahlen, auch die Philharmoniker haben mehr Publikum als zuvor.

Große Gesangstradition der Stadt

Revierpassagen: Klangvokal hatte 2009 Premiere. Jetzt sind Sie beim 8. Festival angelangt. Wie ist das Konzept entstanden?

Mosgraber: Ich hatte das Glück, das Festival von Anfang an entwickeln zu können. 2010 war ja Dortmund als Teil des Ruhrgebiets Kulturhauptstadt Europas. In diesem Zusammenhang hat der Kulturdezernent Jörg Stüdemann mich gefragt: Was können wir hier Neues entwickeln? Ich bin dann sehr schnell auf die Gesangstradition in Dortmund gestoßen, zu der Bergmanns-Chöre und andere Chöre beigetragen haben. Diese Tradition wird bis heute wunderbar fortgeführt. Daher auch das „Fest der Chöre“ als Herzstück des Festivals.
Doch die Idee reicht weiter. Wir haben das erste Festival gegründet, das Vokalmusik aller Arten zusammenführt – von der Oper über hochqualitativen Pop und Jazz bis zur Weltmusik. Auf diese Weise können wir auch unterschiedliches Publikum ansprechen und beispielsweise Jazzfreunde für Klassik begeistern. Oder umgekehrt.

Revierpassagen: Gelingt diese Durchmischung des Publikums?

Mosgraber: Gestern ist die marokkanische Sängerin Hindi Zahra im domicil aufgetreten. Wir hatten ein unglaublich buntes Publikum. Die Künstlerin hat nachher gesagt, eine so tolle Publikumsmischung habe sie noch nie erlebt. Überhaupt sagen viele Künstler, gerade aus den südlichen Ländern: Ihr habt ein wahnsinnig tolles und offenes Publikum bei eurem Festival. Das finden wir europaweit nur ganz selten.

Musikalische Entdeckungsreisen

Revierpassagen: Wie erklären Sie sich diese Offenheit?

Mosgraber: Ich habe früher u. a. in Dresden gearbeitet. Dort ist man vergleichsweise weniger aufgeschlossen, gerade anderen Kulturen gegenüber. Das ist das Aufregende an Dortmund, dass es sich mit Einwohnern aus über 140 Nationen sehr weltoffen zeigt.
Wir erreichen mit unserem ungewöhnlichen Ansatz ein Publikum, das sich gemeinsam mit dem Festival weiter entwickelt hat.
Künstler und Publikum gehen gemeinsam auf musikalische Entdeckungsreisen. Irgendwann sind die Leute dann auch in Konzerte gegangen, um sich einfach überraschen zu lassen. Sie sind neugierig und hören sehr konzentriert zu. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Mir war übrigens auch immer wichtig, dass wir nicht gleich zu radikal werden. Die Kommunikation mit dem Publikum darf nicht abreißen. Und es ist wichtig, dass wir unsere moderaten Kartenpreise halten können.

Screenshot der "Klangvokal"-Homepage (© Klangvokal)

Screenshot der „Klangvokal“-Homepage (© Klangvokal)

Neue Spielstätten erschlossen

Revierpassagen: Das Festival hat sich also im Laufe der Jahre verändert?

Mosgraber: Ja. Nicht nur, was das Publikum anbetrifft. Wir haben nach und nach auch neue Spielstätten einbezogen, zum Beispiel mehrere Innenstadt-Kirchen. In Zukunft wollen wir weitere Orte bespielen, vor allem in den Dortmunder Außenbezirken. Wir wollen damit auch zeigen, wie viele Facetten diese Stadt hat.
Es ist mir generell wichtig, dass wir uns immer weiter entwickeln und nicht stehen bleiben. Auch musikalisch wollen wir immer wieder Neues erkunden.

Revierpassagen: Das alles setzt auch eine gewisse finanzielle Ausstattung voraus.

Mosgraber: Wir sind gerade in Gesprächen über die kommenden Jahre. Seit 2014 hatten wir eine relativ konstante Förderung. Jetzt müssen wir mit der Politik zusammen schauen, wie es weiter geht. Die Finanzen sind – wie in allen anderen Bereichen – sehr, sehr knapp.
Fest steht: Klangvokal ist längst ein fester Bestandteil des kulturellen und sozialen Lebens dieser Stadt. Und es ist ein Werbefaktor für Dortmund.

Besucher aus Berlin und Hamburg

Revierpassagen: Wie sehen Sie Klangvokal im kulturellen Zusammenhang des Ruhrgebiets, etwa mit ebenfalls grenzgängerischen Festivals wie der RuhrTriennale, den Jazztagen in Moers usw.

Mosgraber: Es gibt recht wenige Überschneidungen mit anderen Festivals. Wir hatten einige Künstler, die danach bei der RuhrTriennale aufgetreten sind. Insofern gibt es auch gewisse Verbindungen.
Grundsätzlich aber versuchen wir, etwas Eigenes, Individuelles zu entwickeln und damit auch ein Publikum anzuziehen, das – wie bei RuhrTriennale und Ruhrfestspielen – durchaus nicht nur aus der Region kommt. Wir haben immer wieder Besucher aus den Niederlanden und Belgien. Bei manchen Konzerten reisen nicht wenige Leute aus Berlin, Hamburg oder München an. Ansonsten kommen die meisten unserer Besucher aus einem Radius von 50 Kilometern rings um Dortmund.

Monteverdi trifft Gospel und Blues

Revierpassagen: Welche kommenden Klangvokal-Termine liegen Ihnen besonders am Herzen?

Mosgraber: Wir haben einige Projekte entwickelt, bei denen es um Dialoge verschiedener Musikrichtungen geht, so auch heute (Freitag, 3. Juni, 20 Uhr im domicil, Hansastraße – d. Red.), wenn die Popsängerin Mine und das Berliner Barockensemble Lautten Compagney ein Monteverdi-Programm gestalten – eine sehr spannende Konstellation.
Am Sonntag (5. Juni, 19.30 Uhr, Orchesterzentrum, d. Red.) gastiert das Ensemble Matheus aus Frankreich. Sie kombinieren Monteverdi mit traditioneller Musik des Mittelmeer-Raumes, außerdem mit Gospel und Blues. Klingt zunächst ein bisschen verrückt. Aber genau solche Begegnungen liegen mir am Herzen. Man kann und soll Grenzen überschreiten.
Das Motto unseres Festivals lautet ja auch „grenzenlos“. Es geht vorwiegend, aber eben nicht nur um musikalische Grenzen, sondern auch um Grenzen zwischen den Kulturen. Damit gewinnt das Festival gesellschaftliche Relevanz. Auch in diesem Sinne ist es gut, dass wir diesmal zum Beispiel Künstler aus Aserbaidschan und dem Iran im Programm haben.

Das Wetter im Blick behalten

Revierpassagen: Die Wetterlage verheißt allerdings nicht nur Gutes für eine Freiluftveranstaltung wie das „Fest der Chöre“.

Mosgraber: Wir haben einige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. So steht die Kinderbühne nicht mehr unter freiem Himmel, sondern zieht kurzfristig in die Rathaushalle um. Falls es Gewitter gibt, werden die Open-Air-Bühnen unverzüglich geräumt.

Revierpassagen: Apropos. Wegen des Wetters fällt am Wochenende im Westfalenpark das A-cappella-Festival komplett aus, an dem Sie ebenfalls organisatorisch beteiligt sind.

Mosgraber: Ja, das war eine schwierige Entscheidung, aber die Wetterberichte besagen, dass es dort gefährlich werden könnte. Und die Sicherheit geht natürlich vor. Wir holen das Festival am 8. und 10. Juli nach. Nur die „Wise Guys“ können dann nicht dabei sein.

Beruhigt in die City kommen

Revierpassagen: Ganz leidiges Thema: In Dortmund kommt es an diesem Samstag zu einer Neonazi-Demo, zu der Rechtsradikale aus ganz Deutschland anreisen. Wird das „Fest der Chöre“ dadurch beeinträchtigt?

Mosgraber: Ich habe gerade eben die Information erhalten, dass hauptsächlich die westliche Innenstadt („Unionviertel“, d. Red.), Dorstfeld und Huckarde betroffen sein werden. Wir hatten viele Vorgespräche mit der Polizei und fühlen uns sehr gut geschützt und unterstützt. Die Menschen können beruhigt zum „Fest der Chöre“ in die Innenstadt kommen.

Festival-Infos / Karten: www.klangvokal.de




Die Feen, Das Liebesverbot, Rienzi: Oper Leipzig holt den ganzen Wagner ans Licht

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners "Das Liebesverbot" in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners „Das Liebesverbot“ in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Den Begriff der „Jugendsünde“ hätte sich Richard Wagner besser verkniffen, als er die Partitur des „Liebesverbots“ König Ludwig II. von Bayern gewidmet hat. Denn dieses – in dem Spruch möglicherweise sogar augenzwinkernd gemeinte – Werturteil ist denen willkommen, die in den drei frühen Kompositionen des „Meisters“ keine „vollgültigen“ Werke sehen. Bis heute wird der anachronistische, unhistorische Zustand aufrechterhalten, dass auf der Bayreuther Festspielbühne nicht das Gesamtwerk Wagners gezeigt wird.

Und bis heute reagieren die meisten Wagnerianer mit einer Mischung aus generöser Geringschätzung, mitleidiger Überheblichkeit und Unverständnis auf Versuche, Wagner aus der Aufführung aller seiner Opern umfassender zu verstehen. Entsprechend selten sind Aufführungen von „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“. Der „echte“ Wagner beginnt mit dem „Holländer“ – das scheint festzustehen.

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk "Das Liebesverbot" von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk „Das Liebesverbot“ von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Daran ist ja auch etwas Richtiges – aber die ganze Wagner-Wahrheit ist dieser eingeschränkte Blick eben nicht. Denn der „Holländer“ segelt nicht wie eine plötzliche Erscheinung aus dem nebligen Horizont des Genies, sondern erweist sich als Ergebnis einer Reifung, die mit den „Feen“ beginnt.

So gesehen, ist diese 1833 in Würzburg entstandene, erste erhaltene vollendete Oper Wagners ein Schlüsselwerk für seine spätere Entwicklung: Romantik, Erlösung, Politik, Geschlechterverhältnisse, psychische Zustände bis hinein ins Autobiographische: Alles ist in den „Feen“ bereits grundgelegt. Man muss nicht nach den paar Tönen suchen, die Wagner später im „Tannhäuser“ wieder aufgreift, um diese Linien zu ziehen.

So ist der weltweit einzigartige Fall der Oper Leipzig, die drei frühen Wagner-Opern im Repertoire zu haben und an einem Wagner-Festwochenende rund um den Geburtstag des Leipzigers am 22. Mai an drei aufeinanderfolgenden Abenden zu präsentieren, mehr als ein Tribut an einen „großen Sohn“ der Stadt, mehr auch als ein touristisch wirksames Alleinstellungsmerkmal.

Leipzig überwindet so die Wagner-Mystifizierung und gibt – in gültigen Inszenierungen mit Anspruch – den Weg frei, Wagner aus seinen Wurzeln zu verstehen und seine späten Werke auf ihre Ursprünge hin zu untersuchen. Und da Wagner auch mit zwanzig Jahren schon ein eminent bewusst arbeitender Theatermensch war, ist dieses Bemühen keine akademische Fieselei, sondern ein lohnendes Theatervergnügen.

Zum Beispiel im „Liebesverbot“, das 1836 in Magdeburg ein Desaster gewesen ist. Wer ließe sich von der schäumenden Staccati-Attacke der Ouvertüre nicht mitreißen? Wer genösse nicht die an Donizetti geschulte, ausdrucksstarke Gefängnisszene des Claudio? Wer bewunderte nicht Wagners Talent, in den Karnevals-Szenen Atmosphäre zu kreieren? Oder wer erkännte in der von bebender, mühsam gebändigter Glut erfüllten Szene des Friedrich („So spät, und noch kein Brief von Isabella“) nicht den musikalischen und theatralischen Wurf? Dass die an Auber („La Muette du Portici“) geschulte Rhythmik, die musikalischen Anklänge an die italienische Oper der Zeit in Wagners Œuvre einzigartig sind, macht den Reiz des stürmisch-drängenden Werks aus: Wohin hätte sich Wagner entwickelt, wäre das „Liebesverbot“ ein Erfolg geworden?

Mit dem perlenden Schaum der kurzen Noten hatten es die im Operngraben dienenden Gewandhausmusiker allerdings weniger; leider auch mit dem rhythmischen Pep oder der konzisen kantablen Phrasierung an anderer Stelle. Dirigent Robin Engelen schlug wenig Funken aus dem Klang; statt die Sänger auf der Bühne zu führen, vergrub er sich in der Partitur und riskierte – auch in den Chören – erheblich divergierende Tempi.

Das Orchester konnte an den drei Abenden am ehesten in den „Feen“ zufriedenstellen, bei denen Friedemann Layer zwischen Beethoven-Furor und Mendelssohn-Lyrismen stets den richtigen Ton anschlagen ließ. Im „Rienzi“ wählte Matthias Foremny erst lethargische Tempi und ließ dann vor allem das Blech ungehindert pauschal schmettern. Allerdings hat das Orchester auch eminente Herausforderungen zu schultern: Die „Götterdämmerung“-Premiere liegt nicht lange zurück und mit „Arabella“ am 18. Juni wartet das nächste große Stück.

Romantisch imaginiertes Mittelalter: "Die Feen" an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Romantisch imaginiertes Mittelalter: „Die Feen“ an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Trotz der im Lauf des Abends abflachenden Bildwelt hat die Inszenierung der „Feen“ von Renaud Doucet und André Barbe nach wie vor ihre inhaltliche Schlüssigkeit bewahrt. Das kanadisch-französische Team schöpft aus dem Geist E.T.A. Hoffmanns, wenn es den Einbruch der Feenwelt in die Gegenwart einer gutbürgerlichen Wohnung thematisiert: Ein Opernliebhaber, der sich allmählich in die Rolle des Arindal hineinträumt, entdeckt die romantische Welt „hinter“ der Normalität und tritt ein in ein imaginiertes Mittelalter, das in seiner farbigen Unmittelbarkeit den Königssaal von Neuschwanstein zitiert.

Endrik Wottrich konnte mit seinem steifen, zu verfärbten Vokalen neigenden Tenor und profilarmem Spiel den Übergang vom Zuhörer einer Opernübertragung im Rundfunk zum depressiven, am Frageverbot des Feenreiches scheiternden König nicht beglaubigen. Christiane Libor hat sich souverän die dramatische Partie der Fee Ada angeeignet, meistert die unangenehmen Sprünge und die mit Glanz und Kraft zu singenden, teils unangenehm liegenden Phrasen mit einer viel gereifteren, gelösteren Stimme als vor drei Jahren. Libor steht vor einem bedeutenden Karrieresprung: Im Juni singt sie bei den Wiener Festwochen Beethovens Leonore; im April 2017 die Isolde in München.

Auch Dara Hobbs bringt als Arindals Schwester Lora einen tragfähigen Sopran mit, um die starke Frau zu beglaubigen, die in ausweglos scheinender politischer Lage nicht resigniert. Sänger wie Sejong Chang – ein unangestrengter Bass mit angenehmem Timbre – oder Nikolay Borchev als Morald runden in Leipzig das „Feen“-Ensemble ab, dessen Sänger nicht hinter den führenden Rollen zurückstehen.

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Für das „Liebesverbot“ gilt das nicht: Tuomas Pursio lässt sich auf die zwiespältige Ausdruckswelt des „deutschen“ Moralisten Graf Friedrich ein, der in der Inszenierung Aron Stiehls mit schwarzem Gehrock in den Dschungel der Emotionen und Begierden gesogen wird. Auch sein Bariton ist der Partie – ungeachtet einiger rauer Momente – gewachsen. Doch sein Widerpart, Lydia Easley als kluge Novizin Isabella, kämpft mit dem Legato, aber auch mit expressiven Koloraturen. Dan Karlström (Luzio) hat seine Partie im Lauf des Abends immer sicherer im Griff; Paul McNamara charakterisiert vor allem in seiner großen Szene im Gefängnis den leichtfertig in eine brisante Lage gekommenen Claudio in den Facetten seiner Persönlichkeit.

"Rienzi" an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

„Rienzi“ an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

In Nicolas Joels mit symbolischen Versatzstücken arbeitenden Inszenierung des „Rienzi“ in der Bühne von Andreas Reinhardt gehört der Abend dem Tenor Stefan Vinke. Er verfügt über eine zuverlässige Technik und eine gelassene Art, den Marathon der Titelrolle selbst im Gebet des Fünften Akts zu bewältigen. Vida Mikneviciute als seine Schwester Irene und Kathrin Göring als Adriano zeigen sich dem Anspruch ihrer Partien ebenso gewachsen wie die Widersacher Rienzis, Milcho Borovinov (Colonna) und Jürgen Kurth (Orsini). Sandra Maxheimer als Friedensbote hatte es schwer, den Sitz der Stimme zu verteidigen.

Matthias Foremny ließ die Musik des jungen Wagner knallen und schmettern: Ein ermüdendes Spektakel trotz der erheblichen Kürzungen, die beim „Rienzi“ unvermeidbar sind. Die Aufführung in Leipzig hinterließ den Eindruck, mit diesem dritten Werk Wagner seine problematischste Oper zu erleben – bei Meyerbeer, um der Geschichte Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, findet man solch undifferenziert martialischen Lärm nur einmal: im bewusst als ideologische Aufmarschmusik konzipierten „Krönungsmarsch“ aus „Le Prophète“. Auch das war ein Ergebnis dieser Serie, für die der Oper Leipzig nicht genug zu danken ist.

Alle drei Opern bleiben im Repertoire und werden nach 2017 wieder aufgenommen.




Der Zufall bestimmt das Drama der Existenz – Judith Hermanns Erzählband „Lettipark“

Ein trister Herbstmorgen auf dem Land. Bei den Großstadtflüchtlingen werden die Kohlen für den Winter angeliefert und auf die Wiese des ehemaligen Bauernhofes gekippt. Da kommt der vierjährige Vincent auf seinem Fahrrad vorbei. Vincents Vater hat sich davon gemacht, seine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben.

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Doch der kleine Junge lässt sich nicht unterkriegen, er strahlt vor Lebensfreude und will jetzt unbedingt helfen, die Briketts in den Schuppen zu verfrachten, „und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.“ Mit diesen Worten, die zum Weinen schön sind und ganz knapp am Kitsch vorbei segeln, endet „Kohlen“, die erste von 17 Erzählungen, die Judith Hermann unter dem Titel „Lettipark“ versammelt hat: literarische Miniaturen, traumwandlerische Spaziergänge durch schnappschussartig erfasste Lebensumstände von Menschen, die nur schemenhaft am Horizont erscheinen und gleich wieder aus dem Sichtfeld verschwinden.

Hier weist uns Judith Hermann auf einen melancholischen Blick hin, dort auf eine zarte Berührung, eine peinliche Wiederbegegnung, eine schmerzliche Erkenntnis. Ein Ehepaar kann nicht miteinander, aber auch nicht ohne einender leben. Eine junge Frau hat zwei wunderbare Kinder, aber keinen Partner, keinen Job und keine Zukunft. Zwei Frauen, als Studentinnen unzertrennlich, haben sich, als sie sich nach Jahren wieder treffen, nichts mehr zu sagen.

Und der Lettipark? Eine öde, trostlose Brache am Stadtrand: Elena und Rose, die sich zufällig in einem Supermarkt begegnen, haben dort ihre Jugend vertrödelt, sich in hübsche Jungs verliebt und in die weite Welt hinausgeträumt. Lange her. Nur noch ein fernes Echo von etwas längst Vergessenem: Was wollten wir, und was ist aus uns geworden?

Mit den filigranen Erzählungen ihres literarischen Debütbandes, „Sommerhaus, später“, hatte die 1970 in Berlin geborene Judith Hermann die Ambivalenz ihrer zwischen nervösem Aufbruch und melancholischer Fortschrittsverweigerung eingeklemmten Generation poetisch gefasst. Ihre an der US-amerikanischen Short Story und vor allem an der larmoyanten Präzision eines Raymond Carver geschulte Erzählkunst hatte etwas erschreckend Geniales und zugleich gefährlich Frühreifes.

Alles, was dann kam, die Erzählbände „Nichts als Gespenster“ und „Alice“ sowie der Roman „Aller Liebe Anfang“, hatte etwas leicht Verkrampftes. Sie erinnerten an Versuche einer Sängerin, den Ton eines Songs zu treffen, der ihr entglitten war. Doch jetzt, mit „Lettipark“, knüpft Judith Hermann an die prosaische Qualität früherer Tage an und beweist sich als ein Solitär in der deutschsprachigen Literaturlandschaft.

Wohl niemand sonst kann hierzulande mit wenigen Worten ein ganzes Universum aus Gefühlen und Gedanken zeichnen, den Leser in eine Geschichte verwickeln, die wir uns selbst erklären und zu Ende erzählen müssen. Judith Hermann deutet nur an, spart das Wichtigste oft aus, lässt Raum für Fantasie.

Wie in Hemingways „Eisberg-Theorie“, wonach das Meiste unter der (Wasser-)Oberfläche versteckt und unerzählt bleibt, gönnt uns auch Judith Hermann nur einen kurzen Moment, um die verfahrenen Situationen zu erfassen und die oft sprachlosen Menschen kennenzulernen: den Mann, der Fotos von Operationen am offenen Hirn schießt; die Frau, die von einem Tag am Badesee und dem Verlust einer großen Liebe berichtet; den Jungen, der, wie in einem archaischen Ritual, ein Foto verbrennt, das ihm eben noch lebenswichtig war.

In einem einzigen Moment kann sich alles ändern. Der Zufall bestimmt das Drama unserer Existenz. Was geschieht eigentlich, wenn wir jemandem begegnen? Und wie können wir mit Worten das Unergründliche benennen? Judith Hermann erzählt davon, ganz nebenbei und nahe am Verstummen.

Judith Hermann: „Lettipark“. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt. 189 Seiten, 18,99 Euro.