Projekt „Ruhr Bühnen“: Elf Theater „unter einem Dach“ – leider nur die Etablierten

Von unserem Gastautor Werner Streletz (Schriftsteller und Journalist in Bochum):

„Nachhaltigkeit“ hatten sich die Macher des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf die Fahnen geschrieben. „Ruhr 2010“ sollte nicht nur ein zwölfmonatiges Feuerwerk abbrennen, sondern auch langfristig Wirkung zeigen. Die Kunstmuseen an der Ruhr arbeiten schon geraume Zeit zusammen, jetzt folgen die Theater.

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

„Ruhr Bühnen“ ist das Zusammenwirken von nicht weniger als elf Bühnen des Ruhrgebiets betitelt – vom kleinen Schlosstheater in Moers bis zum Schauspielhaus Bochum. Den ersten Schwerpunkt dieses neuen Kulturnetzwerkes, das finanziell gut ausgestattet ist (fast zwei Mio. Euro in drei Jahren) und das jetzt im Theater Oberhausen vorgestellt wurde, bildet das gemeinsame Marketing, also die vereinigte Werbetrommel. Inhaltlich wird anschließend ein erster Versuch im Herbst 2017 gestartet, wenn bei einer Theaterreise durchs Ruhrgebiet jeweils Inszenierungen der beteiligten Bühnen besucht werden können.

Durch „Ruhr Bühnen“ soll das eigenständige Profil des jeweiligen Theaters allerdings nicht im Geringsten angekratzt werden. Deren Autonomie bleibt ungeschmälert erhalten.

Derzeit sind im Übrigen nur die etablierten kommunalen Bühnen des Reviers unter dem neuen Dach versammelt. Und wie sieht es mit der freien Szene aus, in Bochum zum Beispiel mit dem Prinz Regent Theater oder dem Rottstr5-Theater? Eine einzelne Off-Bühne hätte wohl keine Chance, bei den „Ruhr Bühnen“ mitzumachen und damit vom Geldregen zu profitieren, so ist während der Pressekonferenz zum Projekt „Ruhr Bühnen“ zu erfahren. Nur bei einem Zusammenschluss von mehreren freien Theatern bestünde die Möglichkeit einer Mitgliedschaft. Kurzum: Freie Fahrt (bisher leider nur) für die Etablierten!

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Info

Zu den „Ruhr Bühnen“ gehören folgende Häuser:
Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Deutsche Oper am Rhein im Theater Duisburg, PACT Zollverein in Essen, Theater und Philharmonie (Tup) Essen, Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen), Theater Hagen, Schlosstheater Moers, Ringlokschuppen Mülheim, Theater an der Ruhr in Mülheim, Theater Oberhausen.





Theater zwischen Mais und Sonnenblumen – „Sumpfland“ erfreut bei der Ruhrtriennale

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Die Waschmaschine muß raus, das Haus wird zu schwer – Szene aus „Sumpfland“. (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

„Sumpfland“ sollte das Stück nicht heißen, Sandland träfe es besser. Denn durch Sandland muss man stapfen, wenn man zur Inszenierung will. Mais und trockene Sonnenblumen säumen den beschwerlichen Weg, von dem man nicht weiß, wohin er führt, und der schon Teil der Inszenierung ist. Die Ruhrtriennale zeigt „Sumpfland“ als „Outdoor-Familienstück“ in der Bottroper Bauernschaft Sensenfeld.

Alles hängt

Hinter einer leichten Kurve taucht die Szenerie dann auf, ein heruntergekommenes, schiefes Backsteingebäude und gegenüber die Zuschauertribüne. Vor dem Haus und drumherum: Wasser, Matsche, Hausrat, Möbel, Kühlschrank. Das Besondere an vielen Dingen ist, dass sie an Masten hängen: Ein pittoreskes Bühnenbild im Maisfeld, dessen Sinnhaftigkeit sich indes erst erschließt, wenn wir eine junge Frau beobachten, die aufgeregt herumläuft, immer wieder einen Namen ruft und schließlich eine veritable Waschmaschine aus dem Haus wuchtet. Denn das Haus, erklärt sie uns, muss leichter werden. Sonst versinkt es im Sumpfland. Und die Dinge, die ringsherum an Stangen hängen, sind so etwas wie Flaschenzüge, die das Haus festhalten. Jedenfalls für den Moment.

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Der Weg ist nicht das Ziel, doch stimmungsvoll führt er zur Inszenierung (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Starke Figuren

„Sumpfland“, daran ließ schon die Ankündigung keinen Zweifel, ist ein Stück auch für ein junges Publikum, „für Menschen von 8 bis 108 Jahren“, wie zu lesen war. Deshalb zeichnet das Studio Orka aus Gent, das hier auf dem flachen Land gastiert, die Figuren mit dickem Strich – die Geschwister, die das ehemals berühmte Café am ehemaligen Zielort eines gleichermaßen berühmten Radrennens nicht aufgeben wollen, den Lehrer, der öfter vorbeikommt, der seine Schüler und ihre Aufsätze liebt und trotzdem gemobbt wird, die Radfahrerin (und Tochter eines berühmten Radfahrers), die in Erinnerung an große alte Zeiten einen Blumenstrauß vorbeibringt, die Musiker, die mit ihrem Auto neben dem Haus im Sumpfland eingesunken sind und auf den Abschleppwagen warten.

Wildschweine jagen

Mal wird im Mais ein Wildschwein erlegt, mal hat die Radfahrerin einen Unfall und blutige Knie, das alles ist ebenso absurd wie in sich schlüssig, nicht zuletzt aber auch höchst unterhaltsam. Und plötzlich sinkt das Haus zu aufpeitschenden Elektrogitarrenklängen tatsächlich ein bisschen tiefer, und Schlimmeres kann erst in letzter Sekunde durch das Aufhängen der Waschmaschine – als Gegengewicht, sozusagen – verhindert werden. Das hat schon was. Auf so etwas muss man erstmal kommen.

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Vorn der Bruder, hinter ihm das Gebäude im Sumpfloch (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Pommes zum Trost

Dieses Stück ist pädagogisch, gewiss, vor allem jedoch sehr menschlich. Es preist den Wert eines jeden Einzelnen, die Solidarität, die geschwisterliche Liebe, den Mut zu träumen. Wer schwach ist, bekommt Schutz, wer leidet, Trost. Tröstlich sind des Öfteren auch Pommes Schranke bis zum Abwinken, außerdem Fleischbällchen in Tomatensoße, falls noch welche da sind. (Es sind noch welche da.) Nur die Bratwurst ist leider ausgegangen.

Ehrlich und wahr

Einen Regisseur nennt der Besetzungszettel interessanterweise nicht. „Sumpfland“ ist von und mit Philippe Van de Velde, Martine Decroos, Dominique Van Malder, Julie Delrue, Eline Kuppens, Titus Devoogdt und Janne Desmet. Mit kräftiger Mimik und eindrucksvollem Körpereinsatz arbeiten sich die belgischen Akteure durch ihren deutschen Text, der ihnen erkennbar einiges abverlangt.

Für das Stück hat der holländische – besser vielleicht: flämische – Zungenschlag geradezu die Nebenwirkung eines epischen Verfremdungseffekts, der alles noch ein bisschen märchenhafter, unwirklicher, absurder und damit auf anrührende Weise ehrlicher und wahrer macht. Und all das auf freiem Feld und unter blauem Himmel.

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Um das Haus zu retten, muß man einander helfen: „Sumpfland“ ist durchaus pädagogisch, aber es nervt nicht damit. (Foto. Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Am Samstag blieb der Himmel leider nicht blau. Regen fiel, ein Gewitter deutete sich an, und nach einer Stunde musste das auf anderthalb Stunden angesetzte Stück vorzeitig beendet werden. Zurück ging der Weg aus dem Sumpfland zu den Parkplätzen. Irgendwo im Nirgendwo blieb das versinkende Radrennfahrercafé zurück. Sinnlicher kann Theater kaum sein.




Multikulturell und für einen Tag autofrei – The show must go on am Borsigplatz

Im Kulturhauptstadtjahr 2010 war die temporäre Stilllegung der A40 das unvergessene und spektakulärste Projekt, zumindest für die Zehntausende, die dabei waren. Eine Wiederholung gab es nicht, zumindest nicht in dem Ausmaß. Viele kleine Stadtteilinitiativen lehnten sich daran an, so auch am Sonntag auf und an dem wohl berühmtesten Platz Dortmunds, der eigentlich gar kein Platz ist.

Es ist ein verkehrsreicher Kreisverkehr, der als Verteiler in die anderen innerstädtischen Bezirke unerlässlich ist. Quer durchzogen wird der gegrünte Platz in der Mitte von der Straßenbahn. Es ist für viele Bürger der Dortmunder Nordstadt ein Identifikationsort: „Wir am Borsigplatz“.

Impression vom Borsigplatz (Fotos: rd-man)

Impression vom Borsigplatz (Fotos: rd-man)

Nun wurden der Platz und der Kreisverkehr für einen Tag auto- und straßenbahnfrei. „Platz nehmen auf dem Borsigplatz“ hieß es. Man konnte Biertische reservieren und dort sitzen oder etwas präsentieren. Die BürgerInnen aus dem Umfeld nahmen das Angebot an. Als Beobachter konnte man hier die Bevölkerungsstruktur studieren, ein multikulturelles Miteinander, wie man es sonst an kaum einer anderen Stelle findet.

Natürlich gehören zu diesem Bürgerfest Tombolas, Live-Musik und Stände aller Art, Kinderspiele und weiteres Pipapo. Das wird sich vermutlich die nächsten 100 Jahre nicht ändern. Das Wetter war exquisit, der Kaffee kostete 50 Cent und an den Außentischen versammelten sich auch ein paar Angereiste, innerstädtische Touristen, die die „dunkle Gegend“, das Klischee bei Sonnenbestrahlung erleben wollten.

Und genau hier, bei dieser Miniaturausgabe des Stilllebens, erlebt man auch Überraschungen. Die Formation „Royal Squeeze Box“ interpretiert Songs von „Queen“ – unplugged, direkt vor den Nasen, Augen und Ohren der dort Versammelten Bürgerinnen und Bürger, ob mit oder ohne Bierflasche.

Royal Squeeze Box live

Royal Squeeze Box live

Roman M. Metzner und Aaron Perry hatten sich vor Jahren der Songs von Freddy Mercury angenommen und sie zunächst auf Straßen und Plätzen in der Republik vorgestellt. Inzwischen sind sie Stammgäste beim Festival in Montreux, spielen bei Night of the Proms und anderen Großveranstaltungen. Ihr Ursprung aber liegt in der direkten Nähe zum Publikum, also live und unverstärkt mir Akkordeon und Stimme an der Straßenecke oder auf dem Marktplatz. Wer sie schon mal gehört hat, weiß, dass es sich hier um höchste musikalische Qualität geht. Da wird mal eben vor dreißig, vierzig Leuten das komplizierte „Bohemian Rhapsody“ gespielt und gesungen. Fast alle singen bestimmte Stellen mit.

Das war die Praline eines Bürgerfestes ohne Aufhebens. Allerdings musste The Royal Squeeze Box nicht eingeflogen werden. Sänger Aaron Perry wohnt in der Nähe des Borsigplatzes und tat sich hier eben mal einfach als Nachbar hervor. Hier wurde das kleine Stillleben zu einem Ereignis für zufällig anwesende Bierbanksitzer.

 




Festspiel-Passagen: „Holländer“ in Bayreuth zeigt, wie Kommerz das Leben banalisiert

Schöne banale Warenwelt: Szene in der "Spinnstube" mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Schöne banale Warenwelt: Szene in der „Spinnstube“ mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Der „Fliegende Holländer“ in der Inszenierung Jan Philipp Glogers wirkte bei den Bayreuther Festspielen ein wenig wie das Aschenputtel unter den glanzvoll aufpolierten Schwester-Inszenierungen.

Da ist der „Ring“ mit den grandiosen Bühnenbildern Aleksandar Denićs, von Frank Castorf in postmoderner Assoziationslust bevölkert, der „Tristan“ Katharina Wagners mit seiner radikalen Dekonstruktion der transzendierenden Macht der Liebe als bloßer Projektion. Und Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ als eine zwischen hysterischen Erwartungen und hämischer Geringschätzung zerrissene Neuinszenierung, deren Kern anscheinend über eine ziemlich anfechtbare Gleichung (Religionen begraben = Probleme gelöst) nicht hinauskommt.

Dieser „Holländer“ hat keinen Skandal gemacht, im Premierenjahr 2012 nicht, und in seinem hervorragend durchgearbeiteten Wiederauftauchen in der letzten Donnerstag vergangenen Festspielzeit auch nicht. Vielleicht fehlt es ihr einfach an intellektuellem Mumpitz und postmodernem Mummenschanz, vielleicht ist Gloger nicht prominent genug, um einen Aufreger zu platzieren, vielleicht mangelt diesem „Holländer“ jenes Quäntchen Glamour, das die Originalitätssucht einer kurzatmigen Kritik ebenso anlockt wie es ein auf Sensation geeichtes Publikum befriedigt.

Glogers Inszenierung – und das ist ihre Qualität – ist unaufgeregt, geht in die inhaltliche Tiefe statt in die mediale Breite. Sie ist Zustandsbeschreibung und Vision zugleich – von einer Welt neoliberaler Globalisierung und Vernetzung, in der Menschen zu Cyborgs mutiert sind, in der die Kraft einer befreiten, unbedingten, transzendierenden Liebe auf das Format des Verwertbaren heruntergebrochen wird.

In Christof Hetzers Bühne steckt der Holländer in dem fest, was man „mit Zahlen darstellen“ kann. Digitale Datenströme durchzucken blasse Lichtleiter, auf elektronischen Anzeigern rauschen Zahlen vorüber. Unter den norwegischen Geschäftsleuten um Daland in ihren konventionell graublauen Anzügen ist der Holländer ein Fremdkörper: Kostümbildnerin Karin Jud kleidet ihn, als er mit dem Rollkoffer der von Terminen getriebenen Ahasvers der globalen Verkehrsströme erscheint, in einen Mantel, der im Schnitt an die negativen Helden des 19. Jahrhunderts erinnert, später in einen metallisch schimmernden Business-Dress, am Ende, in der erlösenden Umarmung mit Senta, in eine unauffällige Hemd-Hose-Kombination: Aspekte der Herkunft und Momente der Entwicklung der Figur spiegeln sich im Kostüm wider.

"Wird sie mein Engel sein?" - "Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

„Wird sie mein Engel sein?“ – „Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

Die Welt der Daland-Firma ist auf Produktivität geeicht. Doch gibt es eine Außenseiterin, die sich konsequent dem Zwang der Erschaffung von Banalität – repräsentiert durch die Ventilatoren, die auf harmloses Zimmer-Format reduzierte Elementargewalt des Sturmes – entzieht: Senta bildet sich selbst eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sich Senta als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Sie legt sich selbst gebastelte Flügel an – nicht die Schwingen eines Engels, sondern die zerzausten Flügel des Todes, denn der Tod ist für das getriebene Gespenst die Pforte der Erlösung und des Heils. Den magischen Moment des ersten Blicks, die intimen Augenblicke der Begegnung, hat Gloger nun überzeugender als vor vier Jahren herausgearbeitet und mit der Idee der Inszenierung verbunden.

Das Ende zieht den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ Wagners heran und vermeidet gleichzeitig eine ungebrochen versöhnliche Sicht auf die utopische Aktion der beiden, diese Welt aus Kapital und Material überwindenden Menschen: Der Steuermann fotografiert die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur harfendurchfluteten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares. Der Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Das Dirigat dieses „Fliegenden Holländers“ hat der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, Axel Kober, von Christian Thielemann übernommen. Er ästhetisiert nicht, er pauschalisiert eher. Wenn er Details hervorheben lässt, weiß man nicht immer, wozu. Wenn, wie in der Ouvertüre, Linien unterhalb der Melodiestimmen verschwimmen, weiß man auch nicht, warum. Auf der anderen Seite stehen Kobers Sinn für Kontraste und angemessene, unverkünstelte Tempi. Was dem Dirigat an Tiefenschärfe abgeht, gleicht der phänomenale Chor Eberhard Friedrichs auf der Bühne aus. Klangdramaturgie und Präzision wecken pure Begeisterung.

Der Sänger des geisterhaften Kaufmanns aus den Niederlanden ist Thomas J. Mayer, seit einigen Jahren ein gefragter Wotan und Telramund. Er legt die Figur dunkler, geheimnisvoller an als der Premieren-Holländer Samuel Youn, singt aber auch nicht freier und strömender als sein Vorgänger. Die Stimme bleibt rau, angestrengt in der Höhe, ohne Reserve für das Finale. Bei Ricarda Merbeth, der Hügel-Senta seit 2014, vermisst man unangestrengtes Singen, hört einen flackernden Sopran, dessen Vibrato Artikulation und Tongestaltung verschlingt.

Auch der vielgefragte Andreas Schager – der Titelheld in der „Parsifal“-Neuinszenierung – bleibt als Erik hinter den Möglichkeiten der Partie zurück. Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären – freilich nicht frei und mit Schmelz, sondern laut und kantig, als gelte es, gegen das Schicksal anzuschreien. Christa Mayer hat als Mary wenig Gelegenheit, Eindruck zu machen.

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Der sängerische Glanz, wie ihn Bayreuth eigentlich erwarten lassen sollte, geht in diesem „Holländer“ von den Rollen aus, die sonst eher beiseite stehen: Der Daland des Peter Rose ist klug charakterisiert, stimmlich souverän und in der Übereinstimmung von szenischer und vokaler Geste vorbildlich.

Benjamin Bruns, der Steuermann seit der Premiere 2012, brilliert auch in diesem Jahr nicht nur mit entspanntem, differenziertem Singen, sondern hat auch die Nuancen perfektioniert, mit denen er den Helfer Dalands als ungerührten Agenten des Kommerzes charakterisiert. Musikalisch also eher blass, bleibt Wagners – anachronistischerweise immer noch – erste für Bayreuth zugelassene Oper wegen der solide und überzeugend erarbeiteten szenischen Lösung Glogers sehenswert.

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Ausblick:

Bei den Festspielen 2017 steht der „Fliegende Holländer“ nicht auf dem Spielplan. Die Eröffnungsoper des nächsten Jahres sind „Die Meistersinger von Nürnberg“, inszeniert von Barrie Kosky, von dem in Essen in der bald beginnenden Spielzeit wieder „Tristan und Isolde“ ab 25. Februar 2017 zu sehen ist. Weiter im Bayreuther Festivalplan sind Katharina Wagners „Tristan“, Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ sowie noch einmal drei Zyklen des „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung Frank Castorfs. Der schriftliche Vorverkauf beginnt am 15. Oktober.

Jan Philipp Gloger ist der Regisseur des Essener „Barbiere di Siviglia“. Die Oper von Gioacchino Rossini wird wieder ab 16. September gezeigt und bleibt mit neun Vorstellungen die gesamte Spielzeit über im Repertoire.

Wer die Geschichte des verfluchten Seefahrers in Bayreuth nicht sehen konnte: Die Saison 2016/17 wird ein richtiges „Holländer“-Jahr. Abzusehen bleibt, ob die Neuinszenierungen wirklich viel Substanzielles auf die Bühne bringen, oder ob es nur verquält nach Originalität suchende Wagner-Exerzitien ehrgeiziger Regisseurinnen und Regisseure geben wird.

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Eine Auswahl an bevorstehenden „Holländer“-Premieren und Wiederaufnahmen:

23.09.16: Halle, Regie Florian Lutz, Musikalische Leitung Josep Caballé Domenech

01.10.16: Dessau, Regie Jakob Peters-Messer, Musikalische Leitung Markus L. Frank

20.10.16: Antwerpen, Regie Tatjana Gürbaca, Musikalische Leitung Cornelius Meister

29.10.16: Bremerhaven, Matthias Oldag, Musikalische Leitung Marc Niemann

08.01.17: Stuttgart, Regie Calixto Bieito, Musikalische Leitung Georg Fritzsch (WA)

21.01.17: Magdeburg, Vera Nemirova, Musikalische Leitung Kimbo Ishii

11.02.17: Hannover, Regie Bernd Mottl, Musikalische Leitung Ivan Repušić

06.05.17: Hagen, Regie N.N.

12.05.17: Düsseldorf, Regie Adolf Dresen, Musikalische Leitung Axel Kober (WA)

20.05.17: Frankfurt, Regie David Bösch, Musikalische Leitung Sebastian Weigle (WA)




Mit einem Fest im „Megastore“ startet das Dortmunder Theater in die neue Spielzeit

Sie geht zu Ende, die theaterlose Zeit. In den Häusern regt sich wieder künstlerisches Leben. Überall kündigen sich die Spielzeiteröffnungsfeste an, mit denen die Schauspielhäuser sich und ihr buntes Schaffen in Erinnerung bringen wollen. Dortmund ist ziemlich weit vorne mit dabei, jedenfalls kalendarisch. Am Samstag, 3. September, wird das Fest gefeiert, rund um den „Megastore“, die Ausweichspielstätte an der Nortkirchenstraße.

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„Die Show“ hat Chancen auf einen Publikumspreis und ist weiter im Programm. Szene mit Julia Schubert und Frank Genser. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Grillo-Theater Essen, zum Vergleich, feiert am 10. September, das Bochumer Schauspielhaus am 22. September.

Gutes Wetter

Das gute Wetter, alter Veranstalterscherz, ist bestellt und war ziemlich teuer. Start des „Kulturprogramms“, wenn man in Unterscheidung zu einigen anderen Belustigungen einmal so sagen darf, ist um 16.15 Uhr mit der Vorführung des Films „Das verlorene Paradies“, später folgen öffentliche Proben zu „La Révolution“ und „Kasimir und Karoline“. Die Ensemblemitglieder Bettina Lieder und Carlos Lobo werden Märchen vorlesen, und selbstverständlich wird der Spielplan für 2016/2017 vorgestellt.

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Ebenfalls beliebt bei den Zuschauern, ebenfalls unter den Wiederaufnahmen: „Die Borderline Prozession“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Achtung, sagt Frau Homayoun von der Pressestelle: Für Veranstaltungen, die im Saal stattfinden, muß man sich vorher Eintrittkarten am Infostand abholen. Die kosten zwar nichts, sind aber limitiert, wg. begrenzter Raumkapazitäten. Und ungefragt will ich gerne noch hinzufügen, daß Leuten, die kostenlose Eintrittskarten zusammenraffen, ohne nachher in die Veranstaltungen zu gehen, ausgesprochen unsympathische Zeitgenossen sind, ja, schlechte Menschen geradezu! Aber dies nur am Rande.

Dortmunder Sprechchor

Dritte Nominierung, ebenfalls weiter im Spielplan: „Das Bildnis des Dorian Gray“ mit dem beliebten Dortmunder Sprechchor. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Drei Bands Open Air

Zweiter Schwerpunkt im Kulturellen sind die Open-Air-Auftritte von drei Bands. Thomas Truax, den Chefdramaturg Michael Eickhoff als „Anti-Folk-Musiker“ bezeichnet, was in der kleinen Presserunde zunächst aber keiner versteht, eröffnet das musikalische Geschehen um 17 Uhr. Für seine eigenen Songs baut sich dieser Musiker die Instrumente selber, die Namen wie „Hornicator“, „Mother Superior“ oder Sister Spinster“ tragen. Ihm folgt um 19 Uhr Hausmusikus von Finckenstein, der in der Ankündigung allerdings bescheiden als „Tommy Finke & Band“ firmiert. Bekanntlich switcht er gerne einmal zwischen lockerer Form und Adelstitel.

Schluß- wie Höhepunkt ist dann ab 21 Uhr Käptn Peng, hinter dem sich Robert Gwisdek verbirgt, welcher der Sohn der doch recht prominenten Schauspieler Michael Gwisdek und Corinna Harfouch ist. Er macht, wie zu hören ist, ganz besonders intelligenten HipHop, hat eine Begleitband dabei und präsentiert überdies noch einen Überraschungsgast.

Bettina Lieder

Bettina Lieder (hier in der Rolle der Kassandra) liest beim Spielzeiteröffnungsfest Märchen vor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Schnippeldisco

Womit das Kulturelle im Groben abzuhaken wäre. Wenngleich natürlich auch Essen und Trinken kulturelle Taten sind. Oder doch sein könnten. Am Megastore jedenfalls wird am 3. September kulinarische Ambition spürbar, wenn das „Dortmunder Food-Festival Delinale“ ab 16 Uhr zur Schnippeldisco lädt. Geboten wird die Mitgliedschaft in der Eintopf-Community, mitzubringen sind Gemüse von zu Hause (gerne auch „einsames“ Gemüse, das einfach keine Freunde findet und häufig einen stillen, langsamen Tod in der Null-Grad-Zone des Kühlschranks stirbt), Hümmelchen (vulgo: kleines Küchenmesser), Brettchen und Suppenteller.

Zwei große, große Eintöpfe, die Rede ist von fast einem Meter Durchmesser, warten auf Füllung, ein Profikoch wird die Kelle schwingen. Beim Gemüsekleinschneiden kann man gut den Bands lauschen oder dem, was DJ FloMrzdk auflegt. Außerdem und unter anderem sind noch Kettcar-Parcours und Basketballkorb im Kinderprogramm. Und Schminken, unter Beteiligung der Maskenbildnerinnen des Theaters.

Carlos Lobo  Frank Genser Bettina Lieder Merle Wasmuth

Auch Carlos Lobo liest Märchen vor. Hier ist er in „Geächtet“ zu sehen. In Wirklichkeit sieht er entschieden sympathischer aus. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Preise für die Besten

Publikumspreise werden um 20 Uhr verliehen. Kandidaten sind die Stücke „Die Show“, „Die Borderline Prozession“ und „Das Bildnis des Dorian Gray“. Nominierte der Schauspieler(innen): Dortmunder Sprechchor, Julia Schubert und Merle Wasmuth. Wer in den Abteilungen „Schauspieler/in des Jahres“, „Inszenierung des Jahres“ und „Kritikerpreis“ die mit jeweils 500 Euro dotierten Auszeichnungen einer Kritikerjury erhält, soll erst am Abend bekanntgegeben werden. Der Sonderpreisträger allerdings steht schon fest: Die Theaterpartisanen für ihre Inszenierung „Watch me!“ auf der Studiobühne.

Ja, das alles ist geplant für den 3. September rund um den Megastore. Eickhoff rechnet mit insgesamt rund 2000 Gästen im Tagesverlauf und Besucherspitzen von 500 bis 600 Personen. Wer alles mitbekommen will, sollte beizeiten kommen.

Theater bleibt im Megastore

Es ist dies die erste Spielzeitparty in der Ausweichspielstätte; ob es auch die letzte sein wird, ist aber gar nicht mehr so sicher, denn die Modernisierung des Schauspielhauses und der dazugehörigen Werkstätten in der Innenstadt verzögert sich. Eine Rückkehr im Lauf der Saison 2016/2017, die vor Beginn der Bauarbeiten einmal angeträumt war, erscheint unwahrscheinlich. Die Dramaturgie richtet sich darauf ein, alle geplanten Produktionen werden hier, im Gewerbegebiet mit Hochofenblick, herausgebracht – ohne Drehbühne, Ober- und Untermaschinerie, dafür mit Lagerhallenakustik. Und selbst hier könnte das Theater nicht ewig bleiben (will es ja auch gar nicht), denn die Expansionspläne des Heizungspumpenherstellers Wilo in allernächster Nachbarschaft reichen weit. Nüchtern betrachtet hat man noch nicht mal einen gültigen Mietvertrag für die ganze kommende Spielzeit.

Aber wir wollen nicht unken. Sondern lieber feiern. Glück auf!

  • Einige Termine im Tagesverlauf – ohne Gewähr der Vollständigkeit und der Richtigkeit:
  • Drinnen
  • 16.15 Uhr Film „Das verlorene Paradies“
  • 18.00 Uhr Öffentliche Probe „La Révolution“
  • 18.20 Uhr Öffentliche Probe „“Kasimir und Karoline“
  • 17.00 Uhr Märchen-Lesungen
  • Noch ohne Zeitangabe: Spielplanvorstellung
  • Draußen
  • Ab 16.00 Uhr Schnippel-Disco, Hüpfburg, Kinder-Schminken, Basketball, Kettcar-Parcours
  • Musik
  • 17.00 Uhr Open Air-Bühne Thomas Truax
  • 19.00 Uhr Open Air-Bühne Tommy Finke & Band
  • 21.00 Uhr Open Air-Bühne Käptn Peng und Überraschungsgast

www.theaterdo.de




Jan Böhmermann ist zurück – Und? Hat er es etwa wieder getan?

Ach, du Schreck: Jan Böhmermann ist wieder da! Nach langer, langer Sommer- und Nachdenk-Pause hat er soeben mit dem „Neo Magazin Royale“ im Minderheitenkanal ZDF Neo seinen neuerlichen Einstand gegeben.

Und? Hat er? Nein, nichts da. Keine Witze über die Türkei und ihren übergroßen Vorsitzenden; lediglich eine vage Anspielung auf gehabte Schmähungen. Er will ja auch keinen juristischen Kamikaze verüben.

Jan Böhmermann - Screenshot aus seiner Sendung "Neo Magazin Royale" im Kanal ZDF Neo. (© ZDF Neo)

Jan Böhmermann – Screenshot aus seiner Sendung „Neo Magazin Royale“ vom 25. August 2016 im Kanal ZDF Neo. (© ZDF Neo)

Ansonsten stilisierte sich „Böhmi“ als munter drauflos rappender „blasser dünner Junge“, der halt seinen Job macht. Natürlich immer medial ganz vorn, virtuos die entsprechende Klaviatur bedienend; stets von der Meta-Ebene herab die Zeichen der Zeit wie im Fluge betrachtend. Hellwach, hochintelligent, funkelnd, kaum zu fassen, immer schon eine Umdrehung weiter, versteht sich. Ob es nun jeden Gag versteht oder nicht: Das Studiopublikum dankt es mit enthemmtem Gekreisch. Das muss dann wohl so sein.

Böhmermann führte eine mindestens dreifach pirouettenhaft eingesprungene, vielfach gewundene Klage über das diesjährige Ausbleiben eines journalistischen Sommerlochs. Da ist er schon mal einige Wochen lang nicht auf Sendung – und dann passieren haufenweise Sachen. Sachen! Unglaublich. Von Gabriels Stinkefinger über Gina-Lisa L., zu der er trotz allem unverbrüchlich halten möchte („ob sie will oder nicht“) – bis hin zu den Hamsterkäufen. Österreicher, so Böhmermann, haben allerdings für derlei gehortete Vorräte keinerlei Platz im Keller, weil… O, wie böse. Nein: pöse.

Es gibt keinen, der so gekonnt zwischen mimischer Verkrampfung und Lockerung schwankt. Überhaupt tobt er sich in Widersprüchen aus: Erst nennt sich Böhmermann postfeministisch und rühmt sich, mehr als die Hälfte seiner Redaktion bestehe nun aus Frauen, dann grüßt er die „geilen Fotzen“ da draußen vor den Bildschirmen. Bei all den inflationären Fick- und Wichs-Ausrufen ist freilich ein Ende absehbar. Das kann man nicht auf ewig strapazieren. Meine bescheidene Prognose: Böhmermann wird schließlich wohl völlig keusche Statements von sich geben müssen. Tourette hat keine Zukunft. Mag aber auch sein, dass solche Vorhersagen per se verfickte Scheiße sind. Äh…

Gast der Sendung war übrigens der CDU-Mann Wolfgang Bosbach, der just seinen Abschied aus der Bundespolitik verkündet hat. Höchst eigenhändig bügelte ihm Böhmermann Logo-Patches der Talkshows auf eine Rockerkutte, die der umtriebige Bosbach in den letzten Jahren heimgesucht hat. Und das waren etliche. Die zugehörigen Dialoge waren eher putzig, es kam nicht allzu viel dabei heraus. Wir werden doch nicht etwa ausgerechnet jetzt, da der (heiße?) Herbst sich ankündigt, verspätet im Sommerloch gelandet sein?




In der Zone von „dazn“: Es lockt ein neuer Streaming-Dienst für Sport

Ich gehöre zu den Männern der ersten Stunde. Nun gut, es ist nicht, was ihr vielleicht denkt. Keinesfalls habe ich eine veritable Pionierleistung vollbracht. Weder habe ich Neuland entdeckt noch ein gefährliches Abenteuer bestanden oder gar die Weltformel gefunden. Nein, ich zähle nur zu den ersten paar Tausend Mitgliedern eines Streaming-Dienstes, der erst diesen Monat seinen Betrieb in den deutschsprachigen Ländern aufgenommen hat. Und jetzt alle, ganz enttäuscht: Oooooch…

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Zur Sache. dazn (www.dazn.com) heißt die Chose – und an der Erklärung, wie sich dieses rätselhafte Buchstabengebilde ausspricht, haben sich schon andere verhoben. Angeblich soll es sich wie „da zone“ anhören, also „the zone“ und ergo „Die Zone“ bedeuten. Hä? Na, egal. Wir Gimpel haben gedacht, die Zone hätte sich mit Wende und Mauerfall erledigt.

Albernen Spaß beiseite. Der neue, als deutscher Ableger der Londoner Perform-Gruppe in Ismaning bei München ansässige Anbieter verspricht massenhaft werbefreien Live-Sport via Streaming, angeblich rund 8000 Ereignisse pro Jahr – und das zu einem Lockvogel- oder Kampfpreis von 9,99 Euro im Monat. Eine entsprechende App gibt’s auch. Wer hätte das gedacht?

Und nein: Ich habe k e i n e n kostenlosen Pressezugang oder dergleichen korruptives Zeug beantragt, wie es vielleicht der eine oder andere Kollege versucht hätte. So komme ich auch nicht in Versuchung, vorab zu jubeln. Ich probiere es als gewöhnlicher Privatkunde mit einem anfänglichen Gratis-Monat aus, zumal jederzeit monatlich gekündigt werden kann. Schau’n mer mal. Vielleicht bin ich ja auch bald wieder `raus aus der Nummer.

Spitzenfußball aus England, Spanien usw.

Was gibt’s denn anfangs „für umme“ und nach der Probezeit für die 9,99 Euro? Bei dazn empfängt man (laut Anbieter auf PC, Mac, Tablet, Handy, netztauglichem Smart-TV und Spielkonsolen) zuvörderst Fußballspiele der englischen, spanischen, italienischen und französischen Ligen, folglich – von der Bundesliga einmal abgesehen – die Crème des europäischen Kickertums. Vieles lässt sich auch als „Re-Live“ (vulgo: Wiederholung) ausgiebig nachschmecken. Besser dann, wenn man das Resultat noch nicht kennt.

Rund um Bayerns Hauptstadt muss ein Nest sein: Ganz in der Nähe von Ismaning, in Unterföhring bei München, sitzt der Sportsender Sky, der bisher so unangefochten seine Kreise zog. Jetzt hat ihm dazn die so attraktive englische Premier League mit Typen wie Klopp, Guardiola, Pogba, Rooney, Mkhitaryan, Gündogan und all den anderen multimillionenschweren Stars weggeschnappt. In Spanien treten bekanntlich kaum schlechtere Sportler vor den Ball – und da reden wir nicht nur von Messi, Ronaldo und Bale.

Mehr noch: dazn darf auch Zusammenfassungen der Bundesliga zeigen – ab 2017 bereits 40 Minuten nach Abpfiff, also vor der ARD-Sportschau. Klingt nicht so übel. Okay, Sky bringt einstweilen noch die komplette 1. und 2. Bundesliga live, außerdem die Champions League und die Europa League. Aber dafür kassieren sie auch kräftig. Fragt mal die Kneipenwirte. Oder einzelne Fans.

Auch Ukraine, Korea und Angelsport

Sogar belgischen und skandinavischen Fußball (Dänemark und Schweden) gibt’s bei dazn obendrein. Wenn ich’s recht gesehen habe, sind überdies Partien aus Schottland, Serbien, Kroatien, der Ukraine und Südkorea zu haben. Die meisten Bewohner Deutschlands, der Schweiz und Österreichs könnten darauf wohl leichten Herzens verzichten. Je nun.

Aber ein paar interessante Partien dürften im Gesamtpaket immer mal wieder zu finden sein. Auch die Handball-Bundesliga nebst Pokalspielen ist für manchen „nicht ohne“.

Wer’s denn braucht, kann sich zudem an diversen Wettkämpfen im American Football (NFL), Basketball (NBA), Tennis (WTA- und ATP-Turniere), Motorsport (allerdings nicht Formel 1), Pferderennen, Rugby, Kampfsport sowie – aufgemerkt – Bowling, Darts und Sportfischen ergötzen. So viel passiven Sport braucht eigentlich kein Mensch. Sei’s drum. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die Offerten im Laufe der Zeit verändern und ob sie sich verteuern.

Die Bilder ruckeln manchmal noch

Um schon mal erste Eindrücke zu vermelden: Die Seite könnte noch etwas übersichtlicher gestaltet („layoutet“) und mit Schwerpunkten versehen werden. Vor allem aber sind die Streams noch längst nicht immer ruckelfrei. Das schmälert das Vergnügen mitunter erheblich. Man kann nur zuversichtlich hoffen, dass diese technischen Probleme rasch behoben werden, die sich abends, wenn viele zugeschaltet sind, zu häufen scheinen. Wer will schon in entscheidenden Momenten „eingefrorene Bilder“ empfangen?

Zukunft des Zuschauens

Die fußballerischen Begegnungen (selbst jene aus Belgien und Korea) sind in aller Regel mit deutschen Kommentaren (nicht vor Ort, sondern im Studio eingesprochen) versehen, was für ein Mindestmaß an Orientierung sorgt. Völlig verstummte Spiele mag man denn doch nicht unbedingt haben – und wenn man sich noch so sehr über manchen Dummbatz am Mikro ärgert. Vertrackt genug: Der Zorn ist mitunter Teil des Vergnügens, denkt nur an Béla Réthy. Womit aber noch gar nichts über die Kommentar-Qualität bei dazn gesagt sein soll. Die kann man summarisch erst nach einer gewissen Zeit beurteilen. Ob man für den vergleichsweise schmalen Preis Spitzen-Journalismus und tiefgreifende Analysen verlangen kann, sei einstweilen dahingestellt.

Andere Sportarten wie American Football, Tennis, Basketball, Rugby und Darts werden – wie man schon ahnt – mit englischem Kommentar geliefert. Das geht in Ordnung. Wer z. B. Football sehen will, sollte schon ein paar Brocken dieser Sprache verstehen.

Derlei Dienste sind jedenfalls die Zukunft dessen, was einmal „Fernsehen“ geheißen hat, weitere Stichworte anderer Genres lauten Netflix und Spotify. Die Zeiten, in denen zig Millionen Leute zeitgleich dieselbe Sendung geschaut haben, sind – von ganz großen Fußballpartien und bestimmten „Tatort“-Folgen abgesehen – endgültig vorüber. Ach. Das habt ihr schon gewusst? Dabei gibt es doch (Stichtag übrigens heute!) das Internet erst seit schlappen 25 Jahren…

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(mit angelesenen Infos von dpa und der Süddeutschen Zeitung)




Endlich Dortmund: Ruhrtriennale-Konzert in der Jugendstilhalle der Zeche Zollern

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MusicAeterna aus Perm beim Auftritt in der Dortmunder Jugenstil-Halle (Foto: Martin Steffen/Ruhrtriennale)

Es hat wirklich lange gedauert. 2002 fand die erste Ruhrtriennale statt, die Anfänge des Westfälischen Industriemuseums reichen in die 80er Jahre zurück. Doch erst in diesem Jahr haben die beiden kulturellen Großprojekte des Reviers intensive Berührung miteinander.

Das wohl berühmteste Gebäude des Museums, die jüngst renovierte Jugendstilhalle der Zeche Zollern in Dortmund-Bövinghausen, wurde zum Aufführungsort für ein bewegendes Konzert von „MusicAeterna“ aus Rußland. Neben viel Bochumer Jahrhunderthalle und Duisburger Landschaftspark und etlichen weiteren, vorwiegend im westlichen Ruhrgebiet gelegenen Spielstätten (was sämtlich nicht zu kritisieren ist) nun also endlich auch Dortmund. Und einmal mehr ist man geneigt, dem Intendanten des Festivals Johan Simons dafür zu danken, daß er keinen Spielstättentunnelblick entwickelt hat und sich dem ganzen Ruhrgebiet in erfreulicher Offenheit annähert.

Künstler aus Perm

Die Künstler kamen aus Perm, gelegen etwa 1150 Kilometer Luftlinie nordöstlich von Moskau (wie Wikipedia zu entnehmen ist). Doch die ersten Permer (sagt man so?) bei der Ruhrtriennale waren sie nicht, letztes Jahr schon spielte das Permer Opernorchester zu Simons’ „Rheingold“-Inszenierung druckvoll auf. Die Damen und Herren in ihren strengen, bodenlangen schwarzen Gewändern entstammen dem Permer Opernchor. Unter Leitung von Vitaly Polonsky widmen sie sich in der Formation „MusicAeterna“ („ewige Musik“) christlichen Chorgesängen und haben auf diesem Feld große Bedeutung.

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Vitaly Polonsky leitet den Chor MusicAeterna (Foto: Martin Steffen/Ruhrtriennale)

Mäßige Akustik

Am Anfang und am Ende des 90-minütigen Chorabends, den ein abnehmendes Tageslicht durch die großen Fenster der Maschinenhalle stimmig durchleuchtete, stand Thomas Tallis’ „Spem in alium“ (nur annähernd korrekt übersetzt als eine religiös grundierte „Hoffnung auf anderes“) – zu Beginn dargeboten aus der Ferne im hinteren Hallenbereich, am Schluß auf der Bühne direkt vor dem Publikum.

Fraglos entfalten Klangdarbietungen an verschiedenen Punkten in einem großen Raum, in Kirchen zumal, durch Hall und Echo unterschiedliche ästhetische Valeurs; die Maschinenhalle indes tat dem Vortrag aus weiter Ferne nicht gut. Sie ist eben nicht als Konzertsaal konzipiert worden, und etliches an Klang und Differenzierung verbröselte deshalb irgendwo zwischen nackten Wänden und funktionalem Stahlfachwerk der Deckenkonstruktion. Besser, noch ein Satz zur Akustik, war der Vortrag direkt vor Publikum, wenngleich auch hier der Raum an seine Grenzen stieß. Wäre der Chor eine Lautsprecherbox, würde man sagen, daß sie bei großen Lautstärken erheblich klirrt (fachlich: hoher „Klirrfaktor“). Vielleicht könnte man für anspruchsvolle Konzerte noch etwas nachbessern.

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Chorgesang bei abendlichem Tageslicht in der renovierten Halle (Foto: Martin Steffen/Ruhrtriennale)

Begeisternde Filmmusik

Wenn auch der mittelalterliche Gesang „Spem in alium“ von Thomas Tallis dem Abend seinen Titel gab, war doch ein anderes Werk eindrucksvoller: György Ligetis quasi zeitgenössisches „Lux Aeterna“, ein vermeintlich ununterbrochener Sangesklang mit verstörenden Höhenverschiebungen im Vierteltonbereich, die in ihrer ungleichmäßigen polyphonen Darbietung eigentümlich instabil wirken. Man kennt den Gesang aus dem Film „Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick, in dem der Raumschiffcomputer HAL Größenphantasien entwickelt und verrückt spielt. Eine kongeniale Filmmusik, dem Göttlichen nah.

Weitere Komponisten des Abends waren Henry Purcell und Alfred Schnittke, und ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich wg. unzureichender Kompetenz nicht an einer weiteren Würdigung der Darbietungen versuche.

Das unvermeidliche Drumherum bei Konzerten an besonderen Spielstätten – Parkplatzsituation, Wegweisungen, Toiletten, etc. – war gut organisiert, kein Grund zu Klagen. Auch deshalb steht zu hoffen, daß es bei der nächsten Ruhrtriennale wieder Konzerte in der Zollern-Halle geben wird.




Skepsis und Erstarrung – Johan Simons deutet zum Triennale-Auftakt Glucks Oper „Alceste“

Foto: JU/Ruhrtriennale

Festhalten am Sitzmöbel: Der Chor MusicAeterna in Johan Simons‘ Gluck-Inszenierung. Foto: JU/Ruhrtriennale

Die RuhrTriennale hat begonnen, es ist die zweite, die Johan Simons verantwortet, und wie bereits im Jahr zuvor will sie dem idealistischen Motto „Seid umschlungen!“ folgen. Die Fokussierung auf diesen Appell aus Schillers „Ode an die Freude“, mithin auf des Dichters Humanismus, scheint dringlicher denn je. Krieg und Terrorismus, Hass und Extremismus – wer, wenn nicht ein Kunstfestival, sollte sich diesen schaurigen Auswüchsen des Zusammenlebens so trotzig wie mutig entgegenstellen.

Carolin Emcke jedenfalls, in ihrer beachtenswerten Rede zur Eröffnung des Festivals, sieht Musik, Theater und Tanz als geradezu prädestiniert an, in diesen „finsteren Zeiten“ ans Werk einer Re-Humanisierung zu gehen. Die Journalistin und Autorin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, setzt hinter die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dicke Fragezeichen, dies durchaus im Sinne der Triennale: Diese zentralen Begriffe der Aufklärung seien nicht nur vielfach bedroht, sondern auch im Gebrauch zu Worthülsen verkommen. Es brauche, eben mit Hilfe der Künste, eine Übersetzung dieser Normen in Anwendungen, „es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen“. So Emcke.

Foto: Sebastian Drüben/Ruhrtriennale 2016

Die Festspielrednerin Carolin Emcke. Foto: Sebastian Drüen/Ruhrtriennale 2016

Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, die Triennale, in Bochums Jahrhunderthalle, mit Glucks „Alceste“ (nach Euripides) zu beginnen. Bestimmen doch Trotz und Mut, Zweifel und Emanzipation das Geschehen. Der Mensch fügt sich nicht mehr ergeben ins vom Orakel und den Göttern vorgegebene Schicksal. Er stellt es in Frage, er zürnt, er liebt und leidet, dass es am Ende eben jene Götter rührt. In „Alceste“ siegt die (Gatten-)Liebe über den befohlenen Opfertod, mithin die Freiheit über den Zwang. Mag auch das glückliche Ende noch eines Deus ex machina bedürfen: Es ist immerhin Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft (!), der es bewirkt.

Johan Simons indes stellt in seiner Inszenierung den aufkeimenden Freiheitsdrang der Figuren, den Trotz gegen göttliches Gesetz, in Frage. Alceste ist in ihren Gefühlsturbulenzen, denen Birgitte Christensen vielschichtige Sopranfarben verleiht, eine nahezu neurotische Figur, die die Hände ringt, zittert, verunsichert wirkt. Ihr Entschluss, den dahinsiechenden Gatten Admeto, Herrscher über das Volk von Pherai, durch ihren eigenen Tod zu retten, scheint alles andere als ein überzeugendes Liebesopfer. Admeto wiederum, den Tenor Thomas Walker mit teils nur fragiler Intensität gibt, ist in seiner emotionalen Achterbahnfahrt ziemlich hilflos.

Foto: JU/Ruhrtriennale

Eine Familie in Leidensstarre: Alicia Amo, Thomas Walker, Konstantin Bader und Birgitte Christensen fremdeln (v.l.n.r.). Foto: JU/Ruhrtriennale

Und wenn Johan Simons dieses Paar mit seinen Kindern Aspasia und Eumelo (Alicia Amo und Konstantin Bader) zusammenführt, wenn sich diese Familie in all ihrer Schwachheit und Verstörung am Boden liegend umarmt, als wolle man einander gegenseitig vor dem Untergang bewahren, scheint die Szene in Künstlichkeit zu erstarren.

Mitleid vermögen die eindringlichen Worte des Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu erwecken und vor allem die musikalische Sprache, nicht aber die skeptische Deutung des Regisseurs. Hinzu kommt, dass die L-förmige Spielfläche von Leo de Nijs, mit ihrer ausufernden Länge, ein schwer zu beherrschendes Terrain darstellt. Vor Kopf und längs davon die Zuschauerränge, auf der Bühne viel Gerenne, nicht zuletzt wohl deshalb, um dem Publikum hier und auch da irgendwie nahe zu sein. Musikalisch funktioniert das sowieso nur per Mikroport, szenisch behilft sich die Ausstattung teils mit weißen Plastikstühlen, die der Leere dieses Laufstegs Kontur geben sollen.

Und inmitten thront, auf einem Konstrukt von Podesten, das fulminante B’Rock Orchestra, das unter René Jacobs’ kundiger, umsichtiger Leitung der Musik Zug verleiht, sie unter Spannung setzt und Glucks neuartige Klangfarben wirkmächtig auffächert. Man gibt, auf alten Instrumenten, die italienische Fassung. Das Spiel atmet Frische, alles klingt plastisch, so feinfühlig wie intensiv, so erhaben wie dramatisch. Nur hier und da trüben rhythmische Hakeleien, in Verbindung mit dem sonst hervorragenden Chor MusicAeterna, den akustischen Genuss.

Foto: -n

Triennale-Chef Johan Simons wagt den skeptischen Blick auf Glucks „Alceste“. Foto: -n

Chor, Solisten und Stühle scheinen eng miteinander verwoben. Das Sitzmobiliar gibt den Figuren haptischen Halt wie uns manch optischen. Die Menschen klammern sich daran in ihrer Angst, oder sie schleudern es in trotziger Wut weit von sich. Johan Simons sieht wohl in der aufkeimenden Aufklärung, im Wissenwollen, einen Zustand des Chaos. Wenn indes der Chor, der in Greta Goiris’ erdachten, teils antikisierend, teils bürgerlich anmutenden Gewändern wie eine Partygesellschaft aus Sommernachtstraum-Gefilden wirkt, die Genesung ihres Königs feiert, kehrt schönste Ordnung ein. Alsbald aber versinken die Fröhlichen in Agonie, wie betäubt im Gestühl hängend, Alcestes Opfertod vor Augen.

Solcherart Symbolik eines Möbels ist bisweilen stark, nicht selten aber schimmert eben die Funktion des szenischen Behelfs durch. Interessanter ist Simons’ Skepsis, wenn er Alceste und Admeto nicht auf offener Bühne vor jubelndem Volk zusammenführt, sondern augenscheinlich im Jenseits. Und zurück bleiben die Kinder, allein mit sich und einer Welt, die es zu erkunden gilt. Zu Glucks Orchesternachspiel tanzen sie munter Ringelrein. Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? – bei Simons ein Fall für die nächste Generation?

Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 27. und 28. August. www.ruhrtriennale.de

Die Festspielrede von Carolin Emcke ist hier zu finden: https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2016-08/vom-uebersetzen-festspielrede-von-carolin-emcke




Nachrichten aus der Dingwelt: Vom finalen Absturz einer Waschmaschine

Zu den Grundannahmen einer stilleren Nachdenklichkeit oder auch des gepflegten Spintisierens zählt die Vorstellung eines geheimen Lebens der Dinge, die uns tagtäglich stumm umgeben. Was tun sie, wenn wir nicht da sind? Ja, was treiben Teller, Toaster und Tisch nur ohne uns? Das fragt sich nicht nur der Spökenkieker.

Wieder auf den Sockel gehievt: die durchgedrehte Waschmaschine. (Foto: BB)

Ein letztes Mal auf den Sockel gehievt: die durchgedrehte Waschmaschine. (Foto: BB)

Zu berichten ist von einem Vorfall nicht der dezenten, sondern der polternden, eher ungebührlich lärmenden Art. Die inzwischen 18 Jahre alte Waschmaschine, die getreuliche Dienste geleistet hat und die einem in ihrer rührend altmodischen Art ein wenig ans Herz gewachsen war, drehte in letzter Zeit dann und wann durch.

Von einer zunehmenden Unwucht geplagt, ruckelte sie im Schleudergang über den Betonsockel, auf dem sie im Waschkeller postiert war. Zentimeter für Zentimeter. Kürzlich hatte sie schon einmal fast den Rand erreicht. Bislang hatte es nach solchen Cliffhangern noch stets genügt, sie zurückzuschieben – bis zum nächsten Mal.

Doch man hätte alarmiert sein sollen. Denn das anfangs unscheinbare Übel verschlimmerte sich. Nun kamen wir von einer abendlichen Kulturveranstaltung (diese pflichtgemäße Erwähnung bin ich dem Kulturblog schuldig) zurück – und was war unterdessen geschehen?

Die Waschmaschine musste in wilde, taumelnde und torkelnde Bewegung geraten sein. Sie hat sich schließlich kopfüber vom etwa 10 Zentimeter hohen Sockel gestürzt und lag auf der Bullaugenseite, schwerstens lädiert. Ein kläglicher, leicht verstörender Anblick. Dabei hatte sie Teile der Installation brachial mit sich gerissen. Ihr elektrisches Leben war vollends erloschen. Die Tür, mitten im Waschgang natürlich blockiert, ließ sich nur noch gewaltsam mit einem Stemmeisen öffnen, um wenigstens die klatschnasse Wäsche zu retten.

War’s ein Aufstand, war’s Verzweiflung über die allzu lange Knechtschaft? War die Maschine von einem Dämon besessen? Wollte sie – einem Derwisch vergleichbar – in tanzende Trance geraten? Es ließen sich garantiert noch viele hilflose „Erklärungs“-Ansätze aus allzu menschlicher Sicht finden.

Doch gerade nach solch einem spektakulären Akt werden wir dem Eigenleben der Dingwelt nicht genauer auf die Spur kommen. Dieser Sturz führt uns womöglich in die Irre, weil der sonstige Spuk viel leiser und geradezu unmerklich vor sich gehen dürfte. An dieser Stelle lassen wir ein paar inszenatorisch wirksame Nebelschwaden wabern. Doch den raunenden Nachruf auf eine Waschmaschine verkneifen wir uns.

Und damit wieder zurück in die lichte Welt der rationalen Tagesgeschäfte, hin zu Aufklärung und Vernunft.




Wenn die Historie persönlich wird – „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ von F. C. Delius

die Liebesgeschichtenerzählerin Die Strandpromenade von Scheveningen im Jahr 1969: Eine Frau, Marie, sitzt auf einer Bank, schaut dem Wellenspiel zu, atmet die herbe Seeluft. Sie ist von Haus aus die Ostsee gewohnt, die rauen Gezeiten der Nordsee sind ihr neu, die Kraft, welche dieses Meer entfaltet, ebenfalls.

Dennoch spürt sie etwas von dieser Kraft in sich. Sie ist dieser Tage frei von Pflichten, Mann und Kinder kommen auch einmal ohne sie zurecht. Finanziell scheint es in ihrer Familie aufwärts zu gehen, das gibt ihr ungewohnte Freiheiten. Sie hat Zeit und Muße, sich auf sich selbst und ihre Ambitionen zu konzentrieren.

So recherchiert sie in niederländischen Archiven den Liebesgeschichten ihrer Vorfahren hinterher. Den Liebesgeschichten, von denen sie schon lange spürt, dass sie erzählt werden sollten. Die Geschichte des ersten Königs der modernen Niederlande, der mit einer Berliner Tänzerin eine uneheliche Tochter zeugt, welche wiederum in ihre mecklenburgische Adelsfamilie verheiratet wird. Die Geschichte des Urenkels der Tänzerin (Vater der Erzählerin), der Geschehnisse aus seiner Zeit als kaiserlicher U-Boot Kapitän nie ganz verwunden hat. Und schließlich ihre eigene Geschichte. Sie hat einen Spätheimkehrer geheiratet, einen Gutsbesitzersohn. Und  sie entfernt sich immer weiter von ihm.

Friedrich Christian Delius, Träger des Georg-Büchner-Preises, verarbeitet auch in seinem neuen Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ Teile seiner eigenen Familiengeschichte. Delius‘ Romane beschäftigen sich meist mit der bundesrepublikanischen Geschichte, so ist er auch einer der Wenigen, die sich literarisch an den „Deutschen Herbst“ wagten. Diesmal erzählt er Sequenzen aus dem ganzen letzten Jahrhundert, dieser von Kriegen nie vorher dagewesen Ausmaßes geprägten Epoche, wobei die Liebesgeschichte des niederländischen Königs und der Berliner Tänzerin dem Leser schon aus „Der Königsmacher“ bekannt sein könnte.

Marie nun, die designierte Liebesgeschichtenzählerin, ist das literarische Denkmal für Delius‘ Tante, Irmgard von der Lühe, die ihr Studium für die Familie abbrach und sich erste Sporen als Biographin verdiente – wie Marie. Von der Lühe publizierte auch später noch, allerdings sind von ihr keine Romane veröffentlicht. In Delius‘ Roman bleibt folgerichtig das Ende offen: Wird Marie es wirklich schaffen, „die Liebesgeschichtenerzählerin“ zu werden? Sie verspürt den inneren Drang, „altes verborgenes Wissen von Not, Liebe und Schmerz als von den Vorfahren geerbtes Wissen weiterzugeben“.

Diese Marie ist keine Rebellin, sie will auch nicht ausbrechen aus ihrem Leben als umsichtige Hausfrau und Mutter, sie mag dieses Leben. Aber sie hofft darauf, dass dieses Leben auch für sie nun Zeit und Gelegenheit bereithält, ihrem kreativen Gestaltungswillen Raum zu geben. Wobei der Leser nie so recht weiß, ob die Recherche für Marie nicht doch eher so etwas wie eine Flucht aus der Realität bedeutet, um sich nicht allzu tief mit der eigenen Vergangenheit als ehemaliges BDM-Mädel auseinandersetzen zu müssen. Dennoch zeigt Delius anhand ihrer Geschichte, wie sehr politische Geschehnisse in das Leben Einzelner eingreifen. Sehr greifbares Anschauungsmaterial gerade auch in unseren turbulenten Zeiten, besonders auch für diejenigen, die meinen, aktuelle Geschehnisse hätten mit ihnen und ihren Leben nichts zu tun.

Delius erzählt mit leiser, sehr eleganter Sprache, seine Figuren beschreibt er behutsam, immer eine gewisse Distanz wahrend. Auch kritischen Themen wie dem der deutsch-niederländischen Aussöhnung nähert er sich mit sehr viel gebotenem Respekt und Feingefühl.

So wie das Ende des Romans offen bleibt, ist auch im Roman selbst bei weitem nicht alles auserzählt. Die Leser mögen die Gelegenheit nutzen, Bruchstücke aus dem eigenen Erinnerungsfundus hinzuzufügen. Auf das, was Marie berichtet, hat sie einen liebevollen Blick, sie ist keine Zynikerin. Auch wenn sie – typisch für ihre Generation – beim Anblick der „Hippies“ im Amsterdam nicht anders kann, als zu denken, ihre Geschichte möge dazu beitragen, dass diese Gestalten erkennen, wie gut sie es doch haben.

Im Roman nimmt die Vater-Tochter-Beziehung einen weiten Raum ein. Viel eher noch als das, was man von einer „Liebesgeschichtenerzählerin“ erwartet, ist er das eigentliche Thema der Marie: der Vater, der nach dem enttäuschten Kaiser-Gehorsam nahtlos zum Gottesgehorsam wechselte und Marie unbewusst im Geiste des calvinistisch geprägten Teils der Niederlande erzog. Aber sei es drum: Ist die Vater-Tochter-Beziehung nicht auch eine Liebesgeschichte? Die, aus der sich weitere entwickeln? Insofern folgt Marie dem Leitsatz ihres altes Deutschlehrers: Schreiben heißt ordnen. Auch einordnen.

Im Zug auf der Rückfahrt von den Niederlanden am Rhein entlang ordnet Marie das Recherchierte in ihr eigenes Leben ein: Sie ist eine Überlebende und sie ist stolz darauf. Marie ist fest entschlossen, noch vor ihrem Fünfzigsten sich im Familienleben einen neuen Platz als „Liebesgeschichtenerzählerin“ zu erobern und keine Rücksicht mehr darauf zu nehmen, was vor den Augen der Eltern und des Ehemanns Bestand haben könnte. Und vor allem will sie nicht mehr den vom Vater eingebimsten Familien-Imperativ „Schlucks runter, schlucks runter“ befolgen. Immerhin.

Friedrich Christian Delius: „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. Roman. Rowohlt Berlin. 206 Seiten, € 18,95.




Ein gar zu derber Gag von Bruno Knust

Der altgediente Comedian Bruno Knust (61) gilt nicht wenigen Leuten quasi als „Vorzeige-Dortmunder“.

Bruno Knust im Jahr 2007 bei einem Auftritt in seinem Dortmunder Theater Olpketal. (Foto: http://www.guenna.de - Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Bruno Knust im Jahr 2007 bei einem Auftritt in seinem Dortmunder Theater Olpketal. (Foto: http://www.guenna.de – Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

So manche Stadtbewohner nehmen Besucher von außerhalb mit in Knusts Vorort-Theater Olpketal, um den staunenden Gästen vorzuführen, wie der Ruhri allgemein und speziell der Dortmunder so tickt. Meinetwegen. Aber ich und wahrscheinlich auch etliche andere möchten da nur sehr bedingt mitgemeint sein.

Wer sich in Dortmund dermaßen hervortut und zeitweise auch noch Stadionsprecher beim BVB gewesen ist, findet rasch Einlass beim lokalen Presse-Monopolisten Ruhrnachrichten (RN). So hat Bruno Knust alias „Günna“ dort seit geraumer Zeit eine eigene Samstags-Kolumne mit leidlich lustigen Witzeleien der westfälisch-ruhrigen Machart. Klar, dass Knusts Bühnenauftritte in dem Blatt auch besondere Beachtung finden. So beispielsweise heute wieder, wo sein gemeinsamer Auftritt mit Lioba Albus beim Humor-Festival Ruhrhochdeutsch gewürdigt wird – gerade mal zwei Lokalseiten nach seiner besagten Kolumne.

Wenn die Besprechung die Wahrheit wiedergibt (woran wir nicht zweifeln), so hat sich Bruno Knust, der eh gerne reihenweise derbe Gags `raushaut, eine üble Geschmacklosigkeit erlaubt.

Obwohl Matthias Sammer auch mal als Spieler und Trainer beim BVB aktiv war, bin ich wahrhaftig kein Anhänger des vormaligen Sportdirektors von Bayern München. Doch einen brunzdämlichen, menschenverachtenden Brüller wie diesen „Scherz“ über Sammer sollte man keinesfalls in die Welt setzen: „Als Kind war er so hässlich, dass man ihn in die Babyklappe hätte werfen müssen – von innen!“ So zitieren die RN den naturgemäß bildschönen Bruno Knust – ohne jeden kritischen Unterton.

Wenn man nun noch weiß, dass Sammer seinen Bayern-Posten kürzlich wegen einer ernsthaften Krankheit (Durchblutungsstörung des Gehirns) aufgeben musste, dann wird Knusts Invektive vollends abgründig. Der Dortmunder Spässkenmacher sollte künftig unbedingt darauf verzichten.




Festspiel-Passagen: Spektakel und Sängerfest – Verdis „Troubadour“ in der Arena di Verona

Die Arena di Verona. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Die Arena di Verona. (Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona)

Kalt und stählern gleißt das weißblaue Licht auf den drei waffenstarrenden Türmen. In diesem Ambiente des Kampfes, der sich selbst behauptenden Gewalt kann nichts Gutes geschehen. Am Ende von Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ steht dann auch der Tod des unschuldigsten dieser schicksalhaft miteinander verquickten Menschen. Leonora, geliebt und begehrt von zwei ungleichen und sich doch in ihrer Leidenschaft so ähnlichen Brüdern, entkommt ihren Lebenskonflikten durch den Tod von eigener Hand – kurz bevor der Conte di Luna, die dunkle Seite des Begehrens, erfährt, dass er mit Manrico, dem romantischen Liebhaber, soeben seinen eigenen Bruder hingerichtet hat.

Das Libretto Salvatore Cammaranos galt lange als Paradebeispiel für italienischen Opern-Schwachsinn; heute, da Kausalitäten und Ursachen-Wirkungs-Ketten relativ werden, erscheinen die wilden Zufälle zwar nicht folgerichtiger, aber die Plausibilität des Unwahrscheinlichen nimmt zu. Und wer genau hinhört, erkennt, wie minutiös Cammarano die schicksalhaft scheinenden Ereignisse ineinander greifen lässt.

Es ist Opern-Sommer in Italien. In Macerata, hoch über der Adria südlich des Hafens Ancona, in Pesaro beim Rossini Festival, und in der gewaltigen römischen Arena von Verona frönen Einheimische wie Touristen den Leidenschaften auf der Bühne. In Verona wirkt „Der Troubadour“, noch eher wie die traditionelle, seit 1913 gezeigte „Aida“, für das Riesenrund der steinernen Ränge unter freiem Himmel wie geschaffen: die wirkungsvollen Chorszenen, die romantischen Schauplätze wie Burg, Kloster, Zigeunerlager, die von Leidenschaft durchpulsten intimen Szenen, kurze Momente der reflexiver Innerlichkeit.

Entsprechend häufig steht Verdis melodiengespickte Oper auf dem Arena-Spielplan: Seit 1926 in vierzehn der nun 94 Spielzeiten, zuletzt im Verdi-Jahr 2013 und jetzt wieder in der bildmächtigen Inszenierung von Franco Zeffirelli. Wie gewohnt nutzt der italienische Altmeister der opulenten Bühne den Zauber des Dekorativen: Wozu für das Lager der Zigeuner riesige zerschlissene Stoffbahnen auf die Bühne und wieder hinaus geschleppt werden müssen, erschließt sich nicht. Bloßes Spektakel sind auch die kreuzweise über die Bühne rennenden Fahnenträger – ein beliebter Kniff, Bewegung auf die Bühne zu bringen, längst hohl und stereotyp verkommen.

Auch die Kostüme Raimonda Gaetanis sind selbst für den in der Arena notwendigen monumentalen Maßstab zu üppig geraten: Luna tritt in einem matronenhaften Mantel auf, Azucena wird ausladend von Stoff umweht, als sie sich bei ihrem ersten Auftritt den Feuertod ihrer Mutter in traumatisiertem Rückerinnern vergegenwärtigt.

Szenenbeifall für Franco Zeffirellis eindrucksvolle Szene im Kloster. Foto. Ennevi

Szenenbeifall für Franco Zeffirellis eindrucksvolle Szene im Kloster. Foto. Ennevi

Aber wenn Zeffirelli Atmosphäre schaffen, Stimmungen beschwören kann, ist er in seinem Element. Den Steinrund hinter den drei drohenden Türmen nutzt er als Projektionsfläche für impressionistische Lichtmalereien, die Beleuchtung taucht die Szene in eisiges oder düsteres Licht, umstrahlt Azucenas Auftritt in warmen Farben, die in ihren Rot-Orange-Tönen aber auch das Lodern des Scheiterhaufens versinnbildlichen.

Wenn sich in der zweiten Szene des zweiten Aktes, als Leonora den Schleier der Ordensfrau erhalten soll, der mittlere der Türme öffnet und den Blick auf einen riesigen Christus am Kreuz fallen lässt, gibt es Szenenbeifall. In solchen Momenten macht sich Zeffirelli die Dimensionen der Arena zunutze und arbeitet mit monumentalen Bildern, wo das Detail der Regie zwangsläufig an der Entfernung scheitern würde.

Hui He als Leonora in Verdis "Troubadour" in der Arena von Verona. Foto: Ennevi

Hui He als Leonora in Verdis „Troubadour“ in der Arena von Verona. Foto: Ennevi

Die Oper in der Arena war – über ihre Funktion als großartiges Spektakel hinaus – stets auch ein Sängerfest. Es gab legendäre Besetzungen; in den dreißiger Jahren brillierten Gesangs-Ikonen wie Giacomo Lauri-Volpi oder Gina Cigna. Ab Ende der Vierziger stiegen Maria Callas, später Fiorenza Cossotto oder Franco Corelli als Stars der Arena auf.

Seit den achtziger Jahren wurden die Ensembles internationaler, aber auch austauschbarer und qualitativ uneinheitlicher. Für den „Trovatore“ kann die Arena mit Hui He auf eine Sängerin setzen, die seit Jahren ständiger Gast in Verona ist: Sie singt die Leonora mit über alle Register hin klarem, tragendem Ton, mit unerschütterlicher Sicherheit der Position, einem zuverlässig gestützten Piano und einem, wenn es die Phrasierung zulässt, herrlich entspannten Legato. Hui He ist eine Künstlerin, die musikalisch und stimmlich abgesicherte Rollenporträts zeichnet und ohne viel Aufhebens und ohne Star-Rummel zu den führenden Sängerinnen ihres Fachs zu zählen ist.

Violeta Urmana als Azucena in der Arena di Verona. Foto: Ennevi

Violeta Urmana als Azucena in der Arena di Verona. Foto: Ennevi

Für eine temperamentvolle Azucena kehrte – nach ihren Auftritten als Amneris 2013/14 – Violeta Urmana in die Arena zurück: voll Saft und Kraft, mit lodernd gebrusteter Tiefe, sahniger Höhe, durchschlagender Attacke – und mit geschickter verblendeten Registerwechseln und stetigerem Vibrato als in ihren Wagner-Partien der letzten Jahre.

Nachdrücklich empfehlen konnte sich der Bariton Artur Rucinski, der – wie schon 2013 – den Conte di Luna differenziert gestaltete. Mag sein, dass ihm die Eleganz der italienischen Kavaliere der Vergangenheit abgeht; doch sein Einsatz der Dynamik, seine ausgeprägte Kultur des Färbens, des Zurücknehmens, der Akzentuierung und der vokalen Durchdringung des Textes lassen keinen Zweifel zu. Diesen Sänger würde man gerne nicht nur gelegentlich in Hamburg und Berlin, sondern auch gerne in München, Wien oder auch mal Essen hören.

Ein Bariton von Format: Artur Rucinski als Graf Luna mit Hui He (Leonora) in Verona. Foto: Ennevi

Ein Bariton von Format: Artur Rucinski als Graf Luna mit Hui He (Leonora) in Verona. Foto: Ennevi

Das legendäre, aber in der Partitur nicht geschriebene „C“ von „Di quella pira“ im Dritten Akt entscheidet leider meist über Wohl und Wehe eines Manrico. Marco Berti, ebenfalls seit Jahren ständiger Gast, schleudert es zuverlässig in die steinernen Reihen des römischen Amphitheaters und macht damit vergessen, dass er mit wenig mehr als einem robusten Ton seine Partie durcharbeitet. Dabei hat der Troubadour als politischer Kämpfer wie als sensibler Liebhaber, dazu noch als ein liebevoller, in einem psychologisch komplexen Verhältnis an seine Mutter geketteter Sohn alle Möglichkeiten, charakterliche Facetten musikalisch auszudrücken. Berti bleibt, trotz der lyrisch ansprechend gestaltete Arie „Ah si, ben mio“, eher eindimensional – nicht so sehr, weil er wie andere nur Kraft verschwenden würde, sondern weil er den Ton seines Tenors zu wenig expressiv wandelt.

Unter den kleineren Rollen fällt Sergey Artamonov als Ferrando mit einem standfesten Bass auf. Der Chor, von Vito Lombardi einstudiert, überzeugt mit abgerundetem Klang und einer auf der Riesenbühne der Arena schwer zu erarbeitenden, bewundernswerten Präzision.

Auf genaue Koordination achtet auch Arena-Stammdirigent Daniel Oren, wie wohl nur wenige vertraut mit den speziellen akustischen Herausforderungen des Raums. Er öffnet einige Striche, etwa in der Ballettmusik des zweiten Aktes. Den Sängern lässt er eher Zeit zu atmen als den Ensembles, in denen er das Metrum gern versteift. Die rhythmischen Impulse von Verdis flammender Musik federn, doch manch blühender Bogen der Melodie könnte sich freier zu den Sternen wölben, die an diesem Abend freundlich und von Gewitterwolken unbehelligt über den alten Mauern glänzen und den Samt der Nacht mit goldenen Funken beleben.

Vorstellungen in der Arena di Verona finden noch bis 28. August statt; „Il Trovatore“ wird am 13. und 26. August gegeben. Noch im Spielplan sind Verdis „Aida“, Bizets „Carmen“ und Puccinis „Turandot“. 2017 gibt es zwischen 23. Juni und 27. August von Giuseppe Verdi eine Neuproduktion von „Nabucco“, dazu „Aida“ und „Rigoletto“ sowie von Giacomo Puccini „Madama Butterfly“ und „Tosca“.

Info in deutscher Sprache: http://www.arena.it/arena/de




Wenn Dichter baden gehen

Jeder Autor, der einmal ohne den geringsten Einfall auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hat (jaja, heutzutage ist es der Bildschirm), der weiß: Auch der munterste Geist braucht gelegentlich Erholung an den Stränden ordinärer Lebenslust. Angeregt durch die Ferienzeit und eine kleine Ausstellung im Düsseldorfer Heine-Institut würdigen wir die „Dichter in Badehosen“.

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. (Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California)

Aber was heißt hier Badehosen? Schon Johann Wolfgang Goethe, der Übervater des deutschen Bildungsbürgers, riss sich gerne sämtliche Kleider vom Leibe, um sich frei zu fühlen. Bei einer Reise durch die Schweiz 1775 hatten es ihm seine Freunde Friedrich Leopold und Christian von Stolberg vorgemacht, „die guten harmlosen Jünglinge“. Goethe notierte, dass er sich „halb nackt wie ein poetischer Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit“ in Schweizer Seen tummelte – leider nicht weit genug von der Zivilisation entfernt. Entrüstete Anwohner sollen mit Steinen geworfen haben.

Heinrich Heine, Goethes junger und von ihm nie adäquat beachteter Düsseldorfer Kollege, reiste häufig an die Nordsee, um, bevor es ihn nach Paris verschlug, seine zarte Gesundheit zu stärken. Im Juli 1826 auf Norderney lernte er sogar schwimmen – wir wissen nicht, welches Outfit er dabei trug. Aber: „Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte“, schrieb er mit jungenhaftem Stolz an seinen Hamburger Verleger Julius Campe. Die Brandung verschaffte Heine ein Hochgefühl. „O wie lieb ich das Meer“, schwärmte er im folgenden Herbst in einem Brief an seinen Dichterfreund Karl Immermann, „… und es ist mir wohl, wenn es tobt.“

Ganze Gedichtzyklen Heines sind vom Meer inspiriert, er besang „Poseidon“ und das „Seegespenst“, den „Untergang der Sonne“ und den „Gesang der Okeaniden“. Man kann also nicht sagen, dass der Müßiggang am Strand die Kreativität vernichtet. Ganz im Gegenteil. Hermann Hesse, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, schrieb liebevolle Betrachtungen über seine „Jahre am Bodensee“ (1904-1912), in der Nähe des Wassers entstanden Romane und schwelgerische Verse: „Seele, Seele, sei bereit!“

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Hesses Freund Wilhelm Schäfer, ein vollbärtiges Mannsbild, liebte die Sommerfrische in Süddeutschland und der Schweiz. „Auch der See, in der Nähe kristallgrün, ging wie blaue Seide in die Tiefe hinein …“, schrieb er 1931 in „Wahlheimat“. Seine volksverbundene Prosa gefiel später leider auch den Nazis. Geplagt von Finanzsorgen und Schnaken, verbrachte der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl 1931 einen dreiwöchigen Urlaub am Starnberger See, badete nur bis zur Taille („der See ist ziemlich kühl“) und hatte die Idee zu einer heiteren Pennälergeschichte, die als verfilmter Roman eine Legende wurde: „Die Feuerzangenbowle“.

Thomas Mann, der im Schutze eines Strandkorbs mitunter sogar den feinen Sommeranzug ablegte und im Badetrikot mit Sockenhaltern in der Sonne saß, stattete seine berühmtesten Helden mit Meeresliebe aus. „Tonio Kröger“ ließ er die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ sehen, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Und Hanno, Sprößling der „Buddenbrooks“, liebt „dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin …“

Auch Manns Bruder Heinrich, der, wie viele verfolgte Intellektuelle, an der südfranzösischen Ferienküste vorübergehend den Naziterror vergessen konnte, fand große Worte für das Stranderlebnis: „Das Meer, sein tiefer Atem, seine windige, … ersterbende Bläue und dieser Glanz von abendlich feuchtem Gold …“. Ein anderer Emigrant, der kämpferische Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, hatte schon 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dem Schwimmen ein Gedicht gewidmet: „Der Leib wird leicht im Wasser“, schrieb er da, und es ist, als befreite das Baden den Denker von den drückenden Problemen der Zeit: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen / so wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. / … / Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Info:
Angeregt wurde dieser Text von einer Treppenhausaustellung im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bilker Str. 12-14: „Dichter in Badehosen“ bis 11. September 2016, Di.-So. 11 bis 17 Uhr (Sa. 13-17 Uhr).

Büchertipps:
Heinrich Heine: „O wie lieb ich das Meer – Ein Buch von der Nordsee“, herausgegeben von Jan-Christoph Hauschild, Hoffmann und Campe. 128 Seiten. Vergriffen, aber antiquarisch und als E-Book ab etwa drei Euro über das Internet erhältlich.
Hermann Hesse: „Jahre am Bodensee – Erinnerungen, Betrachtungen, Briefe und Gedichte“. Herausgegeben von Volker Michels mit Bildern von Siegfried Lauterwasser. Insel Verlag. 238 Seiten. 28 Euro.




Wie Borussia Dortmund bei der Integration helfen kann – Migranten aus aller Welt erzählen

Reshat Toshi stammt aus dem Kosovo, floh 1997 nach Deutschland und fand damals dank eines BVB-Fanclub-Vorsitzenden eine langersehnte Wohnung. Daraus entwickelte sich – wie könnte es anders sein – Begeisterung für die Borussia, die bis heute Bestand hat. Das ist eine von vielen Geschichten, die man in dem Buch „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“ nachlesen kann.

Zahlreiche Migranten und Flüchtlinge erzählen in dem 160 Seiten starken Band ihre Geschichte, in der der BVB oder einer seiner Fanclubs maßgeblich zur Integration beigetragen haben.

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Das Buch erscheine passend zu einer Zeit, in der Migration und Integration beherrschende Themen seien, sagte BVB-Präsident Dr. Reinhard Rauball, als ihn Moderator Levent Aktoprak bei der der Präsentation im Borusseum nach dem Stellenwert des Buches fragte. Man wolle ein deutliches Zeichen setzen, dass sich Fußball und speziell der BVB als eine große Familie verstehen und dies über alle Religionen, Hautfarben, Sprachen und Kulturen hinweg. Apropos: Moderator Aktoprak, in Ankara geboren, hat an der Publikation auch selbst mitgewirkt und erzählt, wie er als Journalist sich mehr und mehr für den BVB begeisterte, bis er später Vorsitzender eines kulturell und sozial engagierten Fanclubs wurde.

In einer anderen Geschichte berichtet der gebürtige Tunesier Faouzi Bibani, wie er bereits in Afrika sein Herz für den BVB entdeckte hat. Vor inzwischen 23 Jahren kam er in die Bundesrepublik und lernte schnell über einen Fanclub in Werl viele Menschen kennen. Dank dieser großen Zahl an Kontakten habe er sich in Deutschland schnell sehr wohl gefühlt. Die Unterstützung, auf die er bauen konnte, gibt der 43-Jährige heute gerne weiter und hilft Flüchtlingen beim Ausfüllen von Formularen oder erklärt ihnen, was sie über Deutschland wissen sollten.

Mit dem Taxiunternehmer Mustafa Güner kommt ein Mann zu Wort, der sich durch einen besonderen Ortswechsel der Schar der BVB-Fans anschloss. Er zog Ende der 70er Jahre zum Borsigplatz, wodurch sich dann „der Bezug zum BVB entwickelte“. Sein soziales Engagement in heutiger Zeit, das vor allem auch den Kindern gilt, steht in enger Verbindung mit Menschen, die er dank der Borussia kennen gelernt hat.

Viele Nationen, viele Kulturen prägen aber nicht nur das Bild rund um den Borsigplatz, gern auch als Wiege des BVB bezeichnet. Lars Ricken, der von 2003 bis 2007 für den BVB insgesamt 301 Bundesligaspiele absolvierte (mit 41 Toren), schreibt ganz locker und selbstverständlich: „Schon zu meiner aktiven Zeit waren wir eine Multi-Kulti-Truppe“. Es sei vollkommen egal gewesen, ob Europäer, Amerikaner, Asiat, Afrikaner oder Australier: Das Ziel habe stets gelautet, den Sieg für den BVB zu holen.

Down under übrigens ist bislang der einzige Kontinent, auf dem noch kein BVB-Fanclub existiert. Natürlich gibt es die meisten der 750 Clubs in Deutschland. Aber auch in anderen Staaten Europas oder auch in Afrika, Asien oder Amerika haben sich Fans zusammengetan.

Ein früherer Soldat der einstigen britischen Armee im Ruhrgebiet berichtet, dass er „seiner“ Borussia auch der heutigen skandinavischen Heimat die Treue hält. Kinder- und Jugendbuchautor Hermann Schulz, der viel auf Reisen ist, berichtet über die Begeisterung, die er gerade bei jungen Afrikanern angetroffen hat. Solche und andere Passagen werfen allerdings die Frage auf, ob es in dem Buch doch nur um reine PR für den BVB geht.

Für Reinhard Rauball ist indes die Veröffentlichung bestens geeignet, den Wert der Fankultur hervorzuheben. Wenn gerade jetzt wieder, vor Saisonbeginn, über die Millionensummen der bei den Fußballertransfers diskutiert werde, dürfe man nicht vergessen, worauf es im Fußball auch besonders ankomme: „Wir-Gefühl“ und Miteinander.

Uwe Schedlbauer & Andreas Goldberg: „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“. Verlag Die Werkstatt, 160 S., 16,90 Euro




Bedauernswerte Promis leiden an Provinzstädten – und erst recht am Ruhrgebiet

…und ich dachte schon: Alle Achtung, diesmal mokieren sie sich nicht übers Ruhrgebiet. Doch weit gefehlt.

Die FAZ-Sonntagszeitung (FAS) lässt seit jeher kaum eine Gelegenheit aus, den „Pott“ unentwegt hochwitzig zu brandmarken. Darin konkurrieren sie gelegentlich im weniger edlen Wettstreit mit der „Süddeutschen Zeitung“. Wahrscheinlich zahlen diese Metropolen-Fuzzis (drastischere Bezeichnungen auf Anfrage) gern so hohe Mieten und Kaufpreise, wenn sie sich anschließend nur aufs hohe Ross setzen können.

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Innenstadt-Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

So auch diesmal in einer Kolumne, die ich von Zeit zu Zeit recht gern lese. „Herzblatt“ heißt sie, befindet sich im FAS-Zeitungsbuch „Leben“, wird zumeist von Jörg Thomann geschrieben und greift aberwitzige Fehlleistungen der „gelben“ Klatschpresse auf. Was „Bunte“, „Frau im Spiegel“, „Das Neue Blatt“, „In“, „Gala“, „Closer“ und Konsorten so abliefern, spottet oft jeder journalistischen Beschreibung. Da wird zuweilen so dreist geflunkert und manipuliert, dass es nur so seine Art hat. Nicht selten ist’s zum Brüllen komisch.

Diesmal knöpft sich Thomann Beziehungsgeschichten von Fußballstars vor. Bei André Schürrles „Liebes-Aus“ (wie es in derlei Blättern stets heißt) wird gemutmaßt, dass seine Ex-Partnerin mit dem Wechsel von London nach Wolfsburg nicht einverstanden gewesen sein könnte. Aus der Weltstadt in die tiefste Provinz – da schmollen halt die verwöhnten Models, die in aller Regel an der Seite prominenter Kicker auftreten. Klar. Möglich wär’s.

An der Stelle dachte ich: Die werden doch jetzt nicht den Supergag verschenken, dass Schürrle just von Wolfsburg nach Dortmund gewechselt ist? Nur ruhig Blut. Thomann nimmt lediglich einen kleinen rhetorischen Umweg. Er erwähnt die Soap-Darstellerin Sila Sahin, die mal mit dem vormaligen BVB-Spieler Ilkay Gündogan liiert war und jüngst einen Spieler von Hannover 96 geheiratet hat, aber lieber weiter in der phantastischen Weltstadt Berlin wohnen will.

Zitat Sila Sahin: „Ich war ein Jahr in Dortmund. Und das war nicht so eine schöne Erfahrung…“ Das muss als Begründung reichen. Worauf Jörg Thomann zusammenfasst: „Wolfsburg, Dortmund, Hannover: Wer erzählt die Geschichten junger Fußballspieler, die mit ihren kreuzunglücklichen Partnerinnen in deutschen Provinzstädten festhängen?“ Ja, wer erzählt die?

Merke: (Promi)-Beziehungen nehmen naturgemäß nur einen glamourösen und somit glücklichen Ausgang, wenn sie in Berlin, Hamburg, München oder bestenfalls noch Frankfurt oder Düsseldorf sich entfalten dürfen. Von London, Paris, Madrid oder Barcelona ganz zu schweigen. Wollen Paparazzi etwa in Bochum oder Gelsenkirchen auf der Lauer liegen? Sagt selbst!

Damit hat FAS-Thomann für diesmal sicherlich sein Pulver in Richtung Revier und sonstiger Graumaus-Städte verschossen, oder? Keineswegs. Er legt noch mal genüsslich nach. Häufig höre man Bezeichnungen wie „Wahl-Pariser oder Wahl-Berliner, Wahl-Wanne-Eickeler eher nicht so.“ Mensch, Jörg. Das war ein Volltreffer! Womit des Schenkelklopfens über die doofen Menschen, die freiwillig im Ruhrgebiet leben, kein Ende mehr sein dürfte.




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

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1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




Sonderbare Vorfälle: Wie ich einmal Zeuge und beinahe Parteimitglied wurde

Also, das muss ich euch jetzt erzählen:

Da macht man ganz arglos Urlaub auf Rügen, bucht und bezahlt eine Schiffsfahrt entlang der berühmten Kreidefelsen. Was man da oben halt so treibt. Alles ganz normal und hundsgewöhnlich.

Doch was passiert? Der Käpt’n des Bootes, das wir ausgesucht haben, wird hochnotpeinlich von zwei (bewaffneten) Beamten der Wasserschutzpolizei verhört. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass er die Fahrt nicht antreten darf. Also doch wieder runter von Bord. Wie sagt der Jurist so schön: entgangene Urlaubsfreude. Naja, wir haben dann halt ein anderes Schiff genommen.

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Weiß der Geier, aber es ging wohl darum, ob der Schiffsführer eine handelsübliche Ausflugsfahrt oder einen Trip mit Angelmöglichkeit angeboten hat. Probleme mit der Lizenz offenbar. Jetzt stehe ich jedenfalls auf der Zeugenliste und muss eine schriftliche Aussage liefern. Ha, ich bin ja so wichtig. Zeuge der Anklage. Großes Drama. „Einspruch, Euer Ehren!“ Hihi.

Vor Gericht und auf hoher See

Wer hätte gedacht, wie schnell man in Konflikte der christlichen Seefahrt verwickelt werden kann? Aber psssst! Mehr kann ich nicht verraten, es ist ein schwebendes Verfahren. Und man weiß ja: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.

Nur noch dies: Den Fahrpreis haben wir anstandslos zurück erhalten. Die Schiffsbetreiber schimpften dabei wie die Kesselflicker. Sie wähnten sich als Opfer einer Denunziation durch die Konkurrenz. „Ausgerechnet die! Die nehmen doch oft viel zu viele Passagiere an Bord. Mehr als sie dürfen.“ Na, und so weiter.

Sind wir da etwa zwischen die Fronten mafioser Strukturen geraten? Oder ist es nur eine Ausprägung des ganz gewöhnlichen, kleinlichen Futterneids?

Nur ein paar abendliche Klicks

Damit nicht genug. Ein paar Tage später wäre mir beinahe eine ziemliche Dummheit unterlaufen. Um ein Haar wäre ich Mitglied einer Partei geworden. Welche das war? Das wollt ihr gar nicht wissen. Ich habe ja auch gerade noch die Kurve in Richtung immerwährender Neutralität genommen. Noch nie bin ich in einer Partei gewesen. Und das soll auch so bleiben.

Aber ihr kennt das. Man sitzt abends am PC, schlürft vielleicht ein oder zwei Rotweinchen, surft umher, liest dies und das. Auf einmal bildet man sich ein, man müsse sich in diesen Zeitläuften denn doch (parteipolitisch) engagieren und schlägt im Netz einen entsprechenden Pfad ein. Dann braucht es nur noch ein schwaches Viertelstündchen und ein paar weitere Klicks, um eine Mitgliedschaft zu beantragen. So einfach, als würde man online ein Buch oder eine CD bestellen. Ich sag’s euch.

Ihr kriegt mich nicht

Alsbald kamen bereits Antwort-Mails, in denen ich herzlichst als neues Mitglied begrüßt wurde. Das Aufnahme-Prozedere werde freilich noch ein paar Wochen dauern. Gut so.

Denn anderntags rieb ich mir die Augen. Was hatte ich getan? Flugs schrieb ich dem Ortsvorsitzenden, der mir als Kontakperson benannt worden war, eine Absage. Ich sei doch nicht genügend überzeugt, um mich aktiv z. B. in Wahlkämpfe einzubringen. Ergo: Rückzug des Aufnahme-Antrags. Sorry. Bin mal gespannt, ob da noch eine beschwichtigende Antwort mit leutseligem Umarmungsversuch folgt. Aber ihr kriegt mich nicht.

Wo zum Teufel der Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen zu suchen sei, fragt ihr? Weiß ich doch nicht. Aber es wird schon einen geben. Es hängt doch alles mit allem zusammen.

Nachtrag am 20. September 2016

Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Ausdruck des Bedauerns nahm ein regionaler Repräsentant jener Partei zur Kenntnis, dass ich den Antrag auf Mitgliedschaft doch noch zurückgezogen hatte. Ich solle halt einfach mal so vorbeikommen. Ganz unverbindlich. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt.

Ein paar Wochen später folgte gestern die Überraschung. Derselbe Mann gratulierte mir herzlich zur Aufnahme in seine Partei. Eine eigens für Neumitglieder zuständige Dame werde Kontakt zu mir aufnehmen. Diese meldete sich auch schon fast im gleichen Atemzug, wobei sie – gleichsam als Willkommensgruß – gleich mal meinen Namen falsch schrieb.

Missverständnis. Bedauerliches Versehen. Mitarbeiter erkrankt. Die Ausflüchte waren die üblichen.

Soll ich jetzt Rückschlüsse auf die Parteiarbeit ziehen?

 




Mit Glucks „Alceste“ und Theater in der Moschee: Ruhrtriennale startet am 12. August

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Pressegespräch in karger Halle. Intendant Johan Simons sitzt in der Mitte. (Foto: Pfeiffer)

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat Johan Simons auf seine Programmhefte geschrieben, „Alle Menschen werden Brüder“ zitiert er Schiller in seiner Ansprache an das (Abonnenten)-Volk, und auch die Zeile „Seid umschlungen, Millionen“ aus desselben Dichters Feder findet Eingang in seinen Zitatenschatz.

Wenn unsereiner bei diesen Worten möglicherweise eher an die Panzerknackerbande aus den Mickymausheften der 60er Jahre und deren geniale Texterin Dr. Erika Fuchs denkt, die Disneys Mäusen und (mehr noch) Enten deutsche Klassik in die Sprechblasen schrieb, so ist dies ein anderes Thema.

Aufklärung und Humanismus

Johan Simons jedenfalls, nunmehr im zweiten Jahr Intendant der Ruhrtriennale, wähnt sich in seiner Programmgestaltung der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtet, aber kritisch natürlich, zweifelnd und hinterfragend. Die „Brüderlichkeit“ auf der gut gestalteten Programmübersicht ziert deshalb ein Fragezeichen, was eine Pressekonferenzteilnehmerin im Genderwahn nicht davon abhielt, „Schwesterlichkeit“ einzufordern oder, besser noch, „Menschlichkeit“. Die aber gibt es schon, und sie hat in der deutschen Sprache eine etwas andere Bedeutung als die intendierte. Das Dilemma ist auf die Schnelle wohl nicht zu lösen, und etwas Respekt vor des Dichters Wort wäre sicher auch nicht schlecht. Glücklicherweise blieb die längere Diskussion aus.

Carolin Emcke hält Eröffnungsrede

Also denn: Am 12. August startet die Ruhrtriennale 2016, und als Festrednerin wurde Carolin Emcke engagiert, Publizistin und diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Ihr neues Buch „Gegen den Hass“ soll im Oktober erscheinen, „Vom Übersetzen“ ist ihr Vortrag überschrieben, in dem es laut Ankündigung um den „Wert der Gleichheit“ geht (Jahrhunderthalle Bochum, 18 Uhr).

Strenge Opernfassung

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René Jacobs dirigiert „Alceste“. (Foto: Molina Visuals/Ruhrtriennale)

Am selben Tag auch hat die erste Großproduktion des Festivals Premiere, die Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck in der frühen, strengen Wiener Fassung. Hier, erläutert Dirigent René Jacobs, spielt der Chor gerade so wie in der antiken griechischen Vorlage Euripides’ eine tragende Rolle – was das Premierenpublikum des Jahres 1767 gar nicht recht goutierte. Im Spätbarock war man auf gute Show und Kurzweil abonniert, verlangte nach virtuosen Kastraten und Publikumslieblingen. Doch ein gestrenger Chor, so ganz im Dienst des Dramas? Oder gar einer neuen künstlerischen Freiheit? Johan Simons ist sicher, mit dieser Regiearbeit seinem Aufklärungsthema ganz nahe zu sein (Premiere 12. August, 20 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum).

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Johan Simons inszeniert auch in der Moschee (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Zwischen den Religionen

Auch die zweite Regiearbeit des Intendanten ist bereits am ersten Wochenende zu sehen, allerdings nicht in der Jahrhunderthalle, sondern in der DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh. Hier gelangt das Stück „Urban Prayers Ruhr“ von Björn Bicker zur Aufführung.

Chorwerk Ruhr sowie fünf Darstellerinnen und Darsteller geben sich, wenn ich es recht verstanden habe, an eine Glaubensdiskussion, die jedoch daran leidet, daß zunächst keiner richtig ausreden kann, weil es so vieles zu sagen, zu diskutieren gibt. Trotzdem konturieren sich bald Positionen, Haltungen und Ansichten.

Bickers Stück ist flexibel, die jeweilige Glaubensgemeinschaft, in deren Räumen „Urban Prayers Ruhr“ aufgeführt wird, liefert eigene Beiträge zum Text. Das Stück ist also immer wieder anders, wenn es bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften gespielt wird – im Hindu Shankarar Sri Kamadchi Ampal Tempel in Hamm, in der Lutherkirche in Dinslaken-Lohberg, in der serbisch-orthodoxen Kirche in Dortmund-Kley, in der Synagoge Bochum, im (freikirchlichen) House of Solution in Mülheim an der Ruhr und, eben, in der Moschee in Marxloh.

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Schlurp! Teil der Installation „The Good, The Bad and the Ugly“ vom Atelier Van Lieshout (Foto:Pfeiffer)

Andere Mentalität

Autor Björn Bicker hat ein ähnliches Projekt schon einmal in München realisiert und zeigte sich im Pressegespräch immer noch erstaunt über die großen Versammlungsräume der Religionen im Revier. In München seien die alle viel kleiner, was sicherlich auch an den horrenden Mieten und Immobilienpreisen liege.

Das Stück mal eben so ins Ruhrgebiet umzusetzen (wie er sich das zunächst zugegebenermaßen vorgestellt hatte), sei unmöglich gewesen. Ein zweiter Grund stand dem entgegen: Die Mentalität im Ruhrgebiet sei anders, in jeder Gemeinde sei man sehr schnell beim Thema Jugend gelandet, bei Ängsten und Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft der Kinder. In München hingegen habe „eine gewisse Sattheit“ geherrscht, ein gelassener Optimismus, den es im Ruhrgebiet in gleicher Weise offenbar nicht gebe.

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Die rostigen Klos gehören auch zur Installation „The Good, the Bad and the Ugly“ vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Tempeltänzerinnen

Doch allzu trist wird es auch im Revier nicht werden. Bei den Hammer Hindus gibt es Tempeltänzerinnen, in Marxloh dreht sich der Derwisch, in der Synagoge tritt (neben Kantor Tsah) das Nodelman-Duo auf. Und so fort.

Die „städtischen Gebete“ versprechen muntere Veranstaltungen zu werden, Ausdruck eines fröhlich-friedliches Nebeneinanders der Religionen, bei denen Haß und Intoleranz sich, wenn überhaupt, an den radikalen Rändern finden. Seit dieses Programm geplant wurde, gab es islamistischen Terror auch in Deutschland, hat sich die tolerante Grundstimmung im Land eher eingetrübt. Doch wäre das ein Grund, auf dieses Religionen-Projekt zu verzichten? Ganz gewiß nicht, im Gegenteil.

Der namenlose Araber

Simons’ dritte Regiearbeit wird ihre Aufführung am 2. September erleben, in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste-Victoria in Marl, wo bis 2015 tatsächlich noch richtige Kohle gemischt wurde. Das Stück „Die Fremden“ erzählt, ausgehend von Kamel Daouds Buch „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“, die Geschichte des in Albert Camus’ Roman namenlos gebliebenen ermordeten Arabers weiter, dessen Nachfahren fremd bleiben in einer gottverlassenen Welt. Fremdheit auch in der Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel, die dazu erklingt: Das wird kein lauschiger Spätsommerabend werden.

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Das ist – in der Simulation – der subversive rosa Kanalcontainer im Dortmunder Hafen. (Foto: osa – office-for-subversive-architecture/Ruhrtriennale)

Container im Dortmunder Hafen

Doch zurück zum ersten Wochenende: Am Samstag wird in Dortmund, im Hafen, ein Schwebecontainer für das breite Publikum in Betrieb genommen. Entwickelt hat ihn „osa“, das „office for subversive architecture“, und stationiert ist er bei der Firma SAZ Stahlanarbeitungszentrum Dortmund GmbH & Co. KG.

Für Ortskundige: Der schmucklose Industriebau ragt über das Kanalbecken und ist vom alten Hafenamt und der Hafenbrücke davor gut zu sehen. Hier nun, an diesem klassischen Kultur-Unort, hängt der knallig pink gestrichene Container an einem Hallenkran und wird von diesem über das Wasser transportiert, wo er einige Minuten verharrt, bevor es zurück in die Halle geht. 20 Minuten dauert die Ausfahrt in zehn Metern Höhe über dem Hafenbecken, maximal 15 Personen dürfen an Bord sein.

Oliver Langbein, der die Installation zusammen mit Karsten Huneck und Bernd Trümpler schuf und der einen Lehrauftrag an der Dortmunder Fachhochschule hat, stellt Mitreisenden einen kleinen Adrenalinstoß in Aussicht. „Well, come“ heißt die Arbeit übrigens, will natürlich als Kunstwerk verstanden sein und verweist schon im Titel auf die migrantische Konnotation. Wie willkommen sind die, die auf unübliche Weise über das Wasser reisen?

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Neues Van-Lieshout-Objekt vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Cate Blanchett in 13 Rollen

Während der ganzen Triennale-Zeit ist die Videoarbeit „Manifesto“ im Landschaftspark Duisburg-Nord zu sehen, in der die australische Schauspielerin Cate Blanchett in 13 unterschiedlichen Rollen künstlerische und politische Manifeste zum Besten gibt; ab 16 Uhr läuft wieder der große Rock-/Pop-/Techno-Zauber „Ritournelle“ in der Jahrhunderthalle, und während des gesamten Festivals werden Teile des Hallenvorplatzes (der wieder mit der brachialen Skulpturenlandschaft „The Good, the Bad and the Ugly“ aus dem Atelier Van Lieshout bestückt ist) als Teenager-Machtgebiet ausgewiesen, wo die Jugend das Sagen hat. „Mit und von: Mit Ohne Alles und Mammalian Diving Reflex“, entnehmen wir der Pressemitteilung, „Teentalitarismus“ heißt das Ganze. Und wer mehr wissen möchte, sei auf das Netz verwiesen.

Musik auf Zeche Zollern

Zwei (nach allem, was wir wissen können:) wunderbare Musikproduktionen kündigen sich für die folgende Woche an, „Spem in alium“ in der Dortmunder Zeche Zollern (Maschinenhalle) am Mittwoch, „Carré“ in der Jahrhunderthalle am Donnerstag. In Dortmund wird Musik von Thomas Tallis, Henry Purcell, Alfred Schnittke und György Ligeti zu hören sein, singt der Chor MusicAeterna, dirigiert Vitaly Polonsky; in Bochum nähern Bochumer Symphoniker und Chorwerk Ruhr sich Karlheinz Stockhausen mit vier Chören, vier Orchestern und „gewaltiger Klangwanderung“ an. Über beide Musikereignisse wird zu gegebener Zeit zu berichten sein.

Über 50000 Tickets standen zum Verkauf, zwei Drittel davon, so Kultur-Ruhr-Geschäftsführer Lukas Crepaz, sind schon weg. Doch gebe es für praktisch alles auch noch Karten, zumal dann, wenn man terminlich flexibel sei.

Also dann: Viel Glück mit Gluck, Glückauf!




Was einfach so geschehen ist – Werner Streletz‘ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“

Ja, so waren sie, die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus der 70er und frühen 80er Jahre: Der Linienbus oder die Regional-Bahn dienten an entlegenen Orten als Kurierfahrzeuge für Texte und Bilder, die an der mechanischen Schreibmaschine und in der Dunkelkammer entstanden. Es ging bei weitem noch nicht so gehetzt und getaktet zu wie in den flimmrigen Online-Zeiten.

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Michael, die noch recht junge Hauptfigur in Werner Streletz’ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“, arbeitet in jenen Jahren als Einmann-Redakteur auf einem Außenposten, 40 Kilometer von den Kollegen in der Kreiszentrale entfernt. Stets begleitet ihn die vage Furcht, so ganz auf sich allein gestellt in der „Schlossstadt“, wie sie sich nennt, die riesengroße Nachricht zu verpassen.

Aber gemach! Das provinzielle Kleinstadtleben scheint immerzu seinen gewohnten Gang zu gehen. Größter Daueraufreger sind die Pläne eines Kaufhauses, baulich in die Altstadt einzugreifen. Michael müht sich nach Kräften um eine möglichst objektive Berichterstattung und fühlt sich von Politikern ebenso misstrauisch beäugt wie vom zudringlichen Ralph Kindler, der eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Nur Verfolgungswahn oder zutreffender Befund?

Doch nehmt alles nur in allem: Ist es nicht ein einigermaßen bequemes, ja fast beschauliches Leben mit einem Gerüst aus täglichen Routinen, das Michael dort führt? Hinzu kommt der Charme des Unzulänglichen in den frühen Jahren: Mit seiner Freundin Rosemarie duscht er anfangs noch notgedrungen im Hallenbad, dann ziehen sie in ein kuscheliges Dachgeschoss mit Flokati-Teppich im Badezimmer. Manchmal stellen sich schwebende Momente der Leichtigkeit ein. Doch eigentlich ist Michael ein notorischer Grübler.

Geschildert werden die Ereignisse Jahrzehnte später, aus der Rückschau Michaels, der sich für ein paar Wochen ins Haus eines Freundes zurückgezogen hat, und zwar just im Dunstkreis besagter Schlossstadt. Hier begibt er sich auf Spurensuche – nicht systematisch, sondern eher ziellos schweifend. So scheint auch die Geschichte hierhin und dorthin ins Taumeln und Trudeln zu geraten. Und was ist geblieben von der Vergangenheit?

Schon bald wird deutlich, dass – dem vermeintlichen Idyll zum Trotz – „damals“ etwas Düsteres, Schreckliches geschehen sein muss. Doch Genaueres bleibt für eine gewisse Textstrecke im Verborgenen. Wir wollen dieses Spannungsmoment auch hier nicht vollends auflösen und lediglich andeuten, dass Rosemaries Leben im Laufe des Romans auf bestürzend unspektakuläre Weise entgleist – gleichsam wie in Zeitlupe. Zunächst nahezu unmerklich, schleichen sich Depressionen ein, die sodann in unvorhersehbaren Schüben wiederkehren. Und schließlich…

Michael, der ebenso wie Rosemarie unentwegt beim Vornamen genannt und praktisch nie mit dem Personalpronomen „er“ bezeichnet wird (geradezu eine Marotte des Autors), lernt zwischendurch den sinistren Künstler Tobias kennen, der die gewöhnlichen Leute mit ziemlich radikalen und abgründigen Schöpfungen schockiert. Doch Michael weiß den kulturellen Impuls zu schätzen, er fühlt sich angesprochen. Dämmert da aber auch etwas Gefahrvolles herauf? Ist diesem Tobias zu trauen?

Werner Streletz erzählt mit zuweilen etwas umständlich wirkender Sorgfalt, als wollte er kein Detail vergessen, Plaudereien aus dem lokaljournalistischen und kommunalpolitischen Nähkästchen inbegriffen, die den Fortgang der Handlung dann und wann eher aufzuhalten scheinen. Zudem kommen Formulierungen wie „Er hatte sich, solches erahnend…“ ein wenig gestelzt daher.

Nun muss man aber sagen: Der zögerliche, zaudernde Duktus entspricht gewissermaßen der Hauptfigur, die eben alleweil hin und her denkt, sich den Kopf über das eigene Tun und Lassen permanent zerbricht. Mitunter wird da allerdings wohl etwas zu viel und zu restlos erwogen, zu ausgiebig erläutert. Hie und da vermisst man einen Zug oder Sog in der Geschichte, deren Urheber sich gelegentlich sozusagen bereitwillig in unnötigen kleinen Abschweifungen verliert und mehr oder weniger kühne Auslassungen offenbar scheut.

Als erfahrener Schriftsteller verliert Streletz jedoch natürlich nicht den Bauplan seines Romans aus den Augen. Er lässt die vorwiegend melancholisch getönte Erzählung in ein offenes Ende gleiten. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich das Geschehene weder ändern noch wirklich ergründen lässt. Das mag betrüblich sein, doch diese Einsicht birgt wohl auch Trost. Und schuldig ist ohnehin niemand. Es ist passiert. Einfach so. Wie das Leben so ist.

Kleine Anmerkung: Das Buch ist passagenweise etwas nachlässig redigiert worden, da geraten auch schon mal Namen und Zeitenfolgen durcheinander, von einigen Setzfehlern zu schweigen. Nachbesserungen für eventuelle weitere Auflagen wären also ratsam.

Der in Bottrop geborene und aufgewachsene, seit vielen Jahren in Bochum lebende Werner Streletz (Jahrgang 1949) gilt manchen immer noch als „Ruhrgebietsautor“. Streletz selbst, brotberuflich langjähriger WAZ-Kulturredakteur (den ich – der Transparenz halber sei’s erwähnt – aus beruflichen Zusammenhängen persönlich kenne), wendet sich entschieden gegen diese Zuschreibung.

Tatsächlich entfernt er sich gerade mit diesem Roman deutlich von etwaigen Revier-Spezifika. Welche sollten das heutzutage auch sein? Die Chose mit Zechen, Malochern, Fußball, Bier und Stahl ist in dieser einst typischen Mischung längst durch. Und so ist Werner Streletz kein Ruhrgebietsautor, sondern einer, der halt im Ruhrgebiet lebt und schreibt.

Werner Streletz: „Rückkehr eines Lokalreporters“. Roman. Projektverlag, Bochum/Freiburg. 261 Seiten. 13,80 Euro.




„The Awful German Language“ – Wie Mark Twain über die deutsche Sprache wetterte

Das überreicht womöglich der feixende Englischlehrer seiner Kollegin vom Fach Deutsch: Das schmucke Geschenkbändchen „The Awful German Language“ enthält Mark Twains legendäres Pamphlet gegen die deutsche Sprache; natürlich nicht im fürchterlichen Deutsch, sondern im nahezu makellosen Englisch.

Nur 40 Seiten schmal ist die No. 1419 der Insel-Bücherei. Mark Twain (1835-1910), dem das Erlernen des Deutschen offenkundig recht schwer gefallen ist, zieht kräftig vom Leder. Er wettert über den Treibsand der Regellosigkeit, der einen an diesem Idiom verzweifeln lasse.

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Wie froh konnte der Mann sein, wäre doch um ein historisches Haar beinahe Deutsch die Kernsprache der Vereinigten Staaten geworden – und nicht dieser seltsame Seemannsdialekt, den ein gewisser Shakespeare und ein paar andere noch halbwegs hochgejazzt haben. (*zwinker, zwinker*).

Besonders die Artikel „der“, „die“ und „das“ regen den literarischen Vater von Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf, während es doch im Englischen bekanntlich schon mit „the“ getan ist. Ein deutschsprachiger Mann, so polemisiert der, die oder das Twain, könne sich seiner Geschlechtsmerkmale niemals sicher sein, werde doch jeder Körperteil völlig willkürlich als männlich, weiblich oder sächlich markiert. Auf diese Weise werde der Herr der Schöpfung zur „ridiculous mixture“. Hat Mark Twain etwa unter linguistisch induzierten Kastrationsängsten gelitten?

Um die Sprache Goethes zu demaskieren, pfropft er spaßeshalber einer englischen Geschichte eine vermeintliche deutsche Sprachstruktur auf. Das Resultat klingt wunschgemäß steif und lächerlich. Was zu „beweisen“ war.

Mit Mehrfach-Bedeutungen und irritierenden Anklängen plagt er sich ebenso wie mit dem Satzbau, bei dem die Verben weit hinten zu finden sind. Auch machen ihm schier endlos und offenbar nach Gutdünken gereihte Wörter zu schaffen, die in keinem Lexikon stünden („Kinderbewahrungsanstalten“, „Waffenstillstandsunterhandlungen“). Auch sonst findet er für all seine Behauptungen leidlich witzige Beispiele, ganz nach dem Motto: je ungerechter, umso lustiger.

Andererseits könne man, so Samuel Langhorne Clemens (bürgerlicher Name von Mark Twain) schelmisch, getrost komplette Konversationen mit den Wörtern Also, Zug und Schlag bestreiten, die in allerlei Zusammensetzungen immerzu wiederkehrten.

Überraschend sein Befund, das Englische sei ungleich kraftvoller, während das Deutsche sich geradezu säuselnd sanft anhöre. Als Beispiele führt er „milde“ Ausdrücke wie etwa Schlacht und Gewitter an. Vom Blitzkrieg wusste er freilich noch nichts. So lässt er auch als raren Vorteil des Deutschen gelten, dass es für die Bereiche Natur, Liebe, Frieden und Ruhe passende Worte bereithalte. Hört, hört! Wahrscheinlich hatte Mark Twain noch Dichtungen der deutschen Romantik im Ohr. Ein Vorzug gegenüber dem Englischen sei zudem, dass die deutsche Aussprache weitgehend dem Schriftbild folge. Immerhin.

Schließlich schlägt Mark Twain kurzerhand noch eine reichlich rabiate Reform des Deutschen vor, das andernfalls zur toten Sprache degenerieren müsse: Dativ weg, Verben weiter nach vorn, kürzere Wörter, möglichst viele Vokabel-Importe aus dem Englischen (!) und Abkehr vom verwirrenden Der-die-das. Da müsste man nur noch ein Volk gefunden haben, das sich an diese Vorgaben gehalten hätte. Man hätte nur auf Mark Twain hören müssen – und schon… – ja, was?

Übrigens: Gar so schlimm kann es mit dem Deutschen dann auch wieder nicht gewesen sein. Mark Twain lebte in den 1890er Jahren für einige Monate in Berlin („luminous centre of intelligence […] a wonderful city“) und ließ seine Töchter dort studieren. Hernach zog es ihn auch nach Wien. Man gäbe was für Tonbänder, auf denen zu hören wäre, wie er – verschmitzt und zornig zugleich – im Deutschen radebrecht.

Mark Twain: „The Awful German Language“. Insel-Bücherei No. 1419. Englischer Originaltext. 40 Seiten. 10,95 €.